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2019_Goldschrift_A5_interaktiv

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Gedichte VON<br />

VOLKer Zorr


für Gesine


Impressum<br />

<strong>Goldschrift</strong> der Nacht,<br />

Gedichte aus den Jahren 1999-2010<br />

von Volker Zorr<br />

Juni <strong>2019</strong><br />

Herausgeber:<br />

Volker Zorr<br />

Umschlaggestaltung/Zeichnungen: Atelier Torsten Deigner, Feldberg<br />

© Copyright: Autor/Herausgeber,<br />

alle Rechte vorbehalten<br />

Buchgestaltung und Satz: Atelier Torsten Deigner, Feldberg<br />

Verlag:<br />

Selbstverlag des Autors<br />

Druck:<br />

Flyeralarm, Würzburg


Inhalt<br />

I<br />

Prospero 8<br />

Avignon im Gewitter 9<br />

Pompei 10<br />

Religionen 11<br />

Römischer Porträtkopf 12<br />

Borowski 13<br />

Ikarus 14<br />

Friedrich der Große 15<br />

Rimbaud 16<br />

Amerikanische Mutter an ihren Sohn im Irak 17<br />

Barlachs Engel 18<br />

II<br />

Im Val d‘Aosta 20<br />

Irische Himmel 21<br />

Bretonische Kirche 22<br />

Friedhof in Kandern 23<br />

In der Provence 24<br />

Im Goms 28<br />

Mit einer Schulklasse am Schauinsland 29<br />

Blühender Apfelbaum 30<br />

III<br />

Welt 32<br />

Beim Betrachten einer Bahnhofsuhr 33<br />

Zwei Versuche über das Altern 34<br />

Lehrerverabschiedung 35<br />

Verkehr 36<br />

Nachruf auf eine ungeschlüpfte Amsel 37<br />

Beschimpfung eines umgestürzten Baums 38<br />

Sich Gott am Computer vorstellen 39<br />

Alterssitz im Schwarzwald 40<br />

5


IV<br />

Der alte Schuster 42<br />

Hinterlassenes Tagebuch 43<br />

Dichten 44<br />

Interpretieren 53<br />

V<br />

Wunsch 56<br />

Erfüllter Moment 57<br />

Hochschwarzwald im April 58<br />

Frühherbst 59<br />

Im Herbst 60<br />

Pappel im Oktober 61<br />

Tag im November 62<br />

Trüber Tag 63<br />

Friede 64<br />

Schneefall in der Großstadt 65<br />

Herbst- und Winterhaikus 66<br />

Am See 68<br />

VI<br />

Koitus 70<br />

Lolland 71<br />

Im Nebel 72<br />

Es war Frühling, mein Liebling 73<br />

Ich deck dich lächelnd zu mit Worten 74<br />

VII<br />

Sage und schweige 76


I


Prospero<br />

Das Volk brauchte Gründe, ihr gabt sie ihm<br />

gern: Ich sei, meines Throns überdrüssig,<br />

enttäuscht ins Exil.<br />

Wie recht ihr da habt, o ihr Toren! Nun schwelgt<br />

an den Schüsseln und Fässern der Macht!<br />

Nur zu, überfresst euch: Ich<br />

bau mir ein Kloster aus Wald und Wind, das Meer<br />

meine Mauer, die Brandung mein fernes Geläut.<br />

Bücher sind treuer als Menschen,<br />

enttäuschen dich nicht, wecken<br />

dich auf aus der Torheit, noch ehe das Pack<br />

dich im Schlaf erdolcht.<br />

8


Avignon im Gewitter<br />

Teuflisches Dunkel.<br />

Der Palast,<br />

die Räuberfregatte,<br />

läuft auf den Felsen am Fluss.<br />

Mit Pelzen und goldenen Ketten<br />

behängt, ersaufen die Päpste<br />

im schlammigen Sog<br />

einer Gasse.<br />

Touristen wie Ratten auf Deck, das Hôtel<br />

des monneais eine Truhe<br />

voll Plunder, von Bord geworfen<br />

zu spät.<br />

Schon ist zu Ende der Spuk.<br />

Schon fortgekehrt aus den Hallen,<br />

was überlief aus der Hölle.<br />

Durch die Schießscharten wieder<br />

fällt gotisches Licht.<br />

9


Pompei<br />

I<br />

Besucher kommen<br />

wie heillose Frevler<br />

und suchen in den Ruinen<br />

ein kurzes Asyl.<br />

II<br />

Noch immer vereint<br />

die Casti Amanti:<br />

Kein einziges Beben<br />

zerriss ihren Kuss.<br />

Noch immer berauscht<br />

die komischen Masken und lachend<br />

der Asche, als wär sie der Rest<br />

des letzten Feuerwerks.<br />

Und auch Narziss noch immer<br />

bezaubert von seinem Bild:<br />

Kein Schrei, der ihn<br />

jemals erreicht.<br />

III<br />

Die Stadt ist nicht tot,<br />

das Licht<br />

tanzt als Faun<br />

inmitten der Trümmer.<br />

10


Religionen<br />

(nach Nagib Machfus’ „Die Kinder unseres Viertels“)<br />

I<br />

Verfeindete Viertel<br />

einer Stadt.<br />

Hinter hasshohen Mauern<br />

Geschrei von Gebeten.<br />

Auf den blutroten Zinnen<br />

der Kopf eines Ketzers.<br />

Vom Stadttor bisweilen auch Fremde,<br />

auf die man vorbeigehend speit.<br />

II<br />

Auch du stammst aus einem der Viertel.<br />

Auch dir hat ein Priester<br />

das Sklavenzeichen<br />

gebrannt: Wann immer<br />

nach Wahrheit du fortläufst, erkennt<br />

dich dein Herr wie dein Feind.<br />

Zur Freiheit, zum Sterben<br />

bleibt dir die Wüste allein.<br />

11


Römischer Porträtkopf<br />

Du kanntest das Lachen sehr wohl, trankst Wein<br />

am liebsten ungemischt und hasstest es,<br />

wenn man mit Unglück dir kam:<br />

Doch hier, im Parischen Marmor,<br />

das wusstest auch du, war für solche Dinge<br />

kein Platz: Der Nachwelt<br />

gebührten der Wächterblick<br />

eines geizigen Greises, die Peitschenstriemen<br />

der Lippen, die drohend zerfurchte Stirn.<br />

So stehst du und trägst deine Maske<br />

bis heut. Nichts sollen wir wissen von Orgien<br />

und Knaben, nichts ahnen von deiner Lust.<br />

Im Dunkel erst nimmst du sie ab und lachst.<br />

12


Borowski<br />

Deutsche?<br />

Polen?<br />

Das Kapo-<br />

Geschmeiß?<br />

Was fragt ihr!<br />

Ich will gar nicht<br />

wissen,<br />

wer!<br />

Mir reicht schon, dass ich<br />

dabei war, ich<br />

zoll mir Respekt,<br />

dass ich‘s schaffte:<br />

Fürwahr, eine Ratte wie alle.<br />

Verriet und verbiss<br />

jeden andern<br />

für Brot:<br />

Am Ende nichts mehr<br />

als ein Bauch<br />

und ein Tauchen<br />

im Schlamm.<br />

Zu Ende der Krieg?<br />

Schon lange? Hier<br />

bei den Nagern, im Stank<br />

der Kloake kam nichts davon an.<br />

Und gesetzt, ich würde<br />

noch einmal ein Mensch –<br />

ich täte, was Ratten nie tun,<br />

und liefe zurück in den Draht.<br />

13


Ikarus<br />

Endlich -<br />

kein Wort meines Vaters<br />

erreicht mich hier!<br />

Mein Herz ist ein trunkener Adler<br />

und sitzt nicht mehr träg auf den Dächern<br />

des großen Palasts!<br />

Das Wachs ihrer ängstlichen Halbheit<br />

schmilzt, meine Arme fliegen<br />

allein. Entflammt<br />

von Vergessen, stürze ich mich<br />

auf die Welt. Mein Absturz<br />

widerlegt mich nicht, er ist<br />

mein schnellster Flug.<br />

14


Friedrich der Große<br />

Realpolitiker mit philosophischem Unterleibchen,<br />

französische Verse für zwischendurch, Liebhaber<br />

stoischer Häppchen, wenn Tausende in Schlesien,<br />

Sachsen oder anderswo hungrig ins Gras beißen,<br />

Flötenkonzerte, um das Rascheln der Heeres-Dossiers<br />

zu übertönen, Eremit von Sanssouci mit Zuchtstock<br />

und Porzellantässchen, Voltaire in der Sammlung<br />

als Schaustück, das bald missfällt. Am Ende<br />

verbittert wie Macchiavell: noch bestenfalls<br />

Lieferant von Anekdoten und Judenerlassen, Vorliebe<br />

für Hunde statt Menschen und das stille Bedauern,<br />

nicht für einen König wie ihn gefallen zu sein.<br />

15


Rimbaud<br />

Sprache, du Dirne,<br />

komm her! Bist noch<br />

das Beste auf dieser Welt.<br />

Leg dich zu mir, ich spritze dir<br />

Verse in deinen käuflichen Schoß!<br />

Nun geh, wir sind fertig!<br />

Häng dich an andre als mich!<br />

Ich wollte dich als meinen Dolch,<br />

nicht als Bett. Du solltest mir morden,<br />

jetzt heulst du gereimt!<br />

Geh zu Verlaine und den andern –<br />

ich such mir woanders den Rausch:<br />

in Wüsten und Wadis, bei Waffen<br />

und Wein, mein Geld schlepp ich<br />

in einem Gürtel - dich<br />

braucht es nicht mehr:<br />

Beim Schmutz der Geschäfte,<br />

bei viehischer Rache,<br />

beim einsam Verrecken<br />

bleibt besser man stumm!<br />

16


Amerikanische Mutter an ihren Sohn im Irak<br />

Mein Sohn, gestern sah ich ein Bild...nein, nein, keine Toten,<br />

die Zeitungen halten sich meist hier ans Reglement...<br />

Und doch war mir unwohl...Natürlich gehört jetzt Mitleid verboten:<br />

Das wissen wir alle, das sagt auch der Präsident...<br />

Ein schreckliches Bild: ein Aufschrei, ein schwarzes Gewand,<br />

Geheul in der Luft, und Fäuste, und fliegendes Haar,<br />

`ne Furie von Frau, und vor ihr, zu ahnen, ein Fetzen im roten Sand,<br />

und Blicke, gebrochen, die sagen: Ich weiß, es ist wahr...<br />

Beim Kaffee war’s, gestern...gleich macht’ es mir Angst, dies Gesicht:<br />

Der Qualm ließ, das Chaos umher, mich kalt, auch das Drängen<br />

der Helfer zu ihr...doch die Zün-, die Zündschnur der Lippen nicht...<br />

und seh dich nun immer vor ihr, schrei dir zu: Ein Minenfeld! Sprengen<br />

wird jeden ihr Schrei: Ihr Mund explodiert, und ihr Schleier zerreißt! -<br />

Allein bin, wie sie, ich, allein, wenn zwei Augen-Bomben sie auf dich schmeißt!<br />

17


Barlachs Engel<br />

Grabplatte,<br />

die vom Schweben träumt.<br />

Schatten,<br />

der vom Sterben weiß.<br />

Und dazwischen,<br />

an keiner Kette mehr:<br />

sein Lächeln, schwalbengleich<br />

in der Luft.<br />

18


II


Im Val d’Aosta<br />

Vom stürmischen Pass<br />

durch Höllendunst stolpernd<br />

stieg ich hinab<br />

zum rifugio.<br />

Auf einmal vor mir<br />

auf sonniger Matte:<br />

fünf Steinböcke, reglos im Kreis,<br />

ihr feuchtes Fell von Händen<br />

aus Licht gekrault.<br />

Nur manchmal<br />

hob einer den Kopf, schwenkte<br />

die Hörner ganz leicht, verscheuchte<br />

gelangweilt<br />

den Nebel damit.<br />

Versunken in warmem Glück,<br />

nahm keiner mich wahr.<br />

Ein bisschen nur hob sich<br />

ihr Ohr, aus Furcht allein<br />

vor meinem Schatten.<br />

Vorsichtig ging ich, beschenkt<br />

und beschämt,<br />

ein ungebetener Gast,<br />

vorbei.<br />

20


Irische Himmel<br />

Kostbares Pergament, unter Stürmen<br />

entrollt und geduldig bemalt<br />

von den Händen berühmter Schreiber:<br />

Purpur, Dunkelblau, Gelb,<br />

vom Hindukusch Ultramarin,<br />

spanisches Auripigment -<br />

mit rasch sich verwandelnden Farben<br />

erfinden sie hier das Meer,<br />

erschaffen sie dort einen Berg,<br />

sie fliegen hinauf mit der Gischt,<br />

stürzen hinab mit dem Regen und deuten<br />

im Nebel ein Licht an, das schnell sich verliert.<br />

Erst wenn Dämmerung das Skriptorium erfüllt,<br />

das Laub wie ein Umblättern klingt<br />

und der Mond wie ein Öllicht blakt,<br />

rollen sie ein ihr noch unvollendetes Bild<br />

und üben sich in der <strong>Goldschrift</strong><br />

der Nacht.<br />

21


Bretonische Kirche<br />

Der Sturm<br />

lässt noch läuten die Glocken<br />

der Brandung.<br />

Im Kirchhof kein Grab:<br />

Ein Boot, das nicht heimfand –<br />

so treibt jeder Tote<br />

im Meer.<br />

Zerfressen von Kummer<br />

und Salz, den Sohn in<br />

ein bleiches Segel gehüllt,<br />

hockt einsam im Querschiff ein Weib.<br />

Versteinert blickt sie<br />

hinaus vor die Tür<br />

und spricht ihr Gebet<br />

in die Nacht:<br />

„Steinernes Schiff,<br />

auf den Sand einer Düne gebaut,<br />

flieg hinaus und kreuz<br />

vor den Klippen!“<br />

22


Friedhof in Kandern<br />

Schilder mit zehn Verboten<br />

für Friedhofsbesucher:<br />

Am besten sich hier<br />

wie ein Toter benehmen!<br />

Die Toten aber, sie träumen<br />

im flirrenden Licht des Septembers<br />

sich fort aus der Gruft und warten,<br />

bis endlich der Friedhof sich leert.<br />

Im ersten Abendnebel<br />

ihr Auferstehen, ihr Trunkensein<br />

von durchsonnter Luft<br />

und flammendem Laub.<br />

Mit den Staren<br />

durch Purpur und Gold<br />

fliegen sie fort<br />

zu den Hügeln Mackes.<br />

23


In der Provence<br />

I<br />

Gehölz, grau gedörrt<br />

in der flirrenden Macchia:<br />

Schon lange verloren der Kampf, doch<br />

Finger die Zweige, noch<br />

immer ins Blau<br />

verkrallt.<br />

24


II<br />

Bergdorf<br />

Kubismus verlassener Häuser:<br />

Auf eingefallenen Dächern<br />

die brotlosen Künste<br />

des Lichts.<br />

Vereinzelt noch Schwalben<br />

als letzte Bewohner,<br />

aus der Ferne wie Fliegen<br />

um Haufen von Kot.<br />

Am Dorfplatz die Sonnenuhr,<br />

stehen geblieben seit Jahren, bis<br />

mein Schatten sie<br />

flüchtig streift.<br />

25


III<br />

Mont Ventoux<br />

Petrarca hatte hier damals<br />

noch eine grüne Hölle vor sich,<br />

nicht diesen riesigen Knochen,<br />

abgenagt von den Mäulern<br />

Toulon und Marseille.<br />

Doch auch er hat den Aufstieg<br />

bereut und, bestürzt von der Ferne,<br />

die Gott hieß, verächtlich hinabgesehen<br />

auf dieses „höher gelegne Stück Erde“,<br />

„kaum eine Elle hoch“.<br />

Klapp zu sein Buch, lies lieber<br />

vom Wegrand Blumen, schlag auf<br />

deiner Liebsten Haar, studiere<br />

den heiligen Text deines Kinds,<br />

wenn es lacht oder staunt.<br />

Und sei wach, wenn du träumst: Nachts,<br />

wenn die Sehnsucht dich weckt, steht<br />

dort, wo der Berg war,<br />

ein Baum - mit Sternen<br />

an jedem Zweig.<br />

26


IV<br />

Garten und Feld<br />

Kein Weg,<br />

der das Tuch aus Mohn<br />

in Streifen zerreißt.<br />

Kein Zaun.<br />

Niedrige Mauern,<br />

auf denen am Abend<br />

die Sonne verschnauft.<br />

Freiheit der Rose,<br />

an hilfreich gespannter Schnur<br />

zu wachsen,<br />

wohin sie will.<br />

27


Im Goms<br />

I<br />

Am Morgen findet das Licht erst spät<br />

wie ein Schmuggler<br />

über verschneite Pässe<br />

den Weg:<br />

Es bietet - verderbliches Zeug<br />

und nicht billig - dir<br />

Zuversicht für<br />

einen Tag.<br />

Erst mittags, vom Blendwerk<br />

der Sonne beschwatzt, nimmst du<br />

den Bettel ihm ab, willigst ein,<br />

übervorteilt zu sein.<br />

II<br />

Abends das Dorf von weitem<br />

im tiefen Schnee: ein zerfallener<br />

Stapel Holz. Der steinerne Kirchturm:<br />

ein erloschener Kamin.<br />

Nur die Toten stehn auf<br />

aus verschneiten Gräbern<br />

und suchen ein warmes Heim<br />

statt des Himmels.<br />

III<br />

Warte nicht länger! Reis ab,<br />

eh es Nacht wird! Lawinen, der Wildbach,<br />

das Geld – das Verhängnis fiel immer<br />

hier ein wie die Pest.<br />

28


Mit einer Schulklasse am Schauinsland<br />

Höfe, auf denen man noch<br />

vor hundert Jahren im Kindbett<br />

starb, der Hunger abends<br />

wie ein Bettler an die Türen<br />

schlug und sieben Geschwister<br />

in drei geflickten Paar Schuhen<br />

sich durch Tiefschnee<br />

zur Schule schleppten –<br />

heut heißen sie „Wellness-Hotel“,<br />

haben ihr eigenes Hallenbad<br />

und Gerichte, die man niveauvoll<br />

appetitlos zu sich nimmt...<br />

Kommt, Kinder, freuen wir uns,<br />

dass wenigstens hier noch die Fenster<br />

undicht sind, der Wasserhahn tropft<br />

und die quietschende Haustür<br />

wie ein Weinen klingt!<br />

29


Blühender Mandelbaum<br />

(nach einem Gemälde von Pierre Bonnard)<br />

Ein Zirkuszelt diese Welt,<br />

der Himmel die Kuppel, an der<br />

das Licht in hundert Farben<br />

umeinander fliegt.<br />

Ich alter Mann<br />

sitz‘ hinten beim Ausgang<br />

und schaue noch immer<br />

verzückt wie zu Sternen empor.<br />

Ein Apfelbaum<br />

fällt mir ein: Gedankenlos ging ich<br />

– er blühte! –<br />

soeben an ihm vorbei!<br />

Ich müsste ihn malen<br />

als leuchtenden, flirrenden Tanz,<br />

als schleuderte einer<br />

sein Blühen wie wirbelnde Keulen in die Luft...<br />

Applaus donnert los,<br />

Musik verhallt, die Masse drängt wild<br />

in die Nacht und weckt mich<br />

aus den Skizzen eines Traums.<br />

Zwei Wochen noch<br />

bleibt hier der Zirkus,<br />

eine vielleicht<br />

blüht noch der Baum -<br />

so lang ihn noch malen,<br />

so lange noch blütenleicht schweben<br />

mit Farben über den Schatten,<br />

mit Licht auf dem morschen Stamm!<br />

30


III


Welt<br />

Anfangs<br />

noch ohne Geschmack:<br />

eine Brust, an der man sich<br />

labt, allmählich<br />

dann erstes Gemäkel und<br />

Szenen am Esstisch,<br />

schließlich leicht angewidert<br />

der Entschluss, mit ihr<br />

vorlieb zu nehmen:<br />

sie wie einen harten, schon<br />

schimmligen Kanten Brot<br />

im Mund behalten<br />

und wütend berechnen, wann<br />

man ihn wieder ausspeit,<br />

den andren ins Gesicht,<br />

zu guter Letzt kauen, missmutig<br />

kauen, als kämpfte man dagegen<br />

an, als zeigte man<br />

nur seine Wut (soll keiner glauben,<br />

ich könnte sie schlucken<br />

oder verdauen, die Welt!), kauenkauen –<br />

und plötzlich, ganz spät, das Süße<br />

auf der Zunge spüren - und leeren Munds<br />

sterben.<br />

32


Beim Betrachten einer Bahnhofsuhr<br />

Wie ein Esel<br />

im Kreis geradeaus,<br />

unwiederbringlich ziellos –<br />

Sekunde,<br />

wie der Knüppel des Knechts,<br />

der ihn prügelt, wann immer<br />

ein Rundgang vorbei -<br />

Minute,<br />

wie der Herr,<br />

der aus Gier keine Pause erlaubt<br />

und träg um sein Gut einen Rundgang macht –<br />

Stunde:<br />

Und alles das für ein lausiges Mehl,<br />

das verweht wie der Staub<br />

und nie satt macht –<br />

Zeit.<br />

33


Zwei Versuche über das Altern<br />

I<br />

Dein Leib verliert langsam die Lust,<br />

probiert Krankheiten wie Ausflüchte an.<br />

Dein Herz: sogar zum Brechen zu müd,<br />

dein Lachen: ein vergessenes Gedicht.<br />

Und ein undichter Wasserhahn,<br />

den Gott oder einer der Nachbarn<br />

bald schon genervt abdrehen wird:<br />

dein Leben.<br />

II<br />

Ohne Erbarmen im Spiegel<br />

den Leib betrachten,<br />

wie von einem Hügel<br />

ein Feldherr sein versprengtes Heer,<br />

der im Wahnsinn noch immer<br />

nicht aufgibt die Schlacht.<br />

34


Lehrerverabschiedung<br />

Sie haben niemals.<br />

Sie wollten niemals.<br />

Sie konnten niemals.<br />

Für Sie war immer.<br />

Sie zögerten nie.<br />

Man brauchte Sie nur.<br />

In schwierigen Zeiten.<br />

Unbeeindruckt.<br />

Mit Leidenschaft.<br />

Das sollte hier unbedingt.<br />

Mit beneidenswerter,<br />

unbeirrbarer,<br />

einzigartiger.<br />

Und sollten auch nicht vergessen.<br />

Menschenfreund.<br />

Hobbykoch.<br />

Rosenzüchter.<br />

Ein Vorbild.<br />

Auch künftig.<br />

In Zukunft.<br />

Von nun an:<br />

Otium cum dignitate.<br />

Als Menschen-<br />

- sed vitae discimus -<br />

und Rosenfreund.<br />

Selbst wenn nun am Ende.<br />

Und trotz Ihrer schweren.<br />

Mit besten Wünschen.<br />

35


Verkehr<br />

I<br />

Motorisierte Kampfverbände, gehetzt<br />

an immer dieselbe Front.<br />

Der Feind schon längst überrollt, das Land<br />

schon lange besetzt.<br />

Doch Gnade wird nicht mal<br />

dem Sieger gegeben.<br />

II<br />

Fahrradguerilla, behelmt und gepanzert,<br />

durchbricht vereinzelt die Stellung des Gegners.<br />

Bisweilen ein Fußgänger-Flüchtling, der<br />

nicht aus den Schusslinien kommt.<br />

Das Volk, in Häusern verschanzt, beachtet<br />

die Ausgangssperre genau.<br />

III<br />

Von überall Nachschub, und jeder<br />

von jedem umstellt.<br />

Auf tödlichen Vormarsch folgt abends<br />

der tödliche Rückzug.<br />

Pardon wird nicht mehr gegeben,<br />

kapituliert allein in einem Crash.<br />

36


Nachruf auf eine ungeschlüpfte Amsel<br />

Mit Kettensägen<br />

hatten sie vor unserm Haus<br />

den Holunder gestutzt.<br />

Bis gestern war das ihr Haus.<br />

Jetzt war es der Ort<br />

ihrer Klage.<br />

Noch Tage lang saß sie<br />

in ihrem Nest und sang<br />

ihr totes Kind in den Schlaf.<br />

Ahnungslos gingen die Leute vorbei<br />

und hielten das Ganze<br />

für Frühling.<br />

37


Beschimpfung eines umgestürzten Baums<br />

Weil du nur stillhieltst, nur immer – ergrünen,<br />

erblühen, wie schön! - das tatst, was<br />

von dir verlangt war, weil du so mitmarschiertest<br />

im Einheitsdressing des Waldes, dich nicht wehrtest<br />

gegen den Automob, pissende Köter, Asphalt, weil<br />

du (o goldenes Laub!) so kitschig warst jeden Herbst,<br />

die Jammervisage uns feilbotst im Frost und jetzt, mal grade<br />

ein bisschen morsch, ganz heimlich und leise mal einfach so<br />

umfielst: lautlos zur Nacht, um keinen zu stören, und ohne<br />

ein einziges von uns Schweinen mal bei deinem Abgang<br />

so richtig mit umzuhau‘n!<br />

38


Sich Gott am Computer vorstellen,<br />

wie er uns irgendwo runterlädt, als<br />

winziges Bild auf ein leeres Word-<br />

Dokument haut, ein bisschen<br />

vergrößert, weiß der Teufel wohin<br />

bewegt und wieder zurückholt, bunt<br />

oder lieber grau färbt, anderen<br />

Schnickschnack damit treibt, langsam<br />

unzufrieden wird, das alles wieder<br />

verkleinert, aufs Schlimmste<br />

verzerrt, Tränen lachend<br />

verhöhnt, dann genervt auf<br />

der Tastatur rumhackt, das Zeug<br />

zu kopieren vergisst und dem Scheiß dann<br />

ein gottverdammtes Ende macht.<br />

39


Alterssitz im Schwarzwald<br />

Halbjährig unbewohnt, als<br />

sei der Besitzer verstorben.<br />

Die restliche Zeit dann beschränkt mobil<br />

in krank machender Immobilie, aber<br />

schöne Aussicht auf kinderlose Landschaft<br />

und Friedhof garantiert. Auch der Hausarzt<br />

trifft rechtzeitig zum nächsten<br />

Schlaganfall ein. Wochenlang<br />

außer dem Postboten kein Mensch.<br />

Die Zimmer und ganze Etagen<br />

schon leer geräumt. Die Erbschaft<br />

geregelt.<br />

Und noch immer das Stolpern<br />

über Erinnerungen, die<br />

keiner mehr<br />

teilt.<br />

40


IV


Der alte Schuster<br />

Wir Kinder kannten ihn nur<br />

aus der Werkstatt, in der es nach Leim<br />

und Leder roch. Von der Arbeit<br />

sah er kaum auf, es sei denn, man brachte ihm<br />

völlig kaputte Schuh. Die hielt er<br />

dann lange ins Licht, sann murmelnd<br />

darüber nach, zuckte manchmal dazu<br />

mit den Schultern, schüttelte lang<br />

mit dem Kopf, und manchmal, da<br />

spuckte er einfach nur wütend aus.<br />

Und trotzdem war immer ein Weg:<br />

Mit seltsamen Strichen von Kreide beschrieb er<br />

die Sohle und legte den Schuh ins Regal.<br />

Das Wort, das er dabei uns hinwarf, verriet uns,<br />

wie lange das Wunder noch brauchte.<br />

Aus allem Verbrauchten, Zerstörten, Entweihten<br />

noch etwas machen, aus Wörtern<br />

wie „Stern“ oder „Tod“ oder „Liebe“, die jeder<br />

heut wegwirft oder verdammt – von ihm,<br />

dem wortkargen Schuster, hab ich’s gelernt.<br />

42


Hinterlassenes Tagebuch<br />

Ein riesiger Friedhof<br />

aus Worten,<br />

von Vergessen<br />

überwachsene Zeilen.<br />

Sogar das Blättern<br />

knistert wie Laub.<br />

Datum und Jahr: Hier wurde<br />

Gelebtes beigesetzt.<br />

Einziger Trauernder: er,<br />

dessen Leben hier liegt.<br />

43


Dichten<br />

I<br />

Eine Brücke bauen<br />

über den reißenden<br />

Lügenstrom,<br />

Wort an Wort fügen,<br />

Bohle an Bohle, nie sicher,<br />

ob es dich trägt,<br />

und das andere Ufer<br />

irgendwo hinter, weit<br />

hinter der Nacht,<br />

sichtbar nur manchmal<br />

im Blitzstrahl<br />

einer Metapher.<br />

Dichten - ein zorniges<br />

Hämmern im Dunkel,<br />

sonst nichts.<br />

44


II<br />

Durchbohrt werden von einem<br />

Augenblick –<br />

und jahrelang<br />

suchen die Tropfen Bluts,<br />

bis du gesammelt hast<br />

ein einziges Gedicht.<br />

45


III<br />

(in memoriam Giuseppe Ungaretti)<br />

Ja, das<br />

ist unser Leben:<br />

ein absehbarer Schiffbruch.<br />

Der Dichter erleidet ihn<br />

wie jeder andere<br />

auch.<br />

Doch während sie<br />

frierend verzweifelt<br />

am Ufer stehn und weinen,<br />

hat er ein paar Lebenstrümmer<br />

retten können und macht,<br />

wenn es Nacht wird,<br />

ein Feuer für alle daraus<br />

aus nichts<br />

als seinen Worten.<br />

46


IV<br />

(Angsttraum)<br />

Morgens erwachen<br />

und nichts mehr<br />

als Bild<br />

sehen können:<br />

Verdammt sein<br />

zu dem, was sie<br />

die Wahrheit<br />

nennen:<br />

Das Haus<br />

eine Summe von Steinen,<br />

der Baum<br />

eine Menge von Holz.<br />

Inmitten von Grabplatten<br />

wohnen: auf jeder<br />

ein fester<br />

Begriff.<br />

47


V<br />

Wort-<br />

Winter:<br />

Unsichtbar<br />

unter dem Eis<br />

schlafen<br />

die Primeln<br />

noch unerblühter<br />

Sprache.<br />

48


VI<br />

Dichter<br />

Wie nach einer Ölpest<br />

am Strand<br />

ein hilfloser Helfer:<br />

Worte wie<br />

sterbende Vögel bergend,<br />

Vögel mit schwarzem Gefieder.<br />

Nur manchmal<br />

noch eines, das unter dem Schlamm<br />

noch lebt.<br />

49


VII<br />

Dichten –<br />

ein Nichtsund<br />

Niemands-<br />

Land,<br />

der schmale<br />

Grenzstreifen, wo<br />

das Gras<br />

grüner ist,<br />

seltene Arten<br />

überleben<br />

und der Aufenthalt<br />

immer<br />

gefährlich ist.<br />

50


VIII<br />

Für niemanden schreiben,<br />

für sich wie in Einzelhaft schreiben,<br />

schreiben an Herzinnenwände,<br />

an Gitterstäbe aus Rippen,<br />

schreiben bis ins Mark.<br />

Lieber verdurstend<br />

mit seinem Blut schreiben,<br />

schon halb verfault<br />

noch immer vom Weltgestank schreiben,<br />

als seine Worte fortzuwerfen<br />

in den Hof, wo das vereinte Pack<br />

darüber lacht.<br />

51


IX<br />

Schreib,<br />

wie Getreide<br />

man worfelt:<br />

Die Worte geduldig<br />

aus der festen Ordnung<br />

der Ähren reißen,<br />

sie aufmischen, durcheinander<br />

bringen, werfen ins Nichts<br />

der Luft, sie ganz<br />

verlieren, inmitten<br />

von Spreu und Stummheit<br />

stehen, bis<br />

endlich wie Korn<br />

ein wahrer Satz<br />

zur Erde fällt.<br />

52


Interpretieren<br />

Das Kunststück,<br />

die eine Blume zu werden, auf die sich<br />

der Schmetterling setzt,<br />

geduldig warten, bis er<br />

von selbst die Flügel<br />

spreizt,<br />

den leisen Abdruck fühlen,<br />

den er der Blüte<br />

gibt,<br />

ihm nachsinnen,<br />

bis sich sein Muster<br />

im Fortflug enthüllt.<br />

53


54


V


Wunsch<br />

Eine Linie,<br />

eine einfache Linie,<br />

eine nicht zu gerade,<br />

klar in sich verstrickte<br />

Leben-Lern-Linie ziehen -<br />

auf einem vergilbten,<br />

wurmzerfressenen,<br />

halbverbrannten<br />

Fetzen Papier!<br />

56


Erfüllter Moment<br />

Verschont von Erinnern<br />

und Hoffen:<br />

Ich lieg‘ auf dem Gras<br />

wie der Tau gegen Mittag:<br />

glücklich<br />

auf Widerruf.<br />

57


Hochschwarzwald im April<br />

I<br />

Erbitterte Kämpfe<br />

zwischen Schnee und Gras,<br />

wechselnde Frontverläufe, Scharmützel<br />

von Grün und Grau, Attacken<br />

von Flockengeschwadern und Sonnengeschossen,<br />

kein Nachschub an Wärme, was<br />

an Primeln und ersten Narzissen<br />

bis zum Abend noch lebt,<br />

kommt um<br />

im Anschlag der Nacht.<br />

II<br />

Der Frühling kapituliert, und erneut<br />

zieht der Winter ins Land. Wochenlang<br />

wird er noch zechen an einem Tisch, auf den<br />

erfrorene Vögel fallen, Dutzende Becher<br />

voll Hagel leeren, als wäre es Wein. Und erst,<br />

wenn ersoffen er in seiner Kotze aus Schneematsch<br />

liegt, kommt der Sommer wie ein verspäteter Arzt<br />

vorbei, deckt mit Buschwerk die Leiche zu<br />

und macht sich davon.<br />

58


Frühherbst<br />

I<br />

Besonnte Ufersteine<br />

am Mittag:<br />

ein Schmetterling fliegt<br />

von einem zum andern<br />

und sammelt sich<br />

Wärme...<br />

II<br />

Erstes Laub:<br />

Kartenhaus Sommer,<br />

das lautlos<br />

zerfällt...<br />

III<br />

Am Ufer des Flusses<br />

das Gras noch vom Sommer<br />

zerdrückt.<br />

Und immer die Hoffnung,<br />

die Kühle währe nur<br />

diese Früh.<br />

Zertretener Holunder, gebrochene Rosen:<br />

An den Fingern des Winters<br />

klebt bereits Blut...<br />

59


Im Herbst<br />

Im Herbst<br />

wird der Baum<br />

eine Hand, die sich öffnet,<br />

und reicht dir<br />

den Himmel.<br />

60


Pappel im Oktober<br />

I<br />

Wolke<br />

goldenen Laubs,<br />

ziehend, schwebend<br />

zugleich.<br />

Wie friedlicher Rauch<br />

steigt der Stamm<br />

zu den Krähen<br />

hinauf.<br />

II<br />

Ekstase -<br />

der große Moment, wenn<br />

ein einziges Blatt, das im Blau<br />

schwebt,<br />

den Text<br />

der ganzen Welt trägt<br />

und im Licht<br />

damit tanzt.<br />

61


Tag im November<br />

Von diesem finsteren Tag<br />

bleibt einzig<br />

die Amsel,<br />

die grade<br />

von einer Mauer<br />

die letzten verdorrten Trauben<br />

holt, auf ein Fenstersims<br />

fliegt, sie dort<br />

anmutig tänzelnd<br />

genießt, sich selbst<br />

mit dem Taktstock des Schwanzes<br />

den Einsatz gibt<br />

und endlich<br />

auf eigenen Tönen<br />

entfliegt.<br />

62


Trüber Tag<br />

Wolkenmauern, die keiner durchbricht.<br />

Nur manchmal ein Lichtstreif,<br />

dem die Flucht gelingt.<br />

In unser Verlies.<br />

63


Friede<br />

Auf einer Bank im November:<br />

ein Rentnerpaar, aneinander<br />

geschmiegt mit geschlossenen<br />

Augen und die Blicke vereint<br />

jetzt nach Westen gewandt, wo<br />

bald schon die Sonne versinkt.<br />

64


Schneefall in der Großstadt<br />

Noch im<br />

dichtesten<br />

Schneefall<br />

der feine<br />

Abstand<br />

von<br />

Flocke<br />

zu<br />

Flocke.<br />

65


Herbst- und Winterhaikus<br />

I<br />

Das winzige Blatt,<br />

das im Fallen den Hals streift –<br />

es trifft mich ins Herz!<br />

II<br />

Seit Tagen Nebel.<br />

Auch die Sonne ist nur noch<br />

ein fahles Blatt.<br />

III<br />

Schneeflocke, die schwebt<br />

und sicher zu ruhen meint...<br />

Du - siehst ihren Fall!<br />

IV<br />

Bei dieser Kälte<br />

erstarren selbst Bäume – ach,<br />

nicht einer, der rauscht!<br />

V<br />

Als ich heut morgen<br />

die kalten Hände mir rieb,<br />

half mir dein Atem.<br />

66


VI<br />

Im Frost rücken selbst<br />

des Holzstapels Scheite noch<br />

enger zusammen.<br />

VII<br />

Still liegt und traurig<br />

ein grünes Platanenblatt<br />

mitten im Schnee.<br />

VIII<br />

Von Stürmen zerpflückt,<br />

leuchten noch jetzt im Nebel<br />

Novemberrosen.<br />

67


Am See<br />

Leicht werden, schweben,<br />

sich nur noch halten<br />

am Gras.<br />

68


VI


Koitus<br />

Tor, in den Himmel<br />

gehängt, das wir<br />

arglos durchfliegen:<br />

Dahinter<br />

kein Raum, der<br />

uns aufnimmt, wir<br />

stürzen, jeder<br />

ein Flügel, der<br />

brechend<br />

noch, immer<br />

noch<br />

schlägt.<br />

70


Lolland<br />

I<br />

Himmel!<br />

Wieder der Himmel!<br />

Und Meer!<br />

Auch das Meer!<br />

Etwas Land<br />

zwischen beiden!<br />

Und dort, in der Ferne,<br />

ein Mensch! - plötzlich<br />

schön wie die Kiefer,<br />

bei der er steht.<br />

II<br />

Muscheln wie Menschen:<br />

du schaust sie dir an, hebst<br />

diese wohl, jene dir auf, die meisten<br />

verwirfst du, lässt liegen<br />

am Ende alle.<br />

Aber dort, von den Wellen,<br />

wer ruft dort? Dein Töchterlein ist’s,<br />

dich ruft es, ja, dich, hier gebe es<br />

Muscheln, wunder-, so<br />

ganz wunderschön!<br />

Ich komme! Ich weiß doch,<br />

es gibt ja noch Schätze:<br />

Dein Kleidchen zum Beispiel:<br />

ein fliegender Himmel, zum Beispiel<br />

dein Lächeln: ein sprühendes Licht!<br />

71


Im Nebel<br />

Erst am vagen Umriss<br />

der Leute merken,<br />

wie unerreichbar<br />

du selbst<br />

im Nebel<br />

gehst.<br />

72


Es war Frühling, mein Liebling, leuchtender März,<br />

wie Blüten hingen die Tropfen des letzten Regens<br />

an den Zweigen. Düfte kamen aus ihren Verstecken<br />

und wollten erhascht sein. Unendlich<br />

fern lag der Abend.<br />

Ich kam von der Arbeit und sah dich am anderen Ufer,<br />

wir winkten und lachten uns zu. So groß warst du<br />

auf deinen Rollschuhen. Ich gab dir ein Zeichen, dann<br />

lief ich am Uferweg los. Du sahst, wie ich rannte,<br />

und liefst mir, der Fluss zwischen uns, auf deiner Seite<br />

nach. Wir waren zwei Pfeile, die sahen einander im Flug<br />

und wussten, sie trafen, zwei Schiffe, die hielten aufeinander zu<br />

und waren dem andern ein Stern in der Nacht,<br />

zwei Flügel, die sich im gleichen Takt hoben und senkten,<br />

weil ein Wind sie gemeinsam trug.<br />

Dies eine einzige Mal waren wir gleich schnell: Genau in der Mitte<br />

der nächsten Brücke fing ich dich auf, und wir lachten<br />

und keuchten und hielten uns fest. So, auf einer Brücke, werden<br />

wir wie zwei Wanderer bald schon Abschied nehmen<br />

nach langem gemeinsamem Weg:<br />

Traurig werden wir voreinander stehen und uns umarmen,<br />

ahnend, dass der längere Weg noch vor uns liegt<br />

und jeder ihn alleine geht, und beide werden wir rasch<br />

dann weiter ziehen, damit die Tränen, die der andre<br />

weint, vom andren Ufer nicht mehr sichtbar sind.<br />

73


Ich deck dich lächelnd zu mit Worten,<br />

erleuchte dich mit Atemlicht,<br />

schweig zu dir hin von allen Orten<br />

und find an jedem dein Gesicht.<br />

74


VII


Sage und schweige<br />

Sage die richtigen Worte,<br />

sag deinen Teil von der Welt,<br />

wie im Nebel entflammt ist der Herbst,<br />

wie sich auftat das Herz, eh‘ es brach,<br />

sage das Gras auf den Trümmern,<br />

sage, was war und was blieb.<br />

Und sprich vom Staub und dass<br />

nicht Flügel sind, auf denen er sich hebt,<br />

gedenke, wie Verschwiegenes<br />

dich reuen wird, wenn sich verbittert<br />

bald dein Mund verschliesst.<br />

Sage die richtigen Worte,<br />

schweige, ehe du gehst.<br />

Schweig wie im Anfang die Schöpfung,<br />

schweig wie das Laub, wenn es fällt,<br />

wie die Asche der Toten, die glüht,<br />

schweige wie eine Frau, die,<br />

geküsst von Gewittern,<br />

im Blitzstrahl der Lust vergeht.<br />

Sprich nicht verkehrt<br />

vom Verkehrten, schweige,<br />

so dass man dich hört. Ehe<br />

du fortgehst, wirst du erhört sein,<br />

dein Trauern eine Nacht, die schon<br />

durchbrochen ist von Sternen.<br />

76


Das winzige Blatt,<br />

das im Fallen den Hals streift –<br />

es trifft mich ins Herz!

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