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Drachenfurz & Silberkralle - Band 4

Reihe Abenteuer in Mirathasia Ausgerechnet in Mirathasia treffen sich Jenny und Luca, die zusammen in eine Klasse gehen, sich aber nicht wirklich mögen. Sie ist zu schüchtern, er zu laut und außerdem lacht er über alles und jeden. Dass er dann auch noch am Unterricht zum Drachenfliegen teilnimmt, passt Jenny gar nicht. Doch dann wird das Ei der Drachin Malliah gestohlen. Jenny und Luca verfolgen die Diebe, bis sie dahinterkommen, dass der Diebstahl einem ganz anderen Zweck dient … Jedes Buch der Reihe lässt sich einzeln lesen, es ist nicht notwendig, mit Band 1 anzufangen.

Reihe Abenteuer in Mirathasia

Ausgerechnet in Mirathasia treffen sich Jenny und Luca, die zusammen in eine Klasse gehen, sich aber nicht wirklich mögen. Sie ist zu schüchtern, er zu laut und außerdem lacht er über alles und jeden. Dass er dann auch noch am Unterricht zum Drachenfliegen teilnimmt, passt Jenny gar nicht.

Doch dann wird das Ei der Drachin Malliah gestohlen. Jenny und Luca verfolgen die Diebe, bis sie dahinterkommen, dass der Diebstahl einem ganz anderen Zweck dient …

Jedes Buch der Reihe lässt sich einzeln lesen, es ist nicht notwendig, mit Band 1 anzufangen.

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<strong>Drachenfurz</strong> & <strong>Silberkralle</strong><br />

Bad 4 u dr Reh<br />

Abenteuer in Mirathasia<br />

Imprsum:<br />

Veoika Artz<br />

Drchnfuz & Sibekrle<br />

Bad 4 u dr Reh Abetur i Mrtai<br />

Veoika Artz<br />

Jui 2019<br />

©VA-Velg • www.va-velg.d • Gemay<br />

Veoika Artz, Ventaße 30, 52134 Hezognah<br />

Urebrch am Text: Vrnka Artz<br />

Ilutain: Veoika Artz<br />

Lektr: Fidrke Fichr • www.freikefschr.e<br />

Korkta: Miche Krch<br />

Drck: Frck Ketvbüo & Oniercke .K., Krmbach<br />

Ei Ttlaestz fü de Publkain s be dr<br />

Detchn Nainlbbitek rätich.<br />

ISBN: 978-3-944824-85-7


Inhalt<br />

Nicht schon wieder! .................................. 7<br />

Schon wieder!. ...................................... 11<br />

Der Unterricht ...................................... 17<br />

Lachen!. ............................................ 22<br />

Der Wunsch ......................................... 26<br />

Die Diebe ........................................... 33<br />

Die Verfolgung ...................................... 37<br />

Kraxelei. ............................................ 41<br />

Der Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />

Schnell zum Ei ...................................... 50<br />

Gefangen! .......................................... 52<br />

Die <strong>Silberkralle</strong>. ..................................... 55<br />

Die List ............................................. 62<br />

Nicht aufgeben! ..................................... 67<br />

Ein unerwarteter Freund ............................ 69<br />

Der Endspurt ....................................... 74<br />

Der Flug ............................................ 82<br />

In der Schule ........................................ 88<br />

Die Idee. ............................................ 90<br />

Die einmalige Chance ................................ 92<br />

Noch etwas über Jenny und Luca ..................... 98


Nicht schon wieder!<br />

Es war Jennys erstes Lächeln an diesem Tag. Es kam aus<br />

ihrem tiefsten Herzen, erhellte ihr Gesicht und ließ ihre<br />

Augen erstrahlen. Sie schaute hinauf zu der riesigen Kuppel,<br />

von der sie eben erst als bunter Lichtfetzen heruntergewirbelt<br />

war – stundenlang hätte sie den vielen anderen<br />

Besuchern zusehen können, die sich fortwährend<br />

auf der Plattform des Ankunftszentrums von Mirathasia<br />

materialisierten.<br />

Aber auch die Miniaturstadt, die sich an einer der<br />

acht Säulen hinaufhangelte, war eine Betrachtung<br />

wert. Manchmal konnte Jenny dort winzige Menschen<br />

über Hängebrücken laufen sehen, zeitweilig<br />

sogar Feen und Elfen, die über die Dächer<br />

flogen oder in dem schwachen Licht hinter<br />

den Fenstern der Gebäude Kuchen backten.<br />

Sollte sie sich vielleicht heute so klein wünschen,<br />

dass sie sich dort einmal umsehen<br />

konnte? Die Aussicht vom obersten Turm<br />

aus musste wirklich schön sein. Mit dem<br />

Aufzug konnte sie nah am Wasserfall<br />

hinauffahren, anschließend ging es<br />

7


über Treppen, Rutschen und waghalsige Brücken zu jedem<br />

der hübsch verzierten Paläste. Nur einmal im Thronsaal zu<br />

Harfenmusik tanzen, dahinschweben wie eine Elfe …<br />

Aber nein! Jenny rief ihre Gedanken zurück in die Halle des<br />

Ankunftszentrums. Sie brauchte ihren Wunsch noch – es gab<br />

doch für heute nur diesen einen. Die Miniaturstadt konnte<br />

sie erforschen, wenn ihr wichtigster Wunsch endlich erfüllt<br />

worden war. Wieder lächelte sie, in freudiger Erwartung, ob<br />

das vielleicht heute geschehen würde. Irgendwann war es<br />

so weit, das wusste sie. Und deshalb musste sie schleunigst<br />

zum Unterricht gehen, der vielleicht ohne sie begann, wenn<br />

sie hier noch länger herumstand und träumte …<br />

Mit neuer Energie fuhr sie herum – rums! – und stieß mit<br />

jemandem zusammen.<br />

„Verdammt!“, fluchte ein Junge auf dem Boden. Er war<br />

auf der Seite gelandet und kehrte ihr den Rücken zu,<br />

sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte, nur seine verwuschelten<br />

Haare. Ächzend erhob er sich und rieb sich den<br />

Hintern. Dann drehte er sich zu ihr um. „Kannst du nicht<br />

besser auf…“<br />

Nein! Jennys Mundwinkel sanken herab, ihr Blick verfinsterte<br />

sich. Was machte Luca denn hier?<br />

„Was machst du denn hier?“, pflaumte er sie an. „War ja<br />

klar, dass du wieder alle Leute umrennen musst. Kannst du<br />

dich nicht in irgendeine Ecke verkrümeln?“<br />

Damit ließ er Jenny stehen, die mit hängenden Schultern<br />

einfach nur dastand. Entschuldigung, sagte sie in Gedan-<br />

ken. Ich weiß, dass ich nicht aufgepasst habe, und es tut mir<br />

sehr leid.<br />

Aber sie rief es ihm nicht hinterher. Luca war aus ihrer<br />

Klasse – ausgerechnet er! Der größte Rüpel, den sie kannte,<br />

der am lautesten über andere spottete und über sie lachte.<br />

Selbst die Lehrer ärgerten sich über ihn. Einmal hatte er<br />

einen seiner dummen Sprüche in Mathe losgelassen. Darüber<br />

hatte er so heftig gelacht, dass er schließlich zum Rektor<br />

hatte gehen müssen, aber selbst von dort war sein Lachen<br />

bis ins Klassenzimmer geschallt. Warum musste sie ausgerechnet<br />

ihn hier anrempeln?<br />

Sie beobachtete, wie er auf Gang 3 zuhielt, dort seinen<br />

Kopf in eine der abgedunkelten Nischen hineinsteckte und<br />

wieder einmal lauthals loslachte. In dem Gang konnte sich<br />

jeder kurze Filme ansehen, die irgendwann am Vortag in<br />

Mirathasia gedreht worden waren. Offenbar war jemandem<br />

etwas Dummes passiert, sodass Luca ihn auslachen konnte.<br />

Ja, ihr Klassenkamerad war der King in der Klasse, weil er<br />

über alles und jeden Witze machte. Jenny ging ihm aus dem<br />

Weg, seitdem er ihr in der Klasse ein Bein gestellt hatte und<br />

sie der Länge nach hingeflogen war. Gut, dass Mirathasia so<br />

groß war – bestimmt würde sie ihn nicht mehr wiedersehen.<br />

Jenny vergrub ihre Hände in den Hosentaschen. Die gute<br />

Laune war durch den Zusammenstoß mit ihm verflogen.<br />

So ein eingebildeter Affe! Er konnte seine Albernheiten im<br />

Klassenzimmer ausleben, aber doch nicht hier! Irgendje-<br />

8 9


mand müsste ihm mal sagen, wie schlimm er sich benahm.<br />

Sie selbst konnte es nicht, er würde sie doch nur auslachen.<br />

Dass sie sich jetzt sogar noch Gedanken über ihn machte,<br />

ärgerte sie umso mehr. Hoffentlich würde der Unterricht<br />

gleich von ihm ablenken!<br />

Sie erreichte eine große, gelb schimmernde Kugel, die als<br />

Portal zu anderen Orten Mirathasias diente. An der Bedientafel<br />

drückte sie den Knopf Dracheninsel und machte sich<br />

darauf gefasst, dass die Kugel gleich abhob und davonschwebte.<br />

Als sie das Ankunftszentrum durch die Decke<br />

verließ, strichen ihr warme Sonnenstrahlen übers Gesicht.<br />

Unter sich sah sie den Hang, auf dem es eine Rutschbahn<br />

mit Looping und Sprungschanze gab, daneben sah sie winzig<br />

kleine Besucher auf einem Windbrett oder in einer Seifenkiste<br />

den Abhang hinuntersausen. Ihr war das zu gefährlich,<br />

sie schaute lieber zu. Am Fuße des Berges lag die Stadt<br />

der acht Wunder. Wie ein gelber runder Käse lag sie dort mit<br />

sternförmig nach außen laufenden Straßen. In ihrem Mittelpunkt<br />

ragte die Gurgelnde Grotte auf, und jedes Mal, wenn<br />

Jenny sie erblickte, musste sie lächeln: Der Kletterberg mit<br />

den Wasserfontänen sah von Weitem so aus, als hätte ein<br />

Riese einen Haufen hinterlassen.<br />

Dann entdeckte sie in der Ferne die Insel, die wie eine Riesenechse<br />

im Wasser lag. Und da war es wieder: Das Lächeln,<br />

das aus ihrem tiefsten Herzen kam.<br />

Schon wieder!<br />

Dass mir ausgerechnet Jenny über den Weg laufen muss –<br />

sie ist die größte Langweilerin der Klasse, ach, was sag ich,<br />

der Schule! Ständig läuft sie mit gesenktem Kopf herum,<br />

sagt kein Wort und geht jedem aus dem Weg. Kein Wunder,<br />

dass sie keine Freunde hat. Niemand will etwas mit ihr zu<br />

tun haben, selbst im Unterricht sagt sie nichts. Genau wie<br />

eben.<br />

Luca schüttelte den Kopf, während er zum Ausgang der<br />

Halle ging.<br />

Vielleicht hätte ich den letzten Satz nicht sagen sollen,<br />

der war ein bisschen hart. Aber ich war auch wütend und<br />

meine Ellbogen tun mir jetzt noch weh – sie hätte sich ja<br />

wenigstens entschuldigen können!<br />

Er ging auf einen breiten und viel besuchten Gang zu,<br />

über dessen Tor die Nummer 3 prangte. Dort würde er sich<br />

ablenken können. Doch auch während er darauf zuschritt,<br />

kreisten seine Gedanken weiterhin um Jenny. Sie hatte ein<br />

hübsches Gesicht, auch zog sie sich immer ganz cool an.<br />

Wenn sie nur nicht so furchtbar schüchtern wäre und sich<br />

nicht ständig in ihr Schneckenhaus verziehen würde, dann<br />

könnte man vielleicht was mit ihr anfangen.<br />

10 11


Wahrscheinlich war sie aber noch immer sauer auf ihn. Er<br />

konnte sich an eine Situation vor einiger Zeit erinnern. Mit<br />

seinen Kumpels hatte er schon im Klassenraum gesessen<br />

und sich lebhaft unterhalten – da war sie über seinen Fuß<br />

gestürzt. Luca hatte nicht bemerkt, dass er sein Bein ausgestreckt<br />

hatte, aber ausgerechnet sie hatte darüber stolpern<br />

müssen. Sie war so komisch gefallen, dass er gleich<br />

hatte loslachen müssen, und alle seine Freunde hatten mit<br />

eingestimmt.<br />

Eigentlich lache ich niemanden einfach aus. Nur diesmal,<br />

gab er zu, hatte sie ihn so komisch angesehen, dass er nicht<br />

anders gekonnt hatte.<br />

Er ging in Gang 3 hinein und schaute in eine der Nischen, in<br />

denen kurze Clips gezeigt wurden. Er fragte sich immer, wer<br />

die Filme drehte, denn noch nie hatte er jemanden mit einer<br />

Kamera gesehen. Oder waren sie in den Bäumen oder wo<br />

auch immer versteckt? Die Kameraführung war aber eher<br />

wie von jemandem, der sich überall hinbewegen konnte.<br />

Als er den Kopf durch den Schatten stieß, der die Nische<br />

wie ein Vorhang abgrenzte, begann sogleich ein Clip an der<br />

gegenüberliegenden Wand. Er zeigte einen Jungen auf einem<br />

Windbrett – das war er selbst! Gestern hatte er das erste<br />

Mal versucht, darauf zu stehen. Eigentlich hatte er gedacht,<br />

er würde das mit links meistern, da es einem Skateboard<br />

ähnelte und er früher sehr viel gefahren war. Aber da war<br />

er noch klein gewesen. Außerdem hatte das Windbrett keine<br />

Räder, sondern schwebte einfach in der Luft. Man konnte<br />

damit den Abhang hinuntersausen, auch wenn der Boden<br />

uneben war. So viele andere Besucher konnten es schon, da<br />

hatte er es auch einmal probieren wollen. Nun sah er sich<br />

selbst zu, wie er wackelig auf dem Brett stand und den<br />

Berg zur Stadt der acht Wunder hinunterrauschte. Da – ein<br />

Gebüsch tauchte auf. Er hatte es viel größer in Erinnerung,<br />

dabei war es eher ein Sträuchlein. Und sein Gesicht – zum<br />

Schreien komisch!<br />

Luca lachte laut. Er erinnerte sich,<br />

dass er sich nicht hatte entscheiden<br />

können: rechts herum oder lieber<br />

links? Oder einfach drüberbrettern?<br />

Er ruderte im Film so mit den<br />

Armen, wie sich die Flügel<br />

einer Windmühle drehen,<br />

und verbog sich so, dass sein<br />

Board alles andere tat als<br />

das, was er wollte. Er riss die<br />

Augen auf und aus seinem<br />

Mund kam ein langgezogenes<br />

„Aaaaaahhh!“<br />

12 13


„Möchtest du, dass auch andere Besucher diesen Clip<br />

sehen?“, fragte eine weibliche Stimme.<br />

Luca überlegte keinen Augenblick. „Ja, klar“, gab er zur<br />

Antwort. Er sah sich die Szene noch einmal an, und wieder<br />

musste er über sein Gesicht lachen. Einfach herrlich! So<br />

etwas Lustiges wollte er niemandem vorenthalten!<br />

„Lachen ist die beste Medizin“, hatte seine Oma immer<br />

gesagt. Luca schaffte es auch heute noch, sie zum Lachen<br />

zu bringen. Wenn sich andere über ihn lustig machten – na<br />

und? Bei dem Clip hatten sie auch allen Grund dazu, er war<br />

einfach zu komisch.<br />

„Du musst irgendwie auffallen, dann kommst du weiter“,<br />

hatte sein Opa früher gesagt. „Ob du im guten oder<br />

im schlechten Sinn auffällst – das ist egal. Die Leute werden<br />

dich immer in Erinnerung behalten und sogar deinen<br />

Namen kennen.“<br />

Ja, auffallen tat er, egal wo er war. Dazu brauchte er sich<br />

nicht einmal anzustrengen, das kam einfach so. Trotzdem<br />

glaubte er, dass seine Oma ein bisschen klüger war als sein<br />

Opa …<br />

Noch immer lachend verließ Luca die Nische. Würde Jenny<br />

doch nur einmal so herzlich lachen, ich glaube, dann würde<br />

sie ihre Scheu vor Menschen verlieren. Er presste kurz die<br />

Lippen aufeinander. Ne, die nicht. Die wird sich niemals<br />

ändern.<br />

Verärgert über seine Gedanken vergrub er die Hände in<br />

den Taschen. Dass er ausgerechnet in diesem tollen Land an<br />

sie denken musste – nein, seine Laune würde er sich nicht<br />

von ihr verderben lassen. Er wollte was erleben, Langeweile<br />

konnte er nicht gebrauchen.<br />

„Was machen wir heute?“, fragte ein Junge einen anderen.<br />

Beide waren etwa so alt wie er selbst und schlenderten ins<br />

Gespräch vertieft an ihm vorbei.<br />

„Vielleicht im Stinkenden Stiefel eine schwarze Wolke mit<br />

gelben Punkten erzeugen?“, antwortete der zweite. „Wenn<br />

man über hundert Punkte bekommt, soll das gehen.“<br />

„Hab ich schon versucht, ist total schwer“, winkte der<br />

erste Junge ab. „Aber was hältst du vom Grünen Dschungel?<br />

Das spielt man so ähnlich wie Pac-Man.“<br />

„Aber da muss man viel rennen. Wie wär’s mit Drachenfliegen?<br />

Ist nicht so anstrengend.“<br />

Der andere winkte mit der Hand ab. „Och nö, da muss<br />

man so lange anstehen und dann ist die Zeit vorbei. Komm,<br />

lass uns die Seifenkisten nehmen und in die Stadt hinuntersausen.<br />

Da unten gibt es einen megaguten Eisladen. Vogelgezwitscher<br />

soll jetzt eine neue Sorte sein, und ich würde<br />

endlich mal gern Glücksschwein probieren.“<br />

„Das schmeckt nach Marzipan mit Himbeerpops. Hast<br />

du schon mal Halloween probiert? Das Eis ist komplett<br />

schwarz, und mittendrin glotzen dich rote Augen an.“<br />

Luca war stehen geblieben, sodass er die nächsten Worte<br />

der beiden nicht mehr hörte. Er wusste jetzt, was er heute<br />

machen wollte: Drachenfliegen! Das hatte er immer schon<br />

tun wollen, und heute hatte er richtig Lust darauf.<br />

14 15


Er kehrte auf dem Absatz um – und prallte mit einem<br />

Mädchen zusammen. Doch hoffentlich nicht wieder Jenny,<br />

durchzuckte ihn ein Gedanke.<br />

Sie war es nicht, sondern ein blondes Mädchen mit Zöpfen.<br />

Erleichtert reichte er ihr eine Hand, um ihr aufzuhelfen.<br />

„Entschuldige, das war keine Absicht“, sagte er. „Du hast dir<br />

doch nicht wehgetan?“<br />

„Nein, ist noch mal gutgegangen“, lächelte sie. „Außerdem<br />

ist mir das vor ein paar Tagen selbst schon mal passiert.“<br />

„Echt?“ Luca lachte. „Du wirst es nicht glauben, mir sogar<br />

schon heute!“<br />

Die beiden verabschiedeten sich und er rannte durch<br />

den Gang zurück. Kurz steckte er den Kopf noch einmal in<br />

die Nische hinein, in der er ein so unglaublich verrücktes<br />

Gesicht machte. Laut lachend kam er wieder hervor und lief<br />

weiter zur Transportkugel, die auch Comet genannt wurde.<br />

Er fühlte sich gut, das Leben war toll. Und er würde heute<br />

auf einem Drachen fliegen, das wusste er einfach.<br />

Dass andere Kinder sich nach ihm umdrehten, als er noch<br />

immer kichernd in den Cometen stieg, störte ihn überhaupt<br />

nicht. Einige mussten sogar über ihn grinsen.<br />

Der Unterricht<br />

Die Dracheninsel war für jedermann zugänglich, und doch<br />

kamen nur wenige zum Unterricht, der hier jeden Tag stattfand.<br />

Das mochte wohl daran liegen, dass niemand in seiner<br />

Freizeit freiwillig unterrichtet werden wollte – doch für<br />

Jenny war das die beste Zeit am Tag. Sollten die anderen die<br />

Dinosaurier und Drachen ruhig draußen von Weitem bestaunen<br />

– sie würde ganz nah bei ihnen sein und vielleicht sogar<br />

einmal auf einem reiten. Das war ihr sehnlichster Wunsch<br />

seit fast einem Jahr. So lange kam sie schon hierher und<br />

besuchte täglich die Drachenschule.<br />

„Jenny, gut dass du da bist!“ Ein älterer Mann mit zerzausten<br />

Haaren und kleiner Brille trabte sofort auf sie zu,<br />

kaum dass sie im Türrahmen erschienen war. Professor<br />

Franklin hatte einen weißen Kittel an, als wäre er ein echter<br />

Doktor. Vermutlich war er der einzige Erwachsene, der<br />

sich den Besuchern in Mirathasia zeigen durfte. Ansonsten<br />

gab es nur noch die Roboter-Helferinnen – auch Madlinas<br />

genannt – oder diejenigen, die im Ankunftszentrum hinter<br />

der verschlossenen Tür mit der Aufschrift PRIVAT blieben.<br />

„Ich sollte noch mehr Kopien machen, damit auch jeder<br />

ein Blatt bekommt. Heute sind wir viele“, sagte er zu ihr.<br />

16 17


Enttäuscht sah sich Jenny im Schulungsraum um. Tatsächlich,<br />

nur wenige Plätze waren noch frei. Dann würde<br />

sie wieder nicht zum Drachenreiten kommen. Egal, sagte sie<br />

sich. Es ist trotzdem sehr schön hier!<br />

„Kannst du bitte schon mal die Blätter verteilen?“ Professor<br />

Franklin drückte ihr einen Stapel Papier in die Hand und<br />

wandte sich ab, ohne ihre Antwort abzuwarten.<br />

Natürlich kannte der Professor sie schon so gut, dass er sie<br />

gleich einspannen konnte. Jenny half ihm gern, übernahm hin<br />

und wieder kleinere Dienste, damit er zügig durch den Unterricht<br />

kam. Sie ging durch die Reihen und legte jedem Anwesenden<br />

ein Blatt hin. Auf einmal stutzte sie. Nur eine Reihe<br />

weiter starrte jemand sie unablässig an. Als sie genauer hinsah,<br />

sackten ihre Schultern herab. Nicht schon wieder!<br />

Dass ausgerechnet Luca hier mitmachte, konnte sie gar<br />

nicht fassen. Aber gut, da musste sie durch. Ihre Bewegungen<br />

waren fließend und sie stockte auch nicht, als sie in<br />

seine Nähe kam.<br />

„Na, hoffentlich rennst du mich hier nicht auch noch über<br />

den Haufen“, sagte er scherzend. „Am besten bleibst du ganz<br />

hinten, damit keiner der Drachen Angst vor dir bekommt.“<br />

Er lachte laut.<br />

Ich gebe mir Mühe, dachte sie. Doch sie sagte es nicht,<br />

denn sie wusste, dass Luca ihr entweder das Wort im Mund<br />

herumdrehen oder sich anderweitig über sie lustig machen<br />

würde. Darauf konnte sie gut verzichten!<br />

Professor Franklin kam eilig wieder hereingestolpert.<br />

Jenny mochte ihn sehr, er machte den Eindruck eines typischen<br />

liebenswerten Professors, der viele Formeln im Kopf<br />

hat und dadurch alles andere vergisst. Wie die weiteren<br />

Kopien zum Beispiel, denn er hatte keine mitgebracht. Aber<br />

das war auch nicht nötig, denn jeder hatte ein Blatt bekommen<br />

und sie selbst brauchte keines. Schnell suchte sie sich<br />

in der hintersten Reihe einen Platz.<br />

„Meine Lieben!“, begrüßte Professor Franklin die Gruppe<br />

strahlend. „Wir werden heute etwas ganz Außergewöhnliches<br />

beobachten können. Unsere Flugdrachen sind heute<br />

besonders aufgeweckt und freuen sich auf einen Rundflug<br />

mit euch …“<br />

Alle Anwesenden jubelten. Natürlich wollte jeder einmal<br />

auf einem Drachen reiten und sich filmen lassen, damit man<br />

18 19


einen Tag später von anderen Besuchern bewundert wurde.<br />

In den besagten Nischen schauten sich die Leute ständig<br />

diese Clips an, vielleicht, weil sie selbst einmal fliegen<br />

wollten. Jenny presste die Lippen aufeinander. Die meisten<br />

taten es nur, um sich selbst darzustellen, keiner dachte an<br />

das Tier. Sie konnte sehen, wie schrecklich verkrampft die<br />

Reiter oft im Sattel saßen und wie wenig motiviert die Tiere<br />

bei ihrem Flug waren, weil die Reiter kaum auf sie achteten.<br />

Jenny wusste, dass man den Drachen mit Respekt begegnen<br />

sollte, aber die meisten bestanden nur auf ihren Flug – und<br />

das war es dann.<br />

Professor Franklin hatte bereits weitererzählt, was sie<br />

erwartete, wenn sie einmal auf dem Rücken eines Tieres<br />

saßen. Natürlich kannte Jenny den Inhalt seiner Rede und<br />

wusste auch, was nun kam. So überraschte es sie nicht, als<br />

er die Frage stellte: „Was glaubt ihr, wie unsere Drachen<br />

reagieren, wenn sie Gefahr wittern?“<br />

„Feuer spucken“, kam es prompt von einigen Anwesenden.<br />

„Das könnte man wohl so denken.“ Professor Franklin<br />

lächelte. „Aber unsere Drachen können kein Feuer speien.<br />

Nicht hier in Mirathasia. Hat noch jemand eine Idee?“<br />

Nach einigem Zögern kam von einem Mädchen der Vorschlag:<br />

„Sie schlagen wild mit ihren Flügeln.“ Doch auch das<br />

war falsch. Jemand anderes hatte die Idee, dass Drachen<br />

ihren Feind zertrampeln oder in der Luft zerfetzen würden.<br />

Der Professor schüttelte sich daraufhin nur, er fand die Vorstellung<br />

grausig. Jenny überlegte, ob sie sich melden sollte.<br />

Das hatte sie bisher weder hier noch in der Schule getan,<br />

obwohl sie meist alles wusste. Aber die Reaktionen ihrer<br />

Mitschüler waren immer gleich gewesen: Je öfter sie sich<br />

gemeldet hatte, desto mehr war sie ausgestoßen worden.<br />

„Jenny, kannst du uns das sagen?“, fragte Professor<br />

Franklin plötzlich.<br />

„Furzen!“, schoss es prompt aus ihrem Mund.<br />

Der ganze Saal lachte. Wie immer, dachte Jenny. Und<br />

diesmal war einer dabei, der besonders laut lachte. Luca<br />

drehte sich zu ihr um, und als sich ihre Blicke trafen, packte<br />

ihn erneut ein Lachkrampf. Alle anderen waren längst verstummt,<br />

doch er gackerte weiter.<br />

Typisch!<br />

20 21


Lachen!<br />

Ein <strong>Drachenfurz</strong>! Luca konnte sich kaum auf der Bank halten,<br />

so sehr amüsierte ihn der Gedanke. Was für eine köstliche<br />

Idee! Ihm stiegen vor Lachen Tränen in die Augen.<br />

„Ich schmeiß mich weg!“, rief er.<br />

Er stellte sich vor, wie ein Drache in seinem Nest saß und<br />

einen Furz herauspresste – Augen zugekniffen, die Wangen<br />

aufgeplustert und aus den Nüstern quollen Rauchschwaden,<br />

bevor es unten losging. Oder wie er einen Babydrachen<br />

in die Klasse mitnahm. Wenn sie dann Erdkunde hätten und<br />

ihr Lehrer zur Tür hereinkäme – bestimmt würde der Drache<br />

vor Schreck furzen. Einer nach dem anderen würde zu<br />

Boden sinken. Natürlich müsste er selbst verschont bleiben,<br />

sonst hätte er ja keinen Spaß an der Sache. Aber selbst wenn<br />

nicht – der Gedanke war einfach zu lustig!<br />

„Genau!“, übertönte Professor Franklin sein Gelächter.<br />

„Die beste Abwehr eines Drachen ist der <strong>Drachenfurz</strong>!“<br />

Mist, jetzt muss ich mich aber mal zusammenreißen!<br />

Schlagartig wandelte Luca sein Gelächter in einen Husten<br />

um, der immer leiser wurde. Er wollte ja nicht ständig auffallen,<br />

aber wenn er einmal Spaß an etwas hatte, dauerte es<br />

lange, bis er sich wieder beruhigen konnte.<br />

„Solltet ihr jemals einen wirklich üblen Geruch in der Nähe<br />

eines Drachen feststellen, so solltet ihr sofort und ohne<br />

nachzudenken den Ort verlassen. Was auch immer geschehen<br />

ist, flüchtet!“ Professor Franklin verschränkte die Hände<br />

auf dem Rücken und tigerte vor den Tischreihen auf und ab.<br />

„Ich möchte euch wirklich nicht erschrecken, doch diese<br />

Warnung müsst ihr unbedingt beherzigen. Vor einiger Zeit<br />

wurden unsere Drachen einmal angegriffen und ich wollte<br />

es beobachten – aber ich kam nicht dazu. Der Gestank war<br />

so widerlich, dass ich ohnmächtig zusammenbrach.“<br />

Jemand kicherte leise. Diesmal bin ich das nicht, dachte<br />

Luca.<br />

„Jetzt stellt euch mal vor, der Feind wäre ein Dinosaurier,<br />

wie sie zahlreich auf unserer Insel vorkommen. Die beiden<br />

würden miteinander kämpfen und ihr würdet da wehrlos<br />

auf dem Boden liegen – ich war damals jedenfalls froh, nach<br />

einiger Zeit unversehrt wieder aufzuwachen. Trotzdem,<br />

nehmt meine Warnung ernst!“<br />

Diesmal herrschte betretenes Schweigen.<br />

„Natürlich tut keiner unserer Dinos auch nur einer Fliege<br />

etwas zuleide“, fuhr der Professor fort. „Aber vielleicht werden<br />

sie durch das Verhalten eines Besuchers aufgeschreckt<br />

und flüchten ausgerechnet auf das Nest eines Drachen zu.<br />

Wenn ein Drache ein Ei gelegt hat, behütet er es Tag und<br />

Nacht. Niemand darf in seine Nähe geraten, sonst verteidigt<br />

er es mit allen Mitteln, die er hat. Das ist seine Natur.“<br />

Das würde ich auch tun. Drachen sind großartig!<br />

22 23


Jetzt klatschte Professor Franklin fröhlich in die Hände.<br />

„Ich habe euch aber auch etwas Wunderbares mitzuteilen:<br />

Wir haben es geschafft, das trächtige Weibchen Malliah in<br />

einer sicheren Höhle unterzubringen, wo sie ihr Ei gelegt<br />

hat und es nun behütet. Wenn mich nicht alles täuscht,<br />

könnte bei diesem Silberdrachen der Nachwuchs schon bald<br />

schlüpfen. Wir dürfen zwar nicht ganz nah herangehen,<br />

aber es wird reichen, um dieses unglaublich seltene Schauspiel<br />

mitzuerleben.“<br />

Luca fuhr auf. Ein Babydrache könnte heute schlüpfen?<br />

Cool!<br />

„Müssen wir uns das angucken oder dürfen wir gleich<br />

zum Drachenreiten?“, fragte ein Junge.<br />

Das Gesicht des Professors wirkte sogleich betreten.<br />

„Natürlich ist es euch überlassen, ob ihr beim Schlüpfen<br />

zuschauen wollt oder nicht. Aber bedenkt, dass ihr so etwas<br />

Seltenes wahrscheinlich in den nächsten Jahren nicht noch<br />

einmal erleben werdet.“<br />

Luca freute sich. Zum Drachenfliegen würde er irgendwann<br />

noch mal kommen, aber dass er zusehen durfte, wie<br />

ein winziges Wesen aus dem Ei schlüpfte, das wollte er sich<br />

nicht entgehen lassen. Er musste noch mehr darüber erfahren!<br />

Wie lange dauerte das Brüten, wann merkte man, dass<br />

es so weit war, und würde er ein Stück der Schale mal anfassen<br />

dürfen?<br />

Nach den Ausführungen des Professors über das Fliegen<br />

musste sich Luca am Ende des Unterrichts beeilen, um ihm<br />

all seine Fragen zu stellen. Er rannte zum Ausgang.<br />

Was wird Jenny tun?, fragte er sich und drehte sich nach<br />

ihr um. In dem Moment knallte er mit dem Kopf gegen den<br />

Türrahmen. Au verflucht! Er lachte auf. Wie blöd von mir!<br />

Er schüttelte sich und kämpfte sich zum Professor vor.<br />

„Ich hab übrigens auch ein Ei“, sagte er und zeigte auf seine<br />

Stirn. Wenn er sich nicht täuschte, wuchs dort bereits eine<br />

Beule. Professor Franklin betrachtete sie entsetzt. „Aber<br />

keine Bange, daraus wird sicher nichts schlüpfen.“<br />

Und dann lachte er wieder, so laut, dass der Professor ihn<br />

ermahnen musste. Für Lucas Fragen blieb dann leider keine<br />

Zeit mehr.<br />

24 25


Der Wunsch<br />

Jenny konnte während des Unterrichts kaum verwinden,<br />

dass Luca so über sie gelacht hatte. Wie ich das hasse! Aber<br />

als sie dann hörte, dass heute vielleicht das Drachenbaby<br />

schlüpfen würde, sah sie dem Professor die Begeisterung<br />

an. Auch sie brannte schon lange darauf, so etwas einmal<br />

sehen zu dürfen. Sollte es heute tatsächlich so weit sein?<br />

Der Professor fuhr aber erst einmal mit seinen Anweisungen<br />

fort, wie sich ein Drachenreiter beim Flug zu verhalten<br />

habe. Jenny hörte das Tuscheln in den Reihen. Die wenigsten<br />

hörten richtig zu, sie wollten einfach nur den Kick erleben,<br />

einmal in einem Sattel zu sitzen und über die Wälder zu<br />

schweben.<br />

Es muss toll sein, dachte Jenny. Sie wünschte sich so einen<br />

Flug seit so langer Zeit, dass sie sogar vor dem Einschlafen<br />

immer wieder all die Abläufe durchging, wie sie sich einem<br />

Drachen gegenüber verhalten müsste. Es war so wichtig,<br />

dass man hier zuhörte, und doch tat das kaum jemand.<br />

„Nun“, beendete Professor Franklin seine Rede, „dann wollen<br />

wir aufbrechen. All jene, die zur Drachendame Malliah<br />

mitkommen wollen, folgen mir bitte, die anderen gehen mit<br />

der Madlina.“<br />

Wie auf ein Zeichen betrat eine Frau den Raum. Natürlich<br />

lächelte die Madlina freundlich, denn das taten Roboter<br />

oder ihresgleichen immer. Auch hatte sie ihre Kappe mit<br />

der Aufschrift Mirathasia auf und war genauso gekleidet<br />

wie alle anderen Roboterfrauen, nämlich in Jeans und einer<br />

weißen Bluse. Natürlich wusste sie den Namen des Kindes,<br />

wenn man etwas von ihr wollte. Trotzdem vergaß man<br />

schnell, dass sie kein Mensch war, denn sie bewegte sich wie<br />

eine Erwachsene und redete ganz normal.<br />

Jenny zählte sieben Kinder, die sofort den Drachenflug<br />

angehen wollten. Sechs Drachen standen zur Verfügung,<br />

also musste ein Kind warten. Sollte sie sich der Gruppe<br />

trotzdem anschließen? Die Chance, endlich einmal dranzukommen,<br />

war sehr hoch. Normalerweise ging immer die<br />

gesamte Gruppe zur Startrampe, doch ehe Jenny dann<br />

selbst an die Reihe kam, war ihre Zeit in Mirathasia schon<br />

um und sie wurde nach Hause geschickt. So war es jedes Mal<br />

gewesen. Vordrängeln, wie die anderen es oft taten, hasste<br />

sie. Auch in der Schule machte sie nirgends mit, drängte<br />

sich nirgendwo dazwischen. Im Sportunterricht wurde sie<br />

bei Spielen von keiner Gruppe mehr gewählt, sodass sie oft<br />

nur auf der Bank sitzen konnte. Und wenn sie doch mal in<br />

einer Gruppe mitmachen durfte, hielt sie sich zurück, um<br />

niemandem im Weg zu stehen. Natürlich brachte ihr dieses<br />

Verhalten schlechte Noten ein, doch das nahm sie in Kauf.<br />

Sie wollte einfach nicht mit in der Masse schwimmen, nicht<br />

darum kämpfen, schneller, besser oder was auch immer<br />

26 27


zu sein. Nein, sie stellte sich freiwillig hinten an. Sollten die<br />

anderen ihre Rivalitäten austragen, sie musste da nicht mitmischen.<br />

Insofern war es eine einmalige Chance, endlich einmal<br />

ohne Stress das zu tun, was sie schon immer hatte tun wollen:<br />

Auf einem Drachen über die Berge fliegen und die wunderbare<br />

Aussicht auf Mirathasia genießen.<br />

Doch wenn das Drachenbaby genau zu dem Zeitpunkt<br />

schlüpfte? Dann würde sie dieses Ereignis verpassen!<br />

Jenny beeilte sich, Professor Franklin zu folgen. Plaudernd<br />

schritt die Gruppe bereits einen Gang entlang, der<br />

mit leuchtenden Glitzersteinen ausgekleidet war. Sie entdeckte<br />

Luca. Natürlich ging er ganz vorne und wieder lachte<br />

er. Eigentlich hätte sie gedacht, er würde gleich zum Drachenfliegen<br />

gehen wollen, aber anscheinend war er an dem<br />

Ei mehr interessiert.<br />

Endlich kamen sie zu einer von Tageslicht erhellten Höhle.<br />

Jenny blieb direkt neben dem Eingang stehen, um alle Eindrücke<br />

in sich aufzusaugen.<br />

Das Licht fiel von rechts oben so herein, dass ein großer<br />

Teil des Raums erhellt wurde. Die Wände bestanden aus<br />

rauem Felsgestein und es gab außer dieser einen Öffnung<br />

keine weiteren Fenster. In einer Nische hockte Malliah,<br />

mächtig und Ehrfurcht gebietend, wie Drachen nun einmal<br />

sind. Ihre Schuppen glänzten silbrig, ihr Bauch dagegen<br />

leuchtete in einem grellen Rot, die Flügelenden schimmerten<br />

tiefschwarz. Sie schnaubte ein paar Mal durch die Nüs-<br />

tern, doch als Professor Franklin zwei Schritte auf sie zuging<br />

und sich vor ihr verneigte, schien sie beruhigt zu sein. Erst<br />

dann ließ er alle Schüler sich in ausreichendem Abstand zu<br />

ihr aufstellen.<br />

„Jetzt dürft ihr näher an sie herantreten“, erklärte der<br />

Professor leise. „Ich habe ihr gezeigt, dass wir Respekt vor<br />

ihr haben, denn nur dann ist sie bereit, uns das Ei zu zeigen.<br />

Seht!“<br />

Malliah erhob sich vorsichtig von ihrem mit Stroh ausgelegten<br />

Lager. Kurz breitete sie die Flügel aus, sodass Jenny<br />

die wunderschöne Zeichnung ihrer Schuppen sehen konnte.<br />

Das Tier war größer als die anderen Flugdrachen, das<br />

erkannte sie sofort. Außerdem war sie von einer so überwältigenden<br />

Schönheit, dass Jenny der Mund offen stand.<br />

28 29


Als die Drachendame mit einem Schritt zur Seite das Ei freilegte,<br />

gaben auch alle anderen ein verzücktes „Ohh!“ von<br />

sich.<br />

Von ihrem Standort aus konnte Jenny das Ei nicht sehen,<br />

doch sie beobachtete zufrieden die Drachendame. Später<br />

würde sie alles genau betrachten können, wenn die ersten<br />

Kinder wieder fort waren. Bestimmt rannten einige gleich<br />

hinüber zur Rampe, damit sie nur ja nicht den Drachenflug<br />

verpassten.<br />

Mit einem Mal wurde Malliah unruhig. Irgendetwas schien<br />

sie zu wittern, sie blähte die Nüstern auf und zog sie wieder<br />

zusammen. Auch warf sie den Kopf von rechts nach links,<br />

als suchte sie nach der Quelle ihrer Unruhe. Die Vorderpfote<br />

mit den silbernen Krallen legte sie schützend über das Ei,<br />

als wäre es bedroht.<br />

Jenny beobachtete die Gruppe, die sich nun doch recht<br />

nah um Malliah und das Ei geschart hatte. Luca konnte sie<br />

nicht entdecken, aber sein Lachen hallte von den Wänden<br />

wider. Vermutlich stand er wieder ganz vorn und versuchte<br />

mit Witzen auf sich aufmerksam zu machen. Störte Malliah<br />

vielleicht sein Gegacker? Professor Franklin gebot ihm<br />

bereits, leiser zu sein.<br />

Zwei andere Jugendliche hielten sich etwas abseits. Jenny<br />

fiel auf, dass sie die Köpfe zusammengesteckt hatten. Mit<br />

irgendetwas hantierten sie, doch sie konnte nicht erkennen,<br />

was es war. Von ihrer Größe her hätten die beiden gut vorne<br />

stehen können, denn sie sahen angsteinflößend aus. Jeden-<br />

falls war das in ihrer Klasse so: Die Lautesten und Stärksten<br />

bekamen immer die besten Plätze, und sie selbst wurde<br />

nach hinten gedrängt. Doch die beiden Typen hier wollten<br />

gar nicht das Ei sehen, wie es schien. Der eine trug ein Armband<br />

mit spitzen Stacheln, mit dem er sich jeden vom Leib<br />

halten konnte, der ihm zu nah kam. Die Frisur des zweiten<br />

fiel besonders auf, da er sich alles Haar abrasiert hatte bis<br />

auf einen länglichen Streifen, der wie ein Kamm nach oben<br />

abstand.<br />

Da – sie zogen sich etwas über die Köpfe. Waren das Gasmasken?<br />

Jenny versuchte zu begreifen, was die beiden im<br />

Schilde führten, aber mit einem Mal ging alles so schnell,<br />

dass sie nur hilflos zusehen konnte. Etwas klirrte leise, als<br />

wäre ein Stück Glas zersplittert. Malliah war jetzt so ungehalten,<br />

dass sie wild mit den Flügeln schlug. Offensichtlich<br />

hatten die beiden Jungen etwas zerbrochen, das einen<br />

Geruch verströmte, der die Drachin in Angst und Schrecken<br />

versetzte. Die Besucher ganz vorn schrien auf und wichen<br />

erschrocken zurück. Einige würgten und jemand rief: „<strong>Drachenfurz</strong>!“<br />

Professor Franklin hielt sich ein Taschentuch vor den<br />

Mund, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. „Verlasst<br />

sofort diesen Raum“, rief er panisch.<br />

Im Nu war ein heilloses Durcheinander ausgebrochen,<br />

alle Anwesenden ergriffen die Flucht und versuchten, sich<br />

durch die enge Tür zu drängen. Da Jenny direkt danebenstand,<br />

beobachtete sie, wie rücksichtslos einer den anderen<br />

30 31


eiseiteschob, um selbst als Erster von diesem Ort wegzukommen.<br />

Jetzt roch Jenny es auch: Einen sehr unangenehmen<br />

Gestank, der sie zuerst schwach, dann aber als dicke Wolke<br />

einhüllte. Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben, wie die Stimmen<br />

sich in ihrem Kopf miteinander vermischten und die<br />

Schreie der anderen wie das Kreischen einer schrillen Kreissäge<br />

anschwollen. Langsam sackte sie zu Boden. Mit flackernden<br />

Augenlidern erkannte sie noch, dass die meisten<br />

Besucher die Höhle verlassen konnten und außer ihr nur<br />

wenige andere dem <strong>Drachenfurz</strong> zum Opfer fielen.<br />

„Ich wünsche mir frische Luft!“, röchelte Jenny.<br />

Sie wusste, dass sie damit ihren einzigen Wunsch verbrauchte,<br />

den sie heute in Mirathasia hatte. Aber sie wollte<br />

hier nicht ohnmächtig herumliegen, ohne mitzubekommen,<br />

was die beiden Typen vorhatten. Sogleich spürte sie einen<br />

Windhauch, der den schrecklichen Gestank von ihr fortblies.<br />

Jedoch nicht genug – oder das Gas kam noch von anderen<br />

Seiten, sodass sie weiterhin benommen war. Da der Raum<br />

nun wie leergefegt war, konnte sie die beiden mit den Gasmasken<br />

beobachten. Gerade gingen sie auf das Nest zu –<br />

und da bekam Jenny einen gewaltigen Schreck: Malliah lag<br />

ebenfalls betäubt auf dem Boden, das Ei war ungeschützt!<br />

Die Diebe<br />

Was für ein Chaos! Gerade noch hatte er über einen Witz<br />

des Professors gelacht, da machte sich der abscheuliche<br />

Geruch bemerkbar. Wie die anderen in seiner Umgebung<br />

musste auch Luca würgen. Schnell versuchte er herauszufinden,<br />

woher die Bedrohung kam. Wenn Malliah in Gefahr<br />

war, musste er ihr zur Seite stehen. Doch bei diesem ekligen<br />

Gestank fühlte er sich wie gelähmt … er spürte, wie ihm<br />

die Muskeln in den Beinen mehr und mehr versagten. Dann<br />

dachte er an die Warnung des Professors. Vielleicht sollte<br />

er doch so schnell wie möglich hinausrennen. Der Ausgang<br />

war eng, da schubste einer den anderen zur Seite. Und da –<br />

Jenny stand einfach nur da und tat gar nichts.<br />

Wie immer!, dachte Luca zornig.<br />

Er musste zu ihr und sie von hier fortschaffen. Wollte sie<br />

wirklich als Letzte den Raum verlassen? Das konnte doch<br />

nicht ihr Ernst sein!<br />

Er lief auf sie zu. Da rempelte ihn jemand an, er wankte,<br />

verlor das Gleichgewicht und stützte sich mit den Händen<br />

am Boden ab.<br />

Weiter! Du musst Jenny retten und rauslaufen. Halt die<br />

Luft an!<br />

32 33


Er raffte sich auf und torkelte auf Jenny zu, die bereits in<br />

die Knie ging.<br />

Oh nein, sie wird sich verletzen!<br />

Seine Beine wurden schwer. Mühsam setzte er einen Fuß<br />

vor den anderen. Die Luft wurde knapp. Er musste atmen!<br />

Dann würde er aber selbst den Gestank einatmen. Er stolperte<br />

weiter. Gleich war er bei ihr. Würde er noch die Kraft<br />

haben, sie aus dem Raum zu ziehen? Er spürte, wie seine<br />

Sinne verrücktspielten. Der Raum drehte sich, er konnte<br />

nicht mehr gerade gehen. Knapp neben Jenny sackte er<br />

schließlich zusammen, total frustriert darüber, es nicht<br />

geschafft zu haben.<br />

Aber was war das? Ein Windzug blies diesen schrecklichen<br />

Gestank weg. Sein Blick wurde klarer und er konnte wieder<br />

vernünftig denken. Da gingen zwei Typen mit Gasmasken<br />

auf dem Kopf auf Malliah zu – die mussten gewusst haben,<br />

dass die Drachin furzen würde!<br />

Typisch! Luca kannte die beiden. Immer wieder war er bei<br />

seinen Besuchen in Mirathasia einer sechsköpfigen <strong>Band</strong>e<br />

über den Weg gelaufen, deren Boss der fiese, schleimige<br />

Carlos war. Diese beiden Kerle waren seine Leibwächter.<br />

Groß, breitschultrig, aggressiv. Ein einziges Mal hatte er sich<br />

mit denen angelegt – nie wieder würde er das tun!<br />

Zum Glück hatte er damals seinen Wunsch übriggehabt,<br />

der ihn vorzeitig nach Hause gebracht hatte, bevor<br />

die <strong>Band</strong>e ihn hatte windelweich prügeln können. Warum<br />

er diesen schmierigen Typen aber so oft über den Weg lief,<br />

konnte er sich nicht erklären, wo doch jeder nur einmal am<br />

Tag hierherkommen konnte.<br />

Lucas Glieder waren schwer wie Blei, er konnte jetzt nur<br />

beobachten. Der eine Junge, der ein Stachelarmband am<br />

Handgelenk trug, hieß Berret, das wusste er. Er machte sich<br />

an Malliah zu schaffen und hob gerade ihren schlaffen Flügel<br />

hoch. Sein Kumpel mit Namen Gerome hatte die Haare<br />

zu einem Hahnenkamm hochgebürstet. Er wuchtete das<br />

Ei hervor, wobei er sich echt ungeschickt anstellte. Beide<br />

fluchten und beschimpften sich gegenseitig, als wären sie<br />

ständige Rivalen. Hören konnte Luca wegen der Masken der<br />

beiden nur dumpfe und verzerrte Worte. Malliah zuckte<br />

unruhig, doch die beiden Typen hatten offensichtlich ein<br />

weiteres Gas freigesetzt, das sie betäubt hatte. Irgendein<br />

Teil ihres Bewusstseins musste aber wach sein, denn immer<br />

34 35


wieder schob sie den einen Flügel vor, als versuchte sie, ihr<br />

Ungeborenes zu schützen.<br />

Die wollen das Ei stehlen!<br />

Luca bemühte sich, den Kopf zu heben, doch seine Glieder<br />

versagten ihm den Dienst. Immerhin war er nicht so betäubt<br />

wie einige andere. Professor Franklin lag nur wenige Schritte<br />

neben ihm und hatte die Augen geschlossen.<br />

Hoffentlich geht es allen gut und sie haben sich beim Hinfallen<br />

nicht verletzt!<br />

Gerome nahm nun das Ei an sich und schleppte es dicht<br />

an den Bauch gedrückt vor sich her. Beide Jugendliche kletterten<br />

den Geröllhang zu der Höhlenöffnung hinauf und<br />

verschwanden im grellen Sonnenlicht.<br />

Langsam spürte Luca, wie seine Glieder erwachten. Der<br />

Wind pfiff ihm um die Ohren und vertrieb zunehmend den<br />

Gestank. Wie konnte er hier nur so herumliegen? Er musste<br />

den Typen hinterherkraxeln, aber so schnell wie möglich!<br />

Die Verfolgung<br />

Endlich konnte sie sich erheben, auch wenn ihre Beine noch<br />

wackelten und sie sich an der Wand abstützen musste. Was<br />

für eine Gemeinheit, Malliah einfach ihr Ei zu stehlen! Noch<br />

immer lag die Drachin benommen in ihrem Nest. Wann<br />

würde sie wieder bei Kräften sein, um es sich zurückzuholen?<br />

Wenn die beiden Jungen mit dem Ei verschwanden,<br />

würde das Drachenbaby irgendwann schlüpfen und seine<br />

Mama nicht sehen – eine einzige Katastrophe!<br />

Ich muss sie verfolgen!<br />

Wankend hielt sie auf die Öffnung zu. Ein Stöhnen ließ sie<br />

herumfahren. Da war noch jemand wach! Luca lag direkt<br />

neben ihr, jetzt hob er den Kopf.<br />

„Warte auf mich“, brabbelte er benommen.<br />

Ausgerechnet der!<br />

Jenny verzog den Mund. Dann aber besann sie sich. Zu<br />

zweit könnten sie die Diebe besser verfolgen und sie vielleicht<br />

sogar zur Rede stellen – allein hätte sie wohl kaum<br />

eine Chance.<br />

„Komm schnell, bevor sie weg sind!“, rief Jenny ihm zu.<br />

Sie wartete nicht, bis er sie einholte, sondern kletterte<br />

auf allen vieren die paar Meter zur Öffnung hinauf, bis sie<br />

36 37


warme Luft im Gesicht spürte. Wie herrlich es doch hier in<br />

Mirathasia war! Der Ausblick aus dieser Höhle war wirklich<br />

toll, sie konnte über den Teil der Insel schauen, der nicht<br />

so häufig genutzt wurde. Vögel zwitscherten in den Ästen<br />

und hin und wieder schaute der Kopf eines Langhalses zwischen<br />

den Baumwipfeln hervor. Auf der anderen Seite ging<br />

es eher zu wie auf dem Rummelplatz. Nicht nur, dass man<br />

dort mit dem Cometen landete, sondern man konnte auch<br />

in großflächigen Gehegen zahme Dinosaurier und Drachen<br />

bewundern. Das Highlight war natürlich ein Streichelzoo<br />

mit Baby-Dinos, die Jenny anfangs auch sehr oft besucht<br />

hatte. Irgendwann hatte sie aber entdeckt, dass man –<br />

sofern man den Mut besaß – sich auch in die echte Wildnis<br />

hineintrauen konnte. Je nachdem, wie furchtlos man war,<br />

kam man den wild lebenden Dinos so nah, dass man ihnen<br />

frische Blätter zu Fressen geben konnte. Es waren natürlich<br />

alles pflanzenfressende Tiere, sodass es keine Gefahr für die<br />

Besucher gab. Trotzdem musste man aufpassen, dass man<br />

nicht aus Versehen von einem Langhals zertrampelt wurde.<br />

Die Insel war mit Bäumen übersät, doch der Berg, der<br />

aussah wie ein riesiger Echsenkopf, war weiter oben in der<br />

Nähe der Hörner mit nur wenigen Sträuchern bewachsen.<br />

Und da – Jenny entdeckte die beiden Jungen mit dem Drachenei.<br />

Sie hielten auf eins der beiden Hörner zu, in dem eine<br />

Öffnung zu sein schien.<br />

„Wow, ist das steil!“, schnaufte Luca neben ihr. Gerade erst<br />

hatte er zu ihr aufgeschlossen und lugte aus der Öffnung<br />

der Höhle.<br />

„Schau am besten nicht runter“, empfahl sie ihm.<br />

„Hast du die beiden Typen mit dem Ei gesehen?“, fragte er<br />

grimmig.<br />

Jenny nickte und zeigte nach oben. „Da drüben sind sie.<br />

Sie haben das Ei gestohlen. Wir müssen sie verfolgen.“<br />

„Das sind Gerome und Berret“, klärte er sie auf. „Ich hab<br />

die beiden schon im Unterrichtsraum entdeckt. Normalerweise<br />

sind sie in Carlos’ <strong>Band</strong>e und mischen dort lautstark<br />

mit. Doch hier haben sie sich zurückgehalten und höchstens<br />

mal leise gekichert.“<br />

„Dann wollten sie wohl nicht auffallen“, mutmaßte Jenny.<br />

„Also haben die beiden den <strong>Drachenfurz</strong> versprüht, damit<br />

sie das Ei stehlen konnten?“, fragte er.<br />

38 39


„Nein“, korrigierte ihn Jenny. „Ich konnte beobachten, wie<br />

sie eine Ampulle zertreten haben, und das hat Malliah in<br />

Angst versetzt.“<br />

„Dann hat Malliah gespürt, dass die was Gemeines vorhatten“,<br />

schnaubte Luca. „Und dann den Furz losgelassen.“<br />

„Genau, denn dieses Zeug aus der Ampulle hat anschließend<br />

sogar die Drachin betäubt.“ Jenny lugte weiter vor, um<br />

zu sehen, wo die beiden Diebe hingeklettert waren. „Komm,<br />

wir müssen sie verfolgen. Ich hoffe, dass wir sie da oben<br />

nicht verlieren, dort war ich noch nie.“<br />

Luca nickte und kletterte aus dem Ausgang der Drachenhöhle.<br />

„Ich warte oben auf dich, du bleibst ja eh zurück.“<br />

Das werden wir ja sehen, dachte Jenny grimmig.<br />

Kraxelei<br />

Die kann ja tatsächlich reden!<br />

Noch immer überrascht, dass er sich so gut mit Jenny<br />

unterhalten hatte, starrte er ihr nach. Sie war hier ganz<br />

anders als in der Schule, viel aufgeschlossener. Und dann<br />

hatte sie noch gesagt, er solle mitkommen.<br />

Sie wollte mit ihm zusammen<br />

das Drachenei zurückholen!<br />

Niemals hätte er ihr das zugetraut.<br />

Und nun kraxelte sie an<br />

ihm vorbei, als hätte sie<br />

nie etwas anderes getan.<br />

Wow, und sportlich ist<br />

sie auch!<br />

40 41


Luca unterdrückte ein Lachen. Er hatte Jenny vollkommen<br />

unterschätzt! Und jetzt wuselte sie voran und er musste<br />

schauen, wie er hinterherkam. So eine Überraschung. Er<br />

beeilte sich, aufzuholen. Der Abhang bis zum Eingang am<br />

Horn der Riesenechse war recht steil und er musste zugeben,<br />

dass er Mühe hatte, den besten Weg zu finden. Jenny<br />

schien aber den Überblick zu haben, sie arbeitete sich Stück<br />

für Stück hinauf. Nach einiger Zeit hatte sie einen guten Vorsprung,<br />

während er ächzend hinter ihr herkletterte. In einer<br />

Felseinbuchtung wartete sie auf ihn.<br />

„Ich wusste ja gar nicht, dass du so sportlich bist“, stöhnte<br />

Luca.<br />

Jenny zuckte mit den Schultern. „Ist wahrscheinlich<br />

Gewöhnung. Ich muss jeden Tag etwa zehn Kilometer mit<br />

dem Fahrrad zur Schule fahren und anschließend auch wieder<br />

zurück.“<br />

„Echt?“, fragte er ungläubig zurück. Und dann macht sie<br />

beim Sport nie mit?<br />

„Ich wohne weit außerhalb der Stadt auf einem Bauernhof.<br />

Wenn da mal ein Bus fährt, bin ich entweder eine Stunde<br />

zu früh oder eine zu spät in der Schule. Also bleibt mir nichts<br />

anderes übrig.“<br />

„Und was machst du im Winter, wenn Schnee liegt?“<br />

„Ich war noch nie zu spät in der Schule, alle anderen<br />

wohl!“ Sie lachte kurz. „Ich liebe die Unabhängigkeit. Und<br />

dass mich kein Busfahrer anschnauzt, wenn ich mal zu spät<br />

dran bin.“<br />

Wie recht sie hat! Luca schaute sie bewundernd an, doch<br />

sie drehte sich um und lugte den beiden Dieben hinterher.<br />

Ich habe bloß drei Kilometer zur Schule, aber auf die Idee,<br />

mit dem Rad zu fahren, bin ich noch nie gekommen. Vielleicht<br />

sollte ich das mal versuchen!<br />

Jenny zeigte nach oben. „Die beiden haben wohl mehr<br />

damit zu kämpfen, das schwere Ei zu schleppen, als sie<br />

gedacht hatten. Wir sollten sie von zwei Seiten einkreisen<br />

und zur Rede stellen.“<br />

„Dann könnten sie das Ei einfach den Abhang hinunterwerfen“,<br />

meinte Luca. Sein Blick glitt hinab und er erschrak.<br />

Höhenangst überfiel ihn, und so ruderte er einen Augenblick<br />

lang mit den Armen. Bis ihn Jenny am Pulli packte und ihn<br />

vom Rand zurückzog.<br />

Puh, das war knapp!<br />

„Meinst du wirklich, dass die so etwas Gemeines machen<br />

würden?“, fragte sie.<br />

„Das sind echt schlimme Typen“, erklärte Luca. „Denen<br />

geht jeder aus dem Weg. Wir sollten besser abwarten, was<br />

sie vorhaben. Vielleicht verstecken sie das Ei nur und verschwinden<br />

dann wieder.“<br />

„Okay. Dann gehen wir los, sobald sie fort sind.“<br />

Die beiden sahen sich an und nickten.<br />

Jenny ist echt ganz in Ordnung, freute sich Luca.<br />

42 43


Der Plan<br />

Dann verschwanden Gerome und Berret mit dem Ei im Horn<br />

der Riesenechse und Jenny und Luca kletterten ihnen hinterher.<br />

Als sie endlich oben ankamen, war Jenny überrascht,<br />

eine weitere riesige Höhlenöffnung zu entdecken. Mit jedem<br />

Meter ins Innere wurde der Gang enger. Auch hier waren die<br />

Wände mit leuchtenden Glitzersteinen übersät, sodass die<br />

beiden genug sehen konnten.<br />

„Trampel hier nicht so rum“, warnte Luca. „Wenn die uns<br />

hören, sind wir geliefert.“<br />

Ich bin ja leise, dachte Jenny. Sie blieb stehen, damit Luca<br />

hören konnte, wie viel Krach er selbst machte. Da knirschte<br />

es unter seinen Schuhen und er schnaufte so laut, dass es<br />

von den Wänden widerhallte. Doch das merkte er offenbar<br />

nicht.<br />

In dem Moment drang lautes Gezeter zu ihnen. Die beiden<br />

Diebe stritten sich so laut, dass es durch die Gänge hallte<br />

und jedes andere Geräusch übertönte.<br />

Jenny grinste. „Hoffen wir, dass sie sich weiterzanken.“<br />

Vorsichtig schlichen sie voran, bis sie an eine Stelle kamen,<br />

an der es verschieden große Löcher in der Wand gab, manche<br />

groß genug, dass man hindurchklettern konnte. Jenny<br />

spähte in eins hinein und erkannte eine vom Tageslicht hell<br />

erleuchtete Höhle. Dort entdeckte sie die beiden Diebe und<br />

das gestohlene Drachenei. Mitten im Raum lag es auf Stroh<br />

gebettet, als ob es darauf wartete, ausgebrütet zu werden.<br />

„Jetzt haben wir sie!“, frohlockte Luca.<br />

Noch lange nicht. Jenny schüttelte den Kopf. „Hast du dir<br />

eigentlich Gedanken darüber gemacht, wie wir ihnen das Ei<br />

abnehmen? Es sieht nicht so aus, als würden sie es einfach<br />

dort liegenlassen und verschwinden.“<br />

„Du hast recht, die stehen da nur dumm rum.“ Luca dachte<br />

kurz nach. „Wenn sie auf die anderen Mitglieder ihrer <strong>Band</strong>e<br />

warten, wäre das sehr schlecht für uns.“<br />

„Also müssen wir jetzt handeln“, stellte Jenny sachlich<br />

fest. „Ich hätte da eine Idee …“<br />

„Du?“ Er lachte leise.<br />

Jenny presste kurz die Lippen aufeinander, doch dann<br />

begann sie zu erzählen. Er hörte gespannt zu und nickte<br />

gelegentlich. Aber es dauert eine Weile, bis er ihr endlich<br />

zustimmte.<br />

„Wohl ist mir dabei nicht“, sagte Luca „Aber ich hab echt<br />

keine bessere Idee.“<br />

„Dann ist es abgemacht.“ Jenny schaute noch einmal<br />

auf die beiden Typen, die sich diesmal leiser miteinander<br />

unterhielten. Dann wandte sie sich dem Gang zu, der etwas<br />

abwärts führte. „Bis später“, flüsterte sie.<br />

Ihr Weg lief im Bogen weiter hinab, bis sie die Höhle<br />

erreichte. Von hier unten wirkte der Raum gewaltig, aber<br />

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nicht ganz so groß wie die Halle des Ankunftszentrums.<br />

Nun glaubte Jenny auch zu wissen, dass die Öffnung weiter<br />

oben, aus der helles Sonnenlicht hereinfiel, das andere Horn<br />

der Riesenechse sein musste. Dort würde sie wohl kaum hinaufklettern<br />

können, um aus der Höhle zu verschwinden. Es<br />

gab zwar einige Felsvorsprünge, doch ohne Kletterausrüstung<br />

würde sie sich das nie trauen. Von daher gab es nur<br />

diesen einen Ausgang für sie: denselben Weg durch den<br />

Gang zurück.<br />

„He!“, rief Jenny den Dieben zu. „Habt ihr das Ei der Silberdrachin<br />

geklaut?“<br />

Die beiden Jungen fuhren ertappt herum. Dann gingen sie<br />

auf Jenny zu, als wollten sie nur ein bisschen mit ihr plaudern.<br />

Doch ihre Schultern waren breit und die Arme leicht<br />

nach außen abgewinkelt, sodass ihre Haltung einschüchternd<br />

wirkte. Jenny musste schlucken.<br />

„Ja, haben wir“, sagte der Junge mit dem Irokesen-Haarschnitt<br />

grinsend. Lucas hatte gemeint, er heiße Gerome.<br />

„Hast du was dagegen?“<br />

„Ich denke, schon“, sagte Jenny. „Dann sag ich am besten<br />

den Madlinas Bescheid, damit die euch einsperren.“<br />

„Das kannst du ruhig versuchen“, knurrte der andere, der<br />

Berret hieß. Er wedelte mit der Hand vor seiner Nase herum,<br />

sodass Jenny deutlich das Stachelarmband sah. „Aber vorher<br />

machen wir Hackfleisch aus dir!“<br />

Jenny ließ sie ein paar Schritte näher herankommen. „Och<br />

nö, dazu hab ich keine Lust“, rief sie.<br />

Und schon drehte sie sich um und rannte den Gang entlang<br />

zurück. Ihre Rolle bestand darin, die beiden aus der Höhle zu<br />

locken, und tatsächlich folgten sie ihr, ohne zu zögern. Da<br />

Jenny aber recht flink und ausdauernd war, konnte sie sich<br />

einen Vorsprung erarbeiten. Schon bald erreichte sie die<br />

Stelle, an der sie mit Luca die beiden Diebe von oben beobachtet<br />

hatte. Diesmal entdeckte sie Luca durch die Gucklöcher,<br />

wie er gerade dabei war, den Felsen hinabzusteigen.<br />

Hoffentlich schafft er das!<br />

Gerome und Berret holten auf und kamen ihr gefährlich<br />

nahe. Jenny schrie überrascht auf, dann rannte sie weiter<br />

in Richtung Ausgang. Erneut konnte sie die beiden hinter<br />

sich lassen, bis sie hinaus ins Freie lief. Dort blieb sie abrupt<br />

stehen, bevor sie noch den Abhang hinunterfiel. Sie hob<br />

einen Felsbrocken auf, der nicht zu schwer für sie war. Mit<br />

ihm kletterte sie seitlich das Horn hinauf, bis sie eine Stelle<br />

46<br />

47


fand, an der sie sich hinhocken konnte. Dann warf sie den<br />

Brocken den Abhang hinunter. Laut polternd kullerte er den<br />

Berg hinab und nahm hier und da ein paar Steinchen mit,<br />

sodass es beinahe eine Gerölllawine wurde. Laut rief Jenny<br />

ein langgezogenes „Ahhhh!“, das sie verklingen ließ.<br />

Kurz darauf stürzten die beiden Diebe aus der Höhle.<br />

Gespannt sah Jenny auf die beiden herunter. Sie blieben<br />

am Rand des Abhangs stehen und schauten suchend nach<br />

unten.<br />

„Ist die da runtergefallen?“, fragte Gerome seinen Kumpel.<br />

„Scheint so“, gab er zur Antwort. Er trat einen Schritt weiter<br />

vor, um besser sehen zu können. „Ich sehe sie aber nicht.“<br />

„Aber sie hat geschrien.“ Gerome lachte gehässig.<br />

„Bestimmt ist sie zu schnell aus der Höhle gerannt. So eine<br />

blöde Kuh! Die wird uns heute nicht mehr in die Quere kommen.“<br />

„Aber echt“, bestätigte Berret. „Komm, unsere Aufgabe<br />

wartet!“<br />

Ohne sich weiter umzusehen, verschwanden die beiden<br />

in der Höhle. Jenny atmete auf, vor Spannung hatte sie die<br />

Luft angehalten. Ihr Plan schien funktioniert zu haben. Ob<br />

Luca das Ei inzwischen beiseitegeschafft hatte? Sie hoffte<br />

es. Leider hatten Gerome und Berret sich nicht so lange hier<br />

draußen aufgehalten, wie sie gehofft hatte. Nicht auszudenken,<br />

wenn sie in die Höhle zurückkehrten und ihn erwischten.<br />

Am besten schlich sie den beiden gleich hinterher.<br />

Vielleicht kann ich ihm noch irgendwie helfen.<br />

Hinunterzuklettern war nicht ganz so leicht. Es fielen<br />

auch einige Steinchen hinab, während sie mit dem Fuß einen<br />

trittsicheren Spalt suchte. Auch wenn es nicht viel Geröll<br />

war, machte es trotzdem Krach. Jenny hoffte inständig,<br />

dass die beiden inzwischen weit genug entfernt waren und<br />

es nicht hörten. Schließlich sprang sie einfach das letzte<br />

Stück hinunter und landete sicher vor dem Höhleneingang.<br />

Jetzt musste sie nur schnell zu Luca.<br />

„Na“, hörte sie eine gehässige Stimme. „Doch nicht runtergefallen?“<br />

Es war Gerome, der das zu ihr sagte. Der sie auch gleichzeitig<br />

am Handgelenk packte.<br />

„Hast du gedacht, du könntest uns austricksen?“, lachte<br />

Berret böse. „Jetzt kommst du mit uns. Du wirst dir noch<br />

wünschen, du wärst niemals nach Mirathasia gekommen!“<br />

48 49


Schnell zum Ei<br />

Kaum war Jenny aus seinem Blickfeld verschwunden,<br />

machte Luca sich bereit, durch eines der Gucklöcher in die<br />

Höhle zu klettern. Er sah, wie Gerome und Berret sich von<br />

dem Ei entfernten, also hatte Jenny gerade auf sich aufmerksam<br />

gemacht.<br />

Wie mutig sie ist!<br />

Dann hörte er Stimmen. Jetzt aber schnell! Jenny lenkte<br />

die beiden ab, damit er das Ei verstecken konnte, deshalb<br />

musste er so schnell wie möglich dort hinunter. Er quetschte<br />

sich durch die Öffnung, fiel schließlich ein Stück und konnte<br />

sich gerade noch abfangen, bevor er den ganzen Hang hinuntersegelte.<br />

Jetzt aber leise! Und schnell! Jenny macht alles cool, und<br />

du trampelst hier herum …, schalt er sich selbst. Wie vorhin<br />

im Höhlengang. Da hab ich sie angemotzt, zu viel Krach zu<br />

machen, dabei war ich das selbst. Wie peinlich!<br />

Konzentriert auf den Abstieg ging es Meter für Meter<br />

hinab. Dann endlich erreichte er den Höhlenboden. So<br />

schnell es ging, lief er hinüber zum Drachenei. Es sah so<br />

wunderschön aus, hatte eine Maserung wie der Marmortisch<br />

bei ihm zu Hause und sogar einige Schuppen. Und es<br />

war ganz warm! Hoffentlich brauchte es noch eine Weile, bis<br />

es schlüpfte.<br />

Luca blickte sich um. Wo sollte er es überhaupt hinschaffen?<br />

Eine Lücke oder einen Spalt im Felsen sah er nirgends,<br />

und es unter Geröll zu verstecken – da wäre er viel zu lange<br />

beschäftigt. Und außerdem würde das ja auch sofort auffallen.<br />

Am besten wäre es, er würde es zu der Lücke bringen,<br />

durch die er gestiegen war. Doch die war eindeutig zu klein.<br />

Außerdem musste er sich beeilen, denn es drangen schon<br />

Stimmen zu ihm herüber. Das würde er niemals schaffen!<br />

Darüber hätte Jenny vielleicht auch mal nachdenken<br />

müssen! Ärgerlich schaute er sich um. Aber nein, nicht sie<br />

muss eine Lösung finden, sondern ich. Wo zum Henker noch<br />

mal soll ich es verstecken? Ich kann doch nicht zaubern …<br />

Kaum hatte er das gedacht, da schlug er sich mit der flachen<br />

Hand gegen die Stirn.<br />

Zaubern nicht, aber ich habe noch einen Wunsch frei!<br />

Er umfasste das Ei, versuchte noch, so viel Stroh mitzunehmen,<br />

dass er es darauf betten konnte, und trug es vorsichtig<br />

einige Meter zur Seite. In einem kleinen Erker legte er<br />

es behutsam ab.<br />

„Ich wünsche mir eine Schutzwand um das Drachenei,<br />

durch die man gehen kann“, sprach er leise seinen Wunsch<br />

aus. Und keine Sekunde zu früh. Gerome und Berret stiefelten<br />

gerade aus dem Gang am anderen Ende der Höhle.<br />

Luca erstarrte. Zwischen den beiden war Jenny eingekeilt,<br />

und sie sah furchtbar unglücklich aus.<br />

50 51


Gefangen!<br />

Jenny hätte sich vor Wut auf die Zunge beißen können! Sie<br />

wehrte sich, doch ihre beiden Angreifer hielten sie so gut<br />

fest, dass es nichts brachte. Als der Gang zur Höhle enger<br />

wurde, ging Gerome voran und Berret hinter ihr. Ständig<br />

stieß er sie vor sich her, sodass sie dauernd gegen seinen<br />

Partner prallte. Der fluchte und ärgerte sich darüber. Es<br />

half nichts, sie musste sich den Typen beugen, denn die beiden<br />

waren einfach stärker. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass<br />

Luca erfolgreich gewesen war. Wenn er das Ei in Sicherheit<br />

gebracht hatte, war ihre Aufgabe erfüllt – alles andere war<br />

unwichtig.<br />

Als sie an den Gucklöchern vorbeigetrieben wurde, konnte<br />

sie nicht erkennen, ob das Ei fort war.<br />

Hoffentlich hat er es geschafft!, betete sie im Stillen. „Ihr<br />

seid echt miese Typen!“, schimpfte sie laut. „Was nützt euch<br />

das Drachenei? Was wollt ihr damit? Das Drachenbaby<br />

gehört zu seiner Mama, und sonst nirgendwohin!“<br />

Jenny wetterte so laut, damit Luca gewarnt wurde. Vielleicht<br />

schaffte er es, sich rechtzeitig zu verstecken.<br />

„Halt die Klappe“, knurrte Berret und stieß sie vorwärts.<br />

„Wir wollen das Ei doch überhaupt nicht.“<br />

„Nicht?“ Jetzt war Jenny verblüfft. Aber was wollen die<br />

dann?<br />

„Schnauze, du Depp!“, fauchte Gerome seinen Kumpel an.<br />

„Nicht, dass du noch unseren Plan verrätst.“<br />

„Die geht ja sowieso bald zurück in die Realität“, gab er<br />

zur Antwort. „Was sollte sie also anrichten? Morgen ist alles<br />

vorbei!“<br />

„Trotzdem!“, schnaubte Gerome.<br />

Sie erreichten die Höhle. Die beiden nahmen Jenny wieder<br />

in die Mitte, um sie zu einer Stelle zu bringen, die ihr<br />

Lagerplatz zu sein schien. Es lagen einige Rücksäcke herum,<br />

außerdem eine Handsäge, Eisenstangen, Hammer und Meißel.<br />

Dann entdeckte sie etwas, das sie schaudern ließ. An<br />

der Felswand war eine Eisenkette aus armdicken Gliedern<br />

befestigt, die auf den Boden herabhing und etliche Meter<br />

lang war.<br />

52 53


Was wollen die denn damit?<br />

„Das dämliche Ei ist weg!“ Gerome entdeckte es als Erster.<br />

„Vielleicht ist es weggerollt?“, mutmaßte Berret. Er fluchte<br />

und schubste Jenny nach vorn. Sie stolperte und stürzte zu<br />

Boden, gerade noch rechtzeitig fing sie sich mit den Händen<br />

ab.<br />

„Wehe, du rührst dich von der Stelle!“, fauchte Gerome.<br />

Und an Berret gewandt: „Lass sie ja nicht aus den Augen!“<br />

Er schritt zu dem Strohnest, wo das Ei hätte liegen sollen.<br />

Suchend schaute er sich um, doch es war nirgends zu entdecken.<br />

Gute Arbeit!, frohlockte Jenny. Ihr Grinsen trug ihr Berrets<br />

bösen Blick ein, aber das störte sie nicht. Wo ist Luca? Würde<br />

er jetzt Hilfe holen, um sie zu befreien?<br />

Verärgert kam Gerome zurück. Er zog Jenny auf die Füße.<br />

„Warst du etwa nicht allein?“, fauchte er. „Sag schon: Wo ist<br />

dein Gehilfe?“<br />

Jenny schluckte. Sie würde Luca nicht verraten,<br />

sie wusste ja überhaupt nicht, wo er oder<br />

das Ei steckten. Doch das würden die Typen ihr<br />

nicht glauben. Oder sollte sie einfach irgendeinen<br />

Unsinn erzählen?<br />

Eine Stimme ließ alle herumfahren: Luca<br />

lehnte – die Hände in den Hosentaschen vergraben<br />

– lässig an einem Felsen. „Sucht ihr etwa<br />

mich?“, fragte er grinsend.<br />

Die <strong>Silberkralle</strong><br />

Ihr beiden Breitmaulgesichter solltet euch jetzt echt vorsehen,<br />

brodelte es in Luca. Er hatte hilflos zusehen müssen, wie<br />

sie Jenny vor sich hergestoßen und sie auch noch unsanft<br />

zu Boden geschubst hatten. Wie konnte er da seelenruhig in<br />

seinem Versteck hocken und zuschauen? Er musste sich zeigen,<br />

musste in ihrer Nähe sein, damit sie ihr nicht noch mehr<br />

wehtaten. Vielleicht konnte er Jenny beschützen. Verdient<br />

hatte sie es allemal, so mutig, wie sie bisher gewesen war.<br />

Gerome ließ von Jenny ab. Er gab Berret einen Wink, der<br />

daraufhin auf Luca zuging. Doch der machte keine Anstalten,<br />

sich zu wehren, er ließ sich einfach zu Jenny bringen.<br />

„Jetzt sag schon: Wo ist das Ei?“, drohte Berret.<br />

Luca tat verwundert. „Ei? Heute Morgen gab es nur Brot<br />

und Wurst, kein Ei. Aber ich hätte gern eins gehabt.“<br />

Jetzt packte Gerome ihn am Kragen seines Pullis. „Red<br />

keinen Stuss! Ich meine das Drachenei!“<br />

„Ihr wolltet doch nur wissen, wer mit ihr hier war“, sagte<br />

Luca und deutete mit dem Kinn auf Jenny. „Wir beide haben<br />

einen Ausflug hier in die Höhle gemacht – mehr nicht.“<br />

„Der lügt doch wie gedruckt!“, schnaubte Berret. „Aber das<br />

wird ihnen nichts nützen. Was machen wir jetzt mit denen?“<br />

54 55


Gerome überlegte kurz. „Binde sie da vorne fest, die sollen<br />

ruhig zusehen, was gleich geschieht!“<br />

Berret zerrte Jenny zu einer Stelle, an der ein Eisenring<br />

aus dem Felsen herausragte. Mit einem Seil fesselte er<br />

zuerst ihre Handgelenke, dann schob er das Ende durch den<br />

Ring und band mit dem anderen Ende Lucas Hände fest. Der<br />

ließ es geschehen, ohne sich zu wehren. In einem Moment,<br />

als Berret nicht zu ihm hinsah, zwinkerte er Jenny zu.<br />

Ich befreie dich.<br />

Plötzlich ertönte ein Pfiff, der von der Decke zu kommen<br />

schien.<br />

„Komm schon, du Trampel!“, rief Gerome Berret zu. Er<br />

ging zu der Stelle, wo das Ei vorher gelegen hatte. „Geh auf<br />

deinen Posten! Es muss ohne Ei gehen.“<br />

Berret brummte nur, prüfte ein letztes Mal die Fesseln,<br />

dann stakste er breitbeinig auf die andere Seite der Höhle.<br />

Was haben die beiden nur vor?, fragte sich Luca.<br />

Er beobachtete, dass die beiden Diebe ständig zur Höhlendecke<br />

schauten. Und da – irgendetwas verdunkelte die<br />

Öffnung. Etwas Riesiges, das sich hin und her bewegte. Ein<br />

Teil davon war rot, als würde ein riesiger Blutfleck die Lücke<br />

ausfüllen. In der Höhle wurde es dunkler, dann aber schimmerte<br />

es silbrig.<br />

„Das ist Malliah!“, presste Jenny entsetzt hervor. „Die<br />

haben sie mit dem Ei hierhergelockt!“<br />

Luca antwortete nicht, sondern zerrte an ihren Fesseln.<br />

Jetzt schnell!, dachte er angestrengt. Aber das Seil war<br />

straffer geknotet, als er gehofft hatte.<br />

Genervt sah sich Jenny zu ihm um. „Was ruckelst du am<br />

Seil? Hast du nicht gehört …“<br />

„Doch, hab ich“, antwortete Luca. „Ich versuche gerade, die<br />

Fesseln zu lösen. Als Kind hab ich viel Cowboy und Indianer<br />

gespielt. Und ich wurde dabei oft gefangen und gefesselt …<br />

Ich war der Beste, hab mich immer befreien können …“<br />

„Dann beeil dich“, drängte Jenny. „Die beiden haben irgendetwas<br />

Gemeines vor.“<br />

Während Luca ächzte und an den Fesseln zog, beobachtete<br />

er trotzdem auch, was sich in der Höhle abspielte. Malliah<br />

zwängte sich oben durch die Öffnung der Höhle. Bis sie<br />

hindurch war und ihre Flügel ausbreiten konnte, verging<br />

noch einige Zeit. Dann stieß sie sich ab und schwebte in<br />

56 57


Richtung des Bodens herab. Plötzlich zerriss ihr Drachenschrei<br />

die Luft. Irgendetwas war passiert! Jenny versuchte<br />

sich ihre Ohren zuzuhalten, aber es ging nicht, da Luca noch<br />

immer an dem Seil hantierte. Der Schrei ging ihnen durch<br />

Mark und Bein und war so durchdringend, dass er noch<br />

lange nachhallte.<br />

Verzweifelt versuchte Luca zu erkennen, was mit Malliah<br />

geschehen war, die noch auf halber Höhe in der Luft<br />

schwebte. Und dann entdeckte er das riesige Netz, das<br />

von oben auf die Drachin herabgeworfen worden war. Ihre<br />

Flügel hatten sich in den Maschen verfangen, immer wilder<br />

schlug sie mit ihnen und verschlimmerte dadurch ihre<br />

Situation noch. Mehrere schwere Felsbrocken an den Ecken<br />

des Netzes zogen Malliah in Richtung Boden. Sie stemmte<br />

sich dagegen, doch da sie die Flügel nicht richtig ausbreiten<br />

konnte, trudelte sie, bis sie die letzten paar Meter fiel. Es<br />

krachte dumpf. Sie wehrte sich, zappelte und warf den Kopf<br />

herum, um das Netz abzuschütteln, doch es klappte nicht.<br />

Laute Jubelrufe kamen von der Decke. Luca entdeckte<br />

vier weitere Jugendliche, die durch die Öffnung hineinspähten.<br />

Hatten sie sich oben versteckt gehalten und dann dieses<br />

Netz geworfen? Wie auch immer sie das angestellt hatten,<br />

wahrscheinlich hatten sie dazu einen Wunsch benutzt.<br />

Wie gemein das ist!<br />

Aber das Theater war noch längst nicht vorbei. Während<br />

sich die vier an Seilen herunterhangelten, nahmen Gerome<br />

und Berret jeweils das Ende einer der dicken Ketten und<br />

befestigten sie am Netz. Da die Ketten im Felsen verankert<br />

waren, straffte sich das Netz mehr und mehr. Insgesamt<br />

zählte Luca sechs Ketten, an denen die beiden Jungen das<br />

Netz verankerten. Schließlich kurbelte Gerome an einem<br />

Kasten herum und spannte es straff über Malliahs Körper.<br />

Sie haben sie gefangen!<br />

„Jetzt wäre ein <strong>Drachenfurz</strong> angebracht“, murmelte Luca<br />

wütend. „Dann würden wir zwar auch ohnmächtig werden,<br />

aber sie könnte sich vielleicht befreien.“<br />

„Stimmt“, antwortete Jenny. „Doch sie hat den Furz vorhin<br />

schon losgelassen, als sie die Gefahr durch die beiden<br />

ersten Diebe witterte. Und jetzt muss sich erst einmal neues<br />

Gas in ihrem Bauch bilden. Das dauert leider noch ein paar<br />

Stunden.“<br />

„Und das weißt du, weil …?“, fragte Luca überrascht.<br />

58 59


Jenny schmunzelte. „Weil ich seit fast einem Jahr herkomme<br />

und alles über Drachen gelernt habe.“ Sie machte<br />

eine Pause. „Ich liebe sie“, fügte sie leise hinzu.<br />

Bewundernd schaute Luca sie an, dann nickte er. Sie denkt<br />

wie ich!, freute er sich. „Drachen sind echt cool. Darum müssen<br />

wir Malliah unbedingt helfen!“<br />

„Nur wie?“, fragte Jenny verzweifelt.<br />

Luca schielte zu der <strong>Band</strong>e herüber, doch die war noch<br />

mit dem Festzurren des Netzes beschäftigt. Inzwischen hatten<br />

die vier anderen den Boden erreicht. Auch sie hantierten<br />

mit weiteren Ketten, um Malliah festzusetzen. Wenn er nur<br />

diesen dämlichen Knoten am Handgelenk lösen könnte …<br />

Na endlich! Es ruckte kurz, anschließend hielt er Jenny die<br />

befreiten Hände hin.<br />

„Indem wir ihr zur Seite stehen. Los, mach dich frei!“, lachte<br />

er leise.<br />

Jenny zog das Seil durch den Ring und Luca versuchte, ihr<br />

die Fesseln zu lösen. „Achtung!“, zischte Jenny warnend.<br />

Einer der Jugendlichen kam auf sie zu. Er hatte ein grimmiges<br />

Gesicht und trug ein Shirt mit der Aufschrift BOSS.<br />

„Das ist Carlos“, flüsterte Luca. „Ein übler Bursche. Wenn<br />

du den siehst, geh ihm sofort aus dem Weg.“<br />

„Geht gerade nicht“, seufzte Jenny. „Beim nächsten Mal.“<br />

Luca lachte leise. Humor hat sie ja. Doch nun mussten sie<br />

vor Carlos so tun, als wären sie noch immer gefesselt. Beide<br />

versteckten schnell ihre Hände. Als Carlos schließlich vor<br />

ihnen stand, musterte er sie finster.<br />

„Ihr habt versucht, meinen Plan zu durchkreuzen“, sagte<br />

er und lachte gehässig. „Aber ihr seht ja, was ihr davon habt.<br />

Am besten überlege ich mir noch etwas Besonderes für<br />

euch, bevor ihr zurück in die Realität verschwindet. Etwas,<br />

das ihr so schnell nicht vergessen werdet!“<br />

„Was hast du mit Malliah vor?“, brauste Jenny auf.<br />

„Ach, dieser Koloss hat einen Namen?“, fragte er zurück.<br />

Er bückte sich, um die Säge aufzuheben. Dann betrachtete<br />

er sie von allen Seiten. Sein Grinsen war schief, als er die beiden<br />

schließlich anschaute. „Ich brauche ein Andenken und<br />

werde ihr ein Stück von ihrer silbernen Kralle absägen. Was<br />

dagegen?“<br />

„Das darfst du nicht!“, schrie Jenny.<br />

Das können die doch nicht machen!, empörte sich Luca<br />

stumm und stieß heftig Luft aus.<br />

„Macht euch keine Gedanken“,<br />

sagte Carlos und wandte sich<br />

dabei ab. „Das ist so, als würde<br />

man die Fingernägel schneiden<br />

…“<br />

60 61


Die List<br />

Jenny traute ihren Ohren kaum. Dieser Fiesling Carlos hatte<br />

mit seiner <strong>Band</strong>e die arme Malliah erst betäubt und dann ihr<br />

Ei gestohlen, um sie so in diese Halle zu locken. Und wofür?<br />

Damit er eine Trophäe einsacken konnte. Das durfte sie auf<br />

keinen Fall zulassen!<br />

„Wir müssen was tun“, zischte Jenny. Sie zappelte unruhig<br />

hin und her, als Carlos ein Stück weggegangen war. „Schnell,<br />

bind mich los!“<br />

„Dann halt still“, ächzte Luca.<br />

Jenny hielt ihm bereitwillig ihre Hände hin und er zerrte<br />

an dem Strick. Sogar seine Zähne nahm er zu Hilfe, aber das<br />

Seil löste sich nicht. „Mist! Es sitzt zu fest.“<br />

Jenny sah, wie Carlos auf einen der Füße Malliahs zuhielt.<br />

„Wir können aber nicht warten!“<br />

Luca nickte. „Dann stürze ich mich jetzt auf Carlos und du<br />

nimmst ihm die Säge ab.“<br />

„Aber ich bin noch gefesselt!“, entgegnete sie.<br />

„Wir haben jetzt keine Zeit, dich zu befreien.“ Luca sprang<br />

auf. „Es muss so gehen. Beeil dich!“<br />

Er rannte los, auf Carlos zu. Jenny presste die Lippen aufeinander,<br />

dann rappelte auch sie sich auf. Während Luca auf<br />

Carlos zuhechtete und inzwischen nur wenige Schritte von<br />

ihm entfernt war, lief sie, so schnell sie konnte, hinterher. Da<br />

erschollen schon die Rufe seiner Kumpels, die ihn warnen<br />

wollten. Offenbar konnte Carlos sie nicht verstehen, da sie<br />

alle durcheinanderriefen. Dennoch drehte er sich um, genau<br />

in dem Augenblick, als Luca ihn von hinten ansprang. Beide<br />

Jungen flogen unsanft zu Boden. Carlos ließ die Säge fallen,<br />

die einige Meter wegschlitterte.<br />

Jenny lief an den beiden vorbei, ohne sie eines Blickes zu<br />

würdigen. Die Säge! Die musste sie bekommen und dann<br />

wegschaffen. Berret und ein Mädchen preschten bereits auf<br />

sie zu, die anderen standen viel zu weit weg. Aber auch sie<br />

kamen angerannt. Fünf gegen eine!<br />

Jenny griff schnell nach dem Werkzeug. Schaute zu Berret,<br />

dessen Gesicht ihr wütend entgegenstarrte. Er würde sie<br />

bald erreicht haben. Das Mädchen von der anderen Seite<br />

aber ebenso. Ihre dunklen Haare flogen im Wind, und sie<br />

presste ihre schwarz bemalten Lippen aufeinander. Die drei<br />

Piercing-Steinchen an ihrer Nase bebten vor Zorn.<br />

Wo sollte Jenny hin? Zurück an den Kämpfenden vorbei –<br />

dann würde man sie schnell einkreisen, denn dort gab es<br />

nichts, wohin sie fliehen oder wo sie sich verstecken konnte.<br />

Eigentlich gab es nur einen Weg. Und außerdem musste sie<br />

Malliah befreien.<br />

Jenny zog eingeschüchtert ihre Schultern ein und stolperte<br />

ein paar Schritte rückwärts. Beobachtete die beiden<br />

Herannahenden, aber auch die anderen, die von beiden<br />

62 63


Seiten um Malliah herum auf sie zuliefen. Hinter Malliah<br />

musste noch jemand sein, doch der Drachenkörper versperrte<br />

ihr die Sicht.<br />

Sie wartete, bis Berret nur noch zwei Schritte entfernt<br />

war. Der Abstand zu dem Mädchen war zum Glück etwas<br />

größer. Da stürmte Jenny nach vorn durch ihre Mitte. Von<br />

ihrem vorgetäuschten Rückzug und der plötzlichen Wendung<br />

überrumpelt, schrien die beiden ein empörtes „He!“<br />

Sie hatten wohl geglaubt, dass sie Jenny sicher in ihre Finger<br />

bekommen würden.<br />

„Lass sie nicht entwischen, Leslie!“, schrie Berret.<br />

Die Schwarzhaarige war flink, sie hetzte gleich hinter<br />

Jenny her. Doch Jenny lief, so schnell sie konnte. Auf Malliah<br />

zu, die inzwischen ruhig unter dem Netz lag. Sie schien das<br />

ganze Geschehen zu beobachten. Wusste sie, dass Jenny auf<br />

ihrer Seite stand?<br />

Ich befreie dich!, rief Jenny ihr in Gedanken zu.<br />

Schon erreichte sie den am Körper des Drachen angelegten<br />

Schwanz. Auf den sprang Jenny hinauf und lief einfach<br />

darauf weiter nach oben. Sie spürte ein Beben des Drachenkörpers,<br />

als wäre Malliah ebenso überrascht wie alle<br />

anderen. Doch die Drachin tat nichts, bäumte sich nicht<br />

auf. Schnell erklomm Jenny ihren Rücken und stieg über<br />

die durch das Netz aufragenden Zacken. Dort, am obersten<br />

Punkt, sah sie sich erst einmal um.<br />

Die Aussicht war perfekt, sie konnte alle Mitglieder der<br />

<strong>Band</strong>e sehen. Luca hatte Carlos in den Schwitzkasten genom-<br />

men, und es schien, als würde er ihn besiegen. Doch Berret<br />

lief schon auf die beiden zu, und der hatte ein Kreuz, so breit<br />

wie ein Schrank.<br />

Leslie, das Mädchen mit den schwarzen Lippen, war sehr<br />

nah an Malliah herangepirscht. Näher traute sie sich offenbar<br />

nicht, vor allem, als der Schwanz nervös in ihre Richtung<br />

zuckte. Leider war das Netz zu straff gespannt, als dass<br />

Malliah sie hätte erreichen können, doch Leslie wich trotzdem<br />

zurück. Sie warf Jenny einen genervten Blick zu.<br />

„Ich krieg dich schon, du Biest!“, rief sie und lief mit großem<br />

Abstand um Malliah herum, damit sie Jenny auf der<br />

anderen Seite in Empfang nehmen konnte.<br />

64 65


Da entdeckte Jenny noch ein rothaariges Mädchen. Ihre<br />

Lederstiefel reichten ihr bis zu den Knien, die Beine waren in<br />

eine eng anliegende und glänzende Lederhose gequetscht,<br />

das Shirt darüber war viel zu kurz, sodass ihr Bauchnabel<br />

herausschaute. Am auffälligsten waren ihre feuerroten<br />

Haare, die beinahe zu leuchten schienen.<br />

„Zurück, Alexa!“, brüllte Gerome, der sie ebenfalls beobachtete.<br />

Die Rothaarige reagierte sofort und blieb stehen.<br />

Keine Sekunde zu spät, denn Malliahs Vorderpfote mit den<br />

messerscharfen Krallen schoss auf sie zu. Wieder hielt das<br />

Netz sie zurück, doch durch die ruckartige Bewegung verlor<br />

Jenny den Halt. Sie stürzte zur Seite und kullerte über das<br />

straff gespannte Netz hinab.<br />

„Aaaahhhh!“, brüllte sie.<br />

Nicht aufgeben!<br />

Ein Schrei hallte durch die Höhle. Luca wusste sofort, dass<br />

er von Jenny kam, und erschrak. Wäre er doch bloß nicht mit<br />

diesem Carlos beschäftigt, dann könnte er nach ihr schauen.<br />

Aber der Kerl war trotz seiner geringen Größe zäher, als er<br />

gedacht hatte. Wenigstens hatte Berret es aufgegeben, Carlos<br />

zu Hilfe zu eilen, und hatte stattdessen Jennys Klettertour<br />

verfolgt.<br />

Luca schielte zu Malliah. Zuletzt hatte er Jenny oben auf<br />

ihrem Rücken gesehen, doch nun war sie fort. Sie musste<br />

heruntergefallen sein.<br />

Hoffentlich hat sie sich nicht verletzt!<br />

Carlos hatte sich eben aus dem Schwitzkasten befreien<br />

können und hielt nun Luca fest im Griff. Während der kurzen<br />

Ablenkung schaffte Luca es, ihn mit einem kräftigen<br />

Schwung über die Schulter zu schleudern. Hat sich der Judokurs<br />

doch gelohnt, freute er sich. Carlos sprang zwar gleich<br />

wieder auf, doch Luca wich rechtzeitig aus.<br />

So leicht kriegst du mich nicht!<br />

Schon öfter hatte er mit anderen Jungen gerauft, doch<br />

es war nie so ernst gewesen wie jetzt. Deutlich merkte er<br />

den Unterschied: Carlos war nicht zu Scherzen aufge-<br />

66 67


legt, sein Gesicht war finster. Eine mit Gel gestylte blonde<br />

Haarsträhne hing ihm vor die Augen, das weiße Shirt war<br />

inzwischen dreckig. Als er nun einen weiteren Angriff startete,<br />

traf er Luca mit voller Wucht. Beide Jungen gingen zu<br />

Boden, wälzten sich erneut im Staub.<br />

Du willst nicht aufgeben?, dachte Luca genervt. Ich aber<br />

auch nicht!<br />

Ihm fiel nichts Besseres ein, als lauthals loszulachen.<br />

Denn das konnte er einfach am besten.<br />

Ein unerwarteter Freund<br />

Jenny bemühte sich, die Säge beim Fallen so zu halten, dass<br />

sie Malliahs Körper nicht berührte. Das war nicht ganz einfach,<br />

und als sie schließlich hart auf dem Boden aufschlug,<br />

fiel ihr die Säge aus der Hand.<br />

„Hast du dir wehgetan?“, fragte ein sehr schlaksiger Junge.<br />

Er war das sechste Mitglied der <strong>Band</strong>e, und Jenny hatte ihn<br />

noch gar nicht wahrgenommen. Seine Kleidung schlotterte<br />

ihm um den Körper und die Hosenbeine waren viel zu kurz.<br />

Er hob die Säge auf und kam auf sie zu.<br />

„Nicht!“, flehte Jenny.<br />

Der Junge hielt kurz inne, dann lächelte er. „Ich schneid<br />

dir doch nur die Fesseln durch!“, sagte er. Er zeigte auf ihre<br />

Handgelenke, die noch immer mit dem Seil zusammengebunden<br />

waren.<br />

Überrascht hielt Jenny sie ihm hin, und mit wenigen<br />

Bewegungen hatte er sie durchgesägt. Dann drehte er die<br />

Säge um und hielt ihr den Griff entgegen. „Nimm!“, sagte er.<br />

Jenny sah dem Jungen in die Augen. Sie sahen freundlich<br />

aus, keine Spur von Spott oder Abneigung, wie sie es bei den<br />

anderen Gangmitgliedern gesehen hatte. Sein Gesicht war<br />

schmal, so wie seine ganze Statur, doch er lächelte ihr zu.<br />

68 69


„Ich bin Tulio“, sagte er. „Alle denken, ich wär blöd. Aber<br />

das bin ich nicht.“<br />

„Und warum hilfst du mir?“, fragte Jenny. Zögernd nahm<br />

sie die Säge entgegen.<br />

Tulio zuckte mit den Schultern. „Die sind manchmal<br />

gemein zu mir. Das mag ich nicht.“<br />

„Aber dann geh doch einfach weg!“<br />

„Nein, ich muss doch auf meinen Puder aufpassen.“<br />

Was meint er damit? Jenny dachte einen Augenblick nach.<br />

Puder – Ruder – Bruder?<br />

Tulio hob das Netz an, sodass eine Lücke entstand.<br />

„Schnell, du musst da rein. Säg das Netz durch!“<br />

Jenny überlegte nicht lange und huschte durch die Öffnung.<br />

Sie fand eine Stelle, an der sie fast aufrecht stehen<br />

konnte. So nah an Malliahs Körper spürte sie, wie sich ihre<br />

Flanke beim Atmen bewegte. An der Stelle, wo das Netz<br />

sehr straff gespannt war, begann Jenny es durchzusägen.<br />

Das ging überraschend gut und sie konnte einige Seile des<br />

Netzes durchtrennen.<br />

Tulio war zurückgewichen, als hätte er genau wie seine<br />

Kumpel Angst vor Malliah. Aber er machte ihnen nur etwas<br />

vor – zum Glück für Jenny. Was wäre bloß gewesen, wenn<br />

Gerome oder einer der anderen an seiner Stelle dort gestanden<br />

hätte?<br />

Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte Jennys Schulter.<br />

Jemand hatte einen Stein auf sie geworfen. Und jetzt sah<br />

sie auch vier der <strong>Band</strong>enmitglieder, die heruntergefallene<br />

Felsstückchen aufhoben und auf sie warfen. Sie musste hier<br />

weg! Das Loch war noch viel zu klein, als dass Malliah hätte<br />

hinausschlüpfen oder sich befreien können. Doch hier stand<br />

Jenny zu sehr in der Schusslinie.<br />

Sie wartete eine Salve Steine ab, dann kraxelte sie<br />

geschwind aus dem Loch und stieg über das nicht mehr<br />

ganz so straff gespannte Netz hinauf. Oben angelangt flog<br />

ein Kiesel haarscharf an ihrem Kopf vorbei. Das veranlasste<br />

sie, sofort und auf direktem Weg auf der anderen Seite hinabzulaufen.<br />

Da es aber einen Abschnitt gab, unter dem nicht<br />

der Körper des Drachen lag, musste sie genau aufpassen,<br />

die Knotenpunkte des Netzes zu erwischen. Es ging gut, sie<br />

rutschte nicht mit den Füßen durch die Maschen.<br />

Schweißgebadet erreichte sie den Boden – genau an einer<br />

der Ecken, an denen eine Kette befestigt war. Wenn sie hier<br />

70 71


das Seil durchsägen konnte, würde sich Malliah vielleicht<br />

befreien können.<br />

Mit neuem Mut sägte sie los. Aus den Augenwinkeln sah<br />

sie einen Schatten heraneilen – Carlos! Er hatte es doch tatsächlich<br />

geschafft, Luca zu entwischen.<br />

Hoffentlich geht es Luca gut, dachte Jenny.<br />

Sie schaffte es, diese Seite freizusägen, sodass ein Teil des<br />

Netzes nicht mehr so straff gespannt war. Schnell rannte sie<br />

rüber zum nächsten Ankerpunkt.<br />

„Lass sofort die Säge fallen!“, drohte Carlos, der nur zwei<br />

Schritte vor ihr anhielt. Sein Gesicht war zornig, die Haare<br />

vom Kampf wirr und auch sein Shirt war mehrfach eingerissen.<br />

Da er kaum größer war als Jenny, machte er ihr zuerst<br />

gar nicht so viel Angst, doch vielleicht war er stärker, als er<br />

aussah.<br />

Jenny hielt mitten im Sägen inne. Er machte einen Schritt<br />

auf sie zu und streckte schon die Hand nach ihr aus. Die<br />

wütenden Rufe seiner Kameraden feuerten ihn außerdem<br />

an. Nur noch wenige Meter, dann hatten sie Jenny eingeholt<br />

und umzingelt. Sie hatte gar keine Chance. Es war zu Ende,<br />

sie hatte versagt …<br />

Ich gebe nicht auf!, schrie es in Jenny, so laut, dass ihr der<br />

Kopf dröhnte. Nein, es war nicht ihr Kopf. Es war das Herz,<br />

das schmerzte und sich zutiefst grämte. Aus Scham über<br />

das Verhalten dieser Jugendlichen. Sie wollten einem Tier<br />

etwas antun, nur um sich selbst zu bereichern – welches<br />

Tier würde das einem anderen Artgenossen antun? Nein, nur<br />

Menschen waren dazu in der Lage, sie respektierten einander<br />

und andere Lebewesen kaum … Wie wild begann sie wieder<br />

zu sägen. Sie musste Malliah befreien, egal, was geschah. Sie<br />

würde kämpfen, bis nichts mehr ging …<br />

Malliahs Schwanz schoss unter dem soeben gelockerten<br />

Teil des Netzes hervor. Das Ende erwischte Carlos mit einer<br />

solchen Wucht, dass ihm die Beine unter dem Körper weggefegt<br />

wurden und er krachend auf dem Boden landete. Ein<br />

zweiter Stoß, und er flog weiter, den nahenden Kumpeln<br />

entgegen. Alexa, die auf ihren hochhackigen Stiefeln mehr<br />

herumstakste als lief, wurde als Zweite weggefegt. Danach<br />

fluchte Berret, der zu träge war, um auszuweichen. Leslie<br />

hingegen sprang einfach über den am Boden ächzenden<br />

Kameraden hinweg und lief weiter auf Jenny zu.<br />

In dem Moment setzte Jenny zum letzten Schnitt an – sie<br />

trennte das Seil und das Netz schnappte hoch. Da es Malliah<br />

noch an anderen Stellen festhielt, konnte sie sich noch<br />

nicht erheben. Doch sie ließ ihre Pfote hervorschnellen, traf<br />

Leslie an den Beinen und brachte sie damit zu Fall.<br />

Jenny eilte zum nächsten Ankerpunkt des Netzes. Wenn<br />

sie es schaffte, den zu lösen, würde sich Malliah vielleicht<br />

ganz befreien und die <strong>Band</strong>e verjagen können. Wieder sägte<br />

sie wie wild, ihre Hände und Gelenke schmerzten bereits. So<br />

kurz davor war sie, Malliah zu befreien …<br />

Da tauchte jemand neben ihr auf.<br />

72 73


Der Endspurt<br />

Luca hatte ordentlich einstecken müssen. Seine Lippe tat<br />

weh und sein rechtes Auge schwoll an. Den Schlag hatte er<br />

zu spät kommen sehen, da hatte Carlos ihn schon erwischt.<br />

Er war hingefallen und Carlos hatte endlich von ihm abgelassen.<br />

Um sich gegen Jenny zu wenden.<br />

Als sich Luca mühsam vom Boden aufrappelte, sah er sie<br />

an einer der Ecken des Netzes sägen. Eine Seite hing schon<br />

so locker, dass Malliah eine Pfote bewegen konnte. Doch es<br />

reichte noch nicht aus, um sich endgültig zu befreien.<br />

Aber sie hatte mit ihrem Schwanz nicht nur Carlos fortgefegt,<br />

sondern auch Alexa, Berret und schließlich Leslie. Alle<br />

vier hockten erst einmal ziemlich lädiert auf dem Boden.<br />

Gut so!<br />

Lucas wollte gerade lauthals lachen, da sprang Carlos<br />

wieder auf. „Gerome! Berret!“, brüllte er.<br />

Langsam ging der Anführer der <strong>Band</strong>e rückwärts, offenbar<br />

wollte er sich aus dem Kampf zurückziehen. Von den<br />

Seiten trotteten die Genannten herbei, allerdings längst<br />

nicht so euphorisch, wie es hätte sein können. Auch die beiden<br />

Mädchen machten sich nur zögernd auf den Weg.<br />

Luca machte einen Bogen um Carlos und torkelte auf<br />

Jenny zu. Als sie ihn sah, war sie erleichtert.<br />

„Säg weiter“, ächzte er. „Ich passe auf, dass niemand dich<br />

stört!“<br />

„Aber du hast schon eine Menge abbekommen!“, widersprach<br />

Jenny.<br />

Luca winkte ab. „Ich bin noch gar nicht zur Höchstform<br />

aufgelaufen. Die sollen ruhig kommen …“<br />

Gut, das klang jetzt etwas überheblich, dachte er. Und<br />

stimmt überhaupt nicht.<br />

So sah es Jenny wohl auch, denn sie presste kurz die Lippen<br />

aufeinander. „Manchmal kann man dem Feind nicht mit<br />

Fäusten und Arroganz begegnen, man muss ihn mit List und<br />

Worten bezwingen“, sagte sie. „Du sägst und ich stelle mich<br />

ihnen entgegen.“ Demonstrativ<br />

hielt sie ihm das Werkzeug hin,<br />

sodass er es verdutzt entgegennahm.<br />

„Aber … du bist ein Mädchen<br />

…“, stammelte er.<br />

„Das nichts kann?“ Jenny<br />

lachte kurz. Dann wandte sie sich<br />

ihren Angreifern zu.<br />

Luca musste ihr jetzt vertrauen.<br />

Er beugte sich über das<br />

Seil und sägte wie wild. Aber<br />

er schielte auch zu ihr herüber.<br />

74 75


Etwas entfernt vom Geschehen stand ein schlaksiger Junge,<br />

der Tulio hieß, wie Luca glaubte. Er schien kein Interesse zu<br />

haben, seinen Kumpeln zu helfen. Carlos zog sich humpelnd<br />

zurück, offenbar hatte Luca ihm doch mehr zugesetzt als<br />

gedacht. Vielleicht hatte er auch endlich verstanden, dass<br />

er verloren hatte? Und Leslie und Alexa ließen den beiden<br />

Schlägertypen Gerome und Berret den Vortritt, die nun vorrückten.<br />

Ob das wohl gutgeht …?<br />

„Solltet ihr noch einen Schritt näherkommen“, hörte Luca<br />

Jenny zischen, „dann werdet ihr nicht erfahren, ob es ein<br />

Mädchen oder ein Junge ist.“<br />

„Hä?“, machte Gerome, der offenbar den Zusammenhang<br />

nicht verstand. Aber er stockte kurz und auch Berret wurde<br />

langsamer, bis sie beide drohend in Jennys Nähe stehen<br />

blieben. Alexa und Leslie blieben dicht hinter den Jungen.<br />

Was hat sie denn jetzt schon wieder vor?, fragte sich Luca<br />

gespannt. Während er eifrig weitersägte, beobachtete er<br />

aus dem Augenwinkel das Geschehen.<br />

„Habt ihr euch schon einmal gefragt, wie wichtig der erste<br />

Moment im Leben eines frisch geschlüpften Drachen ist?“,<br />

fragte Jenny nun. „Wen er als Erstes erblickt? Kennt ihr die<br />

Gesetze der Drachen?“ Jenny zeigte auf ein Stück Felsen in<br />

ihrer unmittelbaren Nähe. Dort war nichts zu sehen, außer<br />

dem blanken Stein. „Dahinter ist das Drachenei versteckt.<br />

Es steht kurz vor dem Schlüpfen. Ihr beide steht sehr dicht<br />

daneben. Sollte die Schale jetzt platzen, das Drachenbaby<br />

herausschauen und euch erblicken, werdet ihr für immer<br />

von dem Kleinen verfolgt werden. Er wird einen von euch<br />

fixieren und jedes Mal, sobald ihr in Mirathasia seid, verfolgen.<br />

So sind die Regeln der Natur. Solange ihr euch hier aufhaltet,<br />

seid ihr nie mehr allein …“<br />

„Hört nicht auf diese Zicke“, fauchte Alexa und ließ dabei<br />

eine Kaugummiblase platzen. „Das Baby kann genauso gut<br />

auch die beiden sehen!“<br />

Sie stieß Gerome die flache Hand gegen den Rücken, sodass<br />

er nach vorne flog. Ihn und Berret hatte Jenny gut ablenken<br />

können, doch in den Gesichtern der beiden Mädchen stand<br />

weiterhin Verachtung geschrieben. Ihnen würde es wahrscheinlich<br />

egal sein, wenn das Drachenbaby schlüpfte und<br />

eine von ihnen als ihre Mutter anerkannte. Wahrscheinlich<br />

würden sie das Baby einfach wegsperren und weiterhin<br />

irgendwelchen Unfug treiben.<br />

In dem Moment trennte Luca das Seil von der Kette.<br />

„Durch!“, rief er und vertrieb damit die Starre aus den<br />

Gesichtern ihrer Gegner.<br />

Und dann passierte alles so schnell, dass Jenny kaum<br />

begriff, wie. Malliah erhob sich mit einem durchdringenden<br />

Schrei, bei dem sich alle Anwesenden die Hände auf die<br />

Ohren pressen mussten. Das Netz war nun an drei Stellen<br />

offen, sodass sie mit ihrer enormen Kraft auch die weiteren<br />

Ankerpunkte aushebeln konnte. Mit einem Mal gelang es ihr,<br />

sich vollends aufzurichten. Sie breitete an der offenen Seite<br />

den Flügel aus. In dem Moment wirkte sie so unglaublich<br />

76


edrohlich, dass alle – einschließlich<br />

Jenny und Luca –<br />

rückwärts stolperten.<br />

„Weg hier!“, schrie Leslie und<br />

wirbelte auf dem Absatz herum.<br />

Da schoss Malliahs Schwanz<br />

vor und fegte sie zur Seite.<br />

Eine Kralle landete<br />

haarscharf neben<br />

Berret, der aufschrie<br />

und wegrannte.<br />

Das taten<br />

auch alle anderen –<br />

außer Jenny und Luca.<br />

Sie huschten nur aus der Reichweite<br />

des Schwanzes, um nicht aus Versehen<br />

weggewischt zu werden. Doch Malliah<br />

schien genau zu wissen, was sie tat. Sie<br />

verfolgte die <strong>Band</strong>e, bis diese – Carlos<br />

voran – durch den Höhlengang nach<br />

draußen entwischte. Tulio, der eigentlich<br />

als Erster hätte gehen können, blieb bis<br />

zum Schluss. Er drehte sich um und winkte<br />

ihnen zu, bevor auch er verschwand.<br />

Lautes Gelächter schallte durch die Höhle. Malliahs und<br />

Jennys Köpfe fuhren erschrocken herum – da erkannten<br />

sie Luca. Er lachte so herzlich und laut, dass seine Stimme<br />

mit mehrfachem Echo durch die<br />

Halle dröhnte. Sein Gesicht sah<br />

zwar etwas lädiert aus, doch er<br />

freute sich so über ihren Sieg,<br />

dass er Freudensprünge machte<br />

und lachte. Dann lief er auf die<br />

verdutzte Jenny zu, nahm ihre<br />

Hände und versuchte mit ihr zu<br />

tanzen.<br />

„Wa… was soll das?“, stammelte<br />

sie und entzog sie ihm.<br />

„Ich freue mich so!“, rief er<br />

laut. „Wir haben die <strong>Band</strong>e<br />

besiegt! Wir haben es geschafft!<br />

Wir beide!“<br />

Jenny schüttelte nur den Kopf, aber sie lächelte. „Du bist<br />

albern.“<br />

„Genau!“ Er grinste über das ganze Gesicht und hüpfte<br />

weiter ausgelassen herum. „Ich bin eben ein Unikat.“ Als sie<br />

ihn daraufhin skeptisch ansah, musste er erneut lachen.<br />

„Mir gefällt es, wie ich bin. Warum sollte ich an mir herumnörgeln?<br />

Ich freue mich. Du dich denn nicht?“<br />

„Und du findest es auch gut, jemandem ein Bein zu stellen<br />

und darüber zu lachen?“<br />

78<br />

79


Da schaute Luca plötzlich ernst. „Nein, eigentlich nicht.“<br />

Klar, dass sie die Situation damals nicht einfach zu den Akten<br />

legen konnte, dachte er. Aber warum musste sie so nachtragend<br />

sein? „Ich hab dir damals gar nicht absichtlich ein Bein<br />

gestellt. Du bist einfach in dem Moment darüber gestolpert,<br />

als ich es gerade ausgestreckt habe. Und als du dann gefallen<br />

bist, sah das einfach zu komisch aus.“ Er musste wieder<br />

grinsen. Die Erinnerung daran war noch immer zu komisch.<br />

„Es hat wehgetan“, sagte Jenny.<br />

Luca nickte. „Das glaube ich dir. Und das tut mir auch leid.“<br />

Sie schaute skeptisch. „Versprichst du mir, mich nicht mehr<br />

auszulachen?“, fragte sie.<br />

Er nickte und in dem Moment war es ihm ernst. „Das<br />

schwöre ich. Aber wenn einer unserer Lehrer auf die gleiche<br />

Weise gefallen wäre, hätte ich genauso gelacht.“<br />

„Dann ist das Schadenfreude. Auch das ist nicht schön.“<br />

Jetzt seufzte Luca aus tiefstem Herzen. „Du hast ja soooo<br />

recht! Mir ist das auch völlig klar – aber in dem Moment,<br />

wenn jemandem etwas Unerwartetes geschieht, muss ich<br />

einfach lachen.“<br />

„Auch wenn du es selbst bist?“, schnaubte Jenny.<br />

„Auch dann.“ Luca nickte, dann verzog sich sein Mund zu<br />

einem Grinsen. „Ist denn jetzt Schadenfreude angebracht?<br />

Die <strong>Band</strong>e ist in die Flucht geschlagen und wir haben das Ei<br />

und Malliah gerettet!“<br />

Jenny zögerte. Dann musste auch sie lächeln. „Ja, jetzt<br />

dürfen wir lachen.“<br />

„Na also!“ Er nahm wieder ihre Hände und wirbelte Jenny<br />

im Kreis herum, immer und immer wieder. Lachend, tanzend,<br />

singend. Schließlich schlug die Freude auch auf Jenny<br />

über, bis sie ebenfalls vor Glück jauchzte: „Wir haben es<br />

geschafft!“<br />

Luca strahlte über das ganze Gesicht. Endlich ist sie nicht<br />

mehr so verschlossen!<br />

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fach, sie spürte nicht einmal ein Kribbeln. Direkt dahinter,<br />

auf etwas Stroh gebettet, lag das Ei.<br />

Der Flug<br />

Jenny sah Luca freudestrahlend an. Die Erleichterung, Malliah<br />

vor der <strong>Band</strong>e gerettet zu haben, stand ihrem Klassenkameraden<br />

deutlich ins Gesicht geschrieben. Er war großartig<br />

gewesen, ohne ihn hätte sie es nicht geschafft! Es ist so<br />

schön, etwas zusammen zu erleben!, dachte Jenny glücklich.<br />

„Du hast sie echt gut abgelenkt“, sagte Luca, der nach<br />

dem vielen Lachen endlich wieder Luft bekam. „Ich hätte ja<br />

nie gedacht, dass du das schaffst!“<br />

„Manchmal sind Worte besser als Fäuste“, sagte sie versonnen.<br />

„Aber wo ist eigentlich das Drachenei? Wir müssen<br />

es Malliah so schnell wie möglich wiedergeben!“<br />

„Ich habe es da drüben versteckt. Mit meinem Wunsch<br />

habe ich einen Schutz darum gewirkt, sodass niemand es<br />

sehen kann. Komm, wir bringen es ihr.“<br />

Jenny folgte ihm. Als Luca auf eine Ecke zuhielt und auch<br />

vor der Wand nicht stoppte, blieb ihr beinahe das Herz stehen.<br />

Dann aber besann sie sich: Er hatte sich einen Sichtschutz<br />

vor dem Ei gewünscht, der so aussah wie der Felsen<br />

dahinter. Er war aber für jeden durchlässig. So konnte Luca<br />

hindurchflutschen und Jenny ihm folgen. Es war ganz ein-<br />

Gemeinsam trugen sie es hinüber zu Malliah. Die Drachendame<br />

hatte sich nun fast vollständig vom Netz befreit,<br />

nur noch wenige Fetzen hingen in ihren Schuppen fest. Sie<br />

kam den beiden entgegen, schnupperte am Ei, um es sich<br />

schließlich mit einer Kralle an ihren rot geschuppten Bauch<br />

zu ziehen.<br />

Malliah senkte ihren Kopf vor Jenny und Luca. Ihr so nah<br />

zu sein, verursachte bei Jenny heftiges Herzklopfen, doch sie<br />

wich nicht zurück. Ein unglaubliches Glücksgefühl durchströmte<br />

sie, und sie traute sich, eine Hand an die silbrige<br />

Wange des Drachen zu legen. Die Echsenaugen blinzelten<br />

und es schien, als lächelte Malliah.<br />

„Ihre Schuppen sind unglaublich samtig“, sagte Luca leise.<br />

Jenny nickte. „Und glänzen wie Silber.“ So etwas Schönes<br />

hatte sie noch nie von Nahem gesehen.<br />

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Malliah schwenkte den Kopf zur Seite weg, sodass Jenny<br />

Lucas verzücktes Lächeln sehen konnte. „Sie ist toll!“, sagte<br />

er.<br />

„Ja, das ist sie. Gut, dass sie noch alle ihre <strong>Silberkralle</strong>n<br />

hat“, antwortete Jenny.<br />

Da legte Luca den Kopf schief. „Ich glaube, sie möchte,<br />

dass wir auf ihren Rücken steigen.“<br />

Jenny schaute zu Malliah, die Jenny mit ihrer Nase am<br />

Ärmel anstupste und dann den Hals so verrenkte, dass sie<br />

auf ihren Rücken deutete.<br />

„Wir dürfen auf ihr reiten!“, freute sich Jenny. „Sie lädt<br />

uns ein!“<br />

„Aber – wir haben keinen Sattel …“, stellte Luca fest.<br />

„Das macht doch nichts. Wir können uns hintereinander<br />

zwischen ihre Rückenzacken setzen und uns daran festhalten.<br />

Sie ist größer als die anderen Flugdrachen, da müsste<br />

es klappen.“<br />

„Was du alles weißt“, staunte er.<br />

Sie stiegen über den Schwanz hinauf auf den Rücken.<br />

Bevor er in den Hals überging, ließen sie sich beide zwischen<br />

je zwei Zacken nieder. „Ich komme schon so lange her, weil<br />

ich immer schon auf einem Drachen reiten wollte. Daher<br />

weiß ich alles über sie!“<br />

Luca setzte sich hinter sie. „Du kommst schon lange her<br />

und bist noch nie geritten? Warum nicht?“<br />

„Ich werde mich niemals irgendwo vordrängeln. Solange<br />

mich niemand freiwillig vorlässt, verzichte ich darauf. Aber<br />

meine Wünsche der letzten Monate werden heute endlich<br />

erfüllt. Halt dich fest, wir heben ab!“<br />

Malliah hatte in der einen Kralle das Ei fest im Griff, mit<br />

der anderen stieß sie sich so kräftig ab, dass sie nur zwei<br />

Flügelschläge brauchte, um zur Decke zu gelangen. Jenny<br />

wollte gerade aufschreien, denn sie wusste, dass sie vorhin<br />

nur mit Mühe durch die Öffnung gepasst hatte. Malliah hielt<br />

aber unbeirrt darauf zu. Kurz davor klappte sie die Flügel<br />

ein und schoss wie ein schlanker Pfeil durch die Öffnung<br />

nach draußen.<br />

Luca lachte laut. „Wow, das war cool!“<br />

Jenny schnappte erst mal nach Luft, denn die hatte sie vor<br />

Anspannung angehalten. „Das ist unglaublich!“, rief sie aus.<br />

Die Drachin drehte nur eine kleine Runde durch die Luft,<br />

um dann zwischen den beiden Hörnern der Riesenechse zu<br />

landen. Jenny überlegte, ob sie nun absteigen sollten, denn<br />

Malliah legte ihr Ei in ein leeres Strohnest ab, das vielleicht<br />

einmal ihres gewesen war.<br />

„Schon vorbei?“, sagte Luca enttäuscht. „Ich dachte, da<br />

kommt noch mehr.“<br />

„Sie muss doch ihr Ei ausbrüten“, sagte Jenny. „Für uns<br />

wird sie jetzt keine Zeit haben.“<br />

Doch Jenny sollte sich täuschen. Malliah stieß sich erneut<br />

ab, um in die Luft zu fliegen. Sie zog große und kleine<br />

Kreise, schwebte weit nach oben und dann wieder tief über<br />

Mirathasia hinweg, sodass die beiden nicht nur alles sehen<br />

konnten, sondern auch von den Besuchern Mirathasias<br />

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ejubelt wurden. Noch nie hatte es einen Flug auf dem Silberdrachen<br />

gegeben, und es war eine Ehre, auf dem Rücken<br />

eines solchen Tieres zu sitzen. Jenny und Luca kreischten<br />

vor Glück, als Malliah einen Looping drehte und für einen<br />

kurzen Augenblick alles auf dem Kopf stand.<br />

„Morgen können wir unseren Flug in Gang 3 bewundern!“,<br />

rief Luca begeistert. „Kommst du dann auch?“<br />

Jenny zögerte. Sie mochte nicht, dass andere sie sahen –<br />

vielleicht machte sie ja gerade ein komisches Gesicht und<br />

dann lachten alle über sie. Andererseits war es großartig,<br />

auf einem Drachen zu reiten, und endlich hatte sie es<br />

geschafft!<br />

„Ja, ich komme auch. Und ich bin sehr gespannt auf den<br />

Clip.“<br />

„Dann werden wir viel zu lachen haben, denn ich hab<br />

beim Looping bestimmt ziemlich blöd geschaut“, rief Luca.<br />

Dann seufzte er unzufrieden. „Oh nein, ich werde gleich verschwinden.“<br />

„Bei mir ist es auch gleich so weit“, sagte sie, denn sie<br />

spürte bereits, wie es an ihrem Rücken zog. Das war das<br />

sichere Zeichen, dass es zurück nach Hause ging, zurück in<br />

ihr wirkliches Leben. Ein wenig wurde sie traurig. Sie drehte<br />

sich trotzdem noch einmal um. Es war toll mit dir, dachte<br />

sie. Doch dann lächelte sie und rief ihm diesen Satz laut<br />

zu. Sie musste endlich zeigen, dass sie auch da war und vor<br />

allem ein Recht hatte, mitzumischen.<br />

Ob Luca sie gehört hatte? Sie wusste es nicht, denn er<br />

löste sich bereits auf. Das war nichts Schlimmes, da sie sich<br />

ja nur mit ihren Gedanken hier in Mirathasia befanden, ihre<br />

Körper waren daheim geblieben.<br />

Jenny schmiegte sich an Malliahs Hals und strich liebevoll<br />

darüber. „Danke, Malliah!“, flüsterte sie. „Du hast mir<br />

das schönste Geschenk gemacht, das ich jemals bekommen<br />

habe. Ich hoffe, ich kann morgen beim Schlüpfen deines<br />

Babys dabei sein. Und wenn nicht, wünsche ich dir ein wunderschönes<br />

Drachenkind und vor allem, dass es dir niemals<br />

wieder jemand wegnimmt!“<br />

Malliah nickte im Flug, als hätte sie es verstanden. Während<br />

sie auf die Insel zuhielt, auf der ihr Ei zwischen den<br />

Hörnern des Echsenkopfes steckte, verschwamm das Land<br />

vor Jennys Augen und sie kehrte in ihr Zimmer zurück.<br />

86 87


In der Schule<br />

Es war alles wie an jedem anderen Morgen, als Jenny die<br />

Schule durch den Haupteingang betrat. Ihre Klassenkameraden<br />

standen grüppchenweise im Flur zusammen, um<br />

das Neuste miteinander zu besprechen. Die meisten hatten<br />

ihr Smartphone dabei, um coole Modetrends oder aktuelle<br />

Spiele mit ihren Freunden durchzugehen.<br />

Jenny stellte ihre Tasche an die Seite und lehnte sich an<br />

die Wand, wie sie es immer tat. Keiner ihrer Klassenkameraden<br />

schaute sich zu ihr um oder rief sie gar zu sich in den<br />

Kreis. Alle waren damit beschäftigt, sich möglichst gut vor<br />

den anderen zu präsentieren. Das gestrige Selfie mit einem<br />

bekannten Fußballer aus dem Ort, die coolen Schuhe aus<br />

den USA, die aber erst in sechs Wochen geliefert wurden,<br />

der neuste Schminktipp einer Bloggerin, die kaum älter war<br />

als sie selbst. Jenny konnte da nicht mithalten, vor allem,<br />

weil sie gar kein Smartphone besaß. Sie beobachtete lieber<br />

die anderen, wie sie sich über das kleine Gerät beugten und<br />

meist zu zweit oder dritt kicherten. Dass sie ausgeschlossen<br />

wurde, hatte schon im Kindergarten begonnen. Jenny hatte<br />

sich nie zu Kindern gesellt, die zu laut waren und dauernd<br />

stritten.<br />

Selbst schuld, sagte sie sich manchmal, doch sie wusste<br />

auch, dass sie nicht anders konnte.<br />

Luca, der kaum fünf Meter von ihr entfernt stand, war<br />

von seinen Freunden vollständig umringt. Offensichtlich<br />

erzählte er mit ausladenden Gesten, was er in Mirathasia<br />

erlebt hatte. Wie üblich lachte er dabei laut.<br />

Jenny stellte sich vor, wie es wäre, wenn auch irgendjemand<br />

Interesse hätte, ihre Version zu hören. Alle würden<br />

ihren Worten lauschen und niemand würde auch nur auf<br />

den Gedanken kommen, das Smartphone zu zücken. Ihre<br />

Geschichte würde so spannend sein, dass sie den Gong<br />

zum Unterricht zwar hörten, doch keinesfalls hineingehen<br />

wollten, ehe sie nicht zu Ende berichtet hätte. Zum ersten<br />

Mal würde sie im Mittelpunkt stehen, ohne dass sie darum<br />

kämpfen und sich vordrängeln müsste.<br />

Jenny lächelte. Dann sah sie auf und stellte fest, dass<br />

alle Schüler bereits auf dem Weg in die Klasse waren. Schon<br />

wieder war es ihr passiert: Sie hatte mit offenen Augen<br />

geträumt und den echten Gong überhört. Jetzt musste sie<br />

zusehen, dass sie noch schnell in die Klasse kam …<br />

88 89


Die Idee<br />

„Und das hast du alles mit unserer Jenny erlebt?“, fragte<br />

Tim seinen Freund ungläubig. „Bist du dir sicher?“<br />

Luca nickte. „Ja, sie war es. Ganz sicher!“<br />

„Aber diese Jenny da“, bohrte Tim weiter und zeigte kurz<br />

zu Jenny herüber, „die tut doch nie was. Guck, sie steht nur<br />

da und brütet vor sich hin.“<br />

„Trotzdem. Jenny ist ganz anders – jedenfalls wenn sie es<br />

will.“<br />

Tim schüttelte nur den Kopf. „Und warum zeigt sie uns<br />

das nicht?“<br />

Da wurde Luca ernst. So richtig wusste er auch nicht,<br />

warum sich Jenny immer so zurückhielt. Vielleicht hatte sich<br />

das über Jahre eingeschlichen, sodass sie sich immer tiefer<br />

in ihr Schneckenhaus zurückgezogen hatte. Und irgendwann<br />

hatte man vielleicht keine Motivation mehr, sich selbst da<br />

rauszuholen.<br />

Während Luca mit Tim zum Klassenraum schlenderte,<br />

dachte er darüber nach. Dann – mit einem Mal – warf er<br />

seine Tasche hoch, fing sie wieder auf und lachte. Lachte<br />

laut und lange. Konnte sich kaum beruhigen.<br />

„Was hast du?“, fragte Tim. Auch er grinste schon, weil<br />

Lachen manchmal ansteckend sein konnte.<br />

„Ich habe eine Idee“, gluckste Luca. „Ich habe eine richtig<br />

gute Idee!“<br />

90 91


Die einmalige Chance<br />

Der Tag verging wie im Flug und Jenny wurde trauriger.<br />

Niemand, nicht einmal Luca hatte mit ihr gesprochen, als<br />

hätte es ihr gemeinsames Abenteuer nie gegeben. Wer weiß,<br />

dachte Jenny bitter, vielleicht hat er mich bei seiner Erzählung<br />

ja nicht einmal erwähnt …<br />

Manchmal dachte sie, jemand würde sie ansehen, doch<br />

wenn sie genauer hinschaute, stimmte das nicht.<br />

In den letzten beiden Schulstunden hatte Jennys Klasse<br />

Sport. Die Stunde begann wie jede andere. Der Sportlehrer,<br />

Herr Lemmhäuser, schickte sie erst einmal ein paar Runden<br />

laufen. Jenny hielt sich zurück, denn es gab immer einige<br />

Schüler, die zeigen mussten, wie schnell sie waren. Auch<br />

Luca gehörte wieder einmal zu ihnen. Als er sie überholte,<br />

klopfte er ihr lachend auf den Rücken.<br />

„Komm, mach mit!“, rief er.<br />

Und schon war er an ihr vorbei. Jenny überlegte, ob sie ihn<br />

verfolgen sollte. Bestimmt konnte sie ihn einholen – doch<br />

was dann? Sie spürte, dass ihr Tränen in die Augen schossen.<br />

Der Kloß im Hals würde ebenfalls verhindern, dass sie<br />

schneller lief. Nein, sie konnte es nicht. Nicht so.<br />

Schon wieder spielten sie zum Abschluss Völkerball. Jenny<br />

mochte das Spiel, da musste man fix laufen, sich nicht treffen<br />

lassen oder aber den Ball fangen und die Gegner damit<br />

abwerfen. Wie immer durften sich die beiden stärksten<br />

Sportler ihre Gruppe zusammenstellen. Luca war natürlich<br />

der Erste, der seine Klassenkameraden der Reihe nach<br />

ansah. Als sein Blick auf Jenny fiel, lächelte er. „Jenny. Du<br />

kommst in mein Team!“<br />

Die Buh-Rufe waren so laut, dass Herr Lemmhäuser Mühe<br />

hatte, die Schüler zur Ordnung zu rufen. Jenny blieb auf<br />

dem Boden hocken, sie glaubte, ihr Kopf wäre knallrot angelaufen.<br />

„Dann verlieren wir ja!“, protestierte jemand, der sonst<br />

auch in Lucas Gruppe war.<br />

„Genau!“, bestätigten die anderen.<br />

„Ich bleibe dabei: Jenny“, betonte Luca. Und da sich Jenny<br />

noch immer nicht rührte, ging er zu ihr, nahm ihr Handgelenk<br />

und zerrte sie mit sich.<br />

Afrim, der nun als Nächstes wählen durfte, grinste über<br />

das ganze Gesicht. Er holte sich Tim, den Luca sonst immer<br />

in seine Gruppe wählte und mit dem er meist gewonnen<br />

h a tt e .<br />

So wurden die restlichen Schüler aufgeteilt. Jenny hielt<br />

sich abseits. So miserabel wie jetzt hatte sie sich noch nie<br />

gefühlt. In der Gruppe musste sie aufpassen, niemandem<br />

im Weg zu stehen, da war es für die Gegner ein Leichtes, sie<br />

gleich abzuwerfen. Was dachte sich Luca bloß dabei? Wahr-<br />

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scheinlich nichts – wie immer! Sie spürte den Unmut der<br />

ausgewählten Mitschüler. Sie wollte nicht diejenige sein, auf<br />

die sich die ganze Wut konzentrierte, dann wollte sie sich<br />

lieber auf die Bank setzen und zuschauen. Es war eine echt<br />

blöde Idee von ihm gewesen.<br />

Aber Luca wandte sich zu seiner Mannschaft um. „Hört<br />

mal zu“, sagte er. „Wenn jemand etwas gegen meine Entscheidung<br />

hat, dann soll er sich sofort auf die Bank setzen.<br />

Ich will, dass Jenny mit uns spielt. Ist das klar?“<br />

„Pah!“, machten einige und gingen tatsächlich zur Bank,<br />

auf die sie sich trotzig fallen ließen. Dann wurden es mehr<br />

und mehr, bis plötzlich nur noch Jenny und Amelie neben<br />

ihm standen.<br />

„Kann ich mal fragen, was das soll?“, sprach der Sportlehrer<br />

die Kinder auf der Bank an.<br />

„Ich hab Bauchweh“, sagte der Erste.<br />

„Ich Kopfweh!“, sagte der Nächste. Ein anderer hatte<br />

Schmerzen im Fuß und jeder murmelte irgendeine Ausrede.<br />

„Dann müssen wir neu wählen“, meinte Herr Lemmhäuser.<br />

Luca schüttelte den Kopf. „Nein. Amelie ist der König, sie<br />

geht nach hinten ins Feld. Jenny und ich spielen allein gegen<br />

die anderen.“ Er drehte sich zu ihr um und flüsterte: „Du<br />

lässt mich doch jetzt nicht im Stich und verkriechst dich?<br />

Das hast du nämlich überhaupt nicht nötig!“<br />

Jenny sah ihn mit großen Augen an. Dann nickte sie. „Ich<br />

geb’ mein Bestes“, sagte sie.<br />

„Okay.“ Er hielt die Hand hoch zum High Five. „Wir machen<br />

sie platt!“<br />

Da musste Jenny lächeln. Ja, sie würde jetzt zeigen, was<br />

sie draufhatte, endlich würden es alle einmal sehen!<br />

Das Spiel begann. Amelie wurde nach hinten geschickt<br />

und Jenny stand mit Luca mitten im Feld. Kaum ging es los,<br />

da flitzten beide hin und her, um nicht getroffen zu werden<br />

oder um den Ball zu fangen. Sie spielten zusammen, achteten<br />

aufeinander, warfen sich den Ball zu, je nachdem, wer<br />

gerade bessere Chancen beim Werfen hatte. Einmal wurde<br />

Luca abgeworfen und Jenny war allein im Feld. Doch sie<br />

hielt sich tapfer, bis Luca wieder zurückdurfte.<br />

Immer mehr Zurufe kamen von den Schülern auf der<br />

Bank. Zum Schluss standen sie sogar auf und applaudierten,<br />

feuerten Jenny und Luca richtig an. Das machte Jenny<br />

Mut. Sie lief zur Höchstform auf und flitzte wie ein Blitz hin<br />

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und her – bis schließlich beide abgeworfen wurden und das<br />

Spiel verloren war.<br />

„Wir haben jetzt zwar nicht gewonnen“, sagte Luca zu<br />

Jenny, die schwer atmend auf dem Boden hockte, „aber wir<br />

haben ein super Teamspiel hingelegt. Und jetzt wissen die<br />

anderen auch endlich, dass du etwas draufhast!“<br />

Die anderen Klassenkameraden kamen hinzu und klopften<br />

Jenny auf den Rücken, lobten sie und luden sie ein, sich<br />

am Nachmittag mit ihnen zu treffen. Jenny strahlte über<br />

das ganze Gesicht. Endlich wurde sie in der Klasse respektiert,<br />

aber allein hätte sie das nie geschafft.<br />

Liebe Besucherinnen und<br />

Besucher von Mirathasia<br />

Dieses Buch ist hier zu Ende. Ich hoffe, es hat dir gefallen, du<br />

bist ein paar Stunden in die Welt Mirathasias eingetaucht<br />

und hast mit Jenny und Luca mitgefühlt und mitgelitten.<br />

Wenn es so war, dann freue ich mich als Autorin besonders.<br />

Wenn du magst, rede darüber oder erstelle eine Rezension<br />

auf Amazon, dazu sind nur wenige Worte notwendig. So<br />

etwas hilft uns Autoren – und das Feedback unserer Leser<br />

und Leserinnen lässt uns noch engagierter in die Tasten<br />

hauen, sodass du dich schon bald auf neue Bücher freuen<br />

kannst.<br />

Lieben Dank und herzliche Grüße<br />

Veronika Aretz<br />

PS: Hast du eine Idee, die zu Mirathasia passt und die du<br />

gerne in einem der nächsten Abenteuer lesen willst? Dann<br />

schreib mir einfach eine E-Mail an: info@va-verlag.de.<br />

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Noch etwas über Jenny und Luca<br />

Vielleicht hast du den Eindruck, dass Jenny und Luca in<br />

ihrer hier dargestellten Art übertrieben beschrieben wurden.<br />

Dazu möchte ich dir erzählen, dass es diese beiden<br />

Menschen tatsächlich gibt. Sie sind heute viel älter als in<br />

der Geschichte und heißen natürlich anders. Doch lassen<br />

wir den beiden ihre Namen, denn ich möchte dir von ihnen<br />

erzählen:<br />

Jenny war während ihrer Schulzeit<br />

sogar noch schüchterner als hier dargestellt.<br />

Erst an dem Tag, an dem sie<br />

die Schule das letzte Mal besuchen<br />

musste, hat sie eine Klassenkameradin<br />

angesprochen. Die beiden haben<br />

sich so gut unterhalten, als wären<br />

sie schon immer beste Freundinnen<br />

gewesen. Bevor sie sich trennten und jede ihren eigenen<br />

beruflichen Weg ging, sagte das Mädchen zu Jenny: „Wie<br />

schade, dass ich vorher nicht gewusst habe, dass du reden<br />

kannst. Ich dachte immer, du wärst böse auf alle Leute<br />

gewesen, weil du ständig so ein Gesicht gemacht hast.“<br />

Jenny hat sich von da an bemüht, ihr verschlossenes Alltagsgesicht<br />

zu ändern. Doch das ist ihr erst gelungen, als sie<br />

auf Luca stieß.<br />

Luca hat eine sehr merkwürdige<br />

Kindheit hinter sich, auf<br />

die ich hier nicht näher eingehen<br />

darf. Tatsache ist, dass er<br />

über den ganzen Tag verteilt so<br />

oft lacht, wie ich es noch nie bei<br />

jemand anderem erlebt habe.<br />

Selbst über zwei Stockwerke und bei geschlossenen Türen<br />

und Fenstern konnte man ihn hören. Er hat sich trotz seiner<br />

schwierigen Vergangenheit nicht unterkriegen lassen.<br />

Ja, er lacht andere auch aus, wenn ihnen mal ein Missgeschick<br />

passiert. In einem Hörsaal mit zweitausend Studenten<br />

ist er derjenige, der auffällt – nicht immer zum Guten,<br />

und doch kennt der Professor seinen Namen.<br />

Vor allem aber lacht er über sich selbst. Ist das nicht besser,<br />

als sich darüber zu ärgern, dass einem etwas Blödes<br />

passiert ist?<br />

Ich jedenfalls hoffe, dass auch du dein Gegenstück findest,<br />

das dir zeigt, dass eingefahrene Verhaltensmuster auch<br />

geändert werden können – oder bist du vielleicht jemand,<br />

der andere mitreißen kann? Dann schau mal, ob es in deinem<br />

Umfeld jemanden gibt, der sich bereits in ein Schneckenhaus<br />

verkrochen hat – vielleicht wartet derjenige ja<br />

nur auf eine Chance, auch am Leben teilzuhaben. Ich würde<br />

mich freuen, wenn auch ihr dann gemeinsam tolle Abenteuer<br />

erleben könntet – wie Jenny und Luca!

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