Leseprobe Madonnas letzter Traum
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<strong>Madonnas</strong><br />
<strong>letzter</strong> <strong>Traum</strong><br />
Doğan Akhanlı<br />
Roman<br />
L E S E P R O B E
Der Autor<br />
DOGAN AKHANLI wurde 1957 in<br />
der Türkei geboren und lebt seit 1992<br />
als Autor in Köln. 1998/99 erschien in<br />
türkischer Sprache seine Trilogie „Kayip<br />
Denizler“ (Die verschwundenen Meere).<br />
Der letzte Band der Trilogie „Kiyamet<br />
Günü Yargiçlari“ (Die Richter des jüngsten<br />
Gerichts) thematisiert den Völkermord an<br />
den Armeniern im Jahr 1915. Die deutsche<br />
Übersetzung ist 2007 in Österreich und 2018 in Armenien erschienen.<br />
Akhanlıs Romane - „Der letzte <strong>Traum</strong> der Madonna“, 2005 und „Tage ohne<br />
Vater“, 2009 - wurden als wichtigste Roman-Veröffentlichungen in der Türkei<br />
ausgezeichnet. Im Oktober 2010 erschien die zweite Auflage seines Romans<br />
„Die Richter des Jüngsten Gerichts“ im Kitab-Verlag, Österreich. Sein letztes<br />
Buch „Verhaftung in Granada / oder Treibt die Türkei in die Diktatur?“erschien<br />
2018 in Köln. Sein erstes Theaterstück in deutscher Sprache „Annes<br />
Schweigen“ wurde 2012 in Berlin (Theater unterm Dach) und im Januar 2013<br />
in Köln (Theater im Bauturm) uraufgeführt. Seitdem hat er sich mit Romanen,<br />
Aufsätzen, Interviews und in zahlreichen Projekten in Deutschland immer<br />
wieder für den wahrhaftigen Umgang mit historischer Gewalt und für die<br />
Unteilbarkeit der Menschenrechte eingesetzt. 2013 erhielt er den „Pfarrer-Georg-Fritze-Preis“<br />
in Köln, so wie den ersten „Europäischen Toleranzpreis“ in<br />
Österreich.<br />
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<strong>Leseprobe</strong><br />
»Die roten Äpfel«<br />
Ich kann mich nicht erinnern, in welchem Jahr die Madonna<br />
im Pelzmantel ins Dorf kam. Ob mein Vater, der einmal<br />
im Monat in die Kleinstadt fuhr, um sein Gehalt abzuholen,<br />
sie mitgebracht hat, oder ob sie einem der Bauern anvertraut<br />
wurde, so dass sie mit dem DeSoto, einem Lastwagen, dessen<br />
Bremsen nicht funktionierten, bei uns eintraf. Der DeSoto,<br />
das einzige Fahrzeug, das zweimal täglich über die Chaussee<br />
zwischen dem Dorf und der Kleinstadt fuhr, machte sich von<br />
einem sommers wie winters verschneiten Bergdorf mitten in<br />
der Nacht auf den Weg und erreichte im Morgengrauen unser<br />
Dorf. Wie lange er für die Strecke zwischen dem Dorf und der<br />
Kleinstadt brauchte, hing von der Wetterlage und dem technischen<br />
Zustand des Gefährts ab. Wenn nichts schiefging, betrug<br />
die Entfernung zwischen der Kleinstadt und unserem Dorf<br />
mit dem DeSoto eine Stunde. Aber irgendetwas lief immer<br />
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schief. Entweder platzte der Reifen, oder eine Achse brach,<br />
oder der Tank war leer, oder es trat ein technischer Defekt<br />
auf, dessen Grund uns verborgen blieb. Obwohl der DeSoto<br />
die Kleinstadt nie rechtzeitig erreichte, war er ein schöner<br />
Lastwagen, so schön wie ein <strong>Traum</strong> von einer Liebe. Seine<br />
gar nicht so wenigen Macken wurden wie die Dornen einer<br />
Rose wahrgenommen, und dass seine Bremsen nicht funktionierten,<br />
beunruhigte niemanden. Der Beifahrer übernahm die<br />
Aufgabe der Bremsen. Wenn der DeSoto die Ebene, auf der<br />
das Dorf lag, hinter sich brachte und den sich am Rande eines<br />
hunderte Meter tiefen Abgrunds schlängelnden Weg hinunterfuhr,<br />
sprang der Beifahrer mit einem Bremskeil in Form eines<br />
Dreiecksprismas, an dem ein riesiger eiserner Griff befestigt<br />
war, hinaus und versuchte, den DeSoto abzubremsen, und<br />
wenn möglich, anzuhalten. Der Lastwagen wurde dadurch<br />
zwar langsamer, kam aber nicht immer zum Stehen. In diesem<br />
Fall rannte der Beifahrer schneller als das Fahrzeug, warf<br />
die großen Steine am Wegesrand vor die Reifen und benutzte<br />
manchmal den eigenen Körper als Bremse. Es kam aber auch<br />
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vor, dass der Lastwagen trotz aller Bemühungen des Beifahrers<br />
weiterfuhr. Der frühlingsgrüne DeSoto flog an der dritten<br />
Kurve, die ins Tal hineinragte, zweimal in die Tiefe.<br />
(…)<br />
Die Madonna im Pelzmantel kam vermutlich zwischen diesen<br />
beiden Unfällen ins Dorf. In jenem Jahr war der Winter<br />
früh eingebrochen. Als es zu schneien begann, waren die roten<br />
Winteräpfel schon reif genug zum essen. Das Dorf lag am<br />
Fuße eines Berges, und vor ihm erstreckten sich Mais- und<br />
Weizenfelder. Zwei Flüsse, einer diesseits und der andere jenseits<br />
des Berges Quaf, überquerten tiefe Täler, umrandeten gemeinsam<br />
den Berg hinter dem Dorf und die vor ihm liegende<br />
Ebene und strömten am Horizont ineinander. In diesem Dorf,<br />
das jetzt in weiter Ferne liegt, zogen die Jahreszeiten – wie die<br />
Bilder auf der Pinnwand in der Grundschule – in leuchtenden<br />
Farben vorbei. In Winternächten kamen Wölfe ins Dorf, und<br />
wenn wir unter Wolfsaugen, die wie Glühwürmchen leuchteten,<br />
nach Hause gingen, glaubten wir, die Sterne seien heruntergekommen<br />
und hätten sich in die Augen der Wölfe verwan-<br />
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delt.<br />
Die Wölfe unseres Dorfes fraßen keine Kinder.<br />
(…)<br />
Dann kam die Zeit, in der die Kraniche in die entgegengesetzte<br />
Richtung flogen und die Schule wieder anfing. Die Blätter<br />
klebten wie eine zweite Haut auf der Erde, und später, wenn<br />
wir die dunkelgrünen und etwas säuerlichen Trauben plünderten,<br />
begann es zu schneien. Die roten Äpfel wurden reif,<br />
während es schneite. (…) So schön wie die roten Äpfel waren<br />
im Winter auch die Bücher, die mit der Post eintrafen. Mein<br />
ältester Bruder schickte sie. Er war Internatsschüler auf der<br />
Lehrerschule in einer Stadt jenseits der Berge, die im Winter<br />
voller unermesslicher Gefahren waren. Diese Bücher bildeten<br />
eine Brücke aus Träumen zwischen der Welt und dem Dorf.<br />
Damals waren Wörter wie Computer, Fernseher und Kassettenrekorder<br />
noch nicht in Schulbücher und Wörterbücher<br />
eingedrungen, weder Kühlschrank noch Backofen waren Teil<br />
unseres Lebens. Es wurde erzählt, in der Kleinstadt auf der<br />
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anderen Seite des Berges hinter der Ebene würde es elektrischen<br />
Strom geben. Mein Vater definierte die Elektrizität als<br />
ein ziemlich komfortables Licht ohne Ruß und Gestank. Der<br />
klügste Narr des Dorfes meinte, sie sei ein Leuchtkäfer in der<br />
Größe einer Birne. Das Dorf war berühmt für seine schönen<br />
Mädchen, die sich von niemandem etwas sagen ließen – und<br />
für seine Narren. Diejenigen, die unzählige Gebirge überquerten,<br />
um ihren Militärdienst anzutreten oder in der Fremde<br />
reich zu werden, erzählten nach ihrer Rückkehr von Städten<br />
mit tausenden Einwohnern, Häusern, deren Köpfe in die Wolken<br />
ragten, von DeSotos, die schnell wie Zugvögel fuhren und<br />
vom blauen Wasser, das sich bis in die unsichtbare Ferne erstreckte.<br />
Diese Erzählungen bestätigten die Geschichten, die<br />
unsere Mutter uns vorlas. (…)<br />
Ich hatte noch nie eine Stadt gesehen, wusste nicht einmal, wie<br />
ein Zug aussah.<br />
Trotzdem konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten,<br />
als meine ältere Schwester, die an jenem Winternachmittag<br />
mit dem Lesen an der Reihe war, die Sätze vorlas: »Gestern<br />
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Nacht konnte ich keine Sekunde schlafen. Ich lag auf dem<br />
Rücken und dachte die ganze Zeit an das Kind im Zug. Ich<br />
konnte fast den kleinen Kopf sehen, der sich im schaukelnden<br />
Waggon hin und her bewegte. Der Kopf eines Kindes<br />
mit dichtem Haar … Ich wusste nichts über das Kind, weder<br />
die Haarfarbe noch die Augenfarbe, noch den Namen.«<br />
Nicht nur ich, auch meine Mutter, meine ältere Schwester,<br />
mein zweitältester Bruder, meine ein Jahr jüngere Schwester,<br />
wir alle weinten. Ich weiß nicht, wie meine Geschwister<br />
sich dieses Kind vorstellten, das zusammen mit dem Zug in<br />
der Ferne verschwand. Es war meine erste Liebe. Mit blonden<br />
Haaren. Und blauen Augen. Draußen schneite es, aber<br />
in meiner Vorstellung verlor ich meine erste Flamme in einer<br />
Augusthitze aus dem Blick. Der Mann, der ihr Vater sein sollte,<br />
lief hinter dem Zug her. Ich sah ins Gesicht meiner Mutter.<br />
Ihre Augen waren feucht. Noch bevor sich diese Feuchtigkeit<br />
in eine Träne verwandelt hatte, fingen Schwester Ergül und<br />
Bruder Erkan zu weinen an. Und ich stand ihnen bei. Meine<br />
jüngere Schwester Eribe, die sich zur Gewohnheit gemacht<br />
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hatte, mir jeden Tag mit dem Hammer auf den Kopf zu hauen,<br />
das verzogenste, liebste, kreativste und unbändigste Kind<br />
des Hauses, identifizierte sich zu sehr mit der Geschichte und<br />
fing ein hysterisches Geheul an: »Vater, verlass mich nicht!« In<br />
diesem Augenblick kam Vater herein. Meine Schwester rannte<br />
schreiend auf ihn zu. Vater war solche Szenen gewohnt. »Meine<br />
Gazelle verlasse ich doch nie«, tröstete er sie, während er<br />
sich auf die Holzbank fallen ließ. Ich schmiegte mich an meine<br />
Mutter und wir machten weiter mit der Lesung. Als Raif Efendi<br />
starb, bekam auch Vater eine traurige Miene. Bald sickerte<br />
die kollektive Traurigkeit unserer Familie aus dem Haus hinaus<br />
und bedeckte die Abhänge der Berge, den zugefrorenen<br />
Fluss und den weißen Kiefernwald, die Buchen und die roten<br />
Winteräpfel. An jenem Abend wurde die salzige Joghurtsuppe<br />
schweigend gegessen. Wir hörten keine Nachrichten und gingen<br />
früher als sonst schlafen.<br />
Es war eine weiße Mondnacht. Mit einem Vollmond und dicken<br />
Schneeflocken. Nachdem wir uns auf unsere Zimmer zurückgezogen<br />
hatten und meine jüngere Schwester eingeschla-<br />
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fen war, ging die Tür auf. Meine Mutter schlüpfte leise herein<br />
und legte sich zu mir. Wir sahen zusammen durch das Fenster<br />
auf den hellen Mond und den fallenden Schnee. Auch meine<br />
Mutter hatte wohl das kleine blonde Mädchen gesehen, das<br />
zwischen den Schneeflocken zum Mond hin schwebte, denn<br />
sie sagte: »Sei nicht traurig. Alma wird nicht sterben.«<br />
Am Morgen lag meine Mutter nicht mehr bei mir, aber ich<br />
wusste jetzt, dass ich weit in die Ferne ziehen würde. Eines<br />
Tages, an einem ganz anderen Fleck der Erde würde ich im<br />
letzten Waggon eines Zuges einer Frau gegenübersitzen. Diese<br />
Frau würde die Tochter des Raif Efendi sein, blond und mit<br />
blauen Augen, die er am Bahnhof verloren hatte und die ihren<br />
Namen von meiner Mutter verliehen bekam: Alma.<br />
(…)<br />
(…) Jahre später, in einer verschneiten Januarnacht, zu sehr<br />
später Stunde, erhielt ich die Nachricht, dass meine Mutter gestorben<br />
war. Meine Kindheitserinnerungen erstarrten auf einmal<br />
zu Eis. Die weißen Nächte und roten Äpfel, die Schwarzkiefernwälder,<br />
Buchen, die Früchte des Zorns und die kleine<br />
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Tochter der Maria Puder im Pelzmantel verloren ihre Bedeutung.<br />
Ich wollte Alma nicht mehr begegnen. Denn all die Jahre<br />
hindurch wusste ich, dass mein schönstes Geschenk für<br />
meine Mutter, als Entgegnung ihrer Liebe, eines Tages meine<br />
Rückkehr ins Dorf sein würde. Das sollte keine gewöhnliche<br />
Rückkehr sein. »Mutter«, wollte ich ihr sagen, »ich habe Alma<br />
gefunden.« Selbst wenn ich jetzt Alma finden und ihre Liebe<br />
gewinnen könnte, hatte ich keine Mutter mehr, der ich sie als<br />
ihre Schwiegertochter vorstellen könnte.<br />
Die Nacht, in der meine Mutter starb, verbrachte ich schreibend.<br />
Ich erweckte Alma und meine Mutter wieder zum Leben.<br />
»Sei nicht traurig, mein Sohn, sagte seine Mutter, Alma<br />
wird nicht sterben.« So begann die Erzählung »Die roten Äpfel«,<br />
die ich in jener Nacht schrieb. Sie wurde in jenen Tagen,<br />
als in Solingen ein Haus, in dem Türken lebten, von Neonazis<br />
in Brand gesteckt wurde, auf Deutsch veröffentlicht.<br />
Viel später, nachdem die Geschichte veröffentlicht wurde,<br />
führte mein Weg nach Berlin. Das hatte weder mit Maria Pu-<br />
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der noch mit Alma etwas zu tun. Das Theater der Erinnerung<br />
hatte mich um einen Text für das Programmheft des Stücks<br />
Migranten und Alpträume gebeten. Es sollte zum Gedenken<br />
an die fünf türkischen Frauen und Mädchen aufgeführt werden,<br />
die am 29. Mai 1993 in der Unteren Wernerstraße in Solingen<br />
von vier Rassisten durch einen Brandanschlag ermordet<br />
wurden. Die Premiere war in Solingen geplant, in der Geburtsstadt<br />
Adolf Eichmanns. Sie boten mir ein gutes Honorar an,<br />
trotzdem war ich unsicher, ob ich den Auftrag annehmen sollte.<br />
Wenn ich in Deutschland geboren wäre, würde ich mich<br />
ohne viel Federlesens trauen, einen Text mit der Überschrift<br />
»Der Geist Eichmanns« zu schreiben. Aber ich wollte den<br />
Deutschen nicht Unrecht tun. Denn es hatte mich sehr bewegt,<br />
dass nach dem Mordanschlag in Solingen Millionen auf<br />
die Straße gingen, gegen Rassismus und Neonazis demonstrierten,<br />
Mahnwachen hielten und mit ihren Kerzen die Nächte<br />
erleuchteten. Ein anderes Problem war, dass ich über die<br />
Vergangenheit Deutschlands und über Eichmann nicht viel<br />
wusste.<br />
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In diesem Moment habe ich beschlossen, nach Berlin zu<br />
fahren. Ich wollte die Villa am Wannsee sehen, dann meinen<br />
Essay mit der Überschrift »Villen, Menschen, Solingen<br />
und die Eichmanns« schreiben und nach Köln zurückkehren.<br />
Außer meinem Laptop nahm ich ein Buch über<br />
die Wannsee-Konferenz, Eichmanns Memoiren mit dem<br />
Titel »Götzen«, die ich noch nicht ausgelesen hatte, einige<br />
Kleidungsstücke und ein paar Romane mit. Weil es ein<br />
Wochentag war, war der letzte Waggon des Expresszugs<br />
nach Berlin, wo man rauchen durfte, ziemlich leer. (…)<br />
Ich beschloss, eines der türkischen Bücher zu lesen, die ich mir<br />
vor kurzem aus der Türkei hatte schicken lassen. Mir stockte<br />
das Blut in den Adern. Denn das Buch, das ich aus der Tasche<br />
zog, sollte eigentlich nicht Die Madonna im Pelzmantel<br />
sein, sondern Der Dämon in uns. Die Madonna im Pelzmantel<br />
hatte ich zuletzt in jener Nacht aufgeschlagen, in der ich<br />
die Todesnachricht meiner Mutter erhielt. Ich hatte zwischen<br />
die Seiten eine Schwarzweißaufnahme meiner Mutter vor unserem<br />
Haus gelegt und das Buch ganz oben im deckenhohen<br />
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Bücherregal einsortiert. Ich konnte mir nicht erklären, wie es<br />
in meine Tasche gelangt war, außer, ich war auch ein Schlafwandler,<br />
genauso wie sein Autor Sabahattin Ali. Ich wusste,<br />
dass ich dem Bild meiner Mutter begegnen würde, wenn ich<br />
das Buch jetzt aufschlug, und hatte eine seltsame Angst davor.<br />
Ich schlug es auf. Meine Mutter war jünger als ich.<br />
Ich legte das Foto in die linke Brusttasche meines Hemds auf<br />
mein Herz und begann, Die Madonna im Pelzmantel noch<br />
einmal zu lesen. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, das<br />
Vorwort, das mit den Worten »Der Morgen graute« anfing,<br />
zum ersten Mal zu sehen. Die Aussage des geständigen Mörders<br />
von Sabahattin Ali war mindestens genauso ekelerregend<br />
wie der Mord selbst. (…) Ich spürte ein unangenehmes Kribbeln<br />
im Magen, übersprang die Passagen, in denen der Mord<br />
an Sabahattin Ali beschrieben wurde und ging zur eigentlichen<br />
Geschichte über. Je mehr ich las, umso mehr verlor ich das Gefühl<br />
für die Zeit und begann, zwischen den Wogen der Schizophrenie<br />
zu schwimmen. Ich sah die einzige Rettung darin, die<br />
Augen zu schließen.<br />
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Und schlief ein.<br />
Der Expresszug nach Berlin fuhr in Hannover ohne Verspätung<br />
ab. Bald darauf kam eine Frau herein, deren Haare mich<br />
an meine ältere Schwester erinnerten, das Gesicht an meine<br />
Mutter und die Figur an meine jüngere Schwester. Sie grüßte<br />
und setzte sich mir gegenüber. Jetzt würde sie ihre Tasche<br />
öffnen und nicht eine der Millionen Erzählungen in deutscher<br />
Sprache lesen, sondern meine: »Die roten Äpfel«. So musste es<br />
sein, denn die Heldin der Geschichte, die ich in der Todesnacht<br />
meiner Mutter schrieb, wurde plötzlich von einer Unruhe erfasst,<br />
hob den Blick, schaute dem Mann, der ihr gegenübersaß,<br />
direkt in die Augen, und der Mann zuckte zusammen.<br />
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»<strong>Madonnas</strong> <strong>letzter</strong> <strong>Traum</strong>«<br />
Prosa | 1. Auflage 2019 | 472 Seiten | Preis: 24,80€ | ISBN: 978-3-96202-042-2<br />
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