Sanfte Hände
Eine Broschüre von Antonia Stängl
Eine Broschüre von Antonia Stängl
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Antonia Stängl<br />
Familiencoach<br />
<strong>Sanfte</strong> <strong>Hände</strong>
<strong>Sanfte</strong> <strong>Hände</strong><br />
Begegnung auf dem Wickeltisch<br />
Einführung S 5-7<br />
Praxis S 8-17<br />
Erfahrungsbericht S 18-21<br />
Impressum S 23<br />
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Einführung<br />
Stell Dir vor, Du strandest in einem fernen Land und Du kannst aus irgendeinem<br />
Grund nicht mehr gut für Dich selbst sorgen. Du bist eingeschränkt in Deiner Bewegung<br />
und Deinen Fähigkeiten und somit auf die Hilfe von anderen angewiesen.<br />
Du brauchst sie, um Dich zu waschen, zu baden, Dir zu essen zu geben. Und<br />
stell Dir weiter vor, dass Du ihre Sprache praktisch nicht verstehst und auch nicht<br />
antworten kannst.<br />
Wie fühlst Du Dich, wenn die Person, die sich um Dich kümmert, mechanisch ihre<br />
Aufgabe erledigt - ohne Dich groß anzuschauen und ohne mit Dir zu sprechen<br />
(es bringt ja eh nix, weil Du sie nicht verstehst) mit Dir hantiert, Dich sauber hält<br />
und Dir das Essen in den Mund schaufelt? All das eher zügig, da sie ja schließlich<br />
auch noch andere Menschen zu versorgen hat.<br />
Und andererseits, wie fühlst Du Dich, wenn diese Person trotz aller Sprachbarriere<br />
mit Dir in Kontakt geht, in ihrer eigenen Sprache beschreibt, was sie tun wird,<br />
wie Du ihr dabei helfen kannst, Dich achtsam und mit sanften <strong>Hände</strong>n berührt und<br />
Dich insgesamt in den Ablauf, der ja Dich betrifft, als Person mit einbezieht?<br />
Das dritte Szenario, in dem die Person überfordert und gestresst und deswegen<br />
so schnell und fahrig in ihren Bewegungen ist, dass Sie Dir eigentlich Schmerzen<br />
zufügt, möchte ich hier nicht weiter vertiefen.<br />
Was denkst Du in diesen unterschiedlichen Szenarien über Dich selbst, über<br />
Deinen Wert und wann fühlst Du Dich am besten aufgehoben?<br />
4<br />
Und mit dieser Erkenntnis gehe einmal einige Zeit durch die Welt und schau Dir<br />
an, was Babys und kleinen Kindern Tag für Tag widerfährt. Wie oft siehst Du Babys,<br />
die unachtsam „wie ein Paket“ getragen werden, die aufgehoben, umgedreht,<br />
gewickelt und gefüttert werden – im besseren Fall – ohne größere Beteiligung<br />
oder Beachtung, im schlechteren sogar mit leichten Andeutungen von Zwang oder<br />
Gewalt. Ich meine hier „alltägliche Gewalt“, die noch sehr sehr weit davon entfernt<br />
ist, was wir gemeinhin unter Gewalt verstehen - ein etwas festeres Zupacken am<br />
Arm, oder auch nur die Bewegung, das Kind auf dem Rücken zu halten, wenn es<br />
sich beim Wickeln eigentlich drehen möchte.<br />
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Warum ich es so schwer finde, über das Thema Pflege zu<br />
schreiben?<br />
Dafür gibt es zwei Hauptgründe. Der erste besteht darin, dass<br />
es sehr schwer ist das niederzuschreiben, was ich aus so vielen<br />
Jahren an Beschäftigung mit dem Thema weiß, ohne belehrend<br />
und von oben herab zu wirken. Dazu kommt, dass ich aus meiner<br />
Arbeit mit Eltern ja um die Sensibilität des Themas weiß. Ich<br />
weiß auch, dass die meisten Eltern sowieso schon sehr bemüht<br />
sind, das Beste für ihre Kinder zu tun – eine gewisse Verunsicherung<br />
lässt sich aber fast nicht vermeiden, wenn man sich mit<br />
dem Pikler Ansatz befasst – und ich trage nur sehr ungern zu<br />
dieser Verunsicherung bei.<br />
Der zweite Grund bezieht sich auf die Unzulänglichkeit von<br />
Sprache in Bezug auf dieses Thema. Aus meiner Warte ist es<br />
schwierig „beziehungsvolle Pflege“ so zu beschreiben, dass der<br />
Leser sich auch tatsächlich das vorstellen kann, was gemeint<br />
ist – ich selbst habe erst über Fotos und Videos nach und nach<br />
verstehen gelernt – ich hoffe also, dass die Fotos in diesem Heft<br />
ihren Beitrag dazu leisten, das Gelesene verständlicher zu<br />
machen.<br />
Aber zurück zur „Verunsicherung“, die ich oben erwähnt habe.<br />
Noch während des Schreibens, habe ich begonnen, mich mit<br />
dem Umstand auszusöhnen. Es ist doch so, dass wir als Menschen<br />
immer ein gewisses Maß an Verunsicherung ertragen<br />
müssen, wenn wir etwas neues Lernen. Ich werde also in Zukunft<br />
diese Verunsicherung genau als das begrüßen, was sie<br />
eigentlich ist – nämlich als ersten Schritt in eine neue, vielversprechende<br />
Richtung.<br />
Ich beschreibe das hier nicht, um zu zeigen, wie schlecht Eltern mit ihren<br />
Kindern umgehen, denn was ich hier beschreibe, ist das Verhalten wohlmeinender<br />
Eltern, die ihren Kindern zugetan sind. Ich beschreibe es, um Dir zu<br />
verdeutlichen, was der „normale Umgang“ mit Kindern in unserer Gesellschaft<br />
ist, und um Dich dafür zu sensibilisieren.<br />
Eine Mutter, die schon längere Zeit bei mir im SpielRaum war, meinte halb<br />
scherzhaft zu mir: „Eigentlich solltest Du alle Eltern warnen, bevor sie in Deinen<br />
Kurs kommen, dass sie danach verdorben sind für den herkömmlichen<br />
Umgang mit Kindern…“<br />
...und ja, auf gewisse Weise stimmt das: Wenn Du einmal begonnen hast,<br />
die Details wahrzunehmen, dann fällt es oft schwer, es nicht mehr zu tun.<br />
Es gibt einen weiteren Grund, warum ich auf das „allgemein Übliche“ hinweise:<br />
Wenn Eltern beginnen, sich mit dem Pikler Ansatz zu beschäftigen, ist<br />
es oft gar nicht so einfach, im Alltag dieses Maß an Achtsamkeit aufrecht zu<br />
erhalten. Und ich finde es hilfreich, sich den Umstand bewusst zu machen,<br />
dass das, was wir meistens um uns herum sehen, uns dabei nicht hilft.<br />
Als meine eigenen Kinder noch klein waren, habe ich als Gegenmaßnahme<br />
immer wieder ein Video aus dem Pikler-Institut angeschaut, um mir die achtsame<br />
Haltung wieder präsenter zu machen.<br />
Als ich selbst das erste Mal mit dem Pikler Ansatz in Berührung kam, war<br />
ich hochschwanger mit meinem zweiten Kind (also glücklicherweise in einer<br />
sehr sensiblen Phase), hatte aber wie so viele Eltern auch, mit dem „schlechten<br />
Gewissen“ meiner Erstgeborenen gegenüber zu tun. Dieses schlechte<br />
Gewissen erreichte einen Höhepunkt nach der Geburt unseres dritten Kindes<br />
– damals war ich schon ganz zu Hause in der „Pflege mit sanften <strong>Hände</strong>n“<br />
und sie war mir zur zweiten Natur geworden. Zeitgleich tauchte ein<br />
altes Video vom Wickeln unserer Ältesten auf – zu meinem Glück von mir<br />
gefilmt, zeigte es meinen Mann bei der Pflege (ohne jegliche Ahnung von<br />
achtsamem Umgang). Als wir uns das alle gemeinsam ansahen, erkannte<br />
Mirjam mit ihren 9 Jahren mein Leid und meinte: „Aber Mama, ihr habt mich<br />
ja immer lieb gehabt, das hab ich doch gewusst!“<br />
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, das Video zeigte nichts Anderes als<br />
ein zügig durchgeführtes Wickeln auf einer Kleidertruhe.<br />
Dies also für alle Eltern, bei denen sich das schlechte Gewissen über Vergangenes<br />
meldet…<br />
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Praxis<br />
Worum also geht es bei diesem anderen Ansatz?<br />
Der Anfang ist eigentlich etwas Selbstverständliches, das<br />
aber doch nicht allgemein üblich ist:<br />
Ein Säugling wird vom ersten Tag an als eigenständiger vollwertiger<br />
Mensch wahrgenommen. Das klingt so simpel, ist es<br />
aber doch nicht. Dadurch, dass diese kleinen Menschen noch<br />
so „handlich“ sind und sich auch sprachlich nicht in unser Tun<br />
einmischen, passiert es leider allzu schnell, ein Baby eher<br />
wie ein „Ding“ handzuhaben, denn wie eine Person. (Wer mir<br />
nicht glaubt, braucht nur ein wenig seine Mitmenschen mit<br />
einem Säugling oder Kleinkind zu beobachten).<br />
Und diese achtsame Haltung durchdringt jeden - aber auch<br />
wirklich jeden - Kontakt mit dem kleinen Wesen, ob ich es<br />
aufhebe, zu seinem Bett trage oder auch nur mich über den<br />
Kinderwagen beuge - ich habe es immer mit einer kleinen<br />
Person zu tun und behandle sie mit jener Achtsamkeit und<br />
Höflichkeit, die jedem Menschen zusteht.<br />
Und um wieder auf das Eingangsbeispiel Bezug zu nehmen,<br />
mein Kontakt mit dem Säugling hat zusätzlich die besondere<br />
Rahmenbedingung, dass er noch sehr viele Dinge nicht<br />
selbst in die Hand nehmen kann. Er ist auf meine Fürsorge<br />
angewiesen - aber dieser Umstand führt nun eben nicht<br />
dazu, dass das kleine Wesen an Bedeutung und Würde verliert,<br />
sondern genau im Gegenteil. Weil das Wohlbefinden<br />
des Säuglings sozusagen fast gänzlich in meiner Hand liegt,<br />
gehe ich sehr, sehr behutsam mit dieser Macht um:<br />
Ich mache nichts mit dem Kind, das ich nicht vorher ankündige,<br />
ich gebe ihm jederzeit die Gelegenheit, sich selbst<br />
einzubringen – und es ist immer wieder erstaunlich, wie<br />
früh so umsorgte Säuglinge mit einem Ansatz der Kooperation<br />
beginnen.<br />
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Ich passe meine Geschwindigkeit an die des Babys an – und, wie alle<br />
Eltern wissen, ist diese am Anfang des neuen Lebens sehr, sehr<br />
langsam…<br />
Ich achte immer auf das Gleichgewicht des Säuglings und bringe ihn<br />
durch meine sprachliche Begleitung und meine behutsame Berührung<br />
immer in die neue Situation. Am Beispiel des Aufhebens verdeutlicht<br />
– wenn ich das Baby auf den Arm nehme und ich habe<br />
meine Aufgabe gut erfüllt, so wird es mir sein Gewicht vollständig<br />
überlassen und nicht seine eigenen Muskeln verspannen, um sich<br />
zu schützen..<br />
Wenn wir diese Gedanken nun auf eine Wickelsituation erweitern, so<br />
ergibt sich daraus folgendes:<br />
Während des Wickelns bin ich ganz und gar in Kontakt mit dem<br />
Säugling.<br />
Ich kündige jede Handlung an und warte auch ab, bis das Kind „mitarbeitet“<br />
(was das in den verschiedenen Altersstufen bedeutet, darauf<br />
komme ich noch zurück).<br />
Ich „bespreche“ während des Wickelns auch alles, was das Kind<br />
macht: Wie es sich bewegt, wo seine Aufmerksamkeit gerade ist –<br />
dadurch ergibt sich ein noch intensiverer Austausch zwischen uns.<br />
Ich gebe Raum für die Bewegungen des Säuglings/ Kleinkinds – das<br />
bedeutet auch, dass ich manchmal in ungewohnten Positionen arbeiten<br />
muss!<br />
Daraus ergibt sich, dass ich einen speziell gesicherten Platz benötige,<br />
damit das Kind beim Wickeln immer in Sicherheit ist!<br />
Alles in Allem nutze ich die Situation des Wickelns auch dafür, unsere<br />
Beziehung zu nähren und dem Säugling/ Kleinkind ein Gefühl der<br />
Geborgenheit zu vermitteln. Gleichzeitig stärkt diese Art des Umgangs<br />
das Körpergefühl des Kindes.<br />
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Immer wieder werde ich gefragt , warum es denn so wichtig ist, die freie Bewegung auch während des<br />
Wickelns zu ermöglichen – es wäre doch so viel einfacher, wenn das Kind für diese kurze Zeit am Rücken<br />
liegen bliebe.<br />
Natürlich ist es aus der Warte des Erwachsenen „einfacher“ ein Kind abzuwischen, das ruhig auf dem<br />
Rücken liegt, als eines, das sich auf den Bauch dreht oder aufsteht. Das aber ist ausschließlich die Perspektive<br />
des Erwachsenen und auch nur dann, wenn dieser das Hauptaugenmerk auf eine möglichst<br />
zügig zu verrichtende Tätigkeit legt. Wenn man die Perspektive wechselt, bietet die Wickelsituation aber<br />
so viel mehr als das. Wickeln ist „Beziehungszeit“, Zeit für Austausch, Zeit für liebevolle Berührung…<br />
Aus der Warte des Kindes wäre es absolut unnatürlich, während dieser ganzen Zeit die eigenen Bewegungsmöglichkeiten<br />
„auf Eis zu legen“. Es tut einfach nur, was es als ganz normal empfindet, und folgt<br />
den eigenen Körperimpulsen.<br />
Verlange ich vom Kind, diesen Drang zu unterdrücken, so werde ich voraussichtlich das übergeordnete<br />
Ziel einer nährenden gemeinsamen Zeit nicht erreichen können.<br />
Im für die Eltern einfachsten Szenario klinkt das Kind sich innerlich aus, wenn es nicht mehr als ganzer<br />
Mensch mit all seinen Bewegungsmöglichkeiten wahrgenommen wird – es lässt also die ganze Wickelsituation<br />
passiv über sich ergehen. Im wesentlich unangenehmeren Fall beginnt das Kind zu kämpfen<br />
und wehrt sich gegen die eigentlich unnatürliche Position. Dann kann jede einzelne Wickelsituation zu<br />
einer sehr unschönen Erfahrung für beide Seiten werden! Als Elterncoach und SpielRaumbegleiterin<br />
bevorzuge ich allerdings fast dieses Szenario, da dies meist auch bei den Eltern dazu führt, das eigene<br />
Handeln zu hinterfragen, und die Bereitschaft verstärkt, etwas Neues auszuprobieren.<br />
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Viele Eltern haben zu Anfang die Sorge,<br />
dass sie es nicht schaffen würden, das Kind<br />
auf dem Bauch oder im Stehen ganz sauber<br />
zu bekommen, oder die Windel anzulegen.<br />
Aus meiner Erfahrung ist das aber oft ein viel<br />
kleineres Problem als angenommen. Wie<br />
bei jeder anderen neuen Fähigkeit, braucht<br />
es unter Umständen eine gewisse Zeit, bis<br />
man sie gut entwickelt hat, es ist aber tatsächlich<br />
keine Hexerei. Im Spaß pflege ich<br />
dann zu sagen: Ich habe inzwischen Kindern<br />
in so vielen Positionen eine Windel angelegt,<br />
dass ich es vermutlich auch könnte,<br />
wenn sie auf dem Kopf stünden.<br />
Und wenn es einmal ganz schwierig wird,<br />
weil das Kind groß gemacht hat und die Konsistenz<br />
besonders schwer abzuwischen ist,<br />
steht es mir ja frei, das dem Kind zu erklären<br />
und es zu bitten, kurz auf dem Rücken liegen<br />
zu bleiben, bis ich das Gröbste reinigen<br />
konnte – die meisten Kinder, die echte Kooperation<br />
kennen gelernt haben, sind dann<br />
auch durchaus einmal dazu bereit.<br />
Unter „echter“ Kooperation verstehe ich,<br />
dass beide Seiten bereit sind, ihren Teil zum<br />
Gelingen beizutragen. In der Eltern/Kind<br />
Beziehung ist es leider allzu oft so, dass<br />
Kooperation in erster Linie so verstanden<br />
wird, dass das Kind machen soll, was der<br />
Erwachsene verlangt!<br />
Exkurs: Der Pikler Wickelplatz<br />
Ein angemessener Wickelplatz ist einer, der dem Kind freie Bewegung ermöglicht, aber<br />
gleichzeitig ausreichend Schutz bietet, damit das Kind nicht herunterfallen kann. Meist<br />
braucht es dazu eine große Fläche und eine Begrenzung auf drei Seiten. Diese muss bei<br />
älteren Kindern natürlich höher sein, als bei Säuglingen im ersten Halbjahr - die meisten<br />
Eltern nehmen aber der Einfachheit halber den gleichen Platz für die ganze Zeit! Dieser eignet<br />
sich dann auch noch für das stehende Kind und muss erst wieder neu adaptiert werden,<br />
wenn das Kind die Eltern zu sehr überragt und sozusagen von oben auf sie herunterschaut<br />
– das führt bei manchen Kindern dazu, dass sie sich zu mächtig fühlen und sich nicht mehr<br />
der Führung durch den Erwachsenen anvertrauen!<br />
Manche Mütter bevorzugen auch einen geeigneten Platz am Boden einzurichten (auch<br />
dieser braucht die entsprechende räumliche Begrenzung), das ist aber nur dann zu empfehlen,<br />
wenn die Mutter so beweglich ist, dass sie die Position selbst als bequem empfindet<br />
– und dann bleibt immer noch die Frage, wie es dem Vater mit der Position geht, denn auch<br />
er soll ja die Möglichkeit haben, diese Zeit mit seinem Kind zu genießen.<br />
Sind Eltern also bereit, ihr Kind beim<br />
Wickeln nicht unnötig in der Bewegung einzuschränken,<br />
so verändert sich der Ablauf<br />
stetig mit dem Alter und Entwicklungsstand<br />
des Kindes.<br />
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Zuerst liegt das Kind für einige Monate auf dem Rücken - in dieser Lage<br />
empfehle ich den Eltern oft, das Kind etwas schräg auf dem Wickelplatz<br />
abzulegen, damit sie auch sein Gesicht gut sehen können. Wird das Kind<br />
älter, so beginnt es sich auf den Bauch zu drehen - für viele Eltern erstmal<br />
eine enttäuschende Situation, weil der Dialog nun einigermaßen erschwert<br />
wird, da das Kind sie in dieser Lage nicht mehr anschauen kann. Dann<br />
hebt das Kind den Popo und versucht sich im Vierfüßlerstand und bewegt<br />
sich auch in verschiedene Richtungen des Wickelplatzes – die Kunst besteht<br />
nun darin, meine eigenen Bewegungen fließend an die des Kindes<br />
anzupassen - und natürlich es um Mithilfe zu bitten, wenn es sich in einer<br />
Position befindet, in der ich nicht tun kann, was ich als nächstes tun möchte.<br />
(Zum Beispiel, wenn das Kind auf den eigenen Knien sitzt und ich die<br />
Windel abnehmen möchte. Siehe Foto S.12)<br />
Viel einfacher wird es dann wieder, wenn das Kind aufstehen kann und sich<br />
am Gitter des Wickelplatzes anhält. Es gibt hierbei einen kleinen „Trick“,<br />
den ich Eltern gerne für diese Phase mitgebe, nämlich den Body auf der<br />
Seite mit dem Druckknopf zu befestigen, damit dieser nicht über den Popo<br />
hängt!<br />
Was natürlich zusätzlich zu berücksichtigen ist: Nicht nur die Möglichkeiten<br />
des Kindes erweitern sich, sondern auch sein Interesse an anderen Dingen<br />
abseits des Wickelgeschehens wächst - da kann es auch zu einer Herausforderung<br />
werden, die Aufmerksamkeit des Kindes immer wieder auf das<br />
zu lenken, was wir gerade miteinander tun, wo doch der Waschlappen, das<br />
Waschbecken neben dem Wickelplatz oder auch das Geschwisterkind viel<br />
interessanter ist. Das fordert natürlich unsere Geduld manchmal ziemlich<br />
heraus. Hier gilt es, eine gute Balance zu finden. Einerseits folge ich den<br />
kindlichen Interessen in Beschreibungen, aber ich führe anderseits auch<br />
immer wieder seinen Fokus auf unsere gemeinsame Tätigkeit zurück. In<br />
diesem Wechselspiel können sowohl mein Kind als auch ich die gemeinsam<br />
verbrachte Zeit genießen.<br />
Zum Abschluss möchte ich gerne eine junge SpielRaum - Mutter zu Wort<br />
kommen lassen, die in ihrem Text wunderbar beschreibt, wie der Pikler<br />
Wickelplatz ihr Leben erleichtert hat.<br />
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Erfahrungsbericht<br />
Der Pikler-Wickelplatz zieht bei uns ein. Oder: Wie ein Stück Holz unser Leben verändert<br />
hat.<br />
Na gut, das mag wie eine Übertreibung klingen. Aber irgendwie muss man es genau so<br />
stehen lassen. Denn seit wir den Pikler-Wickelplatz bei uns zu Hause haben, ist unser Alltag<br />
um so vieles entspannter. Aber von vorne.<br />
Unser Mini ist ein ziemlich lustiges und quirliges Bürschlein. Mit sechs Monaten hat er begonnen,<br />
sich überall aufzuziehen und blitzschnell durch die Wohnung zu krabbeln. In Ruhe<br />
anziehen? Fehlanzeige. Am Rücken liegend ganz entspannt die Windeln wechseln? Nicht<br />
bei uns.<br />
Eine Zeit lang haben wir wirklich vieles versucht. Wir haben ihm Spielsachen in die Hand gedrückt,<br />
ihm vorgesungen, vorgelesen, vorgetanzt. Der Papa hat unglaublich kreative Shows<br />
veranstaltet, während die Mama sich schweißgebadet abgemüht hat – alles, um den Mini<br />
während des Wickelns und Anziehens bei Laune zu halten. Und am Ende war es jedes Mal<br />
ein Kampf.<br />
In diesen wenigen Sätzen stecken so viele Fehler: Abmühen? Ablenken? Kämpfe? So sollte<br />
dieser schöne und bindende Akt nicht aussehen. In der Theorie wussten wir ja auch, dass<br />
wir Kontakt zu unserem Sohn halten sollen, dass wir mit ihm reden und ihm alles, was wir<br />
machen, erklären sollen. Aber die Theorie hat uns nie gesagt, dass wir einen aktiven Wirbelwind<br />
bekommen, der einfach kein Interesse daran hat, auf dem Rücken zu liegen und<br />
gewickelt zu werden.<br />
Bei aller Liebe und Mühe und bei aller Geduld – mir ist das alles ziemlich auf die Nerven gegangen.<br />
Dem Papa natürlich auch. Nach mehreren Wochen war das leider so festgefahren,<br />
dass ich oft schon grantig war, bevor der Tag überhaupt richtig begonnen hat. Und wie wir<br />
alle wissen, sind es ja doch einige Windeln, die an einem Tag an– und ausgezogen werden.<br />
Dazu noch der kalte Winter, der mehrere Kleidungsschichten einfordert....<br />
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Und dann kam der Supergau: Unser süßer Wirbelwind ist vom Wickeltisch gedonnert.<br />
Schwupps aus dem Vierfüßlerstand. Ich hatte meine <strong>Hände</strong> an seinem Popo und habe versucht,<br />
die Windel zu schließen. Ein Satz nach vorne – und er war weg. Eine Nacht Krankenhaus<br />
später wusste ich: Wir müssen dringend etwas ändern. Von da an wurde natürlich nur<br />
noch am Boden gewickelt. Aber das machte die ganze Sache fast noch schwieriger: Denn<br />
jetzt konnte der kleine Löwe sich nicht nur umdrehen, sondern auch losflitzen und davonkrabbeln.<br />
Wirklich lustig und wirklich süß. Aber nicht, wenn man außer Haus möchte oder<br />
der Popo voll ist.<br />
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Dann sind wir dazu übergegangen, ihn im Stehen zu wickeln, einfach an der Couch.<br />
Das hat schon einmal vieles erleichtert. Ich hatte das Gefühl, ihn im Stehen zu wickeln,<br />
ist irgendwie viel respektvoller und schöner, als ihn vor mich hinzulegen – besonders,<br />
wenn er das wirklich nicht möchte. Aber auch hier blieb das „Problem“, dass<br />
sich der kleine Flitzer jederzeit davonstibitzen konnte. Und wir hatten nach wie vor<br />
kaum Kontakt zu ihm, denn er war schwer mit seinen Büchern oder Bausteinen beschäftigt,<br />
während wir so schnell wie möglich versucht haben, ihn frisch zu machen<br />
und anzuziehen.<br />
Im SpielRaum in Pottenbrunn hab ich Antonia mein Dilemma erzählt und sie meinte,<br />
dass doch ein Wickelplatz für uns eine gute Lösung wäre. Großartigerweise werden<br />
die dort auch für wenig Geld verliehen und ich hab sofort zu meinem Mann gesagt:<br />
„Das probieren wir!“ Wenige Tage später war der Wickelplatz bereit und wir konnten<br />
ihn mitnehmen. Wir haben ihn im Badezimmer auf einer Kommode angebracht und<br />
ich kann nur sagen: ES IST GROSSARTIG! Der Mini kann aufstehen und hat genug<br />
Raum, sich zu bewegen, wenn er das möchte. Davonkrabbeln kann er aber nicht<br />
mehr. Und wenn er aufstehen möchte, kann er das total einfach und gerne machen<br />
und sich an den seitlich und rückseitig angebrachten Gittern festhalten.<br />
Inzwischen ist unser Wickeln und Anziehen ehrlich zu einem schönen Erlebnis geworden.<br />
Wir haben zusätzlich auf Höschenwindeln umgestellt und der kleine Spatz<br />
hilft richtig mit, wenn wir ihn bitten, das Bein zu heben oder den Arm. Super funktioniert<br />
auch, wenn er sich einfach an mir festhält, während ich ihm die Kleidung anoder<br />
ausziehe. Da haben wir ganz viel Körperkontakt und genießen das beide sehr.<br />
Ganz oft legt er dann seinen Kopf an meine Schulter und kuschelt sich an mich. Der<br />
kleine Löwe findet es sehr lustig, Socken oder Strumpfhosen über den Wickelplatz<br />
hinunter zu werfen und wir haben richtig Spaß, ihm dabei zuzusehen.<br />
Dieses „Stück Holz“ (und das sage ich voller Liebe) hat also tatsächlich viel Stress<br />
aus unserem Alltag genommen und dazu geführt, dass Wickeln und Anziehen bei<br />
uns Zuhause etwas ist, das wir wieder gerne machen. Und ich traue mich zu sagen,<br />
dass auch unser Mini seinen neuen Wickelplatz ziemlich cool findet und es genießt,<br />
dass Mama und Papa bei der täglichen Routine wieder gut gelaunt und geduldig<br />
sind.<br />
Silvia Schreiber<br />
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Impressum<br />
Text_<br />
Mag.a Antonia Stängl<br />
Grafikdesign_<br />
Mag.a Mirjam Stängl<br />
Fotos_<br />
Sonja Wessel<br />
Medieninhaberin_<br />
Antonia Stängl<br />
A-3140 Pottenbrunn<br />
antonia@antoniastaengl.at<br />
Herzlichen Dank an alle Mitwirkenden.<br />
Erste Auflage, 2019
www.antoniastaengl.at