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Prof. Dr. Wolfhard Winkelmüller<br />
Tränen, die nicht trocknen<br />
von Weimar bis zum Untergang<br />
des ‚Dritten Reichs‘<br />
in Briefen und Aufzeichnungen<br />
NOEL-Verlag
Originalausgabe<br />
Dezember 2019<br />
NOEL-Verlag GmbH<br />
Achstraße 28<br />
82386 Oberhausen/Obb.<br />
www.noel-verlag.de<br />
info@noel-verlag.de<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen<br />
Nationalbibliografie, Frankfurt; ebenso in der Bayerischen Staatsbibliothek in<br />
München.<br />
Das Werk, einschließlich aller Abbildungen, ist urheberrechtlich geschützt. Jede<br />
Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsschutzgesetzes ist ohne<br />
Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig und strafbar.<br />
Das gilt besonders für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen<br />
und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.<br />
Der Autor übernimmt die volle Verantwortung für den Inhalt seines Werkes.<br />
Autor: Prof. Dr. Wolfhard Winkelmüller<br />
Covergestaltung: © NOEL-Verlag<br />
1. Auflage<br />
Printed in Germany<br />
ISBN 978-3-95493-327-3
Meiner Mutter
INHALTSVERZEICHNIS<br />
Prolog .......................................................................................................... 5<br />
Die Bahnhofskinder – Änne geb. 1914.................................................. 8<br />
Unbeschwerte Kindheit und Jugend in Löhne<br />
1922 bis 1932 ........................................................................................... 10<br />
Die Machtergreifung:<br />
Schule im Zeichen des Nationsozialismus<br />
Friedel geb. 1916 ........................................................................................ 20<br />
Das Reichserntedankfest am 30.09.1934 .......................................... 31<br />
Der Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht 1935 ............................... 36<br />
Der Anschluss Österreichs 1938 ........................................................ 53<br />
Reichskristallnacht am 9./10. November 1938 ............................... 56<br />
Die Eingliederung des Sudetenlandes<br />
und der Tschechoslowakei 1938/39 – Friedel ................................. 60<br />
Besatzungszeit in Prag 1939<br />
Friedel und Evelyn ...................................................................................... 64<br />
Der Polenfeldzug 1939 ......................................................................... 70<br />
Der Westfeldzug 1940 ........................................................................... 80<br />
Besetzung Griechenlands April 1941................................................. 98<br />
Der Russlandfeldzug 1941 .................................................................103<br />
Evelyn Wagner im Widerstand 1942 - 1945 ......................................116<br />
Flucht aus Emden nach Minden 1942 .............................................137<br />
Der neunte Oktober 1943<br />
Hannovers schwerste Stunde.............................................................180<br />
Flucht aus Minden nach Schnathorst 11/1944 .............................196<br />
Kapitulation und unmittelbare Nachriegszeit ................................212
Prolog<br />
Wie an manchen dienstfreien Sonntagen fahre ich an einem stürmischen<br />
Novembertag nach Hiddesen, einem kleinen Ort unterhalb des Hermannsdenkmals<br />
bei Detmold. Meiner Mutter geht es nicht gut. Sie leidet<br />
unter Schmerzen im Rücken und Hüftbereich. Sie ist gerade 86 Jahre alt<br />
geworden. Vor 15 Jahren wurde sie am Brustkrebs operiert. Mein Vater<br />
dagegen ist mit seinen 93 Jahren noch ausgesprochen munter. 13 Jahre<br />
lang hatten die Eltern im Wohnstift Augustinum eine gute Zeit. Doch<br />
jetzt, wenn ich meine Mutter leidend, leicht gekrümmt in ihrem Sessel<br />
sitzen sehe, beschleichen mich böse Vorahnungen. Wie Fragmente eines<br />
Filmes drängen sich mir immer mehr Bilder aus meiner Kindheit während<br />
des Krieges auf. In dieser bedrohlichen Zeit fühlte ich mich meiner<br />
Mutter besonders eng verbunden.<br />
Ich fasse ihre schmale, faltige Hand und frage sie: „Weißt Du noch, wie<br />
wir uns bei den Bombenangriffen fest umarmt hatten und uns gegenseitig<br />
versicherten: wir zwei tapferen Deutschen?“<br />
„Ja, dieser böse Krieg hat so viele Opfer gefordert. Am Ende waren wir<br />
zu willenlos und schwach, um noch etwas zu empfinden.“ Ihr Blick<br />
wendet sich zu den gerahmten Fotos zweier junger Männer in Wehrmachtsuniform.<br />
„Heinz und Friedel, meine Brüder, sind umsonst in<br />
Russland gefallen. Wir beiden konnten uns retten mit Volkerchen, Deinem<br />
kleinen Brüderlein.“ Nach einer Pause, in der sich ihr Blick nach<br />
innen richtet, sagt sie: „Bleib noch ein wenig.“<br />
Ihre Lippen sind wie immer geschminkt. Make-up kaschiert ein wenig<br />
die hängenden Falten unter den Augen. Sie war früher eine schöne Frau,<br />
immer apart gekleidet, eine gute Gastgeberin und Mittelpunkt bei Festen.<br />
„Kannst Du Dich noch an Deine schwerste Zeit mit mir zusammen<br />
erinnern, Muttchen?“<br />
Ihr Blick ruht auf mir: „Wenn Du etwas Geduld hast, mein Großer,<br />
übergebe ich Dir mein Leben in gebundener Form.“<br />
Ich bin gespannt auf die Fertigstellung. Ob sie noch so viel Kraft<br />
aufbringen kann?<br />
6
Noch vor einigen Wochen im Herbst hat sie uns ein Gedicht geschickt,<br />
das wohl ihren Abschied von dieser Welt ausdrücken soll:<br />
Ich habe gern gelebt, und ich habe keine Angst vorm Alter.<br />
Vater und ich wandern durch die Wälder - Hand in Hand -<br />
und schauen den Bäumen zu, wie sie ausschlagen.<br />
Wenn die Blätter fallen, wie Schnee sie deckt, und wie sie wieder grünen<br />
und allmählich wachsen.<br />
Ich werde gern alt und danke Gott für jeden Tag. Für jeden Tag, da Vati und ich<br />
beisammen sind.<br />
Doch irgendwann wird es dunkel, auch am freundlichen Tag.<br />
Irgendwann werden die Füße müde.<br />
Es ist nicht verboten zu sagen: Ich kann nicht mehr!<br />
Mögen wir getragen werden von Liebe, Fürsorge, Behutsamkeit und<br />
dem Beistand Gottes.<br />
Für Euch, Kinder, werden wir da sein, solange die Kraft reicht.<br />
Für Euch - und das größte Gottesgeschenk - unsere 13 Enkelkinder und 4 Urenkel.<br />
Wir wissen, dass sie alle ein warmes Nest haben, aus dem sie in die weite Welt<br />
schlüpfen können, aber auch zurück in die Wärme.<br />
Dafür danke ich Euch allen und Vieles, Vieles mehr.<br />
Änne Winkelmüller, Herbst 2000:<br />
Es vergehen drei Monate. Der Weihnachtsbesuch fällt wegen Schneetreibens<br />
und glatter Straßen aus. Fünf Wochen später sehe ich meine<br />
Mutter wieder. Sie sieht elend aus. Sie ist wegen zunehmender Schmerzen<br />
auf Morphin eingestellt. Inzwischen kennen wir die Diagnose: Das<br />
Knochenszintigramm zeigt eine Aussaat von Metastasen in Wirbelsäule,<br />
Becken- und Schädelknochen. Also hat der Brustkrebs nach der langen<br />
Zeit von 14 Jahren wieder gestreut. Für kurze Zeit erhebt sie sich von<br />
ihrem Bett. Mein Vater schlägt den lindgrünen Bademantel um ihre<br />
schmalen Schultern, sie schleppt sich mühsam in den Sessel und blickt<br />
aus dem Fenster auf das Vogelhäuschen am Balkon und dann in die<br />
Ferne. „Ich muss bald gehen“, sagt sie. Dann deutet sie auf ihren Schreibsekretär.<br />
Dort liegen mehrere Stapel Briefe, mit Bindfaden zusammengeschnürt,<br />
zwei Tagebücher in Leder gebunden und ein Heft in rotem<br />
Umschlag: „Erinnerungen und Gedanken.“<br />
7
„Hier kannst Du nachlesen, was uns damals in meiner Jugend und im<br />
Krieg bewegt hat.“ Meine Mutter schweigt. Nach einer Weile zeigt sie<br />
auf das Vogelhäuschen: „Mein kleines Karlchen, der Dompfaff.“ Dann<br />
seufzt sie und meint: „Ich habe es nicht geschafft. Füge Du die Geschichten<br />
zusammen, gib sie Deiner Frau, Euren Kindern und meinen<br />
Urenkeln weiter. Sag ihnen: Nie wieder!“<br />
Dann fällt mir die unangenehme Aufgabe zu, dem Wunsch der Hausleitung<br />
nachzukommen und meine Mutter in ein Pflegebett umzulagern.<br />
Sie protestiert und wehrt sich gegen die verordnete Hilflosigkeit. Doch<br />
die Pflegekräfte meinen: „Es muss sein.“ Ich kann meine Mutter nicht<br />
überzeugen. Beim Abschied bleibt sie stumm, ihre Augen füllen sich mit<br />
Tränen. Ich drücke noch einen Kuss auf die trockenen Lippen, den sie<br />
nicht erwidert. Am nächsten Morgen, dem 3. Februar 2001 ruft mich<br />
mein Vater an: „Mutti ist tot.“<br />
Als Arzt ist mir klar, dass unsere Mutter sich mit Hilfe der Hausärztin<br />
auf ihren Abschied aus diesem Leben vorbereitet hat. Letztlich habe ich<br />
zu diesem schnellen Ende beigetragen. Deshalb drängt es mich, alles, was<br />
ich noch aus der Zeit des Nationalsozialismus in meiner Familie recherchieren<br />
konnte, niederzuschreiben. Ein Dank und Gedenken an die Zeit<br />
der besonders engen Bindung an meine Mutter während der Kriegsjahre.<br />
Mein Vater starb 7 Monate später in seinem 95. Lebensjahr.<br />
8
Die Bahnhofskinder<br />
Änne<br />
Mein Name ist Anna Christina Müther, genannt Änne. Ich wurde als 2.<br />
von 4 Kindern des Königlichen Bahnhofsvorstehers Heinrich Müther<br />
aus Meißen bei Minden und seiner Ehefrau Anna Röckemann aus Hahlen<br />
bei Minden am 21. Februar 1914 im Bahnhof Voldagsen geboren. Ihr<br />
werdet diesen kleinen Ort sicher nicht finden. Er gehört zu Marienau<br />
und liegt bei Coppenbrügge im Weserbergland an der Verbindungsstrecke<br />
zwischen Weser und Leine.<br />
Heinrich Müther hatte den preußischen Drill von 1885-1909 im kaiserlichen<br />
Infanterie-Regiment Nr. 15 Prinz Friedrich der Niederlande<br />
genossen. Aus der Zeit der Befreiungskriege lag das Regiment seit 1820<br />
mit zwei Bataillonen in Minden.<br />
So konnte er nach Entlassung aus dem<br />
Militär am 12.11.1909 im Alter von 32<br />
Jahren in Minden die 27-jährige Anna<br />
Christine Röckemann heiraten.<br />
Damals trug er noch einen hochgezwirbelten<br />
Schnurrbart.<br />
Annas erster Verlobter war zwei Jahre<br />
zuvor an einer Infektion verstorben.<br />
Ihre Mutter heilte den Verlustschmerz<br />
mit Bibelsprüchen, sodass sie bereit<br />
war, ihren langjährigen alten Freund<br />
Heinrich zu heiraten.<br />
Er schlug in dem gleichen Jahr die<br />
Beamtenlaufbahn bei der Deutschen<br />
Reichsbahn ein: als Stationsaspirant in<br />
Minden, Praktikant und Inspektor in<br />
Stendal, Oberinspektor in Hannover,<br />
wo 1912 mein ältester Bruder Heinz<br />
geboren wurde.<br />
9
Dann ernannte ihn die ‚Königliche Reichsbahndirektion Hannover‘ am<br />
01.10.1913 zum ‚Königlichen Bahnhofsvorsteher‘ in dem kleinen Nest<br />
Voldagsen. Wie ich, kam zwei Jahre später 1916 mein Bruder Friedel hier<br />
auf die Welt und 1919 in Minden meine jüngste Schwester Gerda.<br />
Von dem grauenhaften Gemetzel des 1. Weltkriegs hatten wir als kleine<br />
Kinder nichts mitbekommen. Nur unser Vater, der königliche Bahnvorsteher,<br />
sah auf der einspurigen Bahnlinie beim Ausbruch des Krieges<br />
1914 gelegentlich Züge, aus denen kriegsbegeisterte junge Soldaten winkend<br />
in den Westen an die Front fuhren. Nach der Niederlage 1918<br />
transportierten die Züge überwiegend verwundete und verstümmelte<br />
Soldaten in ihre Heimatorte. Sie berührten aber kaum unseren kleinen<br />
Ort. Rückblickend kann ich mir vorstellen, dass mein Vater als alter,<br />
wilhelminischer Soldat über den Schandfrieden und die Schmach von<br />
Versailles laut geflucht hat. Dafür hatte er sicher die Sozialisten und<br />
Kommunisten verantwortlich gemacht.<br />
Doch Voldagsen-Marienau war ein ruhiges, idyllisches Örtchen, eingebettet<br />
zwischen Ith und Osterwald, das ganz am Rande des Weltgeschehens<br />
lag. Wie eine Erlösung kam dann die Versetzung unseres<br />
Vaters als Bahnhofsvorsteher 1922 nach Löhne/Westfalen. Hier war der<br />
Lebensmittelpunkt in unserer Jugend.<br />
10
Unbeschwerte Kindheit und Jugend<br />
in Löhne 1922 bis 1932<br />
Anfang des 19. Jahrhunderts war Löhne in Westfalen ein Bauerndorf in<br />
der Hügellandschaft der Ravensberger Mulde, nicht weit von Herford<br />
und Minden. Die Werre tritt hier vom Westen kommend in die Niederung<br />
ein und strebt nach Osten der Weser entgegen. Der Niedergang<br />
der Leinenweberei hatte zur Verelendung der Bevölkerung geführt.<br />
Missernten und die zunehmende industrielle Mechanisierung waren die<br />
Ursachen.<br />
Die Erweckungsbewegung, welche das Minden-Ravensberger Land ab<br />
1750 erfasst hatte, half den Menschen zwar die Not besser zu ertragen,<br />
griff aber tief in das religiöse Leben der bäuerlichen Schichten ein. Die<br />
pietistische Enge und der Druck der Kirchenmänner ließen sie die bunten<br />
Trachten in schwarze austauschen und auf Hochzeiten der Tanzmusik<br />
entsagen. So breitete sich Fatalismus und Freudlosigkeit in dieser<br />
Gegend aus. Jeder zehnte Bewohner wanderte nach Amerika aus.<br />
Erst der Bau der ‚Köln-Mindener Eisenbahn‘ 1846/47 brachte für den<br />
Löhner Raum die Wende. In Löhne entstand einer der wichtigsten Eisenbahnknoten<br />
in Nordwestdeutschland. Hier zweigen die Strecken nach<br />
Osnabrück, Richtung Niederlande, ab und später auch die nach Hameln<br />
und Mitteldeutschland. ‚Löhne umsteigen‘ lautete der Drillbefehl, den<br />
Erich Maria Remarque in seinem Buch ‚Im Westen nichts Neues‘ nach<br />
dem Ersten Weltkrieg geprägt hatte.<br />
Der Bahnhof Löhne entwickelte sich nun zum Mittelpunkt einer werdenden<br />
Stadt, die heute durch Eingliederung der Gemeinden Gohfeld,<br />
Löhne-Ort, Mennighüffen, Obernbeck und Mennighüffen 41.000 Einwohner<br />
zählt.<br />
Wir vier Kinder wuchsen im Bahnhofsgebäude auf. Die zweigeschossige<br />
Wohnung in dem dunkelroten Klinkerbau, einem zurückgesetzten Flügel<br />
an der Seitenfront des Bahnhofsgebäudes, bot viel Platz für die Familie.<br />
Die Fenster der Südseite waren zu den Gleisanlagen gerichtet. Auch die<br />
Bahnsteige der höhergelegenen Bahntrasse konnte man vom Obergeschoss<br />
übersehen.<br />
11
Häufig drückten wir<br />
vier Kinder uns an<br />
den Fensterscheiben<br />
die Nasen platt, um<br />
die einlaufenden und<br />
abfahrenden Personen-<br />
und Güterzüge<br />
zu beobachten.<br />
Die hohe, etwas beleibte<br />
Gestalt unseres<br />
Vaters in seiner<br />
blauen Uniformjacke<br />
mit den goldenen<br />
Knöpfen und der<br />
hohen blauen Schirmmütze mit<br />
dem goldenen Flügelrad tauchte<br />
in dem Menschengewimmel auf<br />
den Bahnsteigen immer wieder<br />
auf, um dem Oberschaffner, dem<br />
Stellwerkleiter oder Rangiermeister<br />
Anweisungen zu geben.<br />
Das Prusten der Lokomotiven,<br />
die nach dem Anfahren dichte<br />
grau-weiße Rauchwolken aus<br />
dem Schornstein in die Luft stießen,<br />
der an- und abschwellende<br />
Ton der Signaldampfpfeifen, das<br />
Schluchzen und Quietschen der<br />
im Bahnhof anhaltenden Lokomotiven,<br />
die rußverschmierten<br />
Gesichter des Lokomotivführers<br />
und des Heizers, die teilnahmslos<br />
aus ihren offenen Fensterchen im Fahrerstand schauten, das Zischen<br />
beim Ausblasen der Heiz- und Rauchrohre der Lokomotiven vor dem<br />
Betriebsschuppen, das Rauschen der Wasserkräne beim Befüllen der<br />
Kessel, das dumpfe Schurren der Kranschütten, die die Kohle in den<br />
Tender beförderten, all das faszinierte uns Kinder.<br />
12
Und abends, wenn es dunkel wurde, standen wir wieder staunend am<br />
Fenster und bewunderten die vielen roten, gelben und grünen Signalleuchten.<br />
Mutter Anna brachte uns dann zu Bett und betete jeden Abend:<br />
„Gott der Herr möge Euch behüten und beschützen, Euch vor Unheil<br />
und allem Übel bewahren. Der Herr möge seine Hand über Euch halten<br />
und uns ewigen Frieden schenken. Amen.“<br />
Anna war eine fromme Frau. Ihr Einsegnungsspruch ‚Einen anderen<br />
Grund kann niemand legen, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus‘ hing, in Leinen<br />
gestickt, eingerahmt an der Wand. Sie war mit drei Geschwistern auf<br />
einem Bauernhof in dem Dorfe Hahlen bei Minden aufgewachsen. Ihr<br />
schlimmstes Erlebnis hatte sie im Mai 1903, als ihr schöner Hof bis auf<br />
die Grundmauern niederbrannte. Pferde, Kühe und das andere Vieh<br />
konnten aus den brennenden Ställen gerettet werden. Nach einem Jahr<br />
fleißiger Arbeit entstanden in den Trümmern ein neues Viehhaus und ein<br />
großes Wohngebäude.<br />
Ihr schönstes Erlebnis hatte sie am 18. Oktober 1896, als sie in weißem<br />
Kleid, die gelösten Haare in einer weißen Schleife gebunden, dem Kaiserpaar,<br />
das zur Einweihung des Portadenkmals nach Minden gereist war,<br />
auf dem Marktplatz einen Blumenkorb überreichen durfte. ‚Der Kaiser‘,<br />
so schrieb sie, ‚trug eine Uniform und die Kaiserin ein grüngestreiftes<br />
Sammetkleid. Auf dem Kopf hatte sie einen kleinen, mit Perlen besetzten<br />
Hut‘.<br />
Wir Kinder erlebten in Löhne unsere schönste Zeit. Von den Unruhen<br />
ab 1919, den Machtkämpfen zwischen Soldaten- und Arbeiterräten,<br />
Spartakusbund und schwarzer Reichswehr während der schwierigen Geburt<br />
der Weimarer Demokratie hatten wir auf den Straßen und im Bahnhof<br />
Löhne nichts gemerkt. Es reichte uns, dass unser Vater den preußischen<br />
Zuchtmeister spielte. Mutter musste uns immer wieder vor der<br />
Strenge des Vaters schützen. Kein Wunder, dass ich auf die Frage meiner<br />
Lehrerin, welchen Beruf mein Vater ausübe, mit ‚Minister‘ antwortete.<br />
Wenn der Sommer kam, das Korn im warmen Winde wogte und der<br />
Jasmin im Garten duftete, konnten wir es nicht erwarten, nach den<br />
Schularbeiten in der Werre zu baden. Wir brauchten nur die Straße zu<br />
überqueren, über eine Wiese den Abhang hinabzurennen, und schon<br />
waren wir an der Badestelle zwischen zwei knorrigen Weiden.<br />
Die Werre war hier breit, an der strömenden Wasseroberfläche bildeten<br />
sich Strudel. Es bereitete uns einen Heidenspaß, in den Wellen zu toben.<br />
13
Wenn sich die heißerwarteten Freunde, die drei Jungen Deppner und<br />
Elisabeth, die Tochter von Julius Meyer zu Siederdissen, dessen großer<br />
Hof gleich südlich von der Bahn nahe der Kirche lag, zu uns gesellten,<br />
dann schwammen und tauchten wir um die Wette.<br />
Das Gelächter war groß, wenn Opa Henn zwischen den Kindern herumschwamm.<br />
Sein langer, weißer Bart kräuselte sich im Wasser. Oft nahm<br />
er Gerda auf seinem Rücken mit, weil sie noch nicht schwimmen konnte.<br />
Opa Henn brachte sie immer wieder sicher ans Ufer.<br />
Einmal hatten wir drei älteren Geschwister die kleine Gerda allein zu<br />
Hause gelassen, weil sie keine Badehose hatte. Als wir vom Baden wieder<br />
heimkamen, saß Gerda vor Ännes Schrank, wo die Wäschestücke sorgfältig<br />
sortiert waren und hatte ein weißes Höschen an. Sie strahlte und<br />
jubelte: „So, jetzt habe ich auch eine Badehose.“ Aber war das noch das<br />
Höschen ihrer größeren Schwester Änne? Die Spitzen lagen verstreut am<br />
Boden, die Schere daneben.<br />
Vater Heinrich sah dem ausgelassenen Treiben seiner vier Kinder mit<br />
Missfallen zu. Er mochte es lieber, wenn sie sich länger mit ihren Schulaufgaben<br />
beschäftigen würden. So verbot er eines Nachmittags das<br />
14
Baden. Die Sonne brannte, die Deppe-Jungen und Elisabeth warteten.<br />
Mutter sagte: „Geht nur, aber kommt früh genug wieder zurück.“ Mit<br />
Hurra ging es los, Schuhe und Kleider ließen wir im Zimmer, wir hatten<br />
nur den Badeanzug an.<br />
Als Mutter das weiße Betttuch aus dem Fenster hängte, das verabredete<br />
Zeichen zum Aufbruch, kehrten wir wieder zurück. Fertig angezogen<br />
pünktlich um 19.00 Uhr saßen wir lammfromm zum Abendbrot am<br />
Tisch. Da kam Vater vom Dienst. „Alle Vier antreten!“<br />
Antreten hieß: hinaus auf den langen Flur. Voller Erstaunen blickten wir<br />
den Vater an.<br />
„Drei Tage Hausarrest, alle Vier!“<br />
„Warum denn?“<br />
„Weil ihr mein Verbot missachtet habt und alle zum Baden wart.“<br />
Wie das, er konnte uns doch nicht gesehen haben. Vater schaute, jetzt<br />
lächelnd, in unsere verblüfften Gesichter.<br />
„Das nächste Mal müsst ihr die Füße abtrocknen, damit ich eure nassen<br />
Tapsen nicht verfolgen kann.“<br />
Mutter nahm die Schuld auf sich. Doch es blieb beim Hausarrest.<br />
Heinz und ich besuchten die Bürgerschule des Ortes. Ich war stolz auf<br />
meinen älteren Bruder. Doch er nahm auf dem Schulweg keine Notiz<br />
von mir. Das schmerzte mich sehr. Eines Tages beklagte ich mich bei<br />
Mutter. „Er macht das extra nicht, er guckt einfach weg.“<br />
Vater hatte mitgehört. Er ließ mich und Heinz in sein Arbeitszimmer<br />
kommen und hielt uns eine Standpauke: „Zehn Mal geht ihr die Bahnhofstraße<br />
auf und ab, Heinz auf der einen Seite und du auf der anderen<br />
Seite, immer entgegenkommend. Jedes Mal grüßt ihr euch, höflich und<br />
nett. Kopf dabei nicken und Schülermütze abnehmen. Ich beobachte<br />
euch von meinem Büro aus.“<br />
Voller Zorn funkelte Heinz seine Schwester an. Am nächsten Tag fand<br />
das Manöver statt, zu einer Zeit, wo allerhand Leute unterwegs waren.<br />
So ging es Schritt für Schritt die Bahnhofstraße entlang, rauf runter, rauf<br />
runter. „Tag, Änne.“ „Tag, Heinz.“ Änne nickte mit dem Kopf, Heinz<br />
zog seine Schülermütze. Beide kochten vor Scham. Doch sie mussten<br />
durchhalten, denn sie erahnten ihren Vater hinter den Fensterscheiben<br />
seines Büros. Was dachten nur die Leute? Endlich das zehnte Mal: „Tag,<br />
Änne“, „Tag, Heinz.“ Dann liefen wir in die Wohnung nach oben in<br />
unsere Zimmer und versteckten uns. Die Rache ließ nicht lange auf sich<br />
warten. Als ich einmal für Mutter Wäsche vom Dachboden holte, sperrte<br />
15
Heinz die Dachluke zu. Ich saß bibbernd und ängstlich auf dem Boden,<br />
bis mich Heinz nach zwei Stunden erlöste. Das waren die Spielchen unter<br />
uns Geschwistern.<br />
Sonntagmorgens war es immer besonders friedlich im Hause. Die Wohnung<br />
duftete nach gutem Kaffee, dazu gab es Kuchen, den Mutter<br />
gebacken hatte. Danach durfte jeder seinen Neigungen nachgehen: Es<br />
wurde musiziert, gelesen oder gehandarbeitet. Friedel erlernte das Geigenspiel,<br />
später Akkordeon dazu, Änne und Gerda wechselten sich am<br />
Klavier ab, um die Sonatinen von Clementi zu üben.<br />
Selbst Vater Heinrich zeigte am Sonntag seine weichen Züge. Erst<br />
intonierte er am Klavier „Lobe den Herren …“, dann sang er voller Inbrunst<br />
das Löwe-Lied von der Uhr zum Klavier:<br />
Ich trage, wo ich gehe,<br />
stets eine Uhr bei mir.<br />
Wieviel es geschlagen habe,<br />
genau seh ich an ihr …<br />
In den neun Jahren, die wir in Löhne verbrachten, kam Großmutter<br />
Christine Röckemann häufig zu Besuch. Sie ging zu Fuß von Hahlen zum<br />
Mindener Bahnhof und reiste mit der Eisenbahn an. Nachdem ihr Mann,<br />
der Landwirt Wilhelm Peter Röckemann, 1924 gestorben war, betrieb sie<br />
den Hof allein mit dem Gesinde. Sie arbeitete fleißig, schaute nach dem<br />
Vieh, ging zur Schweinewiese und stand beim Dreschen mit ihrer Forke<br />
mitten unter den Knechten und Mägden neben der Dampfdreschmaschine<br />
mit dem großen Schwungrad, um den Leiterwagen mit dem<br />
gedroschenen Stroh zu beladen. Sie war klein und zierlich, trug ihr graues<br />
Haar in der Mitte gescheitelt und hinten zu einem Knoten geflochten.<br />
Um die Schultern hatte sie ein schwarzes gestricktes Dreieckstuch geschlungen.<br />
Ihre blau-weiß gestreifte Schürze gehörte zu ihrer Alltagskleidung.<br />
Wenn sie nach Löhne kam, öffnete sie ihren alten, mit Lederriemen verschnürten<br />
Rohrkoffer. Dann packte sie wunderbare Köstlichkeiten aus,<br />
die zwischen ihren Wäschestücken verborgen waren: Vier Ringelwürste<br />
für uns Kinder, ein Pfund Butter, zu einem Ei geformt, für den Vater<br />
Schmull, für die Mutter magere, luftgetrocknete Mettwurst und ein frisches,<br />
selbstgebackenes Bauernbrot.<br />
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Sogar Vater Heinrich saß mit seiner halblangen Pfeife schmauchend<br />
dabei und schaute wohlgefällig auf die Gaben. Dann erzählte sie Geschichten<br />
aus der Franzosenzeit oder aus dem weiten Russland, von<br />
einem jungen Husaren namens Friedrich, der im Gefolge Napoleons in<br />
den Kämpfen vor Moskau sein Leben verlor.<br />
Auch Vater Heinrich steuerte Spökenkiekergeschichten aus seinem Dorfe<br />
Meißen bei, wo er zwei Tage vor der tatsächlichen Beerdigung seines<br />
Nachbarn Quebbe im Traum schon den schwarzen Leichenwagen gesehen<br />
hatte, auf dem Quebbe, mit einem weißen Tuch bedeckt, von vier<br />
schwarzen Hengsten durch das Dorf gefahren wurde.<br />
Wenn Großmutter ihren Besuch ankündigte, sammelte Mutter Anna alle<br />
löchrigen Strümpfe zusammen, damit Großmutter sie stopfen solle. Um<br />
sie bei der langwierigen Arbeit bei Laune zu halten, versteckte ich die<br />
Hälfte der Strümpfe unter dem Sofa. Wie froh war Großmutter, als sie<br />
das letzte Paar säuberlich zusammenlegen konnte. Danach machte sie<br />
einen Rundgang durch die Wohnung und kehrte zufrieden an ihren Fensterplatz<br />
zurück.<br />
Siehe, da lagen schon wieder zwei Strümpfe. Hatte sie die übersehen?<br />
Wieder ging es an die Arbeit. Das wiederholte sich noch einige Male, bis<br />
sie plötzlich misstrauisch wurde. Und dann erwischte sie mich, wie ich<br />
gerade unter das Sofa griff, um wieder ein Paar Strümpfe ans Tageslicht<br />
zu befördern. „Lüüüt, dat will ik di seggen, glöf joa nick, dat du mi for<br />
dumm verköpen kannst. Det hebbe eck oll lange merket. Eck weit ja, mit<br />
wäan eck dat in düsse Familie to daun hewe. Heär mot man mit oallen<br />
räken. Ji sind olle Viera Düwels, un de Schlimmste bist du, Annemieken!“<br />
Wenn der Pastor kam, sprach sie mit ihm Hochdeutsch. Da saßen die<br />
beiden am Fenster beim Gläschen Rotwein am Nähtisch. „Das will ich<br />
Ihnen sagen, Herr Pastor, Sie dürfen nicht immer so fromm daherreden,<br />
wenn Sie auf der Kanzel stehen. Selig sind die, die Gottes Wort hören<br />
und bewahren. Sie müssen den Leuten erklären, was selig ist und was es<br />
für uns bedeutet, dass Christus wieder auferstanden ist.“<br />
Besonders gerührt war Großmutter Christine, wenn Friedel seine Geige<br />
ergriff und den Ländler ‚Großmütterchen‘ von Gustav Langer ihr zu<br />
Ehren vorspielte. Sie tupfte ihre feuchten, kurzsichtigen Augen mit<br />
ihrem Spitzentaschentuch ab, wenn Friedel die Saiten hochrutschte und<br />
dann den getroffenen Ton mit vollem Vibrato erklingen ließ. Dabei<br />
17
nahm er einen Hüftschwung und schmiegte beim Aufstrich liebevoll<br />
seine Wange an den Kinnhalter.<br />
Wir vier Kinder wurden größer und besuchten nach der 4. Klasse in der<br />
Bürgerschule die ‚Höhere Mädchen- und Knabenschule‘ in Löhne. Um<br />
aber das Abitur zu absolvieren, wurden wir zu Fahrschülern. Ich wurde<br />
ab 1929 in die Untersekunda der ‚Königin-Mathilde-Schule‘ (Staatl.<br />
Oberlyzeum) in Herford und Heinz in das dortige ‚Gymnasium Fridericianum‘<br />
aufgenommen.<br />
Dazu mussten Heinz und ich als Fahrschüler mit der Eisenbahn nach<br />
Herford fahren. Vater winkte uns jeden Morgen auf dem Bahnsteig<br />
Löhne zu und gab das Abfahrtssignal.<br />
1932 trat eine entscheidende Änderung in unserem Leben ein: Vater<br />
Heinrich Müther erhielt die ehrenvolle Berufung zum Vorsteher des<br />
Hauptbahnhofs Bremens. Mit der Urkunde der Deutschen Reichsbahngesellschaft<br />
wurde er am 29. November zum Reichsbahnamtmann befördert.<br />
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„Ich vollziehe diese Urkunde in der Erwartung, dass Sie Ihre Amtspflichten unter<br />
Beachtung der Reichsverfassung und der Gesetze zum allgemeinen Wohle sowie zum<br />
Nutzen der Deutschen Reichsbahn gewissenhaft erfüllen und das Vertrauen rechtfertigen,<br />
das Ihnen durch diese Ernennung bewiesen wird.“<br />
Berlin, den 29.November 1932<br />
Der Generaldirektor:<br />
Das bedeutete: wieder Sachen packen und in die Dienstwohnung des<br />
Bremer Bahnhofs umziehen. Gerda ging mit, um unter der strengen<br />
Aufsicht des Vaters dort ihr Abitur zu machen, während sich Heinz an<br />
der Universität Rostock für das Studium der Rechte immatrikulierte.<br />
Ich blieb in Löhne und wohnte während der restlichen Schulzeit bei<br />
Elisabeth Meyer zu Siederdissen, der Freundin von Heinz. Auf dem<br />
großen Meyerhof war genug Platz für den alten Julius und seine Familie<br />
sowie für Vieh, Gesinde und mich.<br />
Friedel wohnte während der Woche bei der Familie des Bruders seines<br />
Vaters in Minden und absolvierte die Bessel-Oberrealschule.<br />
Heinz schrieb am 15.1.1932 aus Rostock, „… und noch eins, wir haben eine<br />
so schöne und erlebnisreiche Jugend zusammen verlebt, die doch ihr Band fürs Leben<br />
geschlungen hat gegen alles, was da noch kommen sollte.“<br />
Und es kam Einiges anders: Die neuen Lehren der NS-Ideologie von der<br />
Überlegenheit der deutschen Rasse und des Erlösergedankens erfassten<br />
besonders junge Menschen, die nach der Konfirmation oder Firmung<br />
ihre Persönlichkeit entwickelten.<br />
Das zeigte ein Brief von Heinz, der sich schon sehr früh mit den völkischen<br />
Botschaften der Nationalsozialisten auseinandergesetzt hatte.<br />
Am 28. Juli 1931 schrieb er mir aus Rostock:<br />
„Liebe Änne, ausgelöst durch den Versailler Schandfrieden und den kriegslüsternen<br />
Revanchegedanken der Gegner unserer Republik, äußerst Du Zweifel, dass Kriege<br />
ethisch und aus christlicher Sicht nicht vertretbar seien. Da frage ich gleich: Muss ein<br />
Christ Pazifist sein? Die Frage setzt voraus, dass jeder Christ das Neue Testament<br />
anerkennt. Betrachte ich dieses, losgelöst von Politik und unserer besonderen Lage,<br />
dann steht bei Markus 24,14: Wenn ihr aber hören wollet von Kriegen, so fürchtet<br />
euch nicht. Es muss geschehen. Denn es wird sich ein Volk gegen das andere erheben.<br />
Auch Matthäus sagt in 24,14: bis zum Ende wird dieser Kampf dauern. Das Motiv<br />
dieser Kriege sind eher Glaubenskriege und keine Religionskriege.<br />
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Auch im 1. Korinther 9,25 steht: Ein jeglicher, der da kämpft, enthält sich aller<br />
Dinge, jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen.<br />
Kämpfen wir also für edle, hohe Ziele, selbstlos, sich aller Dinge enthaltend,<br />
dann getrost in den Kampf!<br />
Ich stehe auf dem Standpunkt, dass ein Volk eine ganz bestimmte, göttliche Sendung<br />
hat, die es erfüllen muss, so wie die Griechen, die Römer, die Goten. Sie haben dazu<br />
beigetragen, die Menschheit höher zu führen. Hat ein Volk seine Sendung aus Trägheit,<br />
Angst vor Kriegen oder weil es von seinen Sendungen nicht überzeugt ist, dann<br />
wird es zum Sklavenvolk. Für diese Sendung zu kämpfen und zu sterben, das ist der<br />
Sinn des Testaments. Sollte auch nichts von dem Volke übrigbleiben als weiterzukämpfen:<br />
Das Volk wird mit Ruhm vor dem Richtstuhl stehen.<br />
Herzliche Grüße, mein Schwesterlein, Dein Heinz<br />
Ich war von diesen Gedanken, vor allem Kriege mit dem Neuen Testament<br />
zu begründen, völlig überrascht und musste den Brief mehrfach<br />
lesen. Was war denn durch den nationalsozialistischen Geist in den Köpfen<br />
der Menschen geschehen? Wie Heinz ihr später aus Berlin berichtete,<br />
hatte sich auch der Dom- und Hofprediger Bruno Doehring in den<br />
Dienst der nationalsozialistischen Bewegung gestellt und sprach von<br />
einem ‚Kreuzzug‘ und einem ‚Heiligen Krieg‘. Deutschland galt ihm als<br />
das ‚Erlöservolk‘. Es sei mit einer göttlichen Mission betraut, die darin<br />
bestand, die verdorbene Welt der Feinde mit Krieg zu überziehen. Mit<br />
der Machtergreifung 1933 hatte die begeisterte Anhängerschaft dieser<br />
evangelischen Kirchenmänner den Grundstein für die neue ‚Bewegung‘<br />
gelegt. Sie sahen eine neue Zeit kommen. Ich war auf meiner traditionellen<br />
Königin-Mathilde-Schule in dem ‚hilligen Hervede‘ mit seinem<br />
alten reichsunmittelbaren Stift aus dem Jahre 800 mit solchen Gedanken<br />
nicht in Kontakt gekommen und bereitete mich konsequent auf das Abitur<br />
vor.<br />
Am 16. März 1933 telegrafierte ich meinen Eltern:<br />
Abitur mit „Gut“ bestanden. Hurra! Änne<br />
Gut, dass ich meine Schulausbildung hinter mir hatte. Ich fuhr jetzt nach<br />
Bremen, um meinen Eltern zu helfen und Gerda in der Schule beizustehen.<br />
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