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Socrates 40

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DIE BESTEN STORYS SCHREIBT DER SPORT

02 2020

#40

MENTALITÄT

ANDY MURRAY

EXKLUSIV-INTERVIEW: DIE UNERWARTETE

WIEDERGEBURT DES TENNIS-STARS

MATTHIAS SAMMER

WIE MAN ES SCHAFFT,

ALLES IM FUSSBALL ZU GEWINNEN

COLLETTE

V. SMITH

SUIZID, VERGEWALTIGUNGEN,

SCHICKSALSSCHLÄGE –

DANN KAM DER FOOTBALL

NICO

HÜLKENBERG

DER FORMEL-1-STAR NACH SEINEM AUS:

VERPOKERT, VERLOREN, VERKANNT?

MARCUS

THURAM

EXKLUSIV-INTERVIEW MIT DER NEUEN ENTDECKUNG GLADBACHS:

„KEINE SORGE, ICH WEISS, DASS ICH EXISTIERE“

02

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von Borussia Dortmund

Einer der führenden europäischen IT-Sicherheitshersteller

verstärkt die BVB-Abwehr, um die Internetsicherheit

für alle Fußballfans zu gewährleisten.

Reicht der Wille?

FATIH DEMIRELI

EURE LIEBE

IST SICHER

„Das, was wir spielen, ist Sport. Es ist ein Spiel.

Am Ende des Tages ist es nur ein Spiel. Es macht

dich nicht besser oder schlechter als andere, wenn

du gewinnst oder verlierst. Ich habe das verinnerlicht

und es hat auch meine Perspektive geschärft,

wenn ich anderen Menschen begegne.“

Tim Tebow

Dem Mann sollten wir zuhören, immerhin

wählte ihn die Time vor acht Jahren zu

den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten

der Welt. Das ist dahingehend bemerkenswert,

da Tebow als ehemaliger NFL-Star und aktueller

Baseball-Spieler zwar recht erfolgreich ist, aber

kein Typ, der nur durch sportlichen Erfolg auf sich

aufmerksam machen konnte. Die Time begründete

die Nominierung damals mit „seiner Arbeitsmoral

und seinen Führungsqualitäten“, die er auch

außerhalb des Platzes an den Tag legte.

Es ist das, was ihn so besonders machte. Dass er

durch sein bloßes Auftreten, durch sein bloßes

Wirken nicht nur seine eigene Leistung auf ein hohes

Niveau hievte, sondern auch die Leistung und

das Auftreten der anderen. Hört man einem Welt-

Trainer wie Carlo Ancelotti zu, den es aktuell zum

FC Everton verschlagen hat, der aber zuvor bei den

größten Klubs der Welt mit den besten Spielern arbeitete,

kommt man der Sache ein bisschen näher.

„Ich habe mit den wichtigsten Spielern der Welt

gearbeitet. Ronaldo, Ibrahimović, Kaká, Zidane.

Es war einfach, mit ihnen zu arbeiten, weil sie

professionell waren. Ihre Siegermentalität hilft

einem Trainer enorm. Natürlich ärgert man sich

mal, aber das Verhältnis zu Spielern dieser Art war

immer intakt.“ Weil Ancelotti wusste, dass diese

Spieler es nicht zulassen würden, dass durch eine

lasche Mentalität einzelner der sportliche Erfolg

der Mannschaft gefährdet wird. Sie fingen bei sich

an, hörten bei anderen auf – bis es funktionierte.

Wenn wir heute über Mentalität im Sport sprechen,

hat das meist einen negativen Touch. Verliert die

Lieblingsmannschaft, ist es die fehlende Mentalität.

Gewinnt sie, waren es die Typen mit dem Siegergen,

die es umgebogen haben. Sehr wahrscheinlich

machen wir es uns damit aber wohl zu einfach. Tebow,

Ronaldo, Kaká und Co. könnten noch so große

Mentalitätsmonster sein, wenn sie kein Talent oder

die richtige Idee hätten, ihre Wettkämpfe zu gewinnen.

Würde der Wille da reichen? Könnten Zwerge

wie San Marino, Andorra und Co. plötzlich zur Fußball-Macht

aufsteigen, nur weil sie auf einmal mehr

wollen als andere? Punktuell können sie sicher mal

etwas bewegen, aber letztlich braucht es mehr.

Ein anderes NFL-Ass, Brett Favre, sagte mal: „Du

musst so spielen, als würdest im Falle einer Niederlage

deinen Job verlieren. Du musst dafür sorgen,

dass man erst über dich spricht, dann über

die anderen.“ Für jeden „Auf geht’s kämpfen und

siegen“-Vokalisten im Stadion hört sich das wunderbar

an, aber im Grunde ist es auch ganz schön

plakativ. Mentalität geht nicht nur über Herz,

Lunge und Seele, sondern auch über Verstand.

Und auch Anstand.

In dieser Ausgabe haben wir uns mit dem Thema

„Mentalität“ beschäftigt. Mit Sportlern, die auch

mit Hilfe ihrer großartigen Mentalität viel bewegt

haben. Mit Sportlern, die am Boden waren,

und dank ihrer Willenskraft zurückgekommen

sind. Mit Sportlern, die wie Tebow, das Gut und

Schlecht nicht mit Ergebnissen definiert haben.

Viel Spaß beim Lesen.

Bleiben Sie am Ball.

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FEBRUAR 2020

Friedrich-Bergius-Str. 15C, 85662 Hohenbrunn

info@socratesmagazin.de

VERLEGER: Can Öz

HERAUSGEBER: Fatih Demireli

CHEFREDAKTEUR: Fatih Demireli (verantwortlich)

CHEFREDAKTION: Banu Yelkovan (Chefin vom Dienst)

CHEFREDAKTION: Felix Seidel (Leiter Kommunikation)

REDAKTION: Sebastian Hahn / Furkan Karasoy / Oliver Wittenburg

TEAMASSISTENZ: Aslı Spyrou

ÜBERSETZUNG: Levent Konca

SCHLUSSREDAKTION: Sarah Luise Fenske

MAGAZINDESIGN: Can Yayınları

ART DIRECTOR: Hüseyin Sandık

GRAFIK: Erhan Teksöz

MITARBEIT: Christian Bernhard / Hans von Brockhausen / Ali Farhat /

Sarah Luise Fenske / Ole Frerks / Katharina Kleinfeldt / Alexis Menuge

/ Carsten Obst / Stefan Petri / Alex Raack / Collette V. Smith / Anna

Chiara Spigaro / Karin Sturm / Carina Wenninger / Jan Zesewitz

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VERTRIEB: IPS Pressevertrieb GmbH, Hamburg

FOTOS: Getty Images, Imago

S T E F A N P E T R I

„Ich muss mal wieder was schreiben“, sagte Stefan.

„Ist lange her“, sagte Stefan. Stimmt, Stefan. Und daher haute er

mal wieder in die Tasten und zauberte ein schönes Stück über

Novak Djoković in diese Ausgabe.

ALI FARHAT

Wegen der Ähnlichkeit seines Nachnamens zu einem bestimmten

Fahrzeug nennt ihn manch Kollege „Ulle“, aber das nur am Rande.

Bei seinem SOCRATES-Debüt sprach Ali mit Marcus Thuram.

Das tolle Ergebnis lesen Sie im Heft.

J A N Z E S E W I T Z

STERN PLUS

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/ S O C R A T E S M A G A Z I N

Wenn wir schon von Debütanten sprechen, auch ein herzliches

„Hallo“ an Jan, unseren nächsten Neuling. Als ehemaliger

Weggefährte von Teilen der Redaktion war uns sein breites

Spektrum an Sportwissen bekannt. So dann...

COLLETTE V. SMITH

Unsere Kollegin Banu traf Collette in Übersee und berichtete

anschließend von den nachdrücklichsten Minuten

und Stunden in ihrem Journalistenleben. Und in der Tat ist

Collettes Leben beeindruckend. Aber lesen Sie selbst.

w w w . s o c r a t e s m a g a z i n . d e

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040

MARCUS THURAM

„ICH WEISS, DASS ICH EXISTIERE“

INHALT

003 EDITORIAL

REICHT DER WILLE?

010 ZEITNAH

7:35:39 STUNDEN

012 ROAD TO EURO 2020

DIE WELT IST NICHT MEHR ZU GAST

NÄCHSTER KLOPP-COUP

Nach dem Champions-League-Sieg und

dem Gewinn des europäischen Supercups

triumphiert der FC Liverpool auch bei der

FIFA Klub-WM in Katar. Im Halbfinale gegen

Monterrey und im Endspiel gegen Flamengo

Rio de Janeiro ist es der frühere Hoffenheimer

Roberto Firmino, der die Reds zum Sieg

schießt. Jürgen Klopp ist jetzt schon eine

Anfield-Legende. Nicht auszudenken, was in

Liverpool los wäre, sollte im kommenden Mai

die 30 Jahre andauernde Sehnsucht nach dem

Meistertitel ein Ende haben.

014 UNION BERLIN

NA UND?!

048

ANDY MURRAY

„ICH HATTE EIN GANZ NORMALES LEBEN“

016 PICK’N’ROLL

KATHARINA KLEINFELDT

018 DIE 10

DIE WEITESTEN SKISPRUNG-FLÜGE ALLER ZEITEN

030 WINTER

KLIMAWANDEL UND WINTERSPORT

056

MATTHIAS SAMMER

WEIL ER ES FÜHLT

062 NIKLAS MOISANDER INTERVIEW

„DAS FEUER IN MIR“

066 CARINA WENNINGER KOLUMNE

DEN KOPF IM GRIFF

068 NOVAK DJOKOVIĆ

ALS MENSCH GEGEN GÖTTER

072

078 ROAD TO OLYMPIA

MEINE MAMA, DIE OLYMPIASIEGERIN

COLLETTE V. SMITH

082 BIATHLON-WM 2020

IN ZEITEN DES MACHTVAKUUMS

„UND GOTT GAB MIR FOOTBALL“

084 MARTIN FOURCADE

DER BESESSENE

088 MARIA HÖFL-RIESCH INTERVIEW

„VON EINER AUF DIE ANDERE SEKUNDE IST ALLES AUS“

NICO

HÜLKENBERG

VERPOKERT, VERLOREN, VERKANNT?

092

096 PRIMOŽ ROGLIČ

ÜBERFLIEGER IM ZWEITEN ANLAUF

100 DARKO MILIČIĆ

DAS STREBEN NACH GLÜCK

110 PHILIP GOGULLA INTERVIEW

„DAS WAR NUR NOCH EIN ÜBERLEBENSKAMPF“

Fotocredit Getty Images



ZEITnah

DIE SOCRATES-AUSLESE

7:35:39

CMP RIGEL

TREKKING-SCHUHE

Die Trekkingschuhe von CMP eignen sich nicht

nur für einen matschigen Winterspaziergang,

dank ihres eigenen Stoffes sind sie auch für eine

Wanderung in den Sommermonaten geeignet.

Eine speziell designte Sohle sorgt dafür, dass die

Füße auch nach zahlreichen Kilometern zu Fuß

nicht mehr wehtun, als sie es sollten.

NIKE X UTAH JAZZ –

CITY EDITION

Die NBA hat sich in Sachen Jerseys in diesem

Jahr erneut selbst übertroffen, die City Jerseys

erfreuen sich auch abseits der verschiedenen

Courts großer Beliebtheit. Die Utah Jazz setzen

in ihrer Variante mit 90er Flair auf das Trikot

der Vorsaison – eine schlechte Entscheidung ist

das nicht.

NIKE BLAZER MID ’77 VNTG

Ein Klassiker unter den Nike-Modellen, der jedes

Outfit nach wie vor gelungen abrundet. Der Nike

Blazer überzeugt trotz seines hohen Knöchels mit

einer guten Passform und schränkt die eigene

Bewegungsfähigkeit nicht ein. Bequem ist er

obendrein.

Fotocredit Getty Images

FELIX SEIDEL

Am 17. Juli 2016 absolvierte Jan Frodeno im mittelfränkischen Roth den schnellsten Langstrecken-Triathlon aller Zeiten.

Und das mit Ansage. Dabei hätte den Kölner auf der Strecke fast ein Auto umgefahren.

3,86 Kilometer Schwimmen. 180,2 Kilometer Radfahren. 42,195 Kilometer

Laufen. Als Jan Frodeno am 17. Juli 2016 den Triathlon

im mittelfränkischen Roth absolviert hatte, blieb die Uhr auf der

Anzeigetafel bei einer Zeit von 7:35:39 Stunden stehen. Noch nie war ein

Sportler bei einem Triathlon über die Ironman-Distanz schneller gewesen.

„Ich bin dankbar für jeden, der mich unterwegs angefeuert hat“, sagte Frodeno

im Ziel. Mit Sprechchören und Plakaten wie „Don’t run, fly Frodo“ pushten

über 200.000 begeisterte Zuschauer an der Strecke Deutschlands Sportler

des Jahres: „Das war so überwältigend. Das habe ich so noch nie erlebt.“

Ein grandioser Sieg, der dem Körper des gebürtigen Kölners alles abverlangte.

„Die Schmerzen gehen auf und ab in meinem ganzen Körper. Es

war ein harter, harter Weg. Ich werde heute Nacht auf jeden Fall gut schlafen“,

meinte der damals 34-Jährige.

Im Vorfeld der Challenge über die Langdistanz hatte Frodeno selbstbewusst

eine neue Weltbestleistung angekündigt. Er hielt Wort. Und

unterbot die fünf Jahre zuvor aufgestellte Marke von Andreas Raelert

um fast sechs Minuten. Der Rostocker hatte an gleicher Stelle 7:41:33

Stunden gebraucht.

„Der Weltrekord ist einer der Höhepunkte meiner Karriere“, jubelte

Frodeno. In seinem Triumph-Jahr 2015 hatte der Olympiasieger neben

dem WM-Titel beim Ironman-Klassiker auf Hawaii auch die Ironman-Europameisterschaft

in Frankfurt gewonnen.

Seine Fabelzeit in Roth stand allerdings gleich zweimal auf der Kippe. Mit

dem Rad stürzte Frodeno bei Kilometer 120: „Da dachte ich schon, das wird

eng mit dem Rekord.“ Körper und Material überstanden den Vorfall aber

unbeschadet. Kurz vor dem Wechsel zum Laufen dann die nächste Schrecksekunde:

Um ein Haar hätte ihn ein unachtsamer Autofahrer erwischt.

Anschließend wurde die Tortur zum Triumph: „Spätestens ab der Hälfte

der Marathonstrecke war mir klar, dass das mit dem Weltrekord klappen

muss.“ Doch an eine große Siegesparty wollte Frodeno nicht sofort denken:

„Heute wird das nur eine Stuhlparty.“ Die Konkurrenz gratulierte

voller Respekt. „Jan ist eine andere Liga, da bin ich dritte Liga“, sagte Vorjahressieger

Nils Frommhold.

Interessant: Offizielle Weltrekorde werden im Triathlon wegen der Variabilität

der Streckenprofile generell nicht geführt, auch gibt es keine obligatorische

offizielle Vermessung der Wettkampfdistanzen. So gelten die Strecken

auf Hawaii und Lanzarote als sehr anspruchsvoll. Die Strecke der Challenge

in Mittelfranken hat sich dagegen im Laufe der Jahre als weltweit schnellstes

Rennen auf dieser Distanz herausgestellt.

GERD MÜLLER:

EINE BIOGRAFIE

Das Hörbuch zur Biografie vom Bomber

der Nation. Gerd Müller hält bis heute

zahlreiche Rekorde in Nationalmannschaft

und Bundesliga. Nach seiner Karriere

ist der Rekordstürmer aufgrund von

Alkoholproblemen in die Schlagzeilen geraten.

Heute lebt er im Pflegeheim, seine Biografie

ist eine Reminiszenz an einen der größten

Stürmer der Fußball-Geschichte.

DIESEL DZ4318

Schlicht mit einem kleinen Farbtupfer – wer so

eine Uhr sucht, ist bei der Diesel DZ4318 genau

richtig. Die Uhr liegt angenehm am Handgelenk

und fällt nicht besonders auf, abgesehen von den

kleinen Farbtupfern auf dem Ziffernblatt. Ein

ideales Accessoire für nahezu jeden Anlass.

SOCRATES BASICS

Bald gibt’s SOCRATES nicht nur als

Sportmagazin, sondern auch zum Anziehen.

Hoodies, T-Shirts und mehr. Inspiriert wurden

wir bei der Erstellung der ersten Modell-Reihe

auch von einem Banner, das einst Fans von

Eintracht Frankfurt im Stadion ausrollten. Zu

kaufen gibt’s das T-Shirt bald im Online-Shop

auf socratesmagazin.de.



R O A D T O E U R O 2 0 2 0

DIE WELT IST NICHT

MEHR ZU GAST

Endlich EM-Jahr, endlich ein großes Fußball-Turnier! Doch die Vorfreude hält sich

diesmal in Grenzen. Das geteilte Turnier ist ein Abbild der Gesellschaft.

FATIH DEMIRELI

Am 12. Juni wird die Fußball-Welt ab 21 Uhr mitteleuropäischer

Zeit nach Rom blicken. Dort eröffnen Italien

und die Türkei die UEFA EURO 2020. Zuvor wird ein DJ

noch laute Musik einspielen, zig Menschen eine pompöse

Tanzeinlage choreografieren, sub- oder supraliminal dargestellt,

wie schön und toll Italien ist. Irgendwann wird

dann angestoßen. Am nächsten Tag, 15 Uhr (bei der Zeit

bleiben wir in Mitteleuropa) dann die gleiche Chose im

3.111 Kilometer Luftlinie entfernten Baku, wenn sich Wales

und die Schweiz in der aserbaidschanischen Hauptstadt

gegenüberstehen. Drei Stunden später stehen sich dann

im von Baku 3.199,67 Kilometer entfernten Kopenhagen

Dänemark und Finnland gegenüber. Wem das nicht genug

ist: Drei Stunden nach Schlusspfiff sind wir im immerhin

von Kopenhagen nur noch 1.150 Kilometer entfernten

St. Petersburg, wo Belgien und Russland um die ersten

EM-Punkte spielen werden.

Man kann ja jetzt sagen, dass es dem TV-Zuschauer eigentlich

egal sein kann, wo die Spiele stattfinden. Wüsste man

es nicht, könnte man wahrscheinlich nicht mal raten, wo

die laufende Partie stattfindet, weil Werbebanden, Schriftzüge

und Co. von der UEFA gleichgeschaltet dargestellt

werden. Die fußballbegeisterten Menschen werden europaweit

vor dem Fernseher sitzen und nicht wahrnehmen,

wo sie sind. Wer den Einwand bringt, dass das bei einem

Turnier, das nur in einem Land stattfindet, nicht anders ist,

hat sogar recht.

Aber eine EM ist nun mal keine reine TV-Veranstaltung,

sondern ein Fußball-Fest, das vor Ort seit jeher eine große

Faszination darstellt. Dabei zu sein, davon erzählen viele

ihren Kindern und Enkeln noch Jahre später. Dabei ist

man vielleicht nur noch in Bruchteilen, für mehr ist für viele

der logistische und finanzielle Aufwand einfach zu groß.

Diese EURO 2020 ist eine Farce – und sie ist ein Abbild

Europas zu Beginn des neuen Jahrzehnts. Eine Union ist

sie längst nur noch auf dem Papier. Die einen wollen weg,

die anderen wieder kontrollierte Grenzen, und wir reden

wieder über Fremdenfeindlichkeit und schüren die Angst

vor Fremden. Wollte man das Europa von heute dokumentieren,

würde man genau so eine EM ausrichten. Chapeau,

UEFA! Es ist ihr tatsächlich gelungen.

Einst war die Welt zu Gast bei Freunden, heute ist die Welt

nicht mehr zu Gast, sondern geteilt und getrennt. Und sie ist

wahrscheinlich auch der Vorbote für eine Superliga, die ironischer

Weise von der UEFA abgelehnt wird. Aber vielleicht

merken die Herren, die dieses Chaos angerichtet haben, welchen

Schaden sie dem Fußball zufügen. Auf einem Flug von

Rom nach Baku oder von Bilbao nach Budapest.

Fotocredit Getty Images



NA UND?!

HANS VON BROCKHAUSEN

Der Fußballgott ist ein viel beschäftigter Mann. Elfmeterschießen, schnell

ein Stoßgebet. Nachspielzeit, bitte, bitte lass den Torhüter über den Ball

ganze Kader besteht aus Überirdischen. Blasphemie schreit der Priester,

ein Himmel auf Erden der Punk.

treten. Und neuerdings gibt’s noch den allseits beliebten Video-Beweis.

Der Schiri funkt in den Keller, der abergläubische Fan direkt nach oben.

Keine Wunder unter dieser Nummer. Als hätte

Das ist Kult, sagt der Feuilletonist mit erhobenem Zeigefinger, ob der

Seltenheit von Besonderheit im glattgebügelten

er nicht bereits genug Stress, kommt auch noch

dieses Union Berlin um die Ecke. Mannschaftsaufstellung

vor dem Heimspiel. Der Stadionsprecher

Union Berlin bereichert die

Fußball-Bundesliga. Weil der Klub

aus Köpenick sich seine eigene

Fußball. Union hat Anti schon immer angezogen.

Identifikation kommt bei den Eisernen aber

nicht von Instagram und „zusammen“ ist keine

ruft den Namen des Spielers, und was

eingekürzte Hashtag-Parole. Kult kommt bei

Identität bewahrt. Diese berauscht

entgegnet die Tribüne? Richtig, Fußballgott! Ruhestörung,

Union von Kultur. Underdogs, Systemkritiker,

Schluss aus! Der Allmächtige hat auch

mal Feierabend.

Revoluzzer und alle, denen der

Name Lewandowski egal ist.

es waren die bunten Vögel, die keinen Bock auf

das grau in grau im kommunistischen Alltag der

DDR hatten und sich dem 1966 gegründeten Verein

Union ist laut, Union ist anders. Union Berlin ist zum ersten Mal in der

Bundesliga. Der Klub aus Köpenick ist geradezu mit der Tür ins Haus gefallen.

Schöne Grüße nach Dortmund und Mönchengladbach. Kein Messi,

kein Ronaldo. Die Glaubensfrage im Fußball der vergangenen 15 Jahre

wird hier beantwortet mit Gikiewicz! Oder mit Polter, Trimmel ist auch einer,

Subotić sowieso. Du sollst nicht andere Götter neben mir haben? Der

anschlossen. Staatlich subventionierte Vereine wie der BFC Dynamo

prägten das Feindbild sportlicher, vor allem aber politischer Natur. Aus

Protest erwuchs eine Philosophie, die sich bis heute auf den Mut und den

Willen einer Wertegemeinschaft stützt. Union eben, oder wie es in der

Vereinshymne heißt: „Hart sind die Zeiten, hart ist das Team“, gesungen

von der schrillen Nina Hagen.

Widerstand schafft Kreativität. Und Gegner gab es einige in der langen

Historie. Als finanzielle Engpässe den Klub in die Knie zwangen, halfen

2.300 freiwillige Helfer beim Umbau des Stadions. 140.000 unentgeltliche

Arbeitsstunden. Alle packten mit an – Maler, Maurer, Installateure. Nicht

viele Fans können behaupten, ihr Pissoir selbst angeschraubt zu haben. Du

hast also den Wellenbrecher vor der Fankurve gemacht, aber Pommes rotweiß

seid ihr beide? So in etwa könnten sie sich anhören, die Heldengeschichten

rund um die Wurstbuden an der Alten Försterei. Union Berlin ist

für die einen wie eine Religion, für andere womöglich eine Droge – irgendetwas

Berauschendes muss es wohl sein. Ob der Drachenbootcup oder das

alljährliche Weihnachtssingen, beim Bundesligaaufsteiger ist immer Party.

Klar, St. Pauli gibt’s auch noch. Der Kiezklub und so. Aber die Geschichte

von bedingungsloser Nächstenliebe und selbstironischer Geisteshaltung

sticht im Umfeld einer allgemein kosmopolitischen Wahrnehmung mehr

heraus. Das ist der Unique Selling Point, also das Alleinstellungsmerkmal.

Ja, Fußballgott geht leichter über die Lippen, aber die Marketingsprache

sprechen sie auch in Köpenick. Seit vielen Jahren. Ein Deal mit Nike in

den späten 1990ern, aktuell fließt Geld vom Immobilienunternehmen

Aroundtown. In Zeiten, in denen das Wort Miete keine sozialen Assoziationen

auslöst, eher ein kontroverser Hauptsponsor. „Wer lässt sich nicht

vom Westen kaufen“, eine inzwischen verwelkte, literarische Blüte aus der

Union-Hymne.

Zurück zur Realität. Fußball ist Unterhaltung, ein Geschäft, das gerade

in der Hipster-Hauptstadt schwer zu vermarkten ist. Mit „We try.

We fail. We win“ versuchte es Hertha BSC, der unbeliebte Nachbar. Am

Ende ist es irgendetwas in der Mitte.

Das Märchen des Kult-Klubs, des Gegenentwurfs, lässt sich weitererzählen,

so lange es die Leipzigs und Wolfsburgs gibt. Jeder will mal ein bisschen

Revoluzzer sein, wenn auch nur für einen Nachmittag. Im Block der

Gottesanbeter stehen nicht ohne Grund immer mehr Besucher aus dem

angelsächsischen Raum. Stehplätze, normale Ticketpreise, günstiges Bier

– kommse rin, könnse rauskieken, wa! Union Berlin ist ein Original, Kult

und Kommerz, aber vor allem ein Verein mit einer bewegenden Geschichte.

Um diese zu verstehen, muss man einfach den Unionern zuhören.

Wenn die Namen der gegnerischen Aufstellung vor dem Anpfiff aufgerufen

werden, antwortet das Stadion auf noch so klangvolle Namen stets

mit „na und!“. Wen juckt’s, ob der Lewandowski heißt. Vielleicht ist diese

Scheißegal-Haltung das identitätstiftende Erfolgsgeheimnis. Auch als

Außenstehender fasziniert und beruhigt einen die Vorstellung, dass Verein

und Anhänger niemals auseinandergehen werden. Vorher lässt sich

Marco Reus von Sky-Reporter Ecki Heuser Mentalität auf den Unterarm

tätowieren.

Die ganze Geschichte über Union Berlin gibt es in

Folge 4 des Podcasts „Nachholspiel“. Hans von

Brockhausen, Oliver Lipinski und Daniel Toth blättern dort

Woche für Woche in den Fußball-Geschichtsbüchern und

diskutieren über Parallelen in der heutigen Zeit.

„Nachholspiel“ – überall wo es Podcasts gibt und auf

„Nachholspiel.de“

Fotocredit Getty Images



– 16 – pick’n’roll

SOCRATES

WARTET

Der Februar hat für Sportfans einiges zu bieten. In Übersee steigen mit dem

Super Bowl und dem NBA-All-Star-Weekend gleich zwei fette Partys,

die Fußballer feiern die Rückkehr der Champions League und gemütlich

(oder auch nicht) wird’s in Antholz. Aber sehen Sie doch selbst.

DIE AUGEN DES SERIENJUNKIES

Arena oder Studio?

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Am allerliebsten im Wechsel! Heißt dann nämlich: Die Vorfreude ist immer maximal!

Handball-Halle oder Tenniscourt?

Die HBL: coolster Job-Alltag. Wimbledon: besonderes once-in-a-year-Event.

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Berge oder Meer?

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Beides bitte mit Sonne. Beides mit einem kühlen Bier. Den Kaiserschmarrn aber dann

doch nur auf dem Berg. Obwohl...

Tattoo oder Piercing?

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Piercing, keine Sorge. Am Ohr. Für Tattoos bin ich zu sprunghaft.

Skifahren oder Surfen?

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Skistatus: Vollprofi! Surfstatus: Stets bemüht.

Städtetrip oder Strandurlaub?

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Egal! Hauptsache los! Amsterdam, Kapstadt, Bali? Sofort dabei!

Sie kennen Katharina Kleinfeldt (26) als

charmante Moderatorin von Sky Sport News

HD. Aber heißt das, dass Sie die 1,77 Meter

große Handballexpertin, die in der Damen-

Oberliga Fußball spielte, wirklich kennen?

Bei Pick’n’Roll verrät die reisefreudige

Hessin, bei was sie abergläubisch wird,

was für sie Heimat ist und warum sie zum

Serienjunkie wurde.

Motorrad oder Fahrrad?

BMW R1100S oder ein 20 Jahre altes Peugeot-Rennrad? Heißt für mich auf jeden Fall

Heimat. Da fahre ich beides am liebsten.

Heiner Brand oder Franz Beckenbauer?

Gibt es eigentlich irgendjemanden, der diese Männer nicht kennt? Werden für mich

immer die Größten ihrer Sportart bleiben.

Stefan Kretzschmar oder Lothar Matthäus?

Ikonen und Vorbilder, die polarisieren. Verschieden und doch auch irgendwo gleich.

Beide machen den Mund auf. Davon brauchen wir mehr!

High Heels oder Turnschuhe?

„Mädels, kommt jemand in meiner Größe mit? Nein? Dann werden es flache Schuhe.“

Story of my life.

Gläubig oder abergläubisch?

Abergläubisch nur, wenn es ums Anstoßen geht. Schaut mir in die Augen! Ist das denn

so schwer?

Netflix oder Kino?

Das Kino ist nach wie vor ein Muss für gute Streifen. Netflix hat mich zum Serienjunkie

gemacht – das war ich früher nie. Nicht mal GZSZ. Wirklich nicht!

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1 l SUPER BOWL LIV

2. Februar (Miami Gardens, USA)

Einige sehen es als eine Show und andere als

das wichtigste Sportevent des Jahres. Ja, Sie

haben richtig geraten: Es ist Zeit für den Super

Bowl! Der 54. in der Geschichte, der 50. in der

modernen Ära; bei dem Super Bowl LIV wird der

Meister der 100. Saison der NFL ermittelt. Zehn

Jahre später sind die Miami Gardens wieder

mal Schauplatz des Geschehens. Und ja, die berühmte

Halbzeitshow wird immer noch ein viel

diskutiertes Thema sein. In diesem Jahr werden

Jennifer Lopez und Shakira in der Halbzeit

auftreten und der Super Bowl wird wieder mehr

als ein Spiel sein.

2 l BIATHLON-WM

12. – 23. Februar

(Rasen-Antholz, Italien)

Die Biathlon-Weltmeisterschaften kommen in

diesem Jahr von Östersund nach Antholz. Die

italienische Gemeinde hat die Abstimmung vor

Slowenien (Pokljuka) und Deutschland (Oberhof)

für sich entschieden und wird zum sechsten

Mal Gastgeber der Wettkämpfe sein. Bei der

Zehn-Tage-Meisterschaft steht der Norweger

Johannes Thingnes Bø im Mittelpunkt, der

im vergangenen Jahr die beste Saison seiner

Karriere hingelegt hatte. Was für ein Turnier das

deutsche Team ohne Laura Dahlmeier haben

wird, wird die große Frage sein.

3 l CHAMPIONS-LEAGUE-

ACHTELFINALE

18. Februar – 18. März

(Spanien, Deutschland, Italien, England

und Frankreich)

Es ist der zweite Akt im prestigeträchtigsten

Turnier des Vereinsfußballs. Drei von vier

deutschen Champions-League-Teilnehmern

setzen ihre Reise im Achtelfinale fort: Borussia

Dortmund trifft auf Paris Saint-Germain, aber

natürlich steht vor allem Ex-Trainer Thomas

Tuchel im Fokus. Bayern München wird sich

bei den Duellen gegen Chelsea an 2012 und das

„Finale dahoam“ erinnern. Wenn die Leipziger

Tottenham herausfordern, wird es auch das

Duell zweier verschiedener Trainer-Generationen.

Mal gucken, ob Julian Nagelsmann José

Mourinho ärgern kann.

4 l NBA-ALL-STAR-WEEKEND

14. – 16. Februar (Chicago, USA)

Die NBA-Saison geht mit Vollgas weiter, aber

nun ist es Zeit für ein bisschen Spaß! Nach

32 Jahren kehrt das All-Star-Weekend nach

Chicago zurück. Das letzte All-Star-Game in

Chicago war von His Airness Michael Jordan

geprägt, der bei diesem Spiel sein All-Star-

Game-Rekord mit 40 Punkten erzielte. Das

United Center wird der richtige Ort für Basketballfans

sein, die sich für spektakuläre Moves

interessieren.



WEITESTEN SKISPRUNG-FLÜGE

ALLER ZEITEN

STEFAN KRAFT

ÖSTERREICH

253,5 METER

Am 18. März 2017 stellte der Österreicher Stefan Kraft beim Skifliegen in Vikersund

den aktuellen Weltrekord auf. Der Doppel-Weltmeister von 2017 verbesserte im ersten

Durchgang des Teamwettbewerbs die kurz zuvor vom Norweger Robert Johansson

erreichte Bestmarke um 1,5 Meter. „Ich habe gemerkt, der geht echt verdammt weit

und habe gedacht: ‚Bleib vorne, stehe ihn!‘ Ja, es war unglaublich“, jubelte Kraft. Der

Rekord war zunächst ein wenig angezweifelt worden, weil einer der fünf Sprungrichter

die fast gerodelte Landung als Sturz gewertet hatte. Es hätten allerdings schon

zwei weitere seiner Kollegen diese Entscheidung treffen müssen, damit der Weltrekord

Krafts nicht gewertet worden wäre.

Bereits am 15. Februar 2015 gelang dem Russen Dmitri Wassiljew mit

254 Metern der bisher weiteste Sprung der Geschichte. Da er in Vikersund

nach der Landung jedoch nicht richtig stehen konnte, wurde sein

Satz nicht gewertet und taucht daher weder in den offiziellen Bestenlisten

noch in dem Ranking der zehn weitesten Skisprung-Flüge aller Zeiten

auf. Genauso ergeht es dem Österreicher Gregor Schlierenzauer, der

2018 in Planica mit 253,5 Metern den aktuellen Weltrekord zumindest

einstellte, bei der Landung jedoch in den Schnee griff. Aus diesem Grund

bleibt sein Landsmann Stefan Kraft offiziell der einzige Skispringer, der

bisher über 253 Meter sprang – und korrekt landete. Auch ein Deutscher

schaffte es mit seinem Sprung in die Top 10.

Fotocredit Getty Images



ROBERT JOHANSSON

NORWEGEN

252,0 METER

Ebenfalls am 18. März 2017 jubelte zunächst Robert Johansson über einen neuen Weltrekord

beim denkwürdigen Springen in Vikersund, nachdem der Norweger im ersten

Durchgang nach einem Satz über 252 Meter sicher gelandet war. Damit verbesserte er

die zwei Jahre alte Bestmarke seines Landsmanns Anders Fannemel um 50 Zentimeter.

Dass nur wenig später Stefan Kraft noch weiter springen würde, dachte in diesem Moment

weder Johansson noch sein Trainer Alexander Stöckl, der kopfschüttelnd sagte:

„Unfassbar. Den Sprung hat er optimal getroffen. Da ist maximal noch ein Meter mehr

möglich, dann wird es gefährlich.“ Kraft bewies das Gegenteil.

RYŌYŪ KOBAYASHI

JAPAN

252,0 METER

Fotocredit Getty Images

Vor dem Wettbewerb in Planica im

März 2019 stand Ryōyū Kobayashi bereits

als Gewinner des Gesamtweltcups

fest. Das beflügelte ihn so sehr, dass er

bis anderthalb Meter an die aktuelle

Weltrekord-Weite herankam. Im ersten

Durchgang von der legendären „Letalnica“

landete er bei 252,0 Meter – neuer

Schanzenrekord und zugleich japanischer

Rekord. Bei seinem Flug hatte

Kobayashi eine beeindruckende Höhe.

Der Überflieger erklärte: „Ich hatte einen

guten Absprung und gute Bedingungen

im unteren Teil des Hanges. Es

hat sich super angefühlt, einen neuen

Rekord zu springen. Ich hätte nie gedacht,

dass ich den Fokus bis zum Ende

der Saison halten und den ganzen Winter

auf so einem Niveau springen kann.“



KAMIL STOCH

POLEN

251,5 METER

ANDERS FANNEMEL

NORWEGEN

251,5 METER

Als zweiter Skispringer überhaupt knackte Anders Fannemel am 15. Februar 2015 in Vikersund

die magische 250-Meter-Marke. Der Norweger, der sich als Kind im Biathlon probierte,

strahlte danach und sagte: „Ich bin einfach nur glücklich. Es ist ein unglaublicher Tag für

mich. Ich habe einen neuen Weltrekord gesprungen, ich kann es immer noch nicht glauben.“

Zur besseren Vorstellung: 251,5 Meter entsprechen der 2,5-fachen Länge eines normalen

Fußballplatzes. An ähnliche Weiten wird Fannemel zunächst nicht rankommen. Im Sommer

zog er sich bei einem Trainingssprung eine schwere Kreuzband- und Meniskusverletzung zu,

die ihn in diesem Winter zu einer Pause zwingt.

Fotocredit Getty Images

Beim Weltcup-Finale im März 2017 in

Planica gelang Kamil Stoch sein bisher

weitester Sprung. Im Teamwettbewerb

landete der Pole erst nach 251,5 Metern.

Interessant: Der dreifache Olympiasieger

lässt sich von seiner Frau Ewa managen.

Stoch meint: „Das ist eine ideale Situation

für mich, auch wenn mich viele Leute gewarnt

haben. Wir machen das nun schon

seit Jahren, und es funktioniert bestens.

Ewa hat sich zu einer tollen Managerin

entwickelt, sie ist die beste Person, um

meine Interessen zu vertreten. Sie wird

mich schon nicht ausnutzen.“ Stoch ist

nicht nur Skisprung-, sondern auch Social-Media-Star.

Bei Facebook folgen ihm

rund 980.000 Leute. Bei Instagram hat er

rund 300.000 Abonnenten.



PETER PREVC

SLOWENIEN

250,0 METER

Am 14. Februar 2015 in Vikersund übersprang der Slowene Peter Prevc als erster

Sportler überhaupt die 250-Meter-Marke. Mit dieser Leistung verbesserte er den vier

Jahre zuvor von Johan Remen Evensen an selber Stelle aufgestellten Weltrekord um

satte 3,5 Meter. „Es ist im Augenblick schwer, meine Gefühle zu beschreiben“, sagte

Prevc nach seinem Triumph. „Es ist immer großartig, weit zu springen, dieser Weltrekord

ist mein bislang größter Erfolg.“ Dass dieser jedoch nur einen Tag halten würde,

hätte sich Prevc bei seinem Interview wohl nicht gedacht – doch Anders Fannemel

sprang nur 24 Stunden später am gleichen Ort nochmal 1,5 Meter weiter.

ANDREAS STJERNEN

NORWEGEN

249,0 METER

Am 14. Februar 2016 gelang dem Norweger Andreas Stjernen beim Skifliegen in

Vikersund der größte Satz seiner Karriere. Er landete bei 249 Metern. Der Mannschafts-Olympiasieger

von 2018 gab Anfang 2019 im Alter von 30 Jahren nach gut

neun Jahren seinen Abschied vom Skisport bekannt. In einem Video des norwegischen

Teams auf Facebook sagte er: „Ich habe darüber bereits im Sommer, Herbst und

Winter nachgedacht. Ich habe mein Bestes gegeben. Als ich zu Hause war, habe ich gemerkt,

dass es mir genauso viel Spaß macht, dem Team im Fernsehen zuzusehen, wie

selbst am Start zu sein. Also das war’s.“ Sein schwerer Sturz in Lahti einige Wochen

zuvor habe bei seiner Entscheidung keine Rolle gespielt, so Stjernen.

Fotocredit Getty Images



KENNETH GANGNES

NORWEGEN

248,5 METER

Am 14. Februar 2016 sprang der Norweger

Kenneth Gangnes beim Skifliegen in Vikersund

nur einen halben Meter kürzer als sein

Landsmann Andreas Stjernen und landete

bei 248,5 Metern. Gangnes beendete seine

Karriere im Alter von 29 Jahren nach

mehreren schweren Verletzungen Ende

2018. „Ich fühle eine gewisse Erleichterung,

aber gleichzeitig fällt es mir schwer, meine

Träume aufzugeben. Wenn die Beine nicht

zu 100 Prozent fit sind, macht es einfach

keinen Sinn mehr“, begründete er seine

Entscheidung. Gangnes hatte als eines der

größten Talente der Skisprung-Szene gegolten

und im Gesamtweltcup 2015/16 den

dritten Platz belegt.

Fotocredit Getty Images

KAMIL STOCH

POLEN

248,5 METER

Ein Jahr nach seinem Satz auf 251,5 Meter gelang Kamil Stoch fast noch mal die identische

Weite. Am 24. März 2018 landete der Pole beim Teamspringen in Planica bei 248,5 Metern.

In seiner Heimat ist Skispringen äußerst populär. Stoch sagt dazu: „Meiner Meinung nach

handelt es sich um einen Sport ohne Aggressionen, Gewalt gibt es nicht. Das sehen die Leute

natürlich auch. Das ist ein Grund. Hinzu kommt, dass die Zuschauer uns während der

Wettkämpfe aus der Nähe betrachten und Autogramme sammeln können. Zudem haben wir

in Polen nicht so viele Sportidole. Als damals mein Landsmann Adam Małysz seine Siegesserie

begann, waren die Leute begeistert. Sie waren stolz auf Adams Titel und Trophäen.“



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MARKUS EISENBICHLER

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Am 25. März 2017 stellte Markus Eisenbichler in Planica mit 248 Metern den aktuellen deutschen

Skisprungrekord auf. „Das ist schon etwas Besonderes für mich. Mein Vater hat mich

mal gefragt, was ich erreichen will. Da habe ich gesagt: ‚Den deutschen Rekord möchte ich

irgendwann mal haben.‘“ Der Mann aus dem bayerischen Siegsdorf trägt den Spitznamen

„Eisei“ und gewann 2019 den Weltmeistertitel im Einzel von der Großschanze. In diesem

Winter führt er das deutsche Aufgebot an. Erst zwei Jahre nach Eisenbichlers bisher weitestem

Karriere-Sprung erreichte auch Piotr Żyła die Weite von 248,0 Meter, weshalb sich der

Pole in dem Ranking mit Platz elf begnügen muss.

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Mit der Brechstange

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Fotocredit Getty Images, WWF

Skitourismus mit der Brechstange.

Mit vier Worten geben

die Naturschützer ihrem Ärger

ein Ventil. Doch nicht nur sie

schüttelten beim frühen Wintersaisonstart

im Oktober auf der

Resterhöhe unweit von Kitzbühel

ungläubig den Kopf. Auch

die mit T-Shirts bekleideten

Wanderer und Mountainbiker

blickten irritiert auf den weißen

Schneestreifen, der sich vor

ihren Augen 1,6 Kilometer lang

den Berg hinunterschlängelte.

„Die Fotos zeigen eindrücklich,

dass der Respekt vor der Natur

im Wintertourismus immer

weiter verloren geht“, kritisiert

Josef Schrank, Landschaftsökologe

vom WWF Österreich.

Weder brauche das Tirol, noch

habe Tirol das notwendig, heißt

es in einer Pressemitteilung der

Tiroler Grünen. „In Zeiten der

Klimakrise ist das nur mehr

grotesk, was die Kitzbüheler

Bergbahnen aufführen.“

Die Bergbahnen Kitzbühel sind

bereits zum fünften Mal in Folge

im Oktober in Betrieb gegangen.

In diesem Jahr bei 20 Grad. Ihr

Verständnis für den öffentlichen

Aufschrei? Nicht vorhanden.

Im Gegenteil. Sie sehen in der

Piste oberhalb von Mittersill im

Pinzgau sogar einen wirtschaftlichen

und ökologischen Nutzen.

Das Angebot sei, so äußerte sich

Bergbahnenchef Josef Burger

im ORF, eine Alternative „zum

aufwendigeren und teureren

Gletschertraining“. Was er damit

meint: Durch die vorhandene

Piste verkürzt sich der Anfahrtsweg

für Skiklubs entscheidend.

Diese müssten ansonsten zu den

österreichischen Gletschern in

deutlich höhere Lagen fahren,

was die Umwelt und das Klima

deutlich mehr belasten würde als

das weiße Band auf der Resterhöhe.

Neben dem Österreichi-

In 1.800 Metern

Höhe brodelt es. Seit

fünf Jahren startet

auf der Resterhöhe

in den Kitzbüheler

Alpen der Skibetrieb

bereits im Oktober.

Naturschützer

sehen ein groteskes

Klima-Signal, die

Bergbahnen einen

ökologischen

Nutzen.

schen trainiert auch der Deutsche

Skiverband in Kitzbühel.

Wer beim Betrachten der Fotos

sofort an Kunstschnee denkt, irrt

sich. Der Restschnee der vorigen

Wintersaison sei unter einer

Plane deponiert worden. Das sei

zudem günstiger und umweltfreundlicher

als Schneekanonen.

Die Grünen konterten: Durch

Gletscherskigebiete gebe es in

Tirol ausreichend Möglichkeiten,

schon im Herbst die Ski anzuschnallen.

„Wer hier die Augen

verschließt, der verschließt die

Augen vor der Klimakrise.“

Augenscheinlich hingegen: der

Aufmerksamkeitseffekt. Die

Region Kitzbühel bleibt Jahr für

Jahr mit einem kleinen Schneeband

groß im Gespräch.



Die schrumpfende Elite

SEBASTIAN HAHN

Fotocredit Getty Images

Wer sich für Wintersport

interessiert, der braucht vor

allem eines: Durchhaltevermögen.

Denn mehr als alle

anderen Outdoor-Sportarten

sind die Winter-Disziplinen

schonungslos den Wetterbedingungen

ausgeliefert. Zu wenig

Schnee bedeutet in der Regel

keine Wettkämpfe, zu viel

Schnee kann zu dem gleichen

Ergebnis führen. Das zeitliche

Fenster, in dem Wettkämpfe

stattfinden können, ist winzig.

Deshalb geht die Saison nur

von Oktober bis März, deshalb

müssen immer wieder Wettkämpfe

verschoben, abgesagt

oder an andere Orte verlegt

werden. Der Klimawandel hat

die Probleme des Wintersports

verstärkt. Und das zeigt sich

nicht nur, wenn es darum geht,

ob in Gröden nun eine Abfahrt

stattfinden kann oder nicht.

Der Klimawandel sorgt auch

dafür, dass der Zugang für

junge Talente zum Wintersport

immer schwieriger wird.

Ski Alpin und Skispringen sind

kein Fußball. Es reichen nicht

mal eben ein Ball und zwei

Tore aus leeren Plastikflaschen

oder Rucksäcken. Es braucht

Ski-Ausrüstung, entsprechende

Trainer und vor allem eines:

Schnee. Schon jetzt beschränkt

sich die Zahl der Top-Athleten,

die sich in den verschiedenen

Sportarten tummeln, auf Sport-

Für den Wintersport ist Europa jetzt schon

eine Bank. In Zukunft wird selbst diese

Bank durch den Klimawandel nicht mehr

sicher sein.

ler aus Nord- und Mitteleuropa

und Nordamerika. Ausnahmen

bilden in manchen Fällen Japan

und Südkorea, aber selbst

die chinesischen Anläufe, bis

zu den Winterspielen 2022

in Peking eine schlagkräftige

Mannschaft zusammenzustellen,

gestalten sich nicht

gerade erfolgsversprechend.

Chinesische Athleten laufen

überwiegend hinterher. Eine

Biathlon-Mannschaft lässt sich

eben nicht so schnell in die

Weltspitze bringen wie eine

Handball-Mannschaft, wenn in

Katar mal eben die Weltmeisterschaft

ausgespielt wird.

Durch den Klimawandel

wird auch den letzten „Exoten“

im Wintersport, die sich

etwa in Australien oder den

südamerikanischen Anden

ihre Trainingshänge suchen

müssen, eine entscheidende

Grundlage geraubt. Nicht nur

das Wettkampffenster, in dem

Wintersport stattfinden kann,

wird kleiner, sondern auch der

Bereich, in dem dieser professionell

betrieben wird. Schon jetzt

konzentriert sich viel auf Europa,

die Zahl der Absagen und

Verschiebungen, vor allem wegen

des fehlenden Schnees, häufen

sich auch dort. Abfahrten,

die links und rechts von grünen

Wiesen flankiert werden, sind

in den alpinen Disziplinen keine

Seltenheit mehr.

Durch den Klimawandel wird der

Wintersport noch mehr zu einem

Sport der Elite, der sich dadurch

unfreiwillig global von Zuschauern

und Fans entfernen wird. Wie

authentisch kann der Weltverband

FIS seine Sportarten noch

transportieren, wenn de facto nur

ein immer kleiner werdender

Bruchteil der Weltbevölkerung

überhaupt Zugang dazu hat? Wie

viele Nationen müssen ihre

Wintersportprogramme künftig

einstellen, weil sich keine

aussichtsreichen Nachwuchsklassen

für Talente mehr finden? Der

Sport ist in Sachen Klimawandel

keine Oase, in der die Probleme

der Welt mal für ein paar

Stunden vergessen werden

können. Er ist längst Teil des

Problems und dessen Konsequenzen.



mentalität – 35 –

Immer noch cool

danach tauchte Jamaikas Bobmannschaft

immer wieder auf.

In Michael Williams stellte Jamaika

lange sogar einen Skifahrer.

„Die Geschichte von den vier

Bobfahrern kennt auf Jamaika

fast jeder. Wie die Jungs den

Eiskanal runtergefahren sind, hat

mich damals sehr stolz gemacht.

Und mir gezeigt: Man kann alles

im Leben schaffen, wenn man

ganz fest an sich glaubt. Ich habe

mit Devon Harris sogar einen der

originalen Truppe kennenlernen

dürfen und mich bedankt“, sagte

Williams in einem Interview mit

SPOX.

Er hatte den Vorteil, in Kanada

geboren zu sein. Schnee und Kälte

waren ihm bekannt, er spielte

sogar Eishockey, wollte aber

mehr. Auch dass ihm sein eigens

engagierter Ski-Lehrer nach dem

ersten Trainingstag sagte, dass

Williams „keine Ahnung vom

Skifahren“ hat, warf Williams

nicht um und er schaffte es bis in

die Winterspiele.

Doch nicht jede Wintersport-Geschichte

aus Jamaika hat ein Happyend.

In PyeongChang durfte die

Welt wieder einen jamaikanischen

Bob bejubeln. Jazmine Fenlator-Victorian

und Carrie Russell

starteten für ihr Land, gerieten

aber schnell in die Schlagzeilen,

weil kurz vor den Winterspielen

2018 der Verband die deutsche

Trainerin Sandra Kiriasis

rauswarf. Kiriasis drohte damit,

den Jamaikanerinnen ihren Bob

wegzunehmen, weil sie nach eigener

Aussage dafür sorgte, dass sie

überhaupt einen hatten.

Jamaika widersprach der

Darstellung und erklärte, dass

Kiriasis, die später bei einem

TV-Dschungel mitmachte, „nur“

eine Assistenztrainerin gewesen

sei. In PyeongChang landeten die

Damen auf Platz 18, wenig später

wurde Fenlator-Victorian positiv

auf Clenbuterol getestet und

wurde wegen Dopings für ein

Jahr gesperrt. Bei Walt Disney

hätte man sicher keine Mühe, die

Geschichte zu erzählen.

FATIH DEMIRELI

Cool Runnings - Dabei sein ist alles

Wie kann man Schnee-Sport betreiben, wenn

man selbst noch nie Schnee gesehen hat?

Jamaikas Bobmannschaft von 1988 lehrte die

Welt, wie das geht. Sie fanden Nachahmer,

aber nicht alle hatten ein Happyend.

Dass sie bei Disney gute Märchen

und Geschichten erzählen

können, sollte recht bekannt sein.

Sämtliche historischen Meisterwerke

sollten als Beleg dienen.

Große Augen machte die Welt,

als die Filmemacher aus Burbank

in Kalifornien Anfang der 1980er

Jahre Cool Runnings – Dabei sein

ist alles drehten und in die Kinos

brachten. Vier Jamaikaner, die

in ihrem Leben noch nie Schnee

gesehen hatten und als Sprinter

versagten, qualifizieren sich für

die Winterspiele in Kanada – als

Bobmannschaft. Und werden trotz

Unfall (oder vielleicht auch deswegen)

zu gefeierten Helden. Es

stimmt, dass es diese Mannschaft

gab, es stimmt, dass sie 1988 in

Calgary antrat und Achtungserfolge

erzielte, aber ansonsten ist sehr

vieles frei erfunden.

Die vier Athleten waren in Wirk-

lichkeit keine Athleten, sondern

Soldaten, weil die ursprünglich

angesprochenen Sportler keine

Begeisterung für die Idee entwickeln

konnten und dankend

ablehnten. Beim Militär, das –

warum auch immer – die zweite

Station der US-amerikanischen

Initiatoren George B. Fitch und

William Maloney war, war das

schon anders. Vier Soldaten wurden

für das Projekt abkommandiert

und mussten sich fortan der

neuen Disziplin widmen.

Doch die Geschichte, ob erfunden

oder nicht, hat eine inspirierende

Wirkung. Devon Harris, einer der

vier Soldaten, die einst für das

Projekt ausgesucht wurden und

selbst großes Interesse entwickelten,

hält heute noch Reden über

damals. Er schrieb Bücher und die

„Cool Runnings“ fanden Nachahmer.

Auch in den Winterspielen

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CENTRE

COURT

S.40

KLEINER MARCUS

Wer einen weltberühmten Vater hat, empfindet dabei nicht

unbedingt Vergnügen. Bundesliga-Shooting-Star Marcus Thuram

scheint da eine löbliche Ausnahme zu sein.

S.56

GIERIG

Matthias Sammer polarisiert. Hat er schon immer.

Dabei sollte man nicht den Fehler machen, den Mann als

Besessenen abzutun, denn: Alles was er tut, geschieht aus Liebe.

S.72

STEH AUF!

Collette V. Smith wurde mehrfach vergewaltigt, dreimal versuchte sie,

sich das Leben zu nehmen. Mit 42 rauchte sie ihre letzte Zigarette, stellte ihr

Bier zur Seite – und wurde Football-Profi.

MENTALITÄT

Mentalität ist ein komplexes Ding. Wichtig ist, dass Verstand und Gefühl gemeinsam eine Rolle spielen.

Man kann sie deshalb nicht verordnen, mal eben ändern oder beliebig einpflanzen.

Sie ist kennzeichnend für Individuen und Gruppen. Und: Jeder hat eine.



– 40 – mentalität

mentalität – 41 –

„ KEINE SORGE,

ICH WEISS SCHON,

DASS ICH EXISTIERE“

Marcus Thuram ist eine der Entdeckungen der Bundesliga.

Aber er ist nicht nur ein unverschämt talentierter Stürmer, sondern auch ein geistreicher wie

charmanter und humorvoller Gesprächspartner, wie er im Gespräch mit SOCRATES zeigte.

ALI FARHAT



– 42 – mentalität

mentalität – 43 –

Marcus, Sie sind jetzt seit einigen Monaten

in Deutschland. Wo sehen Sie

die Unterschiede zu Frankreich?

Wenn man sich in Deutschland an die Regeln

hält, gibt es kein Problem. In Frankreich

ist das anders. Viele Spieler tragen ihr

Leben an die Öffentlichkeit, in die Zeitungen,

weil sich das lohnt. Es liegt mir nichts

daran, Frankreich zu kritisieren, aber so ist

es nun mal. Spieler sagen in den Medien:

„Im Ausland ist es besser als in Frankreich.“

Oder: „Im Ausland ist man professioneller.“

Ich glaube, jeder Spieler ist selbst dafür verantwortlich,

was er auf dem Spielfeld macht.

Da ist es vollkommen egal, wo er ist. Aber

ich möchte auf die Frage zurückkommen.

Sehr gern.

Die auffälligsten Unterschiede sind die

Stadien, die Stimmung und die Spielweise.

Darüber kann ich reden. Die Mentalität

„In Deutschland geht jedes

Team auf den Platz, um ein

Tor mehr als der Gegner

zu schießen. Deshalb sieht

man jede Menge offene

Spiele, viel Tempo – und

dieser Aspekt ist ein großer

Unterschied im Vergleich zu

Frankreich.“

ist auch eine andere hier. Aber was jeden

Spieler selbst angeht, das liegt in seinen

Händen. Wenn jemand Blödsinn machen

will, dann macht er das, egal ob er in

Deutschland, Frankreich oder Italien ist.

Und wie ist sie, die Mentalität im

deutschen Fußball?

Immer nach vorne. Angreifen, angreifen,

angreifen. Egal ob Bayern, Paderborn,

Hertha, Union oder Freiburg – jedes Team

geht auf den Platz, um ein Tor mehr als

der Gegner zu schießen. Deshalb sieht man

jede Menge offene Spiele, viele Kontersituationen,

viel Tempo – und dieser Aspekt

ist ein großer Unterschied im Vergleich zu

Frankreich.

Waren Sie am Anfang davon überrascht?

Ja. Ich war es gewohnt, dass man sich erst

mal abtastet, zehn bis 15 Minuten. Aber hier

geht es direkt los, ein Tor kann schon in

der ersten Minute fallen. Alle greifen sofort

an, keiner kalkuliert, was er danach in der

Defensive zu tun haben wird. Jeder greift an

und dann … schauen wir mal.

Warum eigentlich Gladbach?

Von den Teams, die mich im vergangenen

Sommer verpflichten wollten, war Gladbach

Fotocredit Getty Images, Imago

der Verein, der mich am besten kannte. Als

ich mit den Verantwortlichen sprach, fand

ich heraus, dass mich der Klub seit der U19-

EM in Griechenland beobachtet hatte. Seit

2015 haben sie alle meine Spiele geguckt

und ein sehr genaues Profil von mir erstellt.

Sie kannten mich wirklich gut und das hat

mir Vertrauen gegeben. Ich habe keine

Reise ins Unbekannte angetreten.

Sie kommen aus einer Fußballerfamilie:

Ihr Vater Lilian ist weltberühmt,

der Cousin Ihres Vaters (Yohann

Thuram, Anm. d. Red.) ist Torwart

und Ihr jüngerer Bruder (Khéphren

Thuram, Anm. d. Red.) Mittelfeldspieler.

Wie hat Sie das geprägt?

Yohann habe ich eigentlich nicht so oft getroffen,

vielleicht zwei-, dreimal in Guadeloupe,

aber ich erinnere mich nicht sehr gut

daran. Mit meinem Vater habe ich mich nie

in einer Art Konkurrenzsituation gesehen,

das trifft vielleicht eher auf meinen Bruder

zu. Ich habe mich sehr schnell in den Fußball

verliebt, weil mein Vater Spieler war.

Es gab keinen Tag, an dem ich nicht Fußball

gespielt habe.

Würden Sie sagen, dass Sie das Aufwachsen

als Fußballersohn besser auf

das Geschäft vorbereitet hat?

Ich habe das Glück, so einen Vater zu haben.

Ich habe noch nicht alles verinnerlicht,

was er mir beigebracht hat, aber es ist gut,

„Seit 2015 hat Gladbach alle

meine Spiele geguckt und

ein sehr genaues Profil von

mir erstellt. Sie kannten mich

wirklich gut und das hat mir

Vertrauen gegeben.“

dass ich mit ihm über alles sprechen konnte

und kann. Das spart eine Menge Zeit.

Inwiefern?

Das geht mit der Ernährung los. Oder ich

weiß, dass der Schlaf nach dem Spiel das

Allerwichtigste ist und ich nicht den ganzen

Tag vor dem Fernseher hängen soll. Das

sind vielleicht nur Kleinigkeiten, aber die

machen am Ende den Unterschied.

Sie telefonieren nach den Spielen

miteinander. Was bringt Ihnen das

konkret?

Das bringt mich noch weiter voran. Nach

dem Spiel sind die Bilder noch ganz frisch

und wir besprechen und beurteilen, was ich

gemacht habe. Ich gewinne echt viel Zeit.

Wie viele Spieler können schon sagen, sie

machen ein Debriefing von dieser Qualität?

Es erlaubt mir, meine Fehler sehr schnell



– 44 – mentalität

„Wenn ich ins Stadion gehe, und das Stadion ist

voll und alles ist grün – dann kann ich

nicht vergessen, wie ich als Kind im Park

gespielt habe. Ich bin beeindruckt.“

wie verhalte und wie ich mein Verhalten

verbessern kann. Es ist ein langer Prozess.

Ich rede von Jahren.

„Er war es nicht, da bin ich mir ganz sicher! Es war

eine Filmmontage! Auch er weiß, dass er es nicht

war! Nur Ihr, die Fernsehzuschauer, glaubt, dass er

die zwei Tore geschossen hat!“

zu korrigieren. Das heißt aber nicht, dass

ich beim nächsten Spiel keine Fehler mehr

mache. Aber ich höre zu, lerne und weiß,

dass ich mich verbessern werde.

Ich höre, dass Ihr Vater offensichtlich

ein guter Coach ist. Wie ist er als

Vater?

Fantastisch. Meine Mutter und er haben

uns sehr gut erzogen. Er war sehr geduldig,

er hat die Dinge immer wiederholt. Klar ist

da der Fußball, aber das Wichtigste ist, ein

guter Mensch zu sein. Wenn man ein guter

Mensch ist, ist man auch besser auf dem

Platz. Daran glaube ich.

Sie haben mal

verraten, dass

Sie sich intensiv

hinterfragen. Was

bedeutet das?

Das bedeutet tatsächlich,

dass ich mir

selbst viele Fragen

stelle und mich jeden

Tag bemühe, ein

besserer Mensch zu werden.

Um das zu erreichen,

muss man mit sich selbst im

Reinen sein. Ich versuche zu

verstehen, warum ich mich

Sie sind in Gladbach grandios eingeschlagen,

aber jeder Stürmer kommt

irgendwann einmal in eine Phase, in

der es nicht läuft. Das kennen Sie auch.

Kann man sich darauf vorbereiten?

Nein, das kann man nicht, sonst würde

die Schwächephase schon früher kommen!

(lacht) Man muss jedes Spiel nehmen, wie

es ist. Wenn man zehn Spiele lang kein

Tor geschossen hat, muss man sich auf das

elfte genauso vorbereiten, als hätte man in

den Spielen davor getroffen. Man darf sich

nichts einreden. Umgekehrt ist es genauso:

Wenn man eine Serie hat, darf man sich

nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Das

Wichtigste ist aber, gut zu spielen. Tore zu

schießen ist die Belohnung für eine gute

Leistung auf dem Platz.

Hatten Sie schon mal so eine

Hochphase?

Ich habe schon mal gut gespielt,

sonst wäre ich nicht hier.

(lacht) In der Saison zuvor

für Guingamp war ich in der

Hinrunde schon auf einem

ganz guten Niveau. Auch in

der Coupe Gambardella, das

ist ein Pokalwettbewerb

für Jugendmannschaften

in Frankreich, war ich

schon mal ganz gut. Es ist

allerdings das erste Mal in meiner

Karriere, dass ich in einer so

guten Mannschaft spiele.

Die beiden Tore Ihres

Vaters Lilian im

Fotocredit Imago



– 46 – mentalität

mentalität – 47 –

Fotocredit Getty Images

„Rose weiß genau, es gibt Momente, in denen wir Spaß haben

können und andere, in denen wir Ernst machen müssen.

Er kann das sehr gut und ich schätze diese Art an ihm sehr.“

WM-Halbfinale 1998 gegen Kroatien

sind zwei der besten Beispiele für Siegermentalität

im französischen Sport.

Wie gehen Sie damit in der Familie um?

Wenn ich mit ihm darüber spreche, dann

immer, um mich über ihn lustig zu machen.

Oder er macht sich selbst lustig darüber. Er

war ein großer Fußballer, was seine mentale

Stärke angeht vielleicht einer der besten

aller Zeiten. Technisch gesehen ist das aber

eine andere Geschichte. (lacht)

Man muss dazusagen: Ihr Vater war

Verteidiger und hat in 140 Länderspielen

genau zwei Tore geschossen

– und diese beiden ausgerechnet zum

2:1 im WM-Halbfinale. Wie finden

Sie persönlich diese beiden Treffer?

Sehen Sie Lilian Thuram, den Fußballstar

oder Ihren Vater?

Ich sehe ganz jemand anderen! Er war es

nicht, da bin ich mir ganz sicher! Es war

eine Filmmontage! Auch er weiß, dass er es

nicht war! Nur Ihr, die Fernsehzuschauer,

glaubt, dass er die zwei Tore geschossen

hat! Er war es nicht.

Okay, wieder was gelernt. Stört es Sie,

dass Ihr Vater viel Raum einnimmt?

Nein, überhaupt nicht. Ich weiß seit meiner

Kindheit: Ich bin ich und er ist er. Ich habe

aber Glück, dass ich kein Verteidiger bin,

denn dann hätte man mich noch mehr mit

ihm verglichen und es wäre vielleicht härter

gewesen. Die Leute, die mich auf „den Sohn

von Lilian Thuram“ reduzieren, sind die

Journalisten. Die Kollegen und die Trainer

wissen, dass es zwei verschiedene Personen

gibt. Außerdem habe ich nicht das gleiche

Temperament wie mein Vater. Mehr kann ich

nicht sagen. (lacht) Es ist schon vorgekommen,

dass ich in einem Interview 15 Fragen zu

meinem Vater gestellt bekam und nur sechs

zu mir selbst. Ich finde das aber legitim.

Wenn Dein Vater Weltmeister wäre, hätte

ich auch was zu ihm gefragt. (lacht)

Es stört Sie wirklich nicht?

Nein. Er ist mein Vater. Ich bin stolz,

sein Sohn zu sein. Soll ich etwa

eifersüchtig sein? Das wäre doch

verrückt!

Verstanden. Aber Sie könnten

es ja manchmal satthaben

und einfach mal sagen: „Hey,

mich gibt es auch noch!“

Machen Sie sich keine Sorgen:

Ich weiß schon, dass ich

existiere. Ein bisschen zu viel,

manchmal. (lacht)

Sie scheinen ein gutes Verhältnis

zu Marco Rose zu

haben. Warum?

Er ist ein Trainer, der gut trennen

kann. Abseits des Platzes macht er

zwei, drei Scherze mit dir und nur we-

„Ich bin stolz, Lilian

Thurams Sohn zu

sein. Soll ich etwa

eifersüchtig sein?

Das wäre doch

verrückt! Ich weiß

schon, dass ich auch

existiere.“

nige Minuten später auf dem Feld brüllt er

dich zusammen, wie es noch niemand zuvor

getan hat. Er weiß genau, es gibt Momente,

in denen wir Spaß haben

können und andere,

in denen wir Ernst

machen müssen. Er

kann das sehr gut

und ich schätze diese

Art an ihm sehr.

Was haben Sie

noch hier gelernt?

Die deutsche Sprache.

(lacht)

Und

fußballerisch?

Ich versuche, jeden Tag Fortschritte

zu machen. Als Spieler und

als Mensch. Ich kann kein konkretes

Beispiel nennen, ich weiß aber, dass ich

nicht mehr der Spieler bin, der ich noch vor

ein paar Monaten war. Ich würde sagen, ich

verhalte mich besser auf dem Platz. Aber

konkret benennen kann ich das nicht.

Würden Sie französischen Spielern

raten, hierher zu kommen?

Das kann man nicht pauschal sagen. Es

hängt von jedem einzelnen Charakter ab

und davon, was der Spieler will. Es ist doch

alles sehr komplex. Fußballer sind komplex,

Menschen sind komplex. Für einige wäre

es sicher schwer, weil die Spielweise in

Deutschland sehr besonders ist. Für andere

wäre es das nicht.

Ganz was anderes: Was können Sie

uns über „Tikus“ erzählen?

(lacht) Das ist mein echter Name. Ich werde

ihn in meinen Pass eintragen lassen. Tikus

ist besser als Marcus.

Tikus setzt sich zusammen aus dem

Adjektiv „petit“ und Ihrem Vornamen,

soll also kleiner Marcus oder Markus

heißen. Dabei sind Sie gar nicht klein,

sondern knapp einsneunzig?

Das war mein Spitzname als Kind und er ist

es bis heute geblieben. Ich glaube, es ist ein

guter Spitzname, weil jeder Erwachsene

einen Teil seiner Kindheit behalten sollte.

Nicht zu viel, sonst ergibt das gefährliche

Erwachsene. (lacht) Dann kommen da Peter

Pans raus. (lacht weiter) Wenn ich ins

Stadion gehe, und es ist ein Europa-

League-Spiel, das Stadion ist voll und alles

ist grün – dann kann ich nicht vergessen, wie

ich als Kind im Park gespielt haben. Ich bin

beeindruckt. Wenn ein Spieler davon nicht

beeindruckt ist, heißt das, er hat diesen Teil

vergessen. Man darf nicht vergessen, warum

man Fußball spielt. Als Kinder träumen wir

alle davon, in einem Stadion mit 50.000

Zuschauern aufzulaufen. Das darf man

einfach nicht vergessen.



„ ICH HATTE EIN GANZ

NORMALES LEBEN“

Andy Murray wollte den Schläger 2019 eigentlich an den Nagel hängen,

kam dann aber nach heikler OP und langer Pause zurück. Jetzt will er genießen

und einfach sehen, wie weit ihn seine Hüfte aus Metall noch trägt.

ALEXIS MENUGE



– 50 – mentalität

mentalität – 51 –

Andy, wenn wir auf das vergangene

Jahr zurückblicken, kann man sagen,

dass Sie unerwartet wiedergeboren

wurden?

In gewisser Weise kann man das tatsächlich.

Ich hätte es jedenfalls nicht für

möglich gehalten, so schnell wieder auf der

Tour Fuß zu fassen und von Turnier zu

Turnier schauen zu können, ohne einen

Rückschlag hinnehmen zu müssen.

Man kann nicht gerade behaupten,

dass Sie vom Glück

verfolgt würden, oder?

Das ist leider Fakt. Vor meiner letzten

Hüft-Operation hatte ich mich

ja bereits einer Leisten-OP unterzogen,

es gab diesen ersten Eingriff an

der Hüfte und immer wieder Spritzen,

so dass ich trotz Schmerzen in der

Lage war zu spielen, was im Nachhinein

betrachtet aber nicht wirklich

funktioniert hat. Die zweite Hüft-OP hat

deutlich mehr geholfen und schließlich

waren die Schmerzen völlig verschwunden.

Und heute bewege ich mich deutlich besser

als vor dem letzten Eingriff.

Dieser Eingriff fand am 28. Januar

2019 statt – und es

war völlig unklar,

was danach

„Meine größte Hoffnung

und tiefste innere

Überzeugung war, dass

der Eingriff gut ausgehen

würde. Aber ganz ehrlich:

Als ich auf dem OP-Tisch

lag, dachte ich keine

Sekunde an

Tennis.“

sein würde. Wie fühlten Sie sich, als

die OP unmittelbar bevorstand?

Ich war sehr nervös, weil ich ja nicht

wusste, wie ich den Eingriff überstehen

und ob es womöglich Komplikationen

geben würde. Meine größte

Hoffnung und tiefste innere Überzeugung

war jedoch, dass es gut ausgehen

würde. Es war einfach höchste Zeit,

endlich diese Schmerzen loszuwerden.

Ich wollte einfach aufwachen und spüren,

dass es mir besser geht. Und ganz ehrlich:

Als ich auf dem OP-Tisch lag, dachte ich

keine Sekunde an Tennis.

Wussten Sie genau, was auf Sie

zukommt?

Ich hatte ein Video gesehen, das den Ablauf

der OP simulierte. Die Situation war eine

völlig andere als bei meinem Rücken-Eingriff

und sogar völlig anders als bei meiner

ersten Hüft-OP ein Jahr zuvor. Das war ein

sehr komplizierter Eingriff und dessen war

ich mir vollkommen bewusst.

Ihnen wurde ein künstliches Gelenk

eingepflanzt. Welche Risiken gab es?

Es bestand ganz einfach die Gefahr, dass

ich den Eingriff nicht gut verkraften könnte

und niemals wieder einen Tennisschläger

vernünftig in der Hand halten

könnte. Es gab keine

Fotocredit Getty Images

Garantie. Das konnte ich in der Simulation

gut sehen. Nichtsdestotrotz wollte ich das

Risiko eingehen.

Gut zwei Wochen zuvor schieden Sie

in der ersten Runde der Australian

Open nach hartem Kampf aus. Das

Publikum feierte Sie, als hätten Sie

den Titel gewonnen. Wäre das nicht

ein guter Zeitpunkt gewesen, ganz

aufzuhören?

Kurz nach dem Spiel ließ ich meine Familie

und Freunde wissen, dass ich mit mir im

Reinen sei. Wenn es tatsächlich das letzte

Match meiner Karriere gewesen wäre, wäre

es in Ordnung gewesen. Wenn man völlig

gesund ist, kann man leichter entscheiden,

welches Turnier das letzte sein soll.

Ich wollte damals gerne in Wimbledon

Abschied feiern und machte damals die

entsprechende Ankündigung.

„Kurz nach dem Bautista-

Agut-Spiel ließ ich meine

Familie und Freunde wissen,

dass ich mit mir im Reinen

sei. Wenn es tatsächlich das

letzte Match meiner Karriere

gewesen wäre, wäre es in

Ordnung gewesen.“

Nach der OP vergingen fünf Monate

bis zu Ihrem Comeback. Was haben

Sie in dieser Zeit gelernt?

Dass Tennis nicht alles ist. Ich kann auch

ohne Tennis glücklich sein. Das war mir

vor der Operation gar nicht so bewusst

gewesen. Davor ging es immer nur um Tennis

und darum, wie ich möglichst schnell

wieder fit werden und auf die Tour zurückkehren

könne. Während ich mich nun von

der OP erholte, verbrachte ich viel mehr

Zeit mit meinen Kindern als zuvor. Das war

wunderbar. Ich liebe es immer noch, auf

dem Tennisplatz zu stehen, doch wenn ich

in ein paar Monaten oder auch erst in drei

Jahren endgültig aufhöre, werde ich ein

glücklicher Mann sein.

Was haben Sie sonst noch so gemacht?

Ich war oft mit meinen Hunden spazieren,

ging mit meiner Frau ins Restaurant, habe

Golf gespielt und Arsenal beim Verlieren

zugeschaut. (lacht) Ich hatte ein ganz normales

Leben. Es war herrlich.

Wenn Sie sagen, dass Sie auch ohne

Tennis glücklich sind, warum haben

Sie sich das Comeback dann überhaupt

angetan?

Weil ich Tennis immer noch liebe. Ich liebe

es, gegen den Ball zu schlagen. Das tue ich



A N O N I M O U S C Y C L E S

C

M

so gut wie jeden Tag, seit ich vier Jahre

alt bin. Als ich das Gefühl hatte, dass ich

es wieder versuchen könnte, musste ich es

auch unbedingt tun. Vor der OP war ich

unglücklich auf dem Platz geworden, ich

hatte keinen Spaß mehr, weil die Schmerzen

einfach unerträglich wurden. Aus dieser

schweren Zeit habe ich auch gelernt, dass

Tennis zu spielen nicht nur gewinnen oder

verlieren bedeutet, sondern dass es eben

auch andere Sachen im Leben gibt.

Ihre Spielweise seit der Rückkehr ist

nicht so aggressiv wie zuvor. Wann

sehen wir den alten Andy Murray

wieder?

Das wird mit der Zeit kommen. Es kann

nicht von heute auf morgen wieder alles

so sein wie immer. Ich spiele jetzt deutlich

geduldiger und taste mich langsam, aber

sicher an mein altes Niveau heran.

Welche Ziele haben Sie sich für die

nähere Zukunft gesteckt?

In meinem Zustand will ich erst mal abwarten,

wie ich mich entwickle, was für mich

realistisch gesehen möglich ist, um dann

im zweiten Schritt über konkrete Ziele zu

sprechen. Momentan bin ich einfach happy,

mithalten zu können und keine Schmerzen

zu haben. Wichtig ist schon mal, dass ich

ehrgeizig und motiviert bin. Ich weiß aber,

dass ich nicht mehr mit der neuen Generation

mithalten kann, was das Fitness-Level

angeht. Da muss man einfach realistisch

sein. Ich muss diesen Nachteil mit meiner

Technik und Erfahrung ausgleichen. Ich

bin jedenfalls sehr gespannt, wie weit mich

meine nagelneue Hüfte tragen wird. Wenn

„Ich weiß, dass ich nicht mehr

mit der neuen Generation

mithalten kann, was das

Fitness-Level angeht. Ich

muss diesen Nachteil mit

meiner Technik und Erfahrung

ausgleichen.“

alles passt, will ich den Besten das Leben

schwer machen, das auf jeden Fall.

Sie haben zwei olympische Goldmedaillen

gewonnen, zweimal in Wimbledon

triumphiert und waren die Nr. 1

der Welt. Was war und ist das Größte

in Ihren Augen?

Meine Antwort wird Sie womöglich überraschen,

aber es ist noch gar nicht so lange

her: Feliciano López und ich haben die

Doppelkonkurrenz in Queen’s gewonnen,

ich mit meiner Hüfte aus Metall. Es ist total

verrückt, weil wir das erste Mal zusammengespielt

haben. In der ersten Runde

bezwangen wir sogar die topgesetzten Juan

Sebastián Cabal und Robert Farah. Dieser

Triumph war für mich emotionaler als so

mancher Einzeltitel. Ursprünglich wollte

ich gar nicht Doppel spielen, aber um den

Rhythmus Schritt für Schritt wieder zu finden,

war es die perfekte Ergänzung. Doppel

ist nicht so kraftraubend, dafür muss man

hellwach sein und gute Reflexe haben.

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Fotocredit Getty Images

A N O N I M O U S . C H



– 54 – mentalität

„Ich liebe Tennis immer noch. Als ich das Gefühl

hatte, dass ich es wieder versuchen könnte,

musste ich es auch unbedingt tun.“

Stimmt es, dass Ihnen José Mourinho

daraufhin gratuliert hat?

Das ist wahr. Er kam zu mir und hat mich

beglückwünscht. Er liebt Tennis und wir

unterhielten uns ein paar Minuten. Es war

nicht unsere erste Begegnung. Damals

wollte ich von ihm wissen, ob er der nächste

Trainer von Arsenal wird, aber er ist meiner

Frage geschickt ausgewichen. (lacht)

Sie haben viel gewonnen, es hätte

aber noch viel, viel mehr sein können.

Wünschen Sie sich manchmal, Federer,

Nadal und Djoković wären nicht

in der gleichen Epoche wie Sie aktiv?

Eigentlich nicht, weil wir uns viele Jahre

gegenseitig gepusht haben. Ich weiß nicht,

ob ich ohne diese Konkurrenten dieses Level

erreicht hätte. Diese Duelle waren und sind

unglaublich spannend – und ich bin mir

nicht sicher, ob Tennis schon mal dermaßen

attraktiv und qualitativ hochwertig war.

Gibt es so etwas wie die bitterste

Niederlage in Ihrer Karriere?

Da gibt es einige, aber nennen würde ich

die French Open 2014, als mir Rafa Nadal

eine Lehrstunde erteilte, 3:6, 2:6, 1:6.

Das hat richtig wehgetan, weil alle meine

Versuche scheiterten. Aber ich war auch

einfach chancenlos. Nadal war auf diesem

Belag unschlagbar. Er hat zwölfmal in Paris

gewonnen, das ist schlichtweg unglaublich.

Was denken Sie über die neue

Generation?

Es ist nicht einfach für sie, sich ganz

oben durchzusetzen, weil Federer, Djoko

und Rafa kaum schwächeln und die

Grand-Slam-Turniere immer noch unter

sich ausmachen. Stefanos Tsitsipas,

Alex Zverev, Dominic Thiem und vor

allem Daniil Medwedew bringen immer

wieder Top-Leistungen. Vielleicht

sorgt ja Medwedew für das Ende der

Ära Federer-Djoković-Nadal, indem er

ein Grand-Slam-Turnier gewinnt.

Nehmen Sie die Tour eigentlich

jetzt mit anderen Augen wahr?

Absolut. Ich werde mich mehr für

die Städte interessieren, mir ihre

Sehenswürdigkeiten ansehen. Tennisprofis

sind oft an den schönsten

Orten der Welt. Ich will nicht

mehr nur spielen, trainieren und

Room-Service machen.

Wie wird Ihr Leben nach dem

Tennis aussehen?

Durch meine lange Abwesenheit

sind mir verschiedene Sachen

klar geworden. Das Thema

Gleichberechtigung interessiert

mich, wie etwa die Rolle der Frau

im Profisport. Damit möchte ich mich

beschäftigen und mich einbringen.

„Jetzt werde ich mich

mehr für die Städte

interessieren, mir ihre

Sehenswürdigkeiten

ansehen. Ich will nicht

mehr nur spielen,

trainieren und Room-

Service machen.“



mentalität – 57 –

WEIL ER ES FÜHLT

Matthias Sammer hat im Fußball als Spieler, Trainer und Funktionär nahezu alles gewonnen.

Weil er bis heute den höchsten Anspruch an sich selbst und seine Umgebung hat.

Und im Laufe seiner Karriere eine leidenschaftliche Liebesbeziehung zum Spiel aufbaute,

die nicht jeder verstehen, aber jeder bewundern kann.

FELIX SEIDEL



– 58 – mentalität

mentalität – 59 –

„Ich weiß nicht,

ob Leidenschaft im

Sport entstehen

kann ohne Liebe.

Es ist für mich

unmöglich. Sie

müssen etwas

empfinden,

sich dabei

wiedererkennen

und wohlfühlen.“

Matthias Sammer

Er nervt. Den Verband. Die Klubs. Die

Fans. Sogar sich selbst. Weil er das

Spiel zu sehr liebt.

Was Matthias Sammer antreibt, ist nur für

diejenigen wirklich zu verstehen, die sich

mit vollem Herzen dem Fußball und seinen

Akteuren hingeben. Hingabe als Hürde. Wer

diese nicht überspringen kann, wird mit dem

52-Jährigen nur schwer auf Augenhöhe diskutieren

können.

„Ich weiß nicht, ob Leidenschaft im Sport

entstehen kann ohne Liebe. Es ist für mich

unmöglich. Sie müssen etwas empfinden,

sich dabei wiedererkennen und wohlfühlen.

Ich rede nicht davon, dass es auf diesem Weg

steinig ist, dass Verletzungen oder Formtiefs

dazugehören. Dass man möglicherweise auch

medial mal kritisiert wird. Man muss ein Gefühl

dafür entwickeln, dass das, was man tut,

auch seins ist und dass man nicht von anderen

immer irgendwo hingetrieben ist“, sagt Sam-

mer, als er für einen Vortrag zum Thema Spitzenwege

befragt wird.

Sammer übersprang die Hürde bereits als Junge

in Dresden. Sein Vater Klaus war DDR-Nationalspieler

und hatte seinen Sohn zum Fußball

geführt. Als der Junior gerade mal fünf Jahre

alt war, meldete der Senior ihn bei Dynamo

Dresden an, wo Matthias Sammer der Jüngste

war und sich sofort mit Sieben- und Achtjährigen

messen musste. Mit 14 Jahren schoss er

unglaubliche 260 Tore in einer Spielzeit. Mit

17 Jahren debütierte er in der von Papa Klaus

trainierten Oberliga-Mannschaft von Dynamo,

führte die U18 der DDR zum EM-Titel und feierte

mit gerade erst 19 Jahren seine Premiere in

der DDR-Nationalmannschaft.

Sammer spürte das, was er heute anderen

versucht, mit auf den Weg zu geben: „Passion

zu empfinden und dann auch zu sich selbst zu

sagen: ‚Also, wenn ich es liebe und wenn ich es

schon tue, dann lass es mich so tun, dass ich

all das gebe, was in mir steckt.‘“

Sammer bewegte sich früh im Spitzenbereich,

den er heute als „Grenzbereich“ tituliert. „Sicherlich

wird man da auch mal als ein bisschen

verrückt hingestellt: Wie kann man das nur

tun? Wie kann man so viel trainieren? Wie

kann man auch mental so eine Bereitschaft

entwickeln? Aber davon darf man sich nicht

verrückt machen lassen. Aus dieser Situation

heraus – wenn man es anfängt zu spüren –

entsteht ein Gedanke, dann auch alles erreichen

zu wollen, alles gewinnen zu wollen.“

Sein geistiger Antrieb war stets außergewöhnlich

und Grundlage seines außergewöhnlichen

Werdegangs. „Der mentale Rahmen ist der

entscheidende Punkt, um für sich im Lauf der

Entwicklung zu spüren und zu fühlen, unter

welchen Voraussetzungen bin ich in der Lage,

Top-Leistungen zu bringen. Da gehört in

meinen Augen mehr dazu als das vorgegebene

Training eines Trainers – egal ob Einzelsport-

Fotocredit Getty Images, Imago

art oder in einer Mannschaftssportart wie

Fußball. Darüber hinaus zu fühlen: Ist das für

mich ausreichend? Ist das für mich nicht ausreichend?

Die Rahmenbedingungen sind wichtige

Faktoren, die aber vorher abgeholt werden

von dem eigenen Gefühl, was ich tun muss,

um mich wirklich stark zu fühlen. Sowohl

körperlich als auch geistig. Das ist für mich die

absolute Stärke.“

Sammer ist sich bewusst, dass einige Leute –

selbst im Profifußball – auf seine Ansichten

und Aussagen mit Kopfschütteln reagieren oder

sie abtun. Doch Sammer spricht nicht, um von

allen gemocht zu werden. Er spricht, wenn

er es denn öffentlich tut, der Liebe zum

Fußball wegen. Und weil er aufgrund

ausbleibender großer Titel der deutschen

Nationalmannschaft und Klubs

antreiben und aufwecken will. So, wie

er es schon als Spieler gemacht hat. Er

wählt seine Worte stets mit Bedacht,

auch die unbequemen.

„Wenn wir im Spitzenbereich sind und wir

sind an der Schwelle zur ‚Eins‘ oder zum ‚Sehr

gut‘ oder zum Titel, ist das entstanden aus der

Leidenschaft. Aber es dann wirklich umzusetzen,

ist am Ende die Gier, die Verrücktheit,

auch ein bisschen die Unberechenbarkeit des

Während Gier eher negativ

wahrgenommen wird,

begreift Sammer den Begriff

im Fußballjargon positiv.

Für ihn ist Gier die gesteigerte

Form der Leidenschaft, die

auf dem höchsten Level den

entscheidenden Unterschied

ausmachen kann.

Täglichen. Um Sachen aus sich herauszuholen,

die man rational gar nicht nachvollziehen

kann. Und dann sind wir bei den letzten paar

Prozent. Diese entstehen aus der Gier – aufbauend

auf der Leidenschaft, Außergewöhnliches

zu erreichen“, sagt Sammer.

Während Gier in der Finanzwelt eher negativ

wahrgenommen wird, begreift Sammer den

Begriff im Fußballjargon positiv. Für ihn ist

Gier die gesteigerte Form der Leidenschaft, die

auf dem höchsten Level den entscheidenden

Unterschied ausmachen kann.

Diese Gier, so nimmt es Sammer wahr, ist in

Deutschland in den vergangenen Jahren ein

wenig abhandengekommen. Ihn selbst trieb

sie in den 1990er Jahren zu nahezu allen

wichtigen Titel im europäischen Fußball. Er

war Champions-League-Sieger und Weltpokalsieger

mit Borussia Dortmund. Dreimal

wurde er Deutscher Meister. 1996 holte er mit

der deutschen Nationalmannschaft zudem den

Europameister-Titel. Seine außergewöhnlichen

Leistungen

waren ausschlaggebend

dafür, dass er im gleichen

Jahr zum Europäischen

Fußballer

des Jahres gewählt

wurde. Sammer ist

damit seit 1956 neben

Franz Beckenbauer, Fabio

Cannavaro und Virgil

van Dijk einer von bislang

nur vier Abwehrspielerin, die

diese Auszeichnung erhielten.

Es gibt Spieler, die sich nach einer

Karriere voller Erfolge aus dem

Fußballgeschäft zurückziehen. Das

Spiel das Spiel sein lassen. Und es

gibt Sammer.

Weil eine Infektion im Knie ihn eher

als geplant als Spieler zum Aufhören

zwang, erwarb er beim DFB die Fußball-Lehrer-Lizenz

und stellte sich

im Jahr 2000 der Aufgabe, Borussia



– 60 – mentalität

mentalität

– 61 –

Dortmund als Trainer zu Titeln zu führen. In

seiner ersten Saison erreichte der BVB den

dritten Platz und qualifizierte sich für die

Champions League. Ein Jahr später, im Jahr

2002, stand Sammer dann wieder ganz oben

– er hatte die Borussia zum Meister gemacht.

Und sich selbst, mit 34 Jahren, zum jüngsten

Meistertrainer der Bundesligageschichte.

Schon damals zog sich Sammer beim Jubel

der Mannschaft zurück: „Ich freue mich

innerlich. Es ist nicht mein Ding, wie ein

Hampelmann herumzuspringen.“ Eine Eigenschaft,

die später auch beim DFB als

Sportdirektor sowie beim FC Bayern in seiner

Funktion als Sportvorstand zu beobachten

war. Selbst als die Münchner die Champions

League und den Weltpokal gewannen, blieb

Sammer im Hintergrund. Trophäen gehören

Matthias Sammer

und sein Ballon

d’Or (1996)

in seiner Wahrnehmung immer dem Team.

Demut im Handeln ist eine Prämisse Sammers,

die er stets vorlebt. Und die er bei den

größten Akteuren des Fußballs schon in der

Vergangenheit bewunderte. „Wenn Sie sehen,

wie 1954 nach dem Finalsieg gegen Ungarn

der WM-Pokal an Fritz Walter überreicht wird

und er sich unwohl fühlt, weil er den Pokal

nicht alleine in die Höhe recken will. Auch

Sepp Herberger nicht. Es waren die beiden

wichtigsten Protagonisten – und beide wollen

den Pokal nicht haben! Der Geist, Weltmeister

zu sein, reichte ihnen. Sie wollten persönlich

gar nicht im Mittelpunkt stehen. Sowas

müssen wir auch beim FC Bayern haben“,

forderte Sammer 2012 bei einem Medientag in

München wenige Wochen, nachdem er seinen

Wer seine Denkweise

versteht, begreift,

warum Sammer die

Zusammensetzung der

Mannschaft so immens

wichtig ist. Gleichförmigkeit

ist für Sammer im Fußball

ein Graus.

neuen Posten beim Rekordmeister übernommen

hatte.

Was Sammer hingegen erst lernen musste, war

Demut gegenüber den eigenen Kräften. Als er

im April 2016 eine leichte Durchblutungsstörung

erlitt, fand ein Umdenken statt. Sammer

entschied sich, nicht mehr mit der Intensität

wie all die Jahrzehnte zuvor zu arbeiten, stattdessen

mehr Zeit mit der Familie zu verbringen.

Sein Rückzug beim FC Bayern im Sommer

2016 war die logische Konsequenz. Den Rückzug

vom Fußball bedeutete die Entscheidung

jedoch keineswegs. Gedanklich hat Sammer

nichts an Intensität verloren.

Wenn er bei einem seiner wenigen Vorträge

in der freien Wirtschaft nun über Führung

spricht, weist er vor allem auf die Struktur eines

Teams hin – es brauche Leader wie Manuel

Neuer, Bastian Schweinsteiger oder Philipp

Lahm, Teamplayer wie Javi Martínez, Jérôme

Boateng oder David Alaba, aber eben auch

Individualisten wie Franck Ribéry und Arjen

Robben. „Franck kann mit seiner Kreativität

Spiele entscheiden. Aber gib ihm die Führung

Fotocredit Getty Images, Imago

Sammer spricht nicht, um von allen gemocht zu werden.

Er spricht, wenn er es denn öffentlich tut, der Liebe zum

Fußball wegen.

und es geht in die Hose“, sagte Sammer einst.

Wer seine Denkweise versteht, begreift, warum

Sammer die Zusammensetzung der Mannschaft

so immens wichtig ist. Es ist einer der

zentralen Punkte, auf die Sammer auch in

seiner aktuellen Funktion als externer Berater

von Borussia Dortmund immer wieder zu sprechen

kommt. Gleichförmigkeit ist für Sammer

im Fußball ein Graus. „Wenn man es auf den

Punkt bringen will, dann gehören Egoismen

für den Teamgedanken eigentlich nicht dazu.

Außer wenn der einzelne für sich auf seiner

Position sagt: ‚Ich will gut sein, ich will der

Beste sein, dann profitiert über diese Individualität

auch die Mannschaft davon.‘“

Beim BVB hatte man früh wahrgenommen,

dass Sammers Rolle beim FC Bayern dominanter

und wichtiger war, als es öffentlich den

Anschein gemacht hatte. „Ich habe von mehreren

Spielern gehört, welche Bedeutung Matthias

für das Mannschaftsgefüge hatte. Als

seine Bayern-Zeit zu Ende ging, wir älter und

reifer und vernünftiger wurden, haben wir uns

sukzessive angenähert“, sagte Geschäftsführer

Hans-Joachim Watzke 2018 im Zuge der Verständigung

über die Zusammenarbeit. „Wir

benötigen einen wie Matthias Sammer. Seine

Analyse-Fähigkeit, seine Leidenschaft, seine

Identifikation, seinen klaren Blick von außen.“

Sammer sei beim BVB der richtige Chefbaumeister,

urteilte Fußballexperte Marcel Reif

im vergangenen September. Ob dieser das Lob

überhaupt vernommen hat, ist jedoch zweifelhaft.

Sammer lässt sich medial nicht treiben

und erst recht nicht vereinnahmen, weshalb er

im Sommer auch sein Aus als Eurosport-Experte

verkündete.

Ihm missfällt, dass viele angebliche Insider im

Fußball öffentlich Meinungen in die Welt setzen,

ohne Hintergründe und Zusammenhänge zu

kennen. „Viele sind Plauderer“, meint Sammer.

Wieder so ein Sammer-Satz, der nervt. Aber

verkneifen kann er ihn sich nicht. Dafür liebt

er den Fußball zu sehr.



„DAS FEUER IN MIR“

Wie man eine Mannschaft anführt, lernte Werder Bremens Niklas Moisander von keinem Geringeren als

Finnlands Fußball-Legende Sami Hyypiä. Der 34-jährige Abwehrspieler über Vorbildfunktionen und die

Gemeinsamkeiten von Louis van Gaal und Florian Kohfeldt.

ALEX RAACK

Niklas Moisander, in dieser Saison hatten

Sie einige Verletzungen. Kann man als

Kapitän auch dann seiner Mannschaft helfen,

wenn man nicht auf dem Platz steht?

Das ist in der Tat schwierig. Als Spielführer ist

es wichtig, nah an der Mannschaft zu sein. Aber

das ist während einer Verletzungspause schon

allein deshalb ein Problem, weil sich Reha- und

Trainingszeiten überschneiden. Trotzdem versuche

ich, so viel Zeit wie möglich mit meiner

Mannschaft zu verbringen, bin vor den Spielen

in der Kabine oder versuche nach Trainingsschluss

Einfluss auf die Jungs zu nehmen, wenn

ich glaube, dass sie meine Hilfe benötigen.

Aber ein Kapitän gehört eigentlich auf den

Rasen, ganz klar.

Wie schaffen Sie es, sich in so

einer Phase nicht entmutigen

zu lassen?

Verletzungen gehören zu einer

Karriere als Profifußballer

genauso dazu wie Siege,

Niederlagen oder Interviews.

Meine Einstellung war schon

immer: Wenn ich mal ausfalle,

will ich noch stärker zurückkommen.

Physisch und psychisch. Außerdem

kann man in einer Reha ja auch alle anderen

kleineren Wehwehchen behandeln, die

man sonst im Alltag von Spieltag zu Spieltag

schleppt. So eine Zwangspause ist also auch eine

Art „Resetknopf“.

Was zeichnet einen guten Kapitän aus?

Auf Englisch würde man sagen: leading by

example! Immer vorneweg gehen. Seriös sein.

Nie die Kontrolle verlieren. Jeden Tag mit einer

absolut professionellen Einstellung beim Training

auftauchen. Jedes Spiel gewinnen wollen. Und

natürlich immer ein Auge für seine Mitspieler

haben. Ich hatte mit Sami Hyypiä (dem ehemaligen

Liverpool- und Leverkusen-Spieler, 105

Länderspiele für Finnland, Anm. d. Red.) in dieser

Hinsicht ein großartiges Vorbild, als Kapitän der

Nationalmannschaft hat er all das vorgelebt.

Gibt es etwas, dass Sie sich speziell

bei ihm abgeschaut haben?

Sami hat nicht viel gesprochen auf

„Sami musste nicht

groß rumschreien, um

Autorität zu haben. Aber

wenn er dann etwas sagte,

hatte das richtig Inhalt und

jeder hat ihm automatisch

zugehört. Ich hoffe, mir gelingt

das ähnlich gut.“

dem Platz oder in der Kabine, er musste nicht

groß rumschreien, um Autorität zu haben. Aber

wenn er dann etwas sagte, hatte das richtig Inhalt

und jeder hat ihm automatisch zugehört. Ich

hoffe, mir gelingt das ähnlich gut.

Sie sind jetzt 34 Jahre alt und befinden

sich in der 18. Profi-Saison Ihrer Karriere.

Welche Erfahrungen können Sie an die

jungen Kollegen weitergeben?

Natürlich eine ganze Menge, aber der wichtigste

Punkt ist sicherlich der, dass es im Leben gute und

schlechte Zeiten gibt. Und dass sich gerade in den

schlechten Zeiten zeigt, ob ein Leistungssportler

die richtige Mentalität hat, um diese Situationen

nicht nur zu überstehen, sondern gestärkt aus

ihnen hervorzukommen.

In welchen Phasen Ihrer Laufbahn mussten

Sie diese besondere Mentalität an den

Tag legen?

Als Jugendlicher galt ich als großes Abwehrtalent

und schaffte es tatsächlich in die berühmte

Ajax-Schule. Leider ließ der Durchbruch in der

ersten Mannschaft auf sich warten, ich spielte zunächst

für die Ajax-Amateure und wechselte 2006

zum FC Zwolle in die zweite niederländische Liga.

Das war hart. Bis dahin hatte ich immer meine

Familie um mich herum, mein Zwillingsbruder

Henrik ist Torwart, er spielte auch bei Ajax. In

Fotocredit Getty Images



– 64 – mentalität

WENN ANDERE

FASTEN...

Zwolle war ich erstmals komplett auf mich allein

gestellt, ohne Familie, ohne Freunde. Das war

hart. Damals nahm ich mir vor: Du arbeitest jetzt

so intensiv wie noch nie in deinem Leben und

wirst so gut, dass sie bei Ajax und in der Nationalmannschaft

gar nicht mehr an dir vorbeikommen.

Von da an hatte ich das Feuer in mir.

...SCHMEISSEN WIR SCHON MAL DEN GRILL AN.

MIT RIB EYE, RIPPE, WILDSCHWEIN UND MEHR.

2012 wechselten Sie tatsächlich zurück

zu Ajax. Vorher waren Sie allerdings

vier Jahre bei AZ Alkmaar unter Vertrag.

Ihr Trainer dort: Louis van Gaal.

Wenn man seinen Namen gemeinsam

mit dem Wort „Mentalität“ googelt,

bekommt man 34.000 Treffer. Was hat

ihn ausgezeichnet?

Als er nach Alkmaar kam, hatte er schon fast

alles gewonnen, was es im Fußball zu gewinnen

gibt. Und trotzdem stand er jeden einzelnen Tag

unter Strom, war unglaublich fokussiert, hat

jeden spüren gelassen, dass er die Mannschaft

besser machen wollte und sehr hart gearbeitet.

Viele dieser Eigenschaften erkenne ich auch heute

bei unserem Werder-Trainer Florian Kohfeldt

wieder. Der brennt ganz genauso. Er ist morgens

der Erste und abends der Letzte. Das ist sehr

beeindruckend.

Bremen definiert sich seit vielen Jahren

über seine „Werder-Familie“. Wie familiär

geht es wirklich bei Ihrem Arbeitgeber zu?

Ich habe mich neulich mal mit dem früheren

Bremer Petri Pasanen (Moisanders finnischer

Landsmann, der von 2004 bis 2011 bei Werder

spielte, Anm. d. Red.) ausgetauscht und festgestellt,

dass viele Mitarbeiter schon damals beim

SVW arbeiteten. Diese Kontinuität ist besonders.

Dazu kommt, dass tatsächlich die ganze

Stadt hinter dem Verein steht, dieses Glück hat

nicht jeder Klub. Gleichzeitig darf es aber auch

nicht zu familiär werden. Erfolg braucht Feuer

„Van Gaal hat jeden spüren gelassen, dass er die Mannschaft

besser machen wollte und sehr hart gearbeitet. Viele dieser

Eigenschaften erkenne ich auch heute bei Kohfeldt wieder.“

und Feuer entsteht durch Reibung.

Wie legt man Feuer, ohne einen Flächenbrand

entstehen zu lassen?

Das ist das Außergewöhnliche am Fußball.

Während eines Spiels kann ich 90 Minuten lang

meinen linken Verteidiger zusammenschreien,

nach dem Schlusspfiff ist das alles aber kein Thema

mehr. Auf dem Platz muss man hart sein.

Und wann greift man sich den Kollegen,

wenn man ihm nach dem Spiel doch noch

die Meinung sagen muss?

So schnell wie möglich, wenn man noch in

der Emotion drin ist und nicht erst nach dem

Duschen. Aber dann unter vier Augen, in den

Argumenten klar und sachlich.

Welchen Bundesliga-Konkurrenten bewundern

Sie für seine Mentalität?

Eintracht Frankfurt. Bei denen hat man seit Jahren

in jedem Spiel das Gefühl, dass sie unbedingt

gewinnen wollen. Die strahlen eine besondere

Stärke und einen tollen Zusammenhalt aus. Die

Spiele gegen die Eintracht haben bei mir sehr viel

Eindruck hinterlassen.

Wer ist das Mentalitätsmonster der Liga?

Joshua Kimmich. Der ist ein überragender

Fußballer und strahlt als junger Kerl schon

dieses Selbstbewusstsein aus, dass einen echten

Führungsspieler ausmacht. Er macht seine Nebenleute

besser und wird in naher Zukunft sehr

wahrscheinlich Kapitän bei den Bayern und in der

Nationalmannschaft sein.

Haben Sie sich schon Gedanken über die

Zeit nach dem aktiven Fußball gemacht?

Dazu bleibt nicht viel Zeit, wenn man sich wie

ich eigentlich nur auf das nächste Spiel

konzentrieren darf. Aber ich kann mir gut

vorstellen, dass ich erst mal ein Jahr Pause

einlege und mich etwas erhole. Spätestens dann

wird mich der Fußball wiederhaben, in welcher

Form auch immer. Fußball ist meine erste

Liebe, vom ersten Ballkontakt an war es um

mich geschehen. Deshalb wird mich dieses Spiel

nie ganz loslassen.

Fotocredit Imago

MÄNNER KOCHEN ANDERS

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DEN KOPF IM GRIFF

Bayern-München-Profi Carina Wenninger muss in ihrer Fußballkarriere immer wieder mit harten

Entscheidungen zurechtkommen. Die Österreichischerin stellt sich diesen Situationen, weicht ihnen nie aus.

Und gilt auch deshalb als absolute Mentalitätsspielerin.

CARINA WENNINGER

Fotocredit Imago

So eine Situation wünscht man sich als

Spielerin eigentlich nicht. Und trotzdem

kommt sie immer mal wieder auf

einen zu.

Man ist gut im Rhythmus und körperlich in starker

Verfassung – und geht deshalb davon aus, im

anstehenden Spiel in der Startelf zu stehen. Doch

stattdessen sitzt man draußen, weil der Trainer

eine andere Überlegung für die Partie hat. Das

nervt einen als Profi natürlich. Und trotzdem gilt

es, in diesen Momenten das Beste aus der Situation

zu machen, sich in den Dienst der eigenen

Mannschaft zu stellen. Nicht den Kopf hängen zu

lassen, sondern ihn auf die unerwartete Situation

einzustellen. Positiv zu bleiben, so schwer es

gelegentlich auch fallen mag.

Genau das habe ich in der Vergangenheit

immer wieder gemacht: Meine Gedanken auf

das zu lenken, was ich selbst beeinflussen

kann. Dafür wurde ich oft belohnt. Mitspielerinnen

und Menschen in meinem Umfeld

bezeichnen diese Einstellung als große Qualität

von mir. Ich urteile allerdings nur ungern

über mich selbst.

Ich kann jedoch aus meiner Erfahrung sagen:

Es lohnt sich immer, fokussiert zu bleiben. Die

eigene mentale Energie für sich zu nutzen –

nicht für andere zu verschwenden. So begreife

ich Mentalität im Sport. Den Kopf im Griff zu

haben, ist gelegentlich schwerer, als den Körper

auf eine Situation vorzubereiten. Aber er kann

am Ende entscheidend sein.

Für mich hat Mentalität deshalb in allererster

Linie mit Charakter zu tun. Im Sport gibt es,

wie im Leben generell, Situationen, die nicht

einfach zu akzeptieren sind, die möglicherweise

einen Rückschlag bedeuten. Und trotzdem

müssen die Gedanken nach vorne gehen. Der

eigene Kopf muss sagen: Ich stelle mich, ich

glaube an mich. Ich lasse mich nicht unterkriegen.

Ich mache weiter.

Was dafür essenziell ist: bei sich zu bleiben.

Nicht damit anzufangen, die Schuld oder den

Fehler bei anderen zu suchen. Aber das muss

von innen kommen, aus einem heraus. Das

kann man mit den Jahren ein Stück weit üben,

weshalb ich der Meinung bin, dass man Mentalität

bis zu einem gewissen Grad erlernen und

sich aneignen kann.

Mentalität zeigt sich jedoch nicht nur in

Momenten, die schwierig sind. Mentalität

zeigt sich bei einem Sportler bereits in seiner

Einstellung zum Training und zu seinem Sport

im Allgemeinen. Lebt er professionell? Achtet

er auf seinen Schlaf, auf seine Ernährung?

Arbeitet er individuell an Schwächen? Kommt

er auch mal früher, bleibt er auch mal länger?

Will er immer gewinnen?

Um sportlich richtig erfolgreich zu sein, bedarf es

sicherlich eines gewissen Grundtalents. Aber

eben auch der inneren Stimme, die einen immer

wieder antreibt. Die einem sagt, dass sie auch

dann noch an mich glaubt, wenn es kein anderer

mehr tut. Es ist die Stimme der eigenen

Leidenschaft und Überzeugung. Die Stimme, die

mir dauerhaft entscheidende Stärke verleiht.

Möglicherweise können Sie jetzt nachvollziehen,

warum ich der festen Überzeugung bin, dass

Mentalität auf lange Sicht Talent schlägt.

Carina Wenninger (28)

spielt bereits seit 2007

für den FC Bayern

München, mit dem

die österreichische

Nationalspielerin 2015

und 2016 die deutsche

Meisterschaft und 2012

den DFB-Pokal gewann.

Im Sommer verlängerte

die Innenverteidigerin

ihren Vertrag bis 2021. Wenninger ist damit

die dienstälteste Profifußballerin in der fast

50-jährigen FC-Bayern-Frauen-Historie.



ALS MENSCH GEGEN GÖTTER

Er schien dazu verdammt, ein Dasein im Schatten von Roger Federer und Rafael Nadal zu fristen.

Doch dann erfand Novak Djoković sich neu – und eroberte den Tennis-Thron.

STEFAN PETRI

Fotocredit Getty Images

Lache, solange du atmest.“ Mit diesem

Ratschlag empfängt Novak Djoković seine

fast neun Millionen Twitter-Follower. Es

passt zu dem Mann, der vor vielen Jahren den

Spitznamen „Djoker“ bekam, unter anderem auch

deswegen, weil er das Publikum mit punktgenauen

Imitationen der großen Tennis-Stars so gern

zum Lachen brachte.

Dieser kecke, jugendliche Übermut ist beim mittlerweile

zweifachen Familienvater einer gewissen

Reife gewichen, die mit genügend Lebenserfahrung

fast schon zwangsläufig einhergeht. Hie

und da blitzt er aber noch auf, Noles Drang, die

Zuschauer zu unterhalten. Wie nach seinem Sieg

bei den Australian Open 2019, als er den Akzent

eines italienischen Journalisten so perfekt imitierte,

dass sich alle Zeugen auf der Pressekonferenz

bogen vor Lachen.

Ein halbes Jahr später war es allerdings ein

ungläubiges Gelächter, das Djoković heraufbeschwor.

Er hatte gerade Roger Federer in einem

kolossalen Fünfsatzmatch im Finale von Wimbledon

bezwungen, ein Match, in dem er nicht nur

den besten Rasenspieler aller Zeiten gegen sich

hatte, sondern auch die 15.000 Zuschauer auf

dem Centre Court, die ihren Liebling ein neuntes

Mal zum Titel peitschen wollten.

Dennoch hatte Djoković am Ende triumphiert.

Trotz einer für seine Verhältnisse recht schwunglosen

Leistung, trotz zweier Matchbälle gegen ihn,

trotz der Tatsache, dass Federer in so ziemlich

allen Statistiken teilweise deutlich vorne lag.

Die wichtigen Punkte gingen an Djoković, und

so gewann er drei Tiebreaks, darunter den zum

13:12 im fünften Satz. Wie er mit der einseitigen

Unterstützung von den Rängen für den Gegner

umgegangen sei, wurde er anschließend gefragt.

Seine Antwort: „Wenn die Menge ‚Roger!‘ ruft,

höre ich ‚Novak!‘“

Niemand, selbst Djoković nicht, konnte den

anwesenden Journalisten in diesem Moment ihr

Auflachen verdenken, und so zuckte er nur mit

den Schultern und lächelte nachsichtig: „Ich weiß,

es hört sich albern an, aber es ist wirklich so. Ich

versuche mich davon zu überzeugen.“ Der Unter-

Wie er mit der einseitigen

Unterstützung von den Rängen

für den Gegner umgegangen

sei, wurde er anschließend

gefragt. Seine Antwort: „Wenn

die Menge ‚Roger!‘ ruft, höre

ich ‚Novak!‘“

schied im vielleicht dramatischsten Match der

Wimbledon-Geschichte: ein fleischgewordener

Simpsons-Witz. „Smithers, buhen die mich aus?“

– „Nein, die rufen nur Buh-urns!“

Eine amüsante Fußnote, die in den Tagen

danach ihren Weg in zahllose Artikel fand, die

allesamt dem Sieger Djoković huldigten. Und die

allesamt nicht sonderlich gut aufgepasst hatten,

denn die „Transmutation“, von der der alte und

neue Wimbledon-Champ gesprochen hatte, war

keineswegs neu. „Ich spielte ein Psychospielchen

mit mir selbst: Sie schrien ‚Roger!‘ und ich stellte

mir vor, sie schrien ‚Novak!‘“ Ein Zitat vom Tag

nach dem US-Open-Finale 2015 – damals hatte

Djoković Federer und das Arthur-Ashe-Publikum

in vier Sätzen bezwungen.

Es sind diese Matches, die Djoković den Ruf

eines „mentalen Giganten“ eingebracht haben.

Matches, die er von Rechts wegen niemals hätte

gewinnen dürfen. „Das war wahrscheinlich das

mental härteste Match, das ich jemals gespielt

habe“, sagte er nach dem fast fünf Stunden

dauernden Wimbledon-Finale, und gab faszinierende

Einblicke in sein Innenleben und seine

Vorbereitung. „Ich spiele jedes Match in meinem

Kopf durch, bevor ich auf den Court gehe, und

versuche, mich selbst als Sieger zu sehen. Ich



mentalität

– 71 –

Dieses Jahr wird er sich erneut auf die Suche

machen, nach neuen alten Titeln und – wie so oft

– der bedingungslosen Verehrung des Publikums.

Vielleicht das Einzige, was ihm noch fehlt. „Ich

weiß nicht, warum das so ist. Ich leide mit ihm“,

sagte seine Mutter Dijana im Interview mit GQ.

„Sie respektieren seinen Erfolg, aber wenn er

gegen Federer spielt, feuern sie Federer an.“ Doch

auch sie weiß: Womöglich hat diese Tatsache, das

jahrelange Ankämpfen gegen die Federers, Nadals

und ihre Fans, ihren Sohn noch stärker gemacht.

Der US-Journalist Brian Phillips drückte es nach

Wimbledon so aus: „Wir halfen ihm dabei, Siegen

zu lernen – weil wir wollten, dass er verliert.“

Djoković ist 32, er hat noch einige Jahre vor sich:

Wo Federer und Nadal aus dem Tennis-Olymp herabgestiegen

scheinen, der eine mit kühler Eleganz, der andere mit herkulischer

Kraft, ist Novak bei all seinen Fähigkeiten „nur“ ein Mensch.

glaube, darin liegt Kraft“, erklärte er, und sprach

über Willensstärke, ständig neues Fokussieren,

über den unbedingten Glauben an sich selbst.

Ein Glaube, der ihm lange gefehlt hatte und den er

sich hart erarbeiten musste.

Novak Djoković ist ein überragender Tennisspieler.

Sein Spiel von der Grundlinie ist makellos, er

hat die Fähigkeit, jeden noch so aussichtslosen

Ball zu erreichen und mit einem Winner zu

kontern. Sein „Ausrutschen“ der Bälle auf Hartplatz

ist legendär, sein Return der beste in der

Geschichte des Herrentennis. Wie ein Supercomputer

nutzt er die ersten Aufschlagspiele jeder

Partie, um sein Spiel auf das des Gegners zu

kalibrieren, kaum jemand hat so viele Möglichkeiten,

sich das Gegenüber zurechtzulegen und

die Schlinge dann zuzuziehen.

Aber Djoković hat nicht das Talent seiner beiden

größten Kontrahenten. Wo Roger Federer und

Rafael Nadal aus dem Tennis-Olymp herabgestiegen

scheinen, der eine mit kühler Eleganz, der

andere mit herkulischer Kraft, ist Novak bei all

seinen Fähigkeiten „nur“ ein Mensch. Als er 2006

sein erstes ATP-Turnier gewann, hatten Roger

und Rafa den Tennis-Zirkus bereits unter sich

aufgeteilt, die weltweite Fangemeinde inklusive.

Djoković war der ungeliebte Eindringling, jahrelang

blieb er die dritte Kraft. Bis 2011 gewann er

ein Grand Slam – Nadal stand da schon bei neun,

Federer gar bei 16.

Es gab nur eine Trumpfkarte, die ihm blieb: Auf

dem Platz konnte er Federer und Nadal nicht

bezwingen – doch im Kopf schon.

Dafür musste er allerdings erst lernen, sich selbst

zu besiegen. In seinem Buch Siegernahrung

von 2013 schildert Djoković seinen Wandel vom

Spaßmacher zum Asketen, man erfährt, wie er mit

manischer Präzision jedes Fitzelchen Potenzial

aus seinem Körper herauspresst. Viel wichtiger

aber: Er lernte, seinen Respekt vor Federer und

Nadal abzulegen, den eigenen Minderwertigkeitskomplex

zu überwinden.

Möglich machte dies jahrelanges mentales

Training. Tag für Tag für Tag. Djoković setzt

auf Meditation, auf ständige Visualisierung des

Erfolgs: „Ich glaube fest daran, dass du die Dinge

bekommst, die du dir vorstellst. So funktioniert

das Leben einfach.“ Mindestens so viele Stunden

wie auf dem Platz oder im Fitnessstudio müsse

man in sich selbst investieren, in den eigenen

Charakter, in die eigenen Fehler, sagte er einmal,

sprach von ständigen inneren Kämpfen, die es

auszufechten gilt.

Es ist ein holistischer Ansatz, der in seinen Interviews

immer wieder durchscheint. Man mag ihn

als krude Selbsthilfe belächeln, mit dem Verweis

darauf, dass der spirituell stets wissbegierige

Djoković damit schon in der einen oder anderen

Sackgasse gelandet ist: Als er 2017 in einer

Sinnkrise steckte, feuerte er sein gesamtes Team

inklusive Erfolgstrainer Marián Vajda und nahm

Fotocredit Getty Images

Schon 2006 sprach David Foster Wallace von Federer als

„religiöser Erfahrung“. Es passt zu Djoković, dem Getriebenen,

dem ständig Suchenden. Suchend nicht unbedingt nach

Perfektion, vielmehr nach Einklang mit sich und der Welt.

die Hilfe eines spanischen Gurus mit eher zweifelhaftem

Ruf in Anspruch. Ein Jahr später kehrte

Vajda zurück – und mit ihm der Erfolg.

Oder man mag bewundern, mit welcher Konsequenz

Djoković seine Erkenntnisse in die Tat

umsetzt, und wie weit sie ihn gebracht haben. Als

Siebenjähriger träumte er nicht einfach nur vom

Sieg auf dem Heiligen Rasen, sondern bastelte

sich eine Version der Wimbledon-Trophäe dazu.

2011 hielt er endlich das Original in den Händen,

2019 folgte sein vielleicht größter Triumph, sein

Meisterstück mentaler Stärke. Wie ihm das

gelang? „Du musst dich immer wieder daran

erinnern, dass du nicht ohne Grund hier stehst.

Dass du besser bist als der Andere.“

Meditation, Visualisierung, Psychotricks. Derartigen

Methoden scheint ein Federer längst entrückt

zu sein – vielleicht auch deshalb, weil er

vom Publikum geradezu überhöht wird.

Schon 2006 sprach der Schriftsteller

David Foster Wallace vom

Schweizer als „religiöser

Erfahrung“. Auch zu

einem Nadal mag es

nicht passen, dem Mallorquiner

haftet in seinem

Spiel und seinem Auftreten

bis heute etwas unverbraucht

Kindliches an.

Aber es passt zu Novak Djoković,

dem Getriebenen, dem

ständig Suchenden. Suchend

nicht unbedingt nach Perfektion,

vielmehr nach Einklang mit sich

und der Welt.

Das letzte Kapitel ist noch nicht geschrieben.

„Wenn sie mich nicht respektieren, wie können

sie mich dann jemals lieben?“, fragt Imperator

Commodus in Ridley Scotts Gladiator. Den

Respekt hat sich Novak bereits erkämpft, die

Liebe wird irgendwann folgen. Und wenn nicht,

weiß er schließlich um eine andere Lösung. So

oder so – am Ende rufen alle seinen Namen.



„ UND GOTT GAB

MIR FOOTBALL“

Collette V. Smith hat mehrere Vergewaltigungen und Suizidversuche überlebt. Sie war ein Opfer.

Dann kam Football in ihr Leben und veränderte alles. Heute ist sie die erste afroamerikanische Trainerin in der

Männerdomäne NFL und engagierte Kämpferin für soziale Gerechtigkeit. SOCRATES erzählt sie ihre Geschichte.

BANU YELKOVAN

Collette, wann haben Sie angefangen,

Football zu spielen?

Ich habe erst mit 42 angefangen. Heute bin ich

50, also nicht heute, aber ich bin 50, jedenfalls

sagen meine Eltern, dass ich das bin.

Sie sehen nicht wie 50 aus…

Als ich 8, 9, 10, 11, 12 Jahre alt war, hat man mir

ins Gesicht gesagt: „Du kannst nicht spielen, weil

Du ein Mädchen bist!“ Heute sagt man das vielleicht

nicht mehr, aber früher war das so. Es hat

mich richtig angekotzt, um ehrlich zu sein. Und

mein Bruder dagegen musste spielen, aber hatte

es einfach nicht drauf. Als ich mit Football begann,

begann auch mein Leben. Football hat mir

buchstäblich das Leben gerettet. Ich saß zu Hause,

rauchte eine Zigarette und hatte einen Drink.

Viele Jahre hatte ich im Immobiliengeschäft gearbeitet,

doch der Markt brach zusammen. Ich war

sehr erfolgreich in diesem Business gewesen. Ich

bin für gewöhnlich ziemlich gut, wenn ich etwas

will, weil ich diese Sache dann wirklich beherrschen

will. Tja, dann machte es BOOM.

Was haben Sie dann gemacht?

Plötzlich hatte ich jede Menge Zeit zur Verfügung,

doch ich wusste damit nichts anzufangen, weil ich

es nicht gewohnt war, Zeit zu haben. Ich bin immer

sehr beschäftigt gewesen. Ich bin dann durch

Zufall zu einem Probetraining für eine Profi-

Frauen-Football-Mannschaft gekommen. Ich

habe überhaupt nicht danach gesucht, ich bin da

mehr so hineingestolpert. Ich würde sehr gerne

sagen, Gott hat mir diese Chance geschenkt, denn

ich habe sehr viel in meinem Leben durchgemacht.

Ich sagte mir: ‚Ich versuche das jetzt‘ –

und es war das letzte Tryout der Saison. Sie sagten

mir, ich müsste Stollenschuhe tragen. Und ich

sagte: „Warum in aller Welt sollte ich Stollenschuhe

haben?“ Ich sagte: „Ich will Football

spielen, also los, spielen wir!“ Schließlich trug ich

Schneestiefel. Ich sagte mir: ‚keine Ausreden, keine

Ausreden‘. Ich gehe hin. Samstag gehe ich zum

Tryout. Das war an einem Dienstag. Ich habe also

meine Zigarette zu Ende geraucht, mein Bier ausgetrunken

und angefangen zu trainieren und zum

Mannschaftstraining zu gehen. Ich hatte nicht den

leisesten Schimmer, wer ich eigentlich war.

So fing Ihre Karriere an? Kein Witz?

Aber ja. Ich habe mich in jemand verwandelt –

oder besser: Ich entdeckte eine Seite an mir, die

ich bis dahin immer unter Verschluss gehalten

hatte. Und ich verliebte mich sofort in mein

„Als ich mit Football begann,

begann auch mein Leben. Football

hat mir buchstäblich das

Leben gerettet.“

neues Ich. So fing meine Football-Karriere im

Prinzip an. Leider hatte ich nicht genug Zeit. Ich

war nur drei Jahre aktiv und eins davon spielte

ich nicht, weil ich Probleme hatte. Aber ich war

bei jedem Training…

Sie sagten, als Kind hätte man Ihnen

verboten zu spielen. Wie haben Sie die

Angst überwunden und Ihren Traum doch

verwirklicht?

Ich würde nicht einmal sagen, dass ich einen

Traum verwirklichte, denn ich durfte diesen

Traum noch nicht einmal haben. Ich durfte nicht.

Ich war ein Mädchen. Ich durfte nicht träumen.

Aber als ich dann erstmals Frauen Football

spielen sah… Ich sage Ihnen: Der Herr ist gnädig.

Da war ich also bei diesem Probetraining und da

waren 45 oder 50 Frauen. Und ich rede von Football:

Helme, Shoulder Pats, die volle Ausrüstung

– nicht diesen Lingerie-Mist, mit dem wir uns zu

Objekten sexueller Begierde herabwürdigen –,

ich rede von richtigem Football. Elf gegen elf auf

einem Großfeld, 120 Yards, Vollgas! Als ich diese

Frauen sah… Man, das war überwältigend!

Wie haben Sie es von dort aus geschafft,

Trainerin in der NFL bei den New York

Jets zu werden?

Das ist auch eine sehr komplexe Geschichte. Vor

vielen Jahren bin ich mit zwei Jungs von den Jets

Fotocredit Believe N You Inc.



– 74 – mentalität

mentalität – 75 –

„Meiner Ansicht nach engagiert sich die NFL für das Thema Missbrauch

zu wenig. Wir müssen den Männern helfen. Sie tun nicht genug.“

ausgegangen und wir sind Freunde geblieben.

Als ich mit 45 meine aktive Karriere beendete,

habe ich zum Telefon gegriffen und sie angerufen.

Ich sagte: „Ratet mal, was ich jetzt tue?“ Und sie

sagten: „Was denn, Collette?“ Ich: „Ich spiele

Football.“ Und sie: „Das wissen wir.“ Und ich

sagte: „Oh mein Gott, warum habt ihr das vor 20

oder 30 Jahren noch nicht gewusst?“ Auch wenn

ich nicht mehr aktiv spielen konnte, war ich immer

noch fester Bestandteil des Teams und mein

Cheftrainer wusste, dass ich alles gab, was ich hatte.

Und ich wusste, ich musste noch mehr geben.

Und wenn ich noch mehr gegeben hätte, wollte

ich noch eins draufsetzen. Als ich zurückgetreten

war, fragten sie mich, ob ich nicht zurückkommen

und Coach werden wolle. Sie sagten mir, sie

wollten mich im Team haben, mich und meine

Energie. Man kann schon sagen, dass ich hibbelig

bin. Es fällt mir schwer stillzusitzen.

Also fingen Sie an zu coachen.

Ja genau. Es entpuppte sich als überraschend

schwierig für mich.

Warum?

Weil die Frauen meine Teamkameradinnen waren,

wir hatten ja zusammengespielt. Wissen Sie,

wir haben uns High-Fives gegeben, uns gegenseitig

aufs Übelste beschimpft; wir haben zusammen

gelacht und geweint. Es gab da dieses unsichtbare

Band zwischen uns. Es war schwierig für mich,

ihnen zu sagen, was sie tun sollten. Viel leichter

tat ich mich mit den Rookies.

Wie kamen Sie zu den Jets?

Ich habe für das Frauen-Team auch das Marketing

und die PR gemacht. Wie alle Frauen

habe ich mich um alles gekümmert, ich war das

Mädchen für alles. Manchmal habe ich auch

die Linien auf dem Feld gezogen, verrückt. Wo

war ich? Ach ja, ich habe also PR und Marketing

gemacht, habe Events organisiert und war

„Ich würde wirklich gerne sagen: Wir brauchen die Männer nicht.

Die Wahrheit ist aber: Wir brauchen sie. Coach Bowles ist ein

guter Mann. Er hat für immer einen Platz in meinem Herzen.“

Trainerin. Dazu kam dann noch Social Media.

Da ich als Jets-Fan aufgewachsen bin, trieb ich

mich vorwiegend auf deren Seiten herum und

machte dort Blödsinn mit den durchgeknallten

Typen, die eben auf solchen Seiten unterwegs

sind. Die sind alle Klempner oder sowas, hängen

in den sozialen Medien ab und erzählen sich

gegenseitig, wie sehr sie die Jets lieben und wie

sehr sie die Jets hassen – und dann wieder, wie

sehr sie sie lieben.

Okay, das kennt man ja von vielen Sportfans.

Die werden dadurch aber nicht

Trainer bei einem NFL-Team?

Moment, das erkläre ich ja jetzt. Ich musste auf

diesen Seiten sein, damit die Leute erfahren,

dass es uns überhaupt gibt. Verstehen Sie? Ich

habe das ganz strategisch angefangen. Alles

ist Strategie im Leben. Die Taktik fürs Spiel,

Work-Life-Balance, die Kids in die Badewanne

kriegen oder deinen Freund dazu, dass er dich

schick zum Essen ausführt: alles Strategie. Ich

sagte dort also immer: „Wir sind die New York

Sharks, wir sind Eure Schwestern, Jungs!“ Mit

der Zeit lernten die Leute also mich und das

Team kennen und irgendwann rief jemand vom

Jets-Headquarter bei mir an.

Todd Bowles, der frühere Headcoach der

Jets, gab Ihnen dann eine Chance. Wie

wichtig ist es für Frauen, dass sich männliche

Kollegen für Ihre Belange einsetzen?

Ich würde wirklich gerne sagen: Wir brauchen die

Männer nicht. Die Wahrheit ist aber: Wir brauchen

sie. Coach Bowles ist ein guter Mann. Er hat

für immer einen Platz in meinem Herzen.

Wie wurden Sie bei den Jets aufgenommen?

Können Sie Tipps geben, wie sich

Frauen in einem von Männern dominierten

Umfeld verhalten sollen?

Ich wurde nicht anders behandelt als andere, ich

bin aber auf Distanz geblieben. Du musst deine

Hausaufgaben machen, du musst vorbereitet

sein, du musst einen Plan haben. Und ich habe

Zuversicht ausgestrahlt. So kam ich dann auch ins

Gespräch mit Coach Bowles über Vorbereitung

und Taktik. Wir trafen uns, als ich mir das Training

ansah. Ich wollte sehen, wie die Jungs und

vor allem diese großartigen Trainer arbeiten. Ich

wollte lernen, eine bessere Trainerin zu werden

und damit mein Team besser machen. Herausgekommen

ist ein Jobangebot. Gelegenheit,

Leidenschaft, Ziel – das ist meine Devise.

Gelegenheiten warten nicht an

jeder Ecke…

Ich warte nicht auf sie, ich schaffe sie. „Klopf,

Fotocredit Believe N You Inc., Getty Images

klopf. Wer ist da? Deine Gelegenheit!“ So funktioniert

das nicht. Du musst schon selbst aktiv

werden – und du musst es mit Leidenschaft tun.

Coach Bowles kam also auf mich zu und sagte:

„Ich habe gehört, Sie sind Spielerin und Trainerin.“

Ich sagte: „Stimmt.“ Er: „Welche Position

coachen Sie?“ Und ich: „Die Position, die Sie an

der Temple University spielten.“ Er sah mich sehr

verdutzt an und wir vertieften unser Gespräch.

Nicht alle Männer sind wie Coach Bowles.

Egal wo du auch hinkommst: Mistkerle gibt es

überall. Wenn du Glück hast, ist es nur einer. Bei

den Jets gab es einen, der mich vom ersten Moment

an wie Dreck behandelt hat. Das hat mich

traurig und wütend gemacht, aber die anderen

waren toll. Ich fing also an, das Playbook zu studieren

und das war ein richtig dickes Ding. Beim

Zähneputzen stand es vor mir an den Spiegel

gelehnt – und es hätte gerade noch gefehlt, dass

ich es mit unter die Dusche nehme. Die Jungs

merkten schnell, dass ich es draufhatte.

Viele Leute wissen nicht, dass Sie Opfer

sexueller Gewalt wurden. Football habe

Ihnen geholfen, damit fertig zu werden,

sagten Sie einmal. Wollen Sie uns davon

erzählen?

Ich habe fünf Vergewaltigungen überlebt. Ich

habe dreimal versucht, mich umzubringen.

Wenn ich sage: Football hat mir das Leben

gerettet, dann ist das wörtlich zu verstehen. Ich

habe Frauen gesehen, die auf dem Football-Feld

eine Stärke gezeigt haben, die ihnen andere

nicht zugetraut hatten. So habe ich lange mein

Leben gelebt: „Das kannst du nicht!“ Ich habe

mich selbst limitiert. ‚Ich bin nicht gut genug.

Ich bin wertlos. Ich verdiene es nicht zu leben.‘

Football war für mich ein Neuanfang, ein

Startschuss. Football sagte mir: „Let’s go!“ Und

dieses „Let’s go!“ erfasste meinen Verstand,

meine Seele und meinen Körper. Und ich sage

es noch mal: Football rettete mein Leben.

Ich bin Botschafterin der „National Coalition

Against Domestic Violence“ und spreche überall

auf der Welt zu Opfern häuslicher und sexueller

Gewalt. Sport kann dein Leben verändern.

Sport verlangt nach Verantwortung. Ich habe

aufgehört zu rauchen und mich bis spät in die

Nacht rumzutreiben und high zu werden. Ich

bin früh aufgestanden, habe trainiert und mich

gesund ernährt. Erstmals habe ich auf mich

achtgegeben, mich um mich selbst gekümmert.

Mit 42 konnte ich mich erstmals annehmen, ich

konnte sagen: ‚Ja, ich mag mich.‘ Und das nur

wegen Football.

Für viele sind Sie eine Pionierin, junge

Mädchen sehen Sie als Vorbild. Wie wichtig

ist Ihnen diese Rolle oder Funktion?

Das ist mir überhaupt das Wichtigste. Ich glaube,

dass ich ein Vorbild bin und nehme die Rolle mit

ganzem Herzen an. Ich erinnere mich an eine

Zeit, als ich fünfmal die Woche Oprah Winfrey

zugesehen habe und mir dachte: ‚Lieber Gott,

bitte gib mir eines Tages eine Plattform, sodass

ich anderen Menschen helfen kann.‘ Auf Knien

gefleht habe ich. Und Gott gab mir Football. Und

dann gab er mir die NFL. Ich bin die erste schwarze

Frau, die in der NFL coacht und die erste Frau

überhaupt im Trainerteam bei den Jets. Und

– verdammt noch mal! – ich habe auch Football

gespielt. Das sind die Plattformen, von denen aus

ich Mädchen und Frauen ermutigen kann – und

ich nutze sie. Die Kinder sind mir am wichtigsten.

Oh mein Gott, sie drehen völlig durch, wenn sie

mich sehen. Ich sage Ihnen: „Ich bin Ihr. Ich bin

Ihr und Ihr seid ich. Let’s go!“

Sie haben soziale Stereotype erschüttert

und Klischees aufgebrochen. Wie denken

Sie darüber?

Ich habe meine Bestimmung gefunden. Ich

erzähle Ihnen eine Geschichte ganz vom Anfang.



– 76 – mentalität

mentalität

– 77 –

„Es ist wichtig, über Dinge zu sprechen. Es gab Zeiten,

da habe ich auch nicht darüber gesprochen – über

Vergewaltigung, Belästigungen, Selbstmordversuche.

Man muss über solche Dinge sprechen.“

Vielleicht beantwortet das die Frage. Ich weiß

noch genau, wie ich meinem Vater von den

Jets erzählte. Von meinem Gespräch mit Coach

Bowles. Und wie Coach Bowles zu mir sagte: „Sie

sollten für diese Organisation arbeiten.“ Und ich

sagte nur: „Yes, Sir.“ Und dann stieg ich in mein

Auto, fuhr nach Hause und sagte: „Dad, du wirst

es nicht glauben. Du wirst es nicht glauben.“

Und mein Dad sagte: „Weißt du was, Collette,

ich glaube es. Und ich wäre noch stolzer auf dich,

wenn du es geglaubt hättest.“ Deshalb heißt

meine Firma: „Believe N You Inc.“ Mein Vater

wünschte sich nichts mehr für mich, als dass ich

an mich glaubte. Und genau das wünsche ich mir

für alle Mädchen.

Was raten Sie jemandem, der versucht,

das Unmögliche möglich zu machen?

Schritt eins lautet: Denke nicht eine Sekunde

daran, dass etwas unmöglich ist. Es ist nicht

unmöglich, ich kann es schaffen. Machen wir

aus „impossible“ einfach „I’m possible“. Und

dann: Fang an, das Ziel zu verfolgen! Finde

heraus, welche Schritte erforderlich sind. Und:

Keine Entschuldigungen! Die einzig akzeptable

Entschuldigung auf dem Footballplatz ist ein

gebrochenes Bein. Ansonsten heißt es: Steh auf

und tu es! Manchmal muss ich mir das selbst auch

noch sagen, es ist nicht immer einfach. Manchen

morgen schreie ich mich sogar selbst an: ‚Steh auf,

Mädchen! Steh auf, du schaffst es! Steh auf, just

do it! Tu es! Tu es!‘

Aus Ihrer Sicht als Frau: Wie geht die NFL

mit dem Thema Missbrauch um?

Meiner Ansicht nach engagiert sich die NFL zu

wenig. Ich glaube, die Liga sollte sich an mich

und andere Frauen wenden, um sich helfen

zu lassen. Wir sprachen vorhin über Männer,

die Frauen helfen. Wir müssen aber auch den

Männern helfen. Sie tun nicht genug. Ich habe so

viele Ideen, was sie auf diesem Gebiet unternehmen

könnten.

Zum Beispiel?

Es ist wichtig, über Dinge zu sprechen. Es gab

Zeiten, da habe ich auch nicht darüber gesprochen

– über Vergewaltigung, Belästigungen,

Selbstmordversuche. Ich habe nicht darüber

gesprochen und das bringt natürlich überhaupt

nichts. Man muss über solche Dinge sprechen.

Ich schreibe gerade ein Buch über mein Leben

und ich werde über alles sprechen. Mein Lektor

sagte, er würde es „bereinigen“. Er sagte:

„Weißt du, Collette, ich finde, du solltest das

Wort ‚rape‘ nicht benutzen. Die Leute mögen es

nicht besonders. Es ist echt grob.“ Mein erster

Impuls war, durchs Telefon zu springen, doch

dann dachte ich mir: ‚Lass ihn reden.‘ Als er

fertig war, sagte ich: „Wie kannst du es wagen!

Erstens: Das ist mein Buch. Zweitens: Ich bin

nicht dazu da, dass es du oder irgendjemand

sonst besonders nett hat.“

Wir sprachen über Ihre Rolle als Vorbild.

Zu wem haben Sie aufgesehen, als Sie

aufwuchsen?

Das ist eine sehr gute Frage. Ich bin es umgekehrt

angegangen. Ich hatte einen Blick für

Leute, denen ich ganz und gar nicht nacheifern

wollte. Ich bin in der hood aufgewachsen und

war das einzige Kind, das vom College gesprochen

hat. Als ein echtes Vorbild würde ich aber

Billie Jean King nennen.

Fotocredit Believe N You Inc., Getty Images

Die vielfache

Grand-Slam-Siegerin im

Tennis, die so viel für Gleichberechtigung

getan hat.

Ja. Ihr Engagement für die Frauen

hat den Sport wirklich verändert.

Ich habe aber auch Vorbilder in

meinem Umfeld. Meine Tante

etwa. Sie war Ärztin. Das war eine

große Sache. Da, wo ich aufgewachsen

bin, wurde man das nicht.

Und meine Eltern. Mein Dad war

beim Militär und arbeitete jeden

Tag sehr hart. Viele Kinder aus der

Umgebung kannten ihre Väter gar

nicht oder sie hatten einen Vater,

der aber nicht arbeitete. Mein Dad

ist immer mein Vorbild gewesen,

bis zum heutigen Tag.

Vor geraumer Zeit ging ein

Clip viral, der die Fußball-Weltmeisterin

Carli Lloyd zeigt, wie

sie im Training der Philadelphia Eagles ein

Field Goal aus 55 Yards erzielt. Was sagen

Sie dazu?

Für mich ist das keine große Sache, weil wir das

auch können. Meine Reaktion war: „Cool, das

machen wir auch immer.“

Werden wir irgendwann eine Frau in der

NFL als Kickerin sehen?

Ich will das gar nicht. Die NFL ist eine Männerliga

und die Frauen haben ihre Profiteams.

Ich würde mir wünschen, dass die NFL und die

Women’s Pro Football League zusammenkommen.

Als Director of Community Relations der

„Women’s National Football Conference“ würde

ich mir mehr Männer wünschen, die uns unterstützen.

Es gibt in den USA etwa 100 professionelle

Frauen-Football-Teams. 100! Wirf einen

Stein und du wirst eins treffen… Aber niemand

„Als ein echtes Vorbild würde ich Billie Jean

King nennen. Ihr Engagement für die Frauen

hat den Sport wirklich verändert.“

berichtet über uns, weil wir kein Geld mitbringen.

Ich will keine Frauen in der NFL auf dem

Feld, aber an der Seitenlinie als Trainerinnen.

Davon wünsche ich mir mehr.

Woher nehmen Sie die Kraft für alle Ihre

Unternehmungen?

Ich habe zwei Quellen. Die eine ist Gott. Ich bin

sehr, sehr gläubig. Gott gibt mir Kraft, weil ich

weiß, dass er nur das Beste für mich will. Ich

habe ihm mein Leben gewidmet, ich bin eine

Dienerin Gottes. Ich bin aber auch eine Kämpferin

in seinem Namen. Die andere Quelle sind die

Mädchen, kleine schwarze Mädchen. Wenn ich

einen schlechten Tag hatte und nicht genug Geld

reinkam, dann greife ich zum Telefon und versuche

Sponsoren aufzutreiben, sodass ich noch

mehr Schulen in der Umgebung besuchen kann.

Diese Schulen können mich nicht bezahlen,

aber ich kann solche Dinge auch nicht immer

umsonst machen. Mein Dad wird

dann sauer: „Gehst du schon

wieder an eine Schule? Bezahlen

die dich auch?“ Ich sage dann:

„Kannst du mir Mom geben, Dad?

Was habt ihr gestern gegessen?

Kocht ihr heute was Feines?“

So machen Sie weiter, auch

wenn die Umstände schwierig

sind?

Ja, weil ich immer an diese kleinen

Mädchen im Besonderen und die

schwarze Jugend im Allgemeinen

denke, die – so bitter das ist – immer

noch unterversorgt und

benachteiligt ist. Gehen Sie mal in

eine der Schulen in der hood, die

sehen nicht aus wie die Schulen in

anderen Gegenden. Wenn ich

einen schlechten Tag habe, schaue

ich in den Spiegel und frage mich:

‚Warum so schlapp heute? Willst du mich

veräppeln? Du musst aufstehen, Mädchen! Steh

auf!‘ Dann mache ich Liegestützen oder Planks

und bringe mich in Fahrt. Als ich noch Football

spielte, waren es Planks, für fünf Minuten. Aber

an die kleinen Mädchen zu denken, ist Feuer

genug für mich. Wie könnten wir es überhaupt

nur wagen, ans Aufgeben zu denken! Das wird

nicht passieren. Nicht mit mir!

Das Interview entstand am 20. November 2019 in

den Räumen des Bleacher Report Headquarters

in New York im Rahmen des Association for

Women in Sports Media (AWSM) Summit als Teil

des Leadership-Programms für internationale

Medienvertreterinnen unter dem Titel „Empowering

Women Through Sports Journalism“.



R O A D

T O

2 0 2 0

T O K I O

O L Y M P I A

MEINE MAMA, DIE OLYMPIASIEGERIN

Eigentlich soll sie in der Fabrik arbeiten und Kinder kriegen, doch Gabriella Dorio will nicht. Sie will lieber laufen

und Olympiasiegerin werden. Der Anfang einer fast märchenhaften Geschichte. In SOCRATES erzählt Gabriellas

Tochter, die Sportjournalistin Anna Chiara Spigaro, vom Leben ihrer Mutter und ihrer eigenen Emanzipation.

ANNA CHIARA SPIGARO

Als Kind dachte ich: Wenn ich groß bin, werde

ich Olympiasiegerin. Vielleicht sogar zweimal.

Jetzt bin ich 34, arbeite als Sportjournalistin und

habe keine großen Hoffnungen, Medaillen zu

gewinnen – außer im Curling vielleicht. Schuld

an meinem existenziellen Scheitern ist ganz allein

eine Person: meine Mutter Gabriella Dorio,

ihres Zeichens Goldmedaillengewinnerin im

1.500-Meter-Lauf bei den Sommerspielen 1984

in Los Angeles. Wenn du aufwächst und der

Mensch, der dir tagtäglich das Essen zubereitet,

ist eine Olympiasiegerin und die Inhaberin aller

italienischen Mittelstrecken-Rekorde, dann ist

das Letzte, das du tun solltest, dir einzubilden,

einmal besser zu sein. Mama hat olympisches

Gold gewonnen! Dann gewinne ich eben zwei!

Oder besser: drei! Kein Problem!

Wolle, rote Wangen und wieder Beine. Sie sieht

aus wie ein Kind, hat keinen Busen, und etwas

Wildes liegt in ihrem Blick. Im Hintergrund, weit

dahinter: die anderen Mädchen.

Ich war ebenfalls 14, als ich das Laufen entdeckte

und wie alle an meiner Schule an Cross-Rennen

teilnahm. „Natürlich“ war ich die Schnellste. Ich

erinnere mich an kalte Luft auf meinem Gesicht

und in meinen Lungen, an Freiheit. Ich war

glücklich. In diesem Jahr wurden wir Schulmeister

bei den nationalen Meisterschaften mit mir

als Schlussläuferin. Wir lagen nicht in Führung,

als ich den Staffelstab übernahm, aber ich holte

auf und ließ alle hinter mir. Auf dem Podium

bekamen wir Medaillen überreicht und kleine

Blumentöpfe. Alles war gut.

Fotocredit Getty Images, Gabriella Dorio Privatarchiv

Meine Mutter kam zum Laufen, als sie 14 war.

Aber lassen Sie mich ganz präzise sein: Sie

entdeckte das Laufen und fasste den Entschluss,

Olympiasiegerin zu werden. Es war in Rom,

im Stadio dei Marmi, bei den italienischen

Cross-Meisterschaften. „Wenn ihr hier ankommt,

dann schüttelst du sie ab und ziehst davon.

Okay?“ Ein vages Zeichen von Zustimmung

(Mama machte schon damals nicht viele Worte).

Es passierte Folgendes: Als die Läuferinnen an

dem bezeichneten Punkt ankamen – und zwar

an der exakten Stelle –, ließ Gabriella die anderen

stehen und machte sich auf, das Rennen zu gewinnen.

Es gibt ein Foto davon. Es ist schwarzweiß,

etwas unscharf. Das Mädchen auf dem Bild ist

sehr dünn, die Haare sind zerzaust. Dann sind da

Beine, ein viel zu großes Trikot, vermutlich aus

An diesem Nachmittag in

Rom ist Gabriella glücklich.

Sie hat etwas gefunden, das

ihr Freude bereitet. Auf den

Stufen des Stadio dei Marmi

platzt es aus ihr heraus:

„Wenn ich groß bin, werde ich

Olympiasiegerin!“

An diesem Nachmittag in Rom ist Gabriella

glücklich. Sie, die bis dahin nie aus dem Dörfchen

in Norditalien, in dem ihre Eltern ein Stück Land

bewirtschaften, herausgekommen ist, hat etwas

gefunden, das ihr Freude bereitet und worin sie

die Beste ist. In Rom scheint die Sonne, sie riecht

das Harz der Pinien und das Meer; das Foro

Italico sieht aus wie auf einer Ansichtskarte. Ihr

Herz platzt beinahe, so glücklich ist sie. Gabriella

fasst all ihren Mut und spricht. Auf den Stufen des

Stadio dei Marmi, eingerahmt von den weißen

Statuen griechischer Athleten, platzt es aus ihr

heraus: „Wenn ich groß bin, werde ich Olympiasiegerin!“

Um sie herum Gelächter, höhnische

Blicke. „Das kleine Mädchen spinnt. Los, machen

wir das Gruppenfoto.“ Gabriella wird rot, ein

bisschen wütend auch, und am liebsten würde



sie in die granitenen Stufen sinken, um sich zu

verstecken. Sie spricht kein Wort mehr, bis sie

wieder zu Hause ist. Lasst mich Ruhe, ihr werdet

schon sehen.

Ich habe nie etwas so geliebt wie das Laufen,

eine instinktive, allumfassende Liebe. Meine

Mutter und mein Vater beobachteten mich aus

der Ferne. Heute weiß ich, dass ihre Herzen vor

Stolz und Hoffnung fast barsten, aber das ließen

sie mich nie wissen. Ich habe liebevolle Eltern,

die mich erst zur Leichtathletik brachten, als ich

sie darum bat. Und tatsächlich: In den ersten

Jahren machte ich sie sehr stolz.

Für meine Mutter bedeutet das Laufen Selbstbestimmung,

Freiheit, die Welt kennenlernen,

träumen. Meine Großeltern waren arm. Sie

brauchten Geld, um etwas zu essen auf den Tisch

zu bekommen. Die Kinder wurden zur Arbeit

geschickt, sobald sie ihre Schulpflicht erfüllt

hatten. Sport war überhaupt keine Option, schon

gar nicht für ein Mädchen. Sie konnten sich nicht

damit anfreunden, dass ihr Kind allein durch

die Weltgeschichte reisen sollte. Eigentlich sollte

Gabriella gar nicht zu dem Rennen nach Rom

fahren. „Das ist nicht gut. Ende der Diskussion!“

Sie hatte nur eine Fürsprecherin: Oma Vittoria.

Und die kam mit der einflussreichsten Person, die

sie kannte, dem Pfarrer, zum Essen vorbei. Die

Geschichte endete damit, dass mein Großvater

stinkwütend aus dem Haus gestürmt kam. Ihm

auf den Fersen der Geistliche, der ihn beschwor:

„Lass sie gehen!“, während er Großvater quer

über den Acker verfolgte. Am Ende beugte sich

dieser der höheren Gewalt. „Aber wir machen ihr

anständige Kleider“, sagte er.

Ich musste niemanden überzeugen. Bei mir war

die Intervention der Kirche nicht notwendig.

Ganz im Gegenteil: Es herrschte große Hoffnung,

dass ich eine erfolgreiche Läuferin werden würde.

Das Schlimmste war für mich, wenn Leute

mich „die Dorio-Tochter“ nannten. Wenn du an

der Startlinie stehst, ist es nicht das Erbaulichste

der Welt, wenn die Stimme aus dem Lautsprecher

von den Erfolgen deiner Mutter erzählt.

Spätestens da begegneten mir die anderen mit

Misstrauen, so als könnte ich mit einem Auto

mithalten. Aber ich liebte das Laufen so sehr…

Das Schicksal meiner Mutter sollte eigentlich so

Menschen nannten mich immer „Dorios Tochter“. Doch ich dachte:

Bald werdet ihr nur über mich sprechen. Das wird eine tolle

Geschichte, auch weil ich die Goldmedaille meiner Mutter widmen

werde: „einer großartigen Frau und großartigen Athletin“.

aussehen wie das vieler Frauen in diesen Jahren:

Fabrik, frühe Heirat, Kinder kriegen. Ihre beiden

älteren Schwestern arbeiteten damals schon in der

Fabrik. Am Morgen ihres ersten Arbeitstags zog

sich Gabriella an und schwang sich aufs Fahrrad.

Als sie an der Fabrik ankam, das große Tor und

gingen, erstarrte sie. Es war eine gute Arbeit, ihre

Schwester hatte für sie gebürgt, doch Gabriella

machte auf dem Absatz kehrt. So würde ihr Leben

nicht aussehen.

Ich habe ihn nie erlebt, diesen Moment, wenn

dir klar ist, was du mit deinem Leben anfangen

Fotocredit Getty Images, Gabriella Dorio Privatarchiv

willst. Als ich meine erste Goldmedaille bei den

italienischen Meisterschaften gewann, schrieb die

Gazzetta dello Sport: „Dorios Tochter gewinnt den

Titel“. Sie nannten mich immer „ihre Tochter“.

Das nervte mich, doch ich dachte: Bald werdet ihr

nicht mehr über meine Mutter sprechen, sondern

nur noch über mich. Das wird eine tolle Geschichte,

auch weil ich die Goldmedaille meiner Mutter

widmen werde: „einer großartigen Frau und

großartigen Athletin“. Ihr werdet schon sehen!

Meine Mutter wird 13 Jahre brauchen, ihr Versprechen

aus dem Stadio dei Marmi einzulösen.

In Montreal 1976 wird sie Sechste. Damals ist

sie 19 Jahre alt. In Moskau 1980 belegt sie den

vierten Platz. Mamas Spiele finden in Los Angeles

1984 statt. Über die 800 Meter wirft sie die Medaille

einfach weg, wird wieder Vierte. Sie weint

einen Tag lang, um dann die 1.500 zu gewinnen.

Endlich. Es ist ein verrücktes Rennen. 13 Jahre

Training liegen zwischen dem Tag in Rom und

jenem in Los Angeles: 13 Jahre Training, Wettkämpfe,

Reisen um die ganze Welt, Verletzungen,

Aufstehen im Morgengrauen. Manchmal steht sie

schon morgens um fünf bei beißender Kälte am

Bahnhof. Sie will so früh wie möglich in Padua

sein, weil sie vor der Uni noch trainieren muss.

Sie ist nicht nur Läuferin, sondern auch Studentin.

Oma Vittoria sei Dank: „Wenn du studierst,

steht dir die Zukunft offen.“

Ich hatte eine vielversprechende Karriere als

Jugendliche, doch der Durchbruch blieb aus.

Der Höhepunkt war meine Teilnahme an der

U20-Weltmeisterschaft 2004. Jemand sagte,

ich habe Talent; die Wahrheit ist jedoch: Ich

habe es nicht geschafft. Zu viele Dinge müssen

zusammenpassen, um nach oben zu kommen.

Wenigstens habe ich es nie lautstark behauptet.

Man stelle sich vor: Die Dorio-Tochter kündigt

an, eine große Sportlerin zu werden. Vielleicht ist

das der entscheidende Unterschied…

Die Geschichte vom Coliseum ist gut. Anfang

1984 leidet meine Mutter an Achillessehnenproblemen.

Man schickt sie zum weltbesten Spezialisten

nach Los Angeles. Jeden Tag fährt sie dort mit

dem Bus an diesem gigantischen Bauwerk vorbei.

Es ist das Coliseum, wo bei den Sommerspielen

die Wettbewerbe der Leichtathleten stattfinden

sollen. Sie drückt dem fetten Typen mit der

Baseballmütze, der einen der Eingänge bewacht,

Es ist ein verrücktes Rennen. 13 Jahre Training liegen zwischen

dem Tag in Rom und jenem in Los Angeles: 13 Jahre Training,

Wettkämpfe, Reisen um die ganze Welt, Verletzungen,

Aufstehen im Morgengrauen.

die Hunderte von Frauen sah, die dort hineinein

paar Dollar in die Hand und schon ist sie drin.

Dort auf den staubigen Stufen sitzend, den Blick

auf die Wüste des riesigen Innenraums gerichtet,

umtost vom Lärm der Bulldozer, verfolgt Gabriella

ihr Olympia-Finale. Sie hört das Schreien des

Publikums, sie fühlt die Bahn unter ihren Spikes,

sieht die weißen Linien auf rotem Grund. Und da

ist auch mein Vater auf den Rängen. „Wenn ich an

jene Nachmittage auf der Baustelle im Coliseum

zurückdenke, sehe ich ein volles Stadion. Aber

da war keiner, nur ich und ein paar hundert

Bauarbeiter.“

Wenn ich morgens besser aus dem Bett kommen

würde, hätte ich vielleicht mehr erreicht in

meinem Leben. Auch deshalb mag ich ja den

Beruf als Journalistin; wir kommen erst am

späteren Morgen in die Redaktion. Aber ich bin

glücklich mit meinem Leben. Ich hörte früh mit

dem Laufen auf, mit 25. Ich hätte als Profi noch

zehn Jahre weitermachen können, doch als ich

merkte, dass es für die ganz großen Erfolge nicht

reichen würde, entschied ich mich für den Job.

Die Vorstellung, als 35-jährige Durchschnittsathletin

morgens aufzuwachen und keine Ahnung

zu haben, was ich mit mir anfangen sollte, glich

einem Albtraum. Ich kam durch Zufall zum

Journalismus, doch habe ich mich schnell damit

angefreundet. Das war schon lustig.

Am Tag der Siegerehrung warten die Journalisten

auf der Pressekonferenz auf sie. Vergeblich.

Erstens weil sie Journalisten hasst und zweitens,

weil sie lieber mit meinem Vater Disneyland besucht.

„Wir sind alles gefahren, auch die größten

Achterbahnen. Um ehrlich zu sein: Die haben wir

zweimal genommen.“

In den vergangenen Jahren habe ich von allen

Welt- und Europameisterschaften berichtet. Ich

war in Beijing, London und Doha. Das Schreiben

bedeutet für mich Selbstbestimmung, unabhängig

und frei zu sein, die Welt kennenzulernen, zu

träumen.

Wenn sie von dem Zieleinlauf in Los Angeles

spricht, erzählt meine Mutter immer dies: Als

sie die Linie überquerte, ihre Arme in die Höhe

reckte, begriff, dass sie Gold geholt hatte, das

Größte, was ein Athlet überhaupt nur erreichen

konnte… „Und was habe ich dann gemacht?“

Dann bekam sie mich. Die Tochter, die nie

Olympiasiegerin werden wird und sich für einen

ganz furchtbaren Karriereweg entschieden hat.

„Anna, bist du überhaupt eine richtige

Journalistin?“



IN ZEITEN DES MACHTVAKUUMS

SEBASTIAN HAHN

leistung kann durchaus schwache Schießergebnisse überdecken.

Im Gesamt-Weltcup schlägt sich das auch nieder. Die Italienerin Dorothea

Wierer überzeugt mehr in der Loipe als am Schießstand. Liefert sie

mal null Fehler ab, ist sie nahezu unschlagbar. Ähnliches gilt für Landsfrau

Lisa Vittozzi. Die Zeiten, in denen Magdalena Neuner alleine das

Feld in der Loipe dominieren konnte sind vorbei, eben weil sie einen

Trend gesetzt hat, der sich bis heute hält. Immer mehr Langläuferinnen

suchen den Weg in den Biathlon-Sport. Weil die Branche medienwirksamer

und auch attraktiver für Sponsoren ist als der oft eintönige

Langlauf. Dort hat Norwegen eine ähnliche Dominanz wie Deutschland

im Rodel- oder Bob-Sport.

In Antholz soll im Frühjahr die nächste große Party am Schießstand steigen.

Die Italiener haben aktuell eine Hochphase, neben Wierer und Vittozzi

haben auch die Herren mit Lukas Hofer einen aussichtsreichen Läufer im

Favoritenkreis. Antholz gilt unter Biathleten traditionell als beliebter Weltcup-Standort,

auch für Fans ist Südtirol in Sachen Anreise sicher angenehmer

als das verschneite und neblige Östersund in Schweden.

Während der Kampf um die Medaillen bei den Damen sehr offen ist, haben

die Herren mit Johannes Thingnes Bø einen überragenden Alleinunterhalter,

der im Vorjahr 16 Weltcup-Rennen für sich entscheiden konnte. Dem

Zweitplatzierten im Weltcup, Alexander Loginow, fehlten über 400 Punkte

auf den überragenden Norweger. Aus deutscher Sicht ruhen die Hoffnungen

auf Arnd Peiffer, Benedikt Doll und dem wiedergenesenen Simon Schempp,

der sich nach einer verletzungsgeplagten Saison allerdings erst zurück

in die Weltspitze kämpfen muss.

Ohne Laura Dahlmeier fehlt dem deutschen Team eine

starke Führungspersönlichkeit bei der Biathlon-WM. Das

bedeutet aber nicht, dass die Chancen gleich null sind.

Die deutsche Biathlon-Szene hatte im letzten Frühjahr ihren zweiten Magdalena-Neuner-Moment.

Dabei ist es im Zusammenhang mit Laura Dahlmeier

eigentlich unangebracht, über Magdalena Neuner zu sprechen. Aber die Parallelen

zwischen zwei Frauen, die die Biathlon-Szene in den vergangenen 15

Jahren mehr geprägt haben als viele Athletinnen vor ihnen, sind einfach zu

stark, um sie voll und ganz zu ignorieren. Sowohl Neuner als auch Dahlmeier

setzten mit ihren Leistungen in der Loipe neue Maßstäbe, beide holten zahlreiche

WM-Titel und olympische Medaillen. Und beide beendeten ihre Karriere

auf dem Höhepunkt, lange bevor Top-Athleten ihren Zenit eigentlich

überschreiten. Und beide mit nur 25 Jahren. Außergewöhnliche Entscheidungen,

die großen Respekt verdienen, die die deutsche Biathlon-Szene im

Weltcup-Winter 2019/20 aber vor neue Herausforderungen stellen.

Vor allem Denise Herrmann soll die Lücke füllen. Herrmann ist einen

anderen Weg gegangen als Neuner und Dahlmeier, auch wenn sie über

ihre starke Laufleistung kommt. Ursprünglich als Langläuferin aktiv, ist

Herrmann erst seit 2016 im Biathlon-Weltcup unterwegs, hat in dieser

Zeit aber schon vier Weltcup-Siege eingefahren, gekrönt

vom WM-Titel in der Verfolgung in Östersund 2019

– zwei Ränge vor Dahlmeier, die sich zum Ende

ihrer Karriere noch

mal zwei Medaillen

in Schweden

sichern

konnte. Herrmann

wird mit 31

Jahren nicht mehr zur überragenden

Schützin werden. Aber sie bringt

Stärken mit, die Neuner und Dahlmeier

groß gemacht haben und die im deutschen

Biathlon seit Jahren als Schlüsselfaktoren für

den Erfolg gelten. Der Tenor: Eine gute Lauf-

Ähnlich wie bei den Damen wird es auch bei den Herren darum

gehen, als Team zu überzeugen, denn trotz der großen

Hoffnungen in Denise Herrmann sticht kein deutscher Athlet wirklich heraus.

In den Staffel-Wettbewerben ist ein Sieg trotz der hohen Leistungsdichte

aber keine Selbstverständlichkeit. Die Konkurrenz hat aufgeholt –

aber im Gegensatz zu den Vorjahren gibt es in engen Situationen keinen

herausragenden Biathleten oder eine Biathletin, der oder die die Konkurrenz

ausstechen könnte. In Einzelfällen ist das möglich, aber nicht mehr

konstant. In solchen Momenten wird Laura Dahlmeier fehlen, genau wie

Magdalena Neuner. Eine Nachfolgerin wird es aber mit Sicherheit geben.

Die Frage ist nur, ob schon in Antholz.

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DER BESESSENE

Martin Fourcade gehört zu den erfolgreichsten Biathleten aller Zeiten, gewann siebenmal den

Gesamtweltcup und mehr als 70 Einzelrennen. Ein Wettkampf ohne Sieg ist für den

Franzosen ein verlorener Wettkampf.

SARAH LUISE FENSKE

Frankreich um die Jahrtausendwende.

Gut eine halbe Autostunde von der

Gemeinde Font-Romeu-Odeillo-Via im

Naturpark Pyrénées Catalanes entfernt. Martin

Fourcade lebt hier mit seinen Eltern und seinen

zwei Brüdern in dem Ferienhaus „La Cassagne“.

Die Hauptbeschäftigung der Jungen: Sport.

„Mir kam es von Anfang an auf den Wettbewerb

an: Egal mit welcher Art der Fortbewegung, ich

musste immer als Erster auf dem Gipfel sein“,

schreibt er in seiner Biografie Mein Traum von

Gold und Schnee über diese Zeit. 20 Jahre später

hat sich daran nichts geändert. „Ich muss bis

zum Äußersten gehen, alles dafür tun, um es zu

erreichen. (…) Ich träume nicht davon, Titel zu

sammeln, aber ich möchte jedes Mal, wenn ich

an den Start gehe, gewinnen. Ich will der Beste

sein: heute!“ Er ist besessen vom Siegen.

Durch seinen vier Jahre älteren Bruder Simon

kommt Martin mit Biathlon in Berührung

„Martin hat ein enormes

Talent und die körperlichen

Voraussetzungen, um der Beste

der Welt zu sein. Ich habe ihn

aber eben auch als wahnsinnig

ehrgeizig und zielstrebig

erlebt.“ Simon Schempp

und beschließt: Ich werde Profi. Schon damals

verliebt er sich in Hélène – seine heutige Frau.

Martin ist gerade 14 Jahre alt, als er ihr mitteilt:

„Wenn Du mich heiratest, wirst Du mich

mehr im Fernsehen sehen als in echt.“ Mit 15

beschließt er, sein idyllisches Elternhaus in den

Pyrenäen gegen ein Sportinternat in den Alpen

einzutauschen. „Meine Eltern wollten nicht,

dass ich sie verlasse. Ich musste lange betteln,

bis ich gehen durfte. Es war meine Entscheidung

und deswegen fiel sie mir leicht.“ Er ist

besessen und angetrieben von dem Gedanken,

der beste Biathlet der Welt zu werden. Obwohl

Biathlon damals in Frankreich wenig Beachtung

fand. Zwar dominierte mit Raphaël Poirée ein

Franzose den Weltcup – in Skandinavien oder

Deutschland war der Hype um ihn aber um ein

Vielfaches höher. Eine Tatsache, die Martin

Fourcade wenige Jahre später änderte.

In der Saison 2007/08 gab der damals 19-Jährige

in Oslo sein Debüt im Weltcup. 2010

gewann er an gleicher Stelle sein erstes Einzelrennen.

Seitdem sicherte Martin sich mehr

als 70 Siege, gewann siebenmal hintereinander

den Gesamtweltcup, ist im Besitz von elf

WM-Goldmedaillen. Mit fünf Olympiasiegen

ist er zudem der erfolgreichste französische

Olympionike aller Zeiten. „Natürlich hat Martin

ein enormes Talent und die körperlichen

Voraussetzungen, um der Beste der Welt zu

sein. Ich habe ihn aber eben auch als wahnsinnig

ehrgeizig und zielstrebig erlebt“, erklärt

der deutsche Biathlet Simon Schempp im

Gespräch mit SOCRATES. „Ich denke, er hat

viele Jahre immer genau die richtigen Schlüsse

aus jeder einzelnen Saison gezogen und konnte

sich dadurch immer weiterentwickeln. Die

meisten Dinge, die er verbessern wollte, hat er

dann tatsächlich besser hingekriegt.“ Für den

Norweger Johannes Thingnes Bø ist der Franzose

ein großes Vorbild: „Ich wollte immer

sein wie er. Ich wollte nur deshalb so konstant

gut sein, weil er es immer war.“

Und Fourcade hat eben geschafft, was seinem

erfolgreichen Vorgänger Poirée verwehrt blieb:

Das Interesse der Franzosen an Biathlon hat

enorm zugenommen. Im Dezember 2013 fand

in Le Grand-Bornand zum

ersten Mal nach 21 Jahren

wieder ein Weltcup statt.

Fourcade hatte in den

beiden Jahren zuvor

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Fourcade hat geschafft, was

seinem erfolgreichen Vorgänger

Poirée verwehrt blieb: Das

Interesse der Franzosen

an Biathlon hat enorm

zugenommen.

Jahren mit Fourcade befreundet und weiß, wie

dieser Eindruck entsteht: „Von Anfang an, seit

ich ihn kenne, war er schon immer ein wirklich

umgänglicher Typ – außerhalb der Strecke. Im

Wettkampf war und ist er immer unbequem.

Was einfach damit zu tun hat, dass er den Sieg

unglaublich mag und er wirklich immer die 100

Prozent aus sich rausholen möchte.“

Es sind aber auch Fourcades Aussagen, die so

den Gesamtweltcup für sich entschieden und

reiste als Favorit an. Doch ausgerechnet in Le

Grand-Bornand macht er nicht mit einem Sieg

von sich reden, sondern mit einer kuriosen Situation:

Der Schwede Fredrik Lindström steigt

ihm bei einem Anstieg versehentlich auf den

Ski. Fourcade haut vor Wut mit seinem Stock

nach hinten und schlägt dem Schweden dabei

den Stock aus der Hand. Wenige Meter später

haben sich seine Nerven plötzlich wieder

beruhigt. Martin bleibt stehen, überlässt einen

seiner Stöcke dem Schweden und läuft selbst

einen Teil der Strecke mit nur einem Stock.

Populär wird zu dieser Zeit auch seine Siegerpose

nach dem letzten Schießen – die in die Luft

gestreckte Faust in Richtung seines Trainers,

weil er sich zum Zeitpunkt der Rennen oftmals

dort schon des Sieges sicher war. Es sind

unter anderem Aktionen wie diese, die ihm

den Ruf einbrachten, ein etwas unbequemer

und spezieller Athlet zu sein. Schempp ist seit

manchen erst mal stutzen lassen. Ein TV-Team

der ARD besuchte ihn vor einigen Jahren in

seinem Heimatort in den Pyrenäen, wo er

sich allein auf die nächste Saison vorbereitete.

„Ich glaube, jeden Tag in einer Gruppe zu

trainieren, wäre nichts für mich. Das wäre, wie

in einer Firma zu arbeiten. Ich muss es allein

machen“, erklärte er. Ein weiteres Beispiel: Als

sein jahrelanger Schießtrainer und enger Vertrauter

Siegfried Mazet 2016 als Trainer nach

Norwegen wechselte, sprach Martin offen von

Verrat. „Ich weiß, dass sich meine Verbitterung

legen und ich niemals vergessen werde, was er

alles für mich getan hat. Aber es schnürt mir

trotzdem den Hals zu bei dem Gedanken, dass

er ausgerechnet zu unseren größten sportlichen

Gegnern wechselt. Sauer bin ich auch

auf den norwegischen Verband, da ich weiß,

dass es ihnen nicht nur um das Projekt geht,

sondern auch darum, meine Organisation aus

dem Gleichgewicht zu bringen.“

Der zweifache Familienvater hat keine Angst,

seine Meinung zu sagen. Besonders deutlich

wird das beim Thema Doping. Wie kein anderer

Athlet kämpft er laut und entschieden

gegen Dopingvergehen im Biathlon. „Man

sagt mir oft, dass es viel Mut brauche, um zu

diesem Thema Position zu beziehen. Ich halte

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„Er hat viele Jahre immer genau die richtigen Schlüsse aus

jeder einzelnen Saison gezogen und konnte sich dadurch immer

weiterentwickeln. Die meisten Dinge, die er verbessern wollte, hat

er dann tatsächlich besser hingekriegt.“ Simon Schempp

mich nicht für besonders mutig, aber der Sport

war für mich ein Kindheitstraum. (…) Ich wäre

nicht fähig, mit dem Wissen weiterzuleben,

dass das falsch ist, dass meine Leistungen die

Folge einer künstlichen Hilfestellung sind,

dass das, was ich mache, tatsächlich nur eine

Täuschung ist.“ Bei der WM 2017 wurde

die russische Mixed-Staffel Dritter hinter

Deutschland und Frankreich. Mit im Team:

unter anderem der überführte Doping-Sünder

Alexander Loginow. Fourcade verließ die Siegerehrung

aus Protest vorzeitig. „Ich kämpfe

für sauberen Sport und wer das nicht akzeptiert,

muss damit klarkommen.“

Seit 2018 gehört Fourcade zum Team der

Athletensprecher des Biathlonverbandes IBU.

In den Augen von Simon Schempp genau die

richtige Wahl: „Ich empfinde ihn als einen sehr

kompetenten Athletensprecher. Er hat zu fast

allen Themen eine klare Meinung. Auch bevor

er dieses Amt innehatte, hat er zu einigen

Themen Stellung bezogen und sich dann auch

dafür eingesetzt. Da er zu den erfolgreichsten

Athleten überhaupt gehört, hat sein Wort dementsprechend

auch Gewicht und wir bekommen

vielleicht sogar mehr Gehör.“

Martin Fourcade hat aus seiner Besessenheit

eine große Karriere aufgebaut. Er ist einer

der erfolgreichsten Biathleten aller Zeiten,

verdient mit seinen Erfolgen und Werbepartnern

Millionen und hat im Musée Grévin in

Paris sogar eine eigene Wachsfigur. All das

beschäftigt ihn derzeit jedoch wenig. Vielmehr

sind es seine sportlichen Leistungen, mit

denen er seit der letzten Saison hadert. Bei

der WM in Östersund bliebt der erfolgsverwöhnte

Franzose sogar ganz ohne Medaille.

Seine Formkrise vermutet er unter anderem in

mangelnder Regenerationszeit durch zu viele

öffentliche Termine. „Ich kann das durchaus

nachempfinden. Bei mir hatte es andere Gründe,

aber meine Regeneration ließ auch schon

zu wünschen übrig und ich hatte nicht die Zeit,

um nach den harten Trainingseinheiten richtig

zu regenerieren. Dass die Leistung im Winter

dann nicht so ist, wie er es gewohnt war und

sich auch erhofft hatte, ist dann die logische

Folge dessen“, sagt Schempp.

Der Dominator, der nahezu unschlagbare

Superstar im Biathlon heißt jetzt Johannes

Thingnes Bø. Er wurde vom Jäger zum

Gejagten und erläuft sich seine zahlreichen

Siege scheinbar spielerisch. Dass der 26-Jährige

die ersten Weltcups zu Beginn des neuen

Jahres auslässt, weil er sich mit seiner Frau

Hedda über Nachwuchs freut, wird die

Zuschauer ein wenig aufatmen lassen. Fünf

von sieben Einzelrennen entschied Bø für sich;

das lässt Angst vor Langeweile aufkommen.

Während der Norweger sich seinem Nachwuchs

widmet, wird Fourcade weiter hart an

seinem Erfolgscomeback arbeiten. „Solange

ich den Funken von damals noch immer spüre,

solange die Flamme, die in mir brennt, nicht

aufhört zu brennen.“ Dass er Bø schlagen

kann, hat er am 4. Dezember gezeigt, als er das

Einzelrennen in Östersund für sich entschied.

Aber ein Sieg in sieben Rennen – das ist einem

Besessenen viel zu wenig.



VON EINER AUF DIE ANDERE

SEKUNDE IST ALLES AUS

Maria Höfl-Riesch ist dreifache Olympiasiegerin und eine Legende des alpinen Skisports.

Mit SOCRATES sprach die 35-Jährige über Unwägbarkeiten und Risiken,

ihr großes Idol und eine echte Freundin.

BANU YELKOVAN

Maria, weil wir uns hier am Rande einer

Laureus-Veranstaltung treffen, muss

ich Sie fragen: Wie würden Sie Ihre Verantwortung

für den Sport beschreiben?

Gerade Athleten, die sehr erfolgreich waren,

sollten dankbar sein für die Möglichkeiten, die

sich ihnen geboten haben. Wenn man in der

Lage ist oder eine Rolle innehat, in der man

anderen helfen und sie unterstützen kann,

dann sollte man es auch tun. Das halte ich jedenfalls

für sehr wichtig. Die Laureus Stiftung

ist eine sehr gute Möglichkeit dafür.

Ich stelle allen Sportlern, die ich treffe,

diese Frage: Welches sind die drei

besten Momente Ihrer Karriere? Sie

müssen sich entscheiden.

Dann würde ich sagen: Mein erster Titel

bei der Junioren-WM 2001 in Verbier, der

Comeback-Sieg in Lake Louise 2006 nach

meiner schweren Verletzung und die zweite

Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in

Vancouver 2010.

Okay, damit hatte ich gerechnet. Und

die drei schlimmsten?

Natürlich fallen mir da sofort meine beiden

schweren Verletzungen ein. Es ist immer sehr

bitter, wenn die Arbeit eines ganzen Sommers

verloren ist. Man arbeitet Tag für Tag und

dann, von einer Sekunde auf die andere, ist

alles aus. Für ein halbes Jahr! Das tut nicht

nur weh: Man weiß ja auch nicht, wie es

danach weitergeht. Schaffe ich überhaupt die

Rückkehr? Kann ich wieder Rennen gewinnen?

Das war jedes Mal schon richtig schlimm.

Enttäuschende Rennen gab es natürlich mehrere,

aber an eins erinnere ich mich besonders.

Ich hatte eine sehr schwierige Saison, bin sehr

schlecht gefahren und hatte einfach keine Ahnung,

woran es lag. Dann kam dieser Slalom in

Österreich und plötzlich ging es wieder. Ich lag

nach dem ersten Durchgang in Führung, hatte

den Sieg vor Augen und stürzte dann kurz

vor dem Ziel. Das war fürchterlich. Ich weiß

nicht genau, warum, denn es war auch nur ein

Rennen von vielleicht 400, aber es ist mir im

Gedächtnis geblieben.

Skisport ist sehr heikel. Man muss un-

„Ich habe am Anfang davon

geträumt, eine Weltklasse-Rennläuferin

zu werden.

Ich war eine leidenschaftliche

Skiläuferin, der Rest kam dann

später einfach dazu.“

glaublich schnell sein, wenige Sekundenbruchteile

entscheiden über einen

Sieg oder einen Platz außerhalb der Top

Ten, das Risiko von Verletzungen fährt

immer mit – und man kann im Prinzip

nichts kontrollieren. Denken wir nur

allein an das Wetter…

Das stimmt, es ist schon hart.

Mit dem Wissen von heute: Würden Sie

noch mal den gleichen Weg einschlagen?

Über diese Dinge habe ich nie nachgedacht.

Ich habe am Anfang davon geträumt, eine

Weltklasse-Rennläuferin zu werden und bei

Olympia auf dem Podium zu stehen. Aber als

Kind oder als Jugendliche denkst du nicht an

die Begleitumstände und daran, dass du auch

Pech haben könntest. Ich war eine leidenschaftliche

Skiläuferin, der Rest kam dann

später einfach dazu.

Am Anfang weiß man nie, was werden

wird. Wann haben Sie gemerkt, dass Sie

das Zeug für eine große Karriere haben?

Waren Sie von Anfang an ambitioniert?

Ich war schon sehr früh sehr talentiert, aber da

gab es viele Kinder, die auch sehr gut waren.

Man kann nie wissen, was einmal daraus wird.

Man versucht natürlich alles, gibt sein Bestes

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– 90 – mentalität

ADV

„Lindsey war eine unglaublich harte Konkurrentin. Was sie charakterlich von allen anderen

unterschieden hat, war ihr Mut zum Risiko. Sie ging immer ans Limit.“

und vertraut in die eigenen Fähigkeiten, aber

man braucht auch jede Menge Unterstützung.

Es braucht die Hilfe der eigenen Eltern, man

benötigt gute Trainer und zum richtigen Zeitpunkt

auch einfach Glück. Wenn man das alles

hat und Tag für Tag und Jahr für Jahr daran

arbeitet, dann klappt es irgendwann.

Welches wäre Ihr Sport gewesen, wenn

es mit der Laufbahn auf Skiern nicht

geklappt hätte?

Bis 13 war ich eine ziemlich gute Tennisspielerin.

Dann wurde es zu kompliziert, beiden

Sportarten nachzugehen. Es gab ja auch noch

die Schule. Also konzentrierte ich mich aufs

Skifahren, weil meine Leidenschaft dafür noch

größer war. Ich habe die Entscheidung nie bereut.

Ich spiele aber immer noch gerne Tennis

und sehe gerne zu.

Wer ist Ihr Idol? Sie dürfen keinen Ski-

fahrer nennen…

Boris Becker.

Echt?

Wie erwähnt bin ich ein großer Tennisfan und

ich kenne Boris schon eine ganze Weile ganz

gut. Ich empfinde den größten Respekt für

seine Leistungen und Erfolge. Ich weiß auch,

dass in seinem privaten Leben nicht immer

alles perfekt gelaufen ist, aber er war und ist

ein großer Sportsmann.

Ihre größte Rivalin? Nicht nachdenken,

seien Sie spontan.

Lindsey Vonn. Das ist doch keine Frage! Ich

habe mit ihr in Schweden nach dem letzten

Rennen ihrer Karriere gefeiert. Ich habe mich

so für sie gefreut, dass sie am Ende noch mal

eine Medaille gewonnen hat. Sie hatte eine so

harte Zeit davor. Schließlich hat sie gemerkt

und vor allem akzeptiert, dass es vorbei ist.

Ihre Leistung bei der WM-Abfahrt war fantastisch

und der dritte Platz das perfekte Ende

ihrer Karriere.

Lindsey hat sich in einem Interview für

unser Magazin ebenfalls sehr positiv

über Sie geäußert, deshalb würde ich Ihnen

gerne noch eine Frage zu ihr stellen.

Wie war es, sie zur Rivalin zu haben und

was zeichnet ihre Persönlichkeit aus?

Sie war natürlich eine unglaublich harte

Konkurrentin. Einige Jahre lang war sie einfach

zu stark. Sie hatte ein fantastisches Gefühl für

den Ski. Was sie charakterlich von allen

anderen unterschieden hat, war ihr Mut zum

Risiko. Sie ist immer in die Vollen gegangen

ohne Rücksicht auf Verluste. Deshalb ist sie so

oft gestürzt und war so oft verletzt. Sie ging

immer ans Limit. Sie war eine tolle Sportlerin

– und ich bin stolz und glücklich, dass ich sagen

kann: Sie ist meine Freundin.

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VERPOKERT, VERLOREN,

VERKANNT?

Nico Hülkenbergs Tage in der Formel 1 sind nach zehn Jahren offenbar gezählt.

Die immensen Erwartungen hat er nie erfüllen können. Warum der 32-Jährige in der Königsklasse

in die Sackgasse geriet, hat diverse Ursachen. Ganz unschuldig daran ist er sicher nicht.

KARIN STURM

Es gab Zeiten, da galt Nico Hülkenberg

als das ganz große neue deutsche

Talent in der Formel 1. Als einer,

der neben Sebastian Vettel die deutsche

Formel-1-Geschichte fortschreiben würde.

Damals, 2010 in Brasilien zum Beispiel, als

Vettel mitten im Kampf um seinen ersten Formel-1-WM-Titel

steckte. Und Hülkenberg, der

GP2-Champion von 2009, in seinem ersten

Formel-1-Jahr überhaupt, seinen Williams in

Interlagos völlig überraschend auf die Pole

Position stellte. Sicher, die Umstände spielten

ein bisschen mit: In seinem 18. Formel-1-Qualifying

profitierte er von wechselhaften Bedingungen,

er ging zum idealen Zeitpunkt mit

Slicks auf die brasilianische Rennstrecke und

war letztlich eine Sekunde schneller als Vettel,

gefolgt von Mark Webber im zweiten Red Bull.

Und war damals selbst überrascht: „Damit hatte

keiner gerechnet, auch ich nicht.“

Toro Rosso in Monza. Jener Vettel, der Hülkenberg

damals in Brasilien große Komplimente

machte: „Hut ab, das hat Nico toll gemacht. Die

Verhältnisse waren tückisch, es war sehr leicht,

einen Fehler zu machen.“

Aber im Gegensatz zu denen, die nach solchen

Highlights zu absoluten Superstars der Szene

wurden, startete die Karriere des Nico Hülkenberg

nie so richtig durch. Sicher, da spielten auch

äußere Umstände mit, politische Entscheidungen,

Konkurrenten mit Sponsor-Millionen in der

Hinterhand... Dennoch: Anstatt irgendwann in

einem Top-Team zu landen, stand der inzwischen

32-Jährige am Ende der Saison 2019 vor

dem zumindest vorläufigen, wenn nicht endgültigen

Aus seiner Formel-1-Karriere.

Und sah sich immer wieder mit der Frage

nach dem Warum konfrontiert. Nur Pech und

äußere Umstände? Oder vielleicht doch auch

noch etwas anderes? Seine Einschätzung:

„Klar habe ich in der Königsklasse Fehler

gemacht, so wie das jeder Mensch in seinem

Leben getan hat. Gewiss würde ich rückblickend

heute Einiges anders machen, aber im

„Gewiss würde ich rückblickend heute Einiges anders machen, aber

im Nachhinein bist du immer der Schlaue. Ich bereue nichts, ich sehe

die Formel 1 nicht als unerledigtes Geschäft.“ Nico Hülkenberg

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Aber gerade das Ausnützen günstiger Umstände,

die Fähigkeit, dann im entscheidenden

Moment auch in einem unterlegenen Auto sein

Talent zu zeigen, das brachte in der Geschichte

der Formel 1 schon vielen der ganz Großen die

ersten wichtigen Schritte ihrer Karriere. Man

denke an Ayrton Sennas zweiten Platz im Toleman

1984 in der Regenschlacht in Monaco,

an Michael Schumachers siebten Startplatz bei

seinem Formel-1-Debüt in Spa 1991, an Fernando

Alonso, der mit dem an sich hoffnungslosen

Minardi 2001 immer wieder aufhorchen ließ –

oder auch an Vettels ersten Sieg 2008 mit dem



mentalität

– 95 –

Als der Sprung in ein Top-Team nie gelang, entstand ja der Eindruck,

Hülkenberg werde, nach mehreren Management-Wechseln nicht

immer gut beraten, von seiner Umgebung in der Tendenz, sich doch

bisweilen selbst zu überschätzen, noch bestärkt.

Nachhinein bist du immer der Schlaue. Ich

bereue nichts, ich sehe die Formel 1 nicht als

unerledigtes Geschäft. Ich habe über Jahre

hinaus konstant Leistung gebracht. Ich finde,

das spricht für eine gewisse Qualität. Gewiss,

ich würde gerne eine bessere Bilanz vorweisen

können. Aber alles in allem bin ich mit

mir im Reinen.“

Objektiv stehen da einige Zahlen: 177 Grands

Prix, dabei kein einziger Podiumsplatz – ein

einsamer, wenn auch eher negativer Rekord.

Dreimal Vierter stehen als beste Rennergebnisse

zu Buche. Mehrfach vergab er die Chance

auf ein Podest, wenn die Situation ihm in die

Hände spielte, auch durch eigene Fehler – zuletzt

im Chaos-Rennen von Hockenheim 2019.

Ein Image, das ein bisschen kleben blieb, vor

allem im Zusammenspiel mit der Tatsache,

dass der Emmericher im Fahrerlager stets den

Ruf hatte, eine sehr hohe Meinung über sein

eigenes Potenzial zu haben – und das auch

deutlich zu zeigen.

Und dabei vielleicht auch manchmal ein

bisschen die Realität zu verkennen – oder sie

einfach nicht sehen zu wollen: 2019 bekam er

bei Renault mit Daniel Ricciardo einen neuen

Teamkollegen – und tat sich teilweise ziemlich

schwer gegen den Australier. Was in der Formel

1 nun einmal bedeutet, dass die eigene Aktie

schnell an Wert verliert. Hülkenberg merkte

das anscheinend nicht wirklich: Dass er bei

Renault durch Mercedes-Junior Esteban Ocon

ersetzt würde, sicher zum Teil auch aus politischen

Gründen, weil ein französischer Fahrer

im Team hilfreich sein könnte, einen zögernden

französischen Konzernvorstand von einem

weiteren Formel-1-Engagement zu überzeugen,

das war im Sommer dem ganzen Fahrerlager

über Wochen klar – nur ihm selbst lange nicht.

Wer ihn darauf ansprach, der wurde schon mal

brüsk als unwissend, auf Gerüchte hereinfallend

oder noch drastischer abgebügelt.

Nun ja, in der Sommerpause 2019 vor dem

Belgien-GP wurde der Wechsel dann offiziell.

Doch noch schien das nicht das Ende der

Hülkenberg-Karriere. Da waren ja schließlich

noch das Haas-Team und dessen Chef Günther

Steiner. Der hatte immer wieder sein Interesse

an dem Deutschen bekundet und durchklingen

lassen, dass er eigentlich keine Lust mehr auf

eine weitere Zusammenarbeit mit dem zwar

manchmal sehr schnellen, aber auch inkonstanten

und öfters selbstmitleidigen und aufbrausenden

Franzosen Romain Grosjean habe.

Umso größer dann die Überraschung, als sich

Steiner doch, noch vor Singapur im September,

für Grosjean entschied und im Nachhinein

überall herumerzählte, man habe zwar verhandelt,

aber es habe kein konkretes Angebot an

Hülkenberg gegeben und man habe sich angesichts

der massiven technischen Probleme des

Teams doch lieber für die bekannte Größe Grosjean

entschieden. Diese Erklärung nahm dem

sonst so direkten und geradlinigen Südtiroler

keiner im Fahrerlager wirklich ab. Hülkenberg

sagte ja selbst auch deutlich: „Natürlich hatte

ich ein Angebot!“ Warum er es dann nicht annahm?

Das „Gesamtpaket“ habe nicht gepasst,

wie das so schön heißt, man sei einfach nicht

zusammengekommen. Bedeutete wohl: Der

32-Jährige wollte zu viel Geld – was unter der

Hand massiv die Runde machte, auch wenn

Hülkenberg selbst das dementierte. Auch die

Vertragslaufzeit sei ein Streitpunkt gewesen.

Ob er da noch auf seinen alten Kumpel, Alfa-

Romeo-Teamchef Frédéric Vasseur, hoffte?

Der war 2009 sein Teamchef bei ART, als

Hülkenberg den GP2-Titel holte. Ende 2016

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lotste ihn Vasseur von Force India, wo er beim

für seine nicht besonders gute Zahlungsmoral

bekannten Teamchef Vijay Mallya immer

wieder seinem Geld hinterher laufen musste,

zu Renault, wo Hülkenberg drei Jahre richtig

gut verdiente. Vasseur hält immer noch große

Stücke auf seinen Champion von damals, doch

Hülkenberg hätte eigentlich klar sein müssen,

dass das allein wohl nicht reichen würde.

Denn Vasseur waren von Anfang an die Hände

gebunden: Der politische Druck von Ferrari

auf das Kundenteam Alfa war so groß, dass

er den Ferrari-Junior Antonio Giovinazzi als

Teamkollegen von Altmeister Kimi Räikkönen

behalten musste, obwohl der Italiener die ganze

Saison über nicht besonders geglänzt hatte,

durch wenig Konstanz in den Rennen besonders

aufgefallen war und durch überflüssige

Fehler wichtige Punkte weggeworfen hatte.

Zu hoch gepokert also? Und dadurch eine einst

so vielversprechende Karriere in den Sand

gesetzt? Schon früher, als der Sprung in ein

Top-Team nie gelang, entstand ja der Eindruck,

Hülkenberg werde, nach mehreren Management-Wechseln

nicht immer gut beraten, von

seiner Umgebung in der Tendenz, sich doch

bisweilen selbst zu überschätzen, noch bestärkt.

Oder ist er doch vor allem Opfer der Umstände

geworden, die Geld und Politik höher werten

als fahrerische Leistung, wie etwa Sergio Pérez,

Ex-Teamkollege bei Force India, glaubt? Oder

ist er einfach doch nicht so gut, um zu den ganz

Großen in der Formel 1 zu gehören? Das jedenfalls

meinte Jacques Villeneuve, der Weltmeister

von 1997, um dann noch in seiner typisch

provokanten Art hinterher zu schieben: Angesichts

seiner Leistungen habe sich Hülkenberg

doch ziemlich lange in der Formel 1 gehalten.

Die Wahrheit enthält wohl ein bisschen von

allem. Dazu gesellte sich ein langsam einsetzender

Prozess von Umdenken, von Neuorientierung,

weg von der absoluten Fixierung auf

die Formel 1 um jeden Preis, für weniger Geld,

mit Chancen maximal auf Mittelfeldplätze.

Der Nico Hülkenberg der letzten Rennen der

Saison 2019 schien innerlich tatsächlich auf

dem Weg, sich selbst davon zu überzeugen, die

Formel 1, vielleicht sogar den Rennsport insgesamt,

zu seinem Glück nicht mehr unbedingt

zu brauchen. Ohne sich dabei hundertprozen-

Der Nico Hülkenberg der letzten Rennen der Saison

2019 schien innerlich tatsächlich auf dem Weg,

sich selbst davon zu überzeugen, die Formel 1 zu

seinem Glück nicht mehr unbedingt zu brauchen.

tig darüber im Klaren zu sein, wie es mit ihm

weitergehen solle.

Auf die Frage, welche Wege ihm künftig noch

offenstünden, spottete er gerne mit Galgenhumor:

„Zur Auswahl stehen jetzt Pizzabäcker, Friseur,

Zahnarzt, Schönheits-Chirurg oder Frauenarzt.“

Ganz so schlimm sei es natürlich nicht: „Es ist

nichts unterzeichnet, und das wird sich in absehbarer

Zukunft auch nicht ändern. Ich habe aber

Anrufe von verschiedenen Rennställen erhalten,

aus ganz unterschiedlichen Serien, aber konkret

tut sich derzeit gar nichts.“ Trotzdem sei er eigentlich

ganz entspannt. „Ich werde mich in Ruhe

hinsetzen und entscheiden, was aus mir werden

soll. Ich fühle mich nicht unter Druck, und ich

werde ganz sicher nichts überstürzt unterschreiben,

nur um irgendwo fahren zu

können.“ Ist vielleicht auch

eine echte Auszeit denkbar

– zumindest für ein Jahr?

„Ein Sabbatical? Ich weiß

nicht. Ein Jahrzehnt Formel 1,

das ist sehr intensiv, da lebst du

in einem hohen Rhythmus. Ich

muss vielleicht zunächst mal

herausfinden, in welche Richtung

mein Leben gehen soll.“

Von einem offiziellen Rücktritt

will er trotz allem nichts wissen:

„Ich bin für alle Gelegenheiten

offen.“



ÜBERFLIEGER

IM ZWEITEN ANLAUF

Primož Roglič tauschte vor einigen Jahren die Skisprung-Bretter gegen den Drahtesel.

Seitdem steigt sein Stern unaufhaltsam. Das Porträt eines Ausnahmeathleten,

eines Champions auf dem zweiten Bildungsweg.

JAN ZESEWITZ

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Eigentlich sollte jetzt im Winter die

große Zeit des Primož Roglič sein.

Die Zeit, in der Berichte über seine

Flugkünste in Diensten des slowenischen

Skisprung-Teams hervorgehoben werden.

Stattdessen feierte er seinen bisher größten

sportlichen Erfolg im September in Spanien.

Während seine ehemaligen Kollegen noch auf

grünen Matten die Hänge hinuntersprangen,

fuhr er sie hinauf. Auf dem Fahrrad. Schneller

als alle anderen.

Roglič gewann die Spanien-Rundfahrt und damit

als erster Slowene überhaupt eine dreiwöchige

Rundfahrt. Der Erfolg kam nicht überraschend,

wenn man sich das Jahr 2019 ansieht.

Blickt man jedoch mehrere Jahre zurück, in die

Zeit, in der sich normalerweise große Karrieren

entwickeln, grenzt er an eine Sensation.

Wer im slowenischen Dörfchen Kisovec geboren

wird, wird Skispringer. So lautet die Regel und

der kleine Primož hielt sich daran. Bereits mit

acht Jahren startete er erste Versuche. Er war

schnell gut darin – eine Eigenschaft, die ihn auch

später auszeichnen sollte. Bei der Junioren-WM

2006 gewinnt er mit dem Team Silber, im Jahr

darauf Gold. Im zweitklassigen Continental-Cup

springt er vorne mit. Alles deutet auf eine

Karriere im Winter hin, Fahrrad gefahren ist der

17-Jährige bis dahin nur in seiner Freizeit.

Das beginnt sich 2007 sehr langsam zu ändern.

Ein Sturz auf der Skiflugschanze in Planica wirft

ihn zurück. Der Slowene beschreibt die Folgen

dieses Ereignisses allerdings weit weniger folgenreich.

„Nach meinem Sturz habe ich zwar weiter

trainiert. Aber ich wurde nicht mehr besser,

während viele um mich herum, denen ich vorher

überlegen war, nun weiter flogen als ich“, erzählte

er vor einigen Jahren in einem Interview.

Generell ist Roglič keiner, der große Worte

verliert. In Interviews hält er sich bedeckt,

antwortet oberflächlich und sehr ruhig. Selten

sieht man eine emotionale Regung von ihm,

kaum einmal hebt er seine Stimme. Sein

Wer im slowenischen

Dörfchen Kisovec geboren

wird, wird Skispringer. So

lautet die Regel und der

kleine Primož hielt sich daran.

auffälligstes Merkmal ist das riesige Kreuz,

das auf seinen rechten Unterarm tätowiert

ist. Sichtbar erst, seit er auf dem Rad meist

schneller als alle anderen ist.

Nachdem er feststellen musste, dass er nicht

der beste Skispringer aller Zeiten werden

würde, sattelte er um und wandte sich dem

Radsport zu. Er wechselte nicht von einem

Tag auf den anderen den Beruf, hängte aber

mit 20 Jahren im Jahr 2011 die Latten endgültig

an den Nagel.

Bei den ersten Wettkämpfen auf der Straße

lieh er sich ein Rad vom Nachbarn, das allerdings

von einem Rennrad weit entfernt war.

Irgendwann konnte er beim Fortbewegungsmittel

aufrüsten und bekam 2013 einen ersten

Profivertrag beim slowenischen Team Adria

Mobil. „Primož hat einfach den falschen Sport

gewählt“, sagte der Betreiber des Rennstalls,

Bogdan Fink, einmal über den Umweg über

die Schanze seines ehemaligen Schützlings.

Der Beginn einer Erfolgsgeschichte – mit 23

Jahren. Erfolg auf dem zweiten Bildungsweg.

Dass Roglič sechs Jahre später Sieger einer



mentalität

– 99 –

den Spätsommer seiner Karriere, als Roglič

noch Skier an den Füßen hatte. In Slowenien

wird insbesondere er nun wie ein Volksheld

verehrt. Er musste sich bereits selbstgemalte

Skizzen des slowenischen Ministerpräsidenten

als Geschenk überreichen lassen.

Nach der Vuelta gewinnt er noch zwei Ein-

Statt die Berge hinabzufliegen, fliegt Roglič sie nun auf höchstem Niveau hinauf. Giro 2016 und

Tour de France 2017 zeigen, dass er das Zeug zum Spitzenfahrer hat.

dreiwöchigen Landesrundfahrt sein würde,

kann zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen.

Und wie es im Radsport eben immer ist bei

unglaublichen Erfolgsgeschichten, wird die

Sauberkeit des Athleten in Frage gestellt. Der

Vuelta-Sieger ist keine Ausnahme.

Seit Bekanntwerden der „Operation Aderlass“

im Mai 2019 ist auch der slowenische Ausdauersport

in Verruf geraten. Slowenische Betreuer

hatten Kontakt zum Dopingarzt Mark Schmidt

in Erfurt, slowenische Radprofis wurden

gesperrt. Da Roglič zur Tatzeit bei einem Team

aus seinem Heimatland aktiv war, muss auch er

sich unbequeme Fragen gefallen lassen. Doch

Kontakte zwischen ihm und den Verdächtigen

verlaufen recht glaubwürdig im Sand.

Inzwischen fährt er für das niederländische

Team Jumbo-Visma. Doch auch dort reibt man

sich verwundert die Augen. „Das sind keine

normalen Schritte, das sind riesige Schritte“,

sagte Stef Clement, bis zum Vorjahr Teamkollege

des Slowenen und danach im Betreuerstab

tätig: „Ich denke schon, dass wenn dieser

Junge bei UAE, Katusha oder Astana fahren

würde, dass wir hier in den Niederlanden

andere Gedanken hätten.“ Die drei genannten

Teams haben in der Radsportszene nicht unbedingt

den besten Leumund.

Unterm Strich bleibt von diesen Aussagen wenig

Handfestes: Es bestehen keine konkreten Verdachtsmomente

gegen den Slowenen. Mit seinen

spektakulären Erfolgen trägt Roglič in jedem Fall

dazu bei, dass einige hinter seinem Rücken die

Nase rümpfen. Das könnte allerdings auch daran

liegen, dass die Konkurrenz meist nur seine

Rückansicht zu sehen bekommt.

Statt die Berge hinabzufliegen, fliegt Roglič

sie nun auf höchstem Niveau hinauf. Davon

durfte sich ein breiteres Publikum bei seinem

Sieg im Zeitfahren des Giro 2016 ein Bild

machen und auch im Jahr darauf, als er als

Ausreißer eine Etappe der Tour de France

über den legendären Col du Galibier gewann.

Diese zwei Ereignisse zeigen, dass er das Zeug

zum Spitzenfahrer hat.

Davon konnte sich bereits zu Beginn seiner

Radsportkarriere der slowenische Sportwissenschaftler

Radoje Milić überzeugen. Er stellte bei

einer Untersuchung des damals 22-Jährigen

bemerkenswerte Anlagen fest: eine Sauerstoffaufnahme-Kapazität

von 80 Milliliter pro Minute

und Kilogramm Körpergewicht. Übersetzt:

Er befand sich damit auf dem gleichen Niveau

wie der viermalige Tour-Sieger Chris Froome

zu Beginn seiner Karriere. „Bereite dich darauf

vor, in der Spitzengruppe bei der Pro Tour

mitzufahren!“, sagte er Roglič.

Bereits wenige Jahre später liefert sich der Slowene

2018 mit ebenjenem Froome ein Kopfan-Kopf-Rennen

um den letzten Podestplatz

bei der Tour – und scheitert am Ende knapp.

Trotz eines waghalsigen Angriffs auf der

letzten Pyrenäen-Etappe – in einer Abfahrt.

Gelernt ist eben gelernt.

Ohnehin behaupten einige, dass ihm das

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Skispringen geholfen habe, ein

großartiger Radsportler zu werden.

Trotz der offensichtlichen Gegensätze. „Rogla“

betrieb als Skispringer auch Krafttraining, diese

explosiven Muskelfasern kommen ihm nun in

steilen Anstiegen zugute. „Es ist schön, wenn du

schneller fahren kannst, wenn du ein bisschen

weniger leidest. Aber es ist nie genug. Es ist nie

schnell genug. Du willst immer besser werden“,

sagte er Ende 2019 in einem Interview. Den

Umstieg hat er nie bereut. Warum auch?

2019, in seinem vierten Jahr auf World-

Tour-Niveau, kommt der endgültige Durchbruch.

Er gewinnt im Frühjahr die Tour durch

die Vereinigten Arabischen Emirate, dann

Tirreno-Adriatico und die Tour de Romandie in

der Schweiz. Drei einwöchige Rundfahrten, drei

Siege und es ist noch nicht mal Mai. Als Favorit

tritt er beim Giro an, gewinnt zwei Zeitfahren

und sieht erneut wie der Dominator aus – und

wird Dritter. Das liegt am Pech und an seiner

Rivalität mit Vincenzo Nibali, durch die beide

den Kolumbianer Richard Carapaz übersehen.

Ein Platz auf dem Podium bei einer Grand Tour

als Rückschlag, das fasst das Jahr des Primož

Roglič gut zusammen.

Und diese Saison ist noch lange nicht zu

Ende. Nach drei Monaten Rennpause geht

es zur Vuelta a España. Diesmal passt

alles zusammen. Er gewinnt das Zeitfahren

und lässt in den Bergen gegen den

alten Hasen Alejandro Valverde nichts

anbrennen. Der Spanier erreichte schon

tagesrennen in Italien derart dominant, dass

der Konkurrenz vor dem Jahr 2020 bereits

bange werden kann. Der 30-Jährige träumt

natürlich vom Tour-Erfolg und wird eine

zentrale Rolle bei dem Kampf zweier Teams

um die Vorherrschaft am Radsporthimmel

einnehmen. In der einen Ecke steht das Team

Ineos, das ein Abo auf Siege bei der Tour de

France hat. Mit Froome, Geraint Thomas und

dem amtierenden Tour-Sieger Egan Bernal

steht ein dreiköpfiges Monster bereit, das

noch durch Giro-Sieger Carapaz und den

Zeitfahrweltmeister Rohan Dennis verstärkt

wurde. Auf der anderen Seite: das Jumbo-

Roglič träumt vom Tour-Erfolg

und wird eine zentrale Rolle

bei dem Kampf zweier Teams

um die Vorherrschaft am

Radsporthimmel einnehmen.

Visma-Team von Roglič. Neben ihm steht der

Niederländer Steven Kruijswijk bereit, in diesem

Jahr immerhin Tour-Dritter. Außerdem

verstärkte sich das Team mit Tom Dumoulin.

Giro-Sieger, Tour-Zweiter 2018, Zeitfahrweltmeister.

All diese Häuptlinge müssen sich die

Radsportsaison nun irgendwie aufteilen.

Roglič allerdings hat gute Argumente auf

seiner Seite. Und daher ist anzunehmen, dass

er auch 2020 auf der größten Bühne jubeln

wird. Natürlich mit seinem Markenzeichen,

dem Telemark auf dem Podest.



DAS STREBEN NACH GLÜCK

Darko Miličić galt in NBA-Kreisen als einer der größten Flops aller Zeiten, sein Leben wurde von Wut,

Enttäuschungen und Depressionen geprägt. Über mehr als einen Umweg scheint der frühere Nr.2-Pick

später aber einen Sinn gefunden zu haben.

OLE FRERKS

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Da war er auf einmal wieder. Sieben

Jahre lang hatte man Darko Miličić

nicht mehr auf einem Basketball-Court

gesehen, in der Zwischenzeit nur

Geschichten über ihn gehört, die kurioser und

abwegiger kaum hätten sein können. Doch

im Oktober 2019 war der serbische Man of

Mystery auf einmal wieder im Einsatz, spielte

das Spiel, das ihn vor etwas mehr als 16

Jahren weltberühmt gemacht hatte. 2 Punkte

erzielte er beim Sieg seines Klubs KK I Came

to Play gegen Futog, bevor sein Auftritt wieder

beendet war, weil die Schulter Ärger machte.

Im Gegensatz zu früheren Zeiten hielt sich die

Enttäuschung darüber aber in Grenzen; bei

dem gemeinnützigen serbischen Viertligaverein

aus Novi Sad erwartete niemand Höchstleistungen

vom nun 34-Jährigen. Er sollte dort

ein Vorbild für jüngere Generationen sein,

junge Spieler anleiten, ihnen einen Weg weisen.

Ausgerechnet Darko.

Es wirkt auf den ersten Blick gar nicht so

besonders, wenn man feststellt, dass aus

Miličićs Draft-Jahrgang nur noch drei Spieler

in der NBA aktiv sind. Fügt man jedoch hinzu,

dass diese drei Spieler auf die Namen Kyle

Korver, Carmelo Anthony und LeBron James

hören und Miličić damals zwischen letzteren

beiden an Position 2 gepickt wurde, verschiebt

sich der Eindruck; 2003 brachte allein in

seiner Top 5 einen Anwärter auf den Titel des

Größten aller Zeiten und drei weitere sichere

Hall-of-Famer hervor (Anthony, Chris Bosh,

Dwyane Wade), gilt als einer der besten Jahrgänge

der NBA-Geschichte. Und brachte eben

auch Darko. Einen Jungen aus Novi Sad, der

auf eine ganz andere Art und Weise ebenfalls

in die Geschichte eingehen sollte.

Eine kurze Zeitreise ins Jahr 2003. Die NBA

war damals überwiegend stilistisch noch im

Eins-gegen-eins-Basketball aus den 1990ern

gefangen. Defensiv ausgerichtete Teams wie

die San Antonio Spurs oder auch die Detroit

Pistons bestimmten das Geschehen, während

sich die Ära von Shaquille O’Neal und Kobe

Bryant bei den Los Angeles Lakers langsam

2003 brachte allein in seiner

Top 5 einen Anwärter auf den

Titel des Größten aller Zeiten

und drei weitere sichere Hallof-Famer

hervor, gilt als einer

der besten Jahrgänge der

NBA-Geschichte. Und brachte

eben auch Darko.

dem Ende zuneigte. Neuerungen gab es

allerdings auch, und das war unter anderem

dem Einfluss aus Europa zuzuschreiben. Die

Spurs überließen die Zügel ihrer Offense nach

und nach einem Franzosen namens Tony

Parker, bei den Sacramento Kings begeisterten

Oldie Vlade Divac und Peja Stojaković

mit Spielintelligenz und Finesse. Und bei den

Dallas Mavericks etablierte sich ein gewisser

Dirk Nowitzki zunehmend als offensive Macht

und als Revolutionär, ermöglichte sein Wurf

als Big Man den Mavs doch eine ganz neue,

begeisternde Art zu spielen.

Die Mavs hatten noch 1998 viel Häme kassiert,

als sie sich im Draft für Nowitzki und

beispielsweise gegen den amerikanischen

College-Star Paul Pierce entschieden, der

noch zu haben gewesen wäre. Je mehr sich

Dirk jedoch etablierte und je mehr Teams sich

ärgerten, dass sie sich dieses Talent hatten

entgehen lassen, desto mehr wurde der Markt

überkorrigiert – auf einmal waren Euros der

letzte Schrei. Der nächste Tony, der nächste

Peja, allen voran der nächste Dirk. Und wer

groß war, werfen konnte und aus Europa kam,

hatte auf einen Schlag ziemlich gute Karten,

es in die NBA zu schaffen. „Jeder große, weiße

Shooter, der rüberkommt, wird früher oder

später mit mir verglichen“, sagte Nowitzki

2006 mal bei ESPN. So faul – und falsch –

dieser Vergleich zumeist auch war.

Das galt ganz besonders bei Miličić, von dem

unter anderem zu lesen war, er sei „wie Dirk

mit guter Defense“; anderswo wurde er mit

Kevin Garnett verglichen. Dabei hatte er



– 102 – mentalität

mentalität – 103 –

keinen sonderlich guten Wurf (Miličić nahm in

468 NBA-Spielen sechs Dreier und traf keinen)

und hatte bei weitem nicht den Motor eines KG,

wie sich schnell herausstellen sollte. Später gab

Miličić mal zu, dass er KG selbst immer als Idol

genannt hatte, weil er dachte, dass die Leute

dies wahrscheinlich von ihm hören wollten.

In Europa hatte der damals 18-Jährige einige

Galavorstellungen gezeigt, durchaus auch gegen

gute Konkurrenz, sein Weg war jedoch bei weitem

nicht mit dem von etwa Luka Dončić später

zu vergleichen – bei Hemofarm Vršac wurde

er weder in jedem Spiel viel eingesetzt noch

wurde er, nach heutigen Standards, professionell

gescoutet. „Bei Darko hatten wir zwei Quellen an

Information. Wir haben vielleicht mit ein paar

Leuten in Europa über ihn gesprochen. Das war

alles“, sagte Joe Dumars, der langjährige General

Manager der Detroit Pistons, Jahre später über

die geschichtsträchtige Draft-Entscheidung.

Darkos Hype machte ihn zum Nr.2-Pick vor

beispielsweise Melo, der als amtierender College-Champion

in die Liga kam. Die Pistons

rechtfertigten die Wahl von Anfang an mit

der Tatsache, dass sie bereits einen Top-Kader

hatten und ein Talent daher in Ruhe

entwickeln konnten, dass sie Miličić

Zeit geben wollten. Detroit

hatte den Pick aus einem

alten Trade mit den Vancouver

Grizzlies bekommen

und konnte es sich quasi

leisten, auf Potenzial anstelle

sofortiger Hilfe zu

gehen, so das Credo.

Es war von Anfang

an ein Desaster. Die

Pistons hatten ein

Projekt gedraftet, hatten

aber nicht die

Infrastruktur, um

dieses zu entwickeln,

Head Coach Larry

Brown hatte mit

jungen Spielern traditionell

nicht die größte

Miličić hatte sich Basketball

nicht ausgesucht, es war nicht

seine Liebe – es war etwas,

worin er früh großes Talent

gezeigt hatte und womit er

Geld verdienen konnte, sehr

viel sogar.

Geduld. Miličić erlebte auf und neben dem Court

einen heftigen Kulturschock und fand nie einen

Weg in die Rotation eines Teams, das dabei war,

sich auf einen Titel-Run vorzubereiten. Tatsächlich

gewannen die Pistons in Darkos Rookie-Jahr

die Meisterschaft, der Nr.2-Pick bekam in den

gesamten Playoffs allerdings nur ganze 14 Einsatzminuten

(1 Punkt) und wurde als „Menschliche

Siegeszigarre“ bekannt – und verhöhnt.

Nicht, dass er nicht selbst seinen Anteil an dieser

miesen Situation gehabt hätte. „Ich war das Problem“,

sagte Miličić 2017 in einem Gespräch

mit dem serbischen Medium

B92. „Ich würde heute vieles anders

machen. Ja, ich war in einem

Team, das einen Ring holen wollte,

was einem Nr.2-Pick selten passiert,

aber am Ende suchen wir alle nach

Entschuldigungen. (…) Als Nr.2-Pick

aus Europa dachte ich, ich sei

ein Geschenk Gottes, also

prügelte ich mich, betrank

mich vor Trainingseinheiten

und legte mich mit jedem

an, aber eigentlich legte ich

mich mit mir selbst an.“

Diese Form von Selbstreflexion

ließ Miličić ab

einem gewissen Punkt

öfter durchblicken, seine

NBA-Karriere war

da allerdings bereits

vorbei, obwohl er

sich immerhin

neun Jahre lang

in der Liga hielt.

Nach zweieinhalb

Jahren

ging es von Detroit nach Orlando weiter, es

folgten weitere Stopps in Memphis, New York,

Minnesota und am Ende in Boston. Immer mal

wieder blitzte sein Talent kurzzeitig auf und verschaffte

ihm neue Chancen (und rund 53 Millionen

Dollar an Gehältern), Konstanz bekam

er jedoch nie in sein Spiel und Disziplin blieb

bis zum Ende ein massives Problem, sowohl in

der NBA als auch in der Nationalmannschaft

Serbiens. Im November 2012 wurde er von

den Celtics nach genau einem Spiel entlassen,

worum er aus „persönlichen Gründen“ gebeten

hatte, und so war seine Laufbahn im Alter von

nur 27 Jahren schon wieder beendet.

Darko ging als einer der größten Draft-Busts

überhaupt in die Geschichte ein, seine eigene

Geschichte war da aber noch nicht zu Ende

erzählt – noch lange nicht. Schon in NBA-Zeiten

hatte er immer mal wieder zweideutige

Sprüche zum Besten gegeben, die entweder

auf mentale Probleme oder einen ziemlich

düsteren Humor hindeuten ließen. Später gab

er unumwunden zu, dass er unter Depressionen

gelitten, Alkohol missbraucht und, vor

allem in seiner größten Krisenzeit in Memphis,

regelmäßig nach Einsätzen (oder Nicht-Einsätzen)

Löcher in die Wand geboxt hatte. „Ich war

so verloren“, sagte Miličić 2017 zu ESPN. „Ich

habe Basketball irgendwann wirklich gehasst,

verstehen Sie? Ich wollte nur noch nach Hause

kommen und ein anderes Leben führen.“

Miličić hatte sich Basketball nicht ausgesucht,

es war nicht seine Liebe – es war etwas, worin

er früh großes Talent gezeigt hatte und womit

er Geld verdienen konnte, sehr viel sogar. Das

NBA-Leben lag ihm aber nie, die USA ohnehin

nicht. Die Suche nach dem Sinn, dem eigenen

Traum begann für Miličić erst, nachdem er den

von etlichen anderen gelebt hatte und nicht

mehr aushielt.

Diese Suche nahm mehr als einmal kuriose

Formen an. Miličić begann eine Karriere als

professioneller Kickboxer, die er nach einem

Kampf (einer Niederlage) auf Bitten seiner

Familie wieder beendete. Er nahm 2013 an der

Weltmeisterschaft im Karpfenfischen teil. Er

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feierte, teils ziemlich wild und ohne Shirt (ein

Bild davon ging um die Welt und löste Kontroversen

aus, weil auf seinem entblößten Bauch

ein Tattoo zweier angeblicher Chetnik-Kriegsverbrecher

aus dem Zweiten Weltkrieg

prangte), nahm zu und wuchs auf teilweise

weit über 140 Kilo an. Das ein ums andere Mal

befasste er sich auch mit einem Comeback im

Basketball, allerdings in Europa. Im Mai 2015

einigte er sich sogar mal kurzzeitig mit Metalac

Farmakom in der serbischen Liga, trat jedoch

von dem Engagement zurück, bevor er ein

Spiel absolvieren konnte.

Seine Erfüllung fand er auch noch, und diese

hatte letztlich nichts mit Sport zu tun – Miličić

investierte Teile seines NBA-Gehalts in

Land und wurde Farmer, im großen Stil. Mit

dem Anbau und Vertrieb von Äpfeln wurde er

erfolgreich, exportierte sie unter anderem nach

Russland und Dubai. Seine größte Leidenschaft

„Als Nr.2-Pick aus Europa

dachte ich, ich sei ein

Geschenk Gottes, also prügelte

ich mich, betrank mich vor

Trainingseinheiten und legte

mich mit jedem an, aber

eigentlich legte ich mich mit

mir selbst an.“ Darko Miličić

wiederum waren Kirschen, auch diesen Markt

wollte er sich erschließen. Diese zweite oder

vielleicht auch eher dritte Karriere verfolgte er

mit größerem Ehrgeiz, als er in der NBA je dauerhaft

an den Tag legen konnte – weil er endlich

seinen eigenen Weg beschreiten konnte.

Das hat ihn auch seinen Frieden mit Basketball

finden lassen. „Er hat ein großes Herz. Er ist jetzt

eine erwachsene Person, ein Familienmensch,

und jemand, der etwas zurückgeben will und Teil

von etwas sein will, das größer ist als wir alle,

in der Zusammenarbeit mit künftigen Generationen“,

sagte Mihajlo Delić, der Gründer von I

Came to Play, zu SOCRATES. Miličić trainiert

dort mit, engagiert sich dadurch vor allem auch

in der Gemeinde von Novi Sad. Basketball ist

jedoch nicht mehr sein wichtigster Lebensinhalt,

auch wenn Delić schwört, er sei noch immer eine

„Naturgewalt“. Die Arbeit gegen Korruption im

serbischen Jugendbasketball und die Förderung

sozial schwächer gestellter Kinder sind die

Missionen des Vereins, der auch von anderen

Ex-Stars wie Vlade Divac oder Rašo Nesterovič

unterstützt wird.

Miličić gilt in NBA-Kreisen als Bust, als

Versager. Die Geschichte seines (noch immer

jungen) Lebens kann man jedoch auch völlig

anders sehen; er hat vielleicht einfach nur

nicht den Erfolg gefunden, den andere für ihn

vorgesehen hatten.



Der Centre Court reicht oft nicht aus, um die unzähligen Geschichten des Sports zu erzählen. In Also Starring

dokumentieren wir weitere Momente, die unsere Sportgeschichte und unsere Centre-Court-Themen berührt haben.

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DIE PERFEKTIONISTIN

Mit nur 14 Jahren gelang Nadia Comăneci 1976 bei den Olympischen

Spielen in Montreal eine mentale Meisterleistung. Zum ersten Mal in der

Geschichte erturnte eine Sportlerin bei Olympischen Spielen die perfekte

Note Zehn. Der Rumänin gelang dies in Montreal gleich siebenmal. Zur

Belohnung gab es drei Goldmedaillen.



IMMER BEREIT ZU GEWINNEN

Peyton Manning galt lange Zeit als der vielleicht beste

Quarterback der NFL, allerdings war er keineswegs der

erfolgreichste. Manning brauchte acht Jahre, bis er 2006 mit

den Indianapolis Colts seinen ersten Super Bowl erreichte

und auch gewann. Zuvor hatte er zwar schon den Touchdown-

Rekord von Miami-Dolphins-Legende Dan Marino gebrochen,

doch kreidete man ihm immer die fehlende Nervenstärke in

den Playoffs an. 2016 holte er im letzten Jahr seiner Karriere

und bereits weit über seinen Zenit hinaus als Außenseiter mit

den Denver Broncos erneut den Titel.

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EIN LEBEN FÜR DAS STREBEN NACH GLEICHBERECHTIGUNG

Noch heute gilt Billie Jean King, die trotz zwölf Erfolgen bei Grand-Slam-

Turnieren nie die Nummer eins der Welt wurde, als Vorreiterin im Kampf um

Gleichberechtigung im Profi-Sport. Bei den US Open erstritt sie weit vor den

derzeitigen Forderungen die Angleichung des Preisgelds für Frauen und Männer.

Auch heute noch setzt sich die inzwischen 76-Jährige für die Rechte der Frauen

im Profi-Sport ein.



MR. TRIANGLE OFFENSE

Phil Jackson muss verrückt gewesen sein. Mit Scottie Pippen und Michael

Jordan hatte der Trainer der Chicago Bulls zwei Superstars im Kader, denen

er beibringen musste, den Ball zu teilen. Seine Lösung, die mittlerweile

berüchtigte Triangle-Offense, war nicht einfach zu lernen und wurde anfangs

belächelt, vor allem weil die Bulls drei Jahre in Serie gegen die Detroit Pistons

in den Playoffs ausschieden. Jackson passte sein System an – der Rest ist mit

sechs Meisterschaften zwischen 1991 und 1998 Geschichte.

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KÖNIG OTTO

In Bremen als König Otto bekannt, griff Otto Rehhagel 2004, sechs Jahre nach

seiner unglaublichen Meisterschaft mit Aufsteiger Kaiserslautern, noch mal

tief in die Trickkiste und führte Griechenland bei der Europameisterschaft zum

Titel. Es ist vielleicht die größte Überraschung in der Geschichte von Welt- und

Europameisterschaften, zumal das griechische Nationalteam im Anschluss

bereits an der Qualifikation zur WM 2006 scheiterte. Den Griechen ist das egal,

dort ist er bis heute ein Volksheld.



„ DAS WAR NUR NOCH EIN

ÜBERLEBENSKAMPF“

Der Düsseldorfer Philip Gogulla hat fast seine ganze Karriere im Rheinland verbracht.

Im Sommer wechselte der amtierende DEL-Stürmer des Jahres nach München,

um seinen großen Eishockey-Traum zu verwirklichen: den Gewinn der Deutschen Meisterschaft.

Im Interview spricht er über besondere Tore, „komplett veränderte“ Zeiten und Uli Hoeneß.

CHRISTIAN BERNHARD

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Herr Gogulla, wie lebt es sich als

Rheinländer in Bayern?

Sehr gut, gar keine Frage. Die Lebensqualität

ist hier wirklich sehr hoch. Im Rheinland ist sie

auch nicht so verkehrt, zu Hause bleibt zu Hause.

Aber München ist wirklich sehr toll. Du hast

die Seen, die Berge und die Isar, die im Vergleich

zum Rhein schon noch einmal eine andere

Hausnummer ist.

Sie haben als gebürtiger Düsseldorfer 13

Jahre lang für Köln gespielt und dabei

die letzten vier Jahre in Köln gelebt. Wie

„überlebt“ man das?

Am Anfang war es schon ein Thema, da

haben mich gerade die Freunde auf den Arm

genommen.

Düsseldorf und Köln verbindet

eine besondere Rivalität, Stichwort:

verbotene Stadt…

Das hat sich über die Jahrzehnte hochgeschaukelt.

Beide Städte liegen ja ganz eng beieinander

und in den 1990er Jahren standen beide regelmäßig

im Finale. Im Sport ist die Rivalität deshalb

besonders groß. Für beide Vereine ist es extrem

wichtig, die Derbys zu gewinnen.

Für die Münchener Eishockey-Fans gibt es

auch eine verbotene Stadt.

Augsburg? Klar, das habe ich schon mitbekom-

men. Mir war schon vor dem ersten Spieltag klar,

um wie viel es in diesem Derby geht.

Sie haben in Ihrer Karriere schon einiges

erreicht, eine Sache fehlt Ihnen aber trotz

dreier Final-Teilnahmen noch: die Deutsche

Meisterschaft. Auf einer Skala von

eins bis zehn: Wie groß ist Ihre Sehnsucht

danach?

Zehn. Ich weiß, dass viele denken, bei meiner

Unterschrift in München sei es nur ums Finanzielle

gegangen. Dem war aber nicht so. Mir geht es

darum, Deutscher Meister zu werden und da sah

ich die Möglichkeiten in München besser.

Münchens Ex-Kapitän Michael Wolf, der

im April seine Karriere beendet hat, hatte

eine ähnliche Idee, als er nach vielen Jahren

in Iserlohn zum EHC wechselte und

dort seinen Meister-Traum verwirklichte.

Zu Michi Wolf möchte ich etwas sagen.

Bitte schön.

„Ich weiß, dass viele denken,

bei meiner Unterschrift in

München sei es nur ums Finanzielle

gegangen. Dem war aber

nicht so. Mir geht es darum,

Deutscher Meister zu werden.“

Mir wurde von außen oft zugetragen, ich sei ja

für ihn geholt worden. Ich halte das für Quatsch.

Wolf hat eine unglaubliche Karriere hingelegt,

ich möchte mich gar nicht mit ihm vergleichen.

Ich finde, das gehört sich nicht, das hat mit Respekt

zu tun.

Haben Sie sich Meister-Tipps bei

ihm geholt?

Ich kenne Wolfi schon seit Ewigkeiten, habe lange

mit ihm in der Nationalmannschaft in einer

Angriffsreihe zusammengespielt. Er hat mir zu

diesem Schritt geraten. Aber er hat auch gesagt:

„Du musst Geduld haben, es wird seine Zeit brauchen.“

Die nehme ich mir auch. Ich möchte am

Ende des Jahres ganz oben stehen. Damit würde

ein Traum in Erfüllung gehen.

Ist Geduld auch wegen des speziellen

Münchener Spielsystems gefragt?

Absolut. Da sind Laufwege dabei, die ich jahrelang

anders gemacht habe. Man muss sich immer wieder

ermahnen und bewusst machen, was einem

dieses System abverlangt. Ich hoffe, dass ich es

spätestens in den Playoffs perfekt beherrsche –

hoffentlich auch schon sehr viel früher.

Typisch für Don Jacksons Spielweise ist,

dass sich die Verteidiger permanent in das

Offensivspiel mit einschalten.

Ich habe mich am Anfang gefragt: ‚Was macht



– 112 – tape tape – 113 –

der Verteidiger so weit vorne?‘ Aber das System

gibt es her. Die Abwehrspieler wissen, dass sie

mitgehen können oder sogar müssen. Ich habe

jahrelang dagegen gespielt, ich weiß, wie schwer

das ist. Jetzt selbst Teil davon zu sein, macht

riesigen Spaß, weil man immer wieder ins Rollen

kommt und Zeit in der Offensivzone bekommt.

Und: Umso mehr Spieler die Tore schießen, umso

besser ist es für die Mannschaft.

Viele Profis, die unter Trainer

Jackson spielen oder gespielt haben,

erzählen, er habe eine besondere Aura.

Wie erleben Sie ihn?

Don ist eine große Persönlichkeit, ich könnte ihn

stundenlang loben. Man muss sich nur seine Vita

angucken, die spricht für sich. Er schafft es, Jahr

für Jahr eine Mannschaft aufs Eis zustellen, die

um den Titel mitspielt. Das ist eine ganz besondere

Gabe. Als Mensch ist er sehr höflich, hört sich

die Meinung anderer an und diskutiert sie aus. Er

schreit dich nicht an, wie ich es auch schon oft in

meiner Karriere erlebt habe, sondern er erklärt

dir die Sachen ruhig und sachlich. Das ist meines

Erachtens nach genau der richtige Weg. Was er

sagt, hat Hand und Fuß.

Sie sind für Ihre Tore bekannt. In der vergangenen

Saison haben Sie für Düsseldorf

26 erzielt und wurden zum DEL-Stürmer

des Jahres gewählt. Sie sind aber nicht nur

der Mann der vielen Tore, sondern auch

der besonderen. Welches war bisher Ihr

speziellstes?

Ganz klar das im Viertelfinale 2008 gegen Mannheim,

im längsten DEL-Spiel der Geschichte. Wir

haben da drei komplette Spiele in einem gespielt.

So ein Spiel zu gewinnen und dabei auch noch

das entscheidende Tor zu erzielen, war ein ganz

besonderer Moment meiner Karriere.

Was sagt einem der Körper, wenn man

mehr als 169 Minuten auf dem Eis steht?

„Wolfi hat mir gesagt: ‚Du musst Geduld haben, es wird seine

Zeit brauchen.‘ Die nehme ich mir auch. Ich möchte am Ende

des Jahres ganz oben stehen.“

Das war natürlich so eine Sache. Gott sei Dank

war ich da noch Anfang 20. (lächelt) Das war nur

noch ein Überlebenskampf, jeder wollte irgendwie

dieses Tor machen. Schön, dass ich in der sechsten

Verlängerung dieses Glück hatte.

Vielen deutschen Eishockey-Fans ist auch

Ihr Treffer gegen die Schweiz bei der

Heim-WM 2010 in Erinnerung geblieben.

Das war auch ein spezieller Moment, ganz klar.

Dieses Tor, das uns ins Halbfinale katapultiert

hat, ist eine meiner tollsten Nationalmannschafts-Erinnerungen,

keine Frage.

In jener Saison haben Sie in Nord-

amerika gespielt, der Sprung in die NHL

glückte Ihnen aber nicht. Denken Sie

manchmal darüber nach, warum es nicht

geklappt hat?

Mit Sicherheit habe ich mal darüber nachgedacht,

keine Frage. Ich glaube, dass das Thema

Nordamerika für uns europäische Spieler generell

nicht so einfach ist. Rückblickend hätte

ich vielleicht ein Jahr länger bleiben können,

aber „was wäre, wenn“ ist im Nachhinein immer

leicht zu sagen. Ich würde niemals behaupten,

dass ich es auf jeden Fall in die NHL geschafft

hätte, wenn ich noch ein Jahr geblieben wäre.

Da spielen so viele Faktoren eine Rolle, du musst

auch Glück haben. Es soll keine Ausrede sein,

aber als ich drüben war, spielten die Buffalo Sabres

eine erfolgreiche Saison. Sie waren Zweite in

ihrer Division und hatten kaum Verletzte – warum

soll ein Cheftrainer da was ändern?

Mir Ihren 32 Jahren sind Sie mittlerweile

einer der erfahrenen Spieler, Sie bestreiten

bereits ihre 16. Profi-Saison. Hat sich

die Eishockey-Branche in diesen Jahren

gewandelt?

Wenn ich mir anschaue, wie es war, als ich jung

war und den Vergleich zu heute ziehe, muss ich

sagen: Die Zeiten haben sich komplett verändert.

Die Härte etwa, die ich als junger Spieler noch

mitbekommen habe…

Meinen Sie damit den Umgang innerhalb

der Kabine?

Allerdings, da ging es deutlich autoritärer zu.

Heutzutage musst du aufpassen, wie du die Leute

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ansprichst, damit sie – übertrieben gesagt – nicht

direkt zusammenbrechen. Früher war es gang

und gäbe, dass du einen Anschiss bekommen

hast. Es hieß: Du machst jetzt das und wenn du

das nicht gemacht hast, gab es eins auf den Deckel.

Das hat sich im Laufe der Zeit gewandelt –

was nicht negativ ist.

Ihr erster Profitrainer war gleich ein

spezieller: Hans Zach.

Genau, ich war damals noch 16 Jahre jung.

Damals habe es an Kritik und „manch

langer Trainingseinheit“ nicht gemangelt,

erzählten Sie. Wie war diese Zeit?

Hans Zach hat junge Spieler gefördert, wenn

er etwas in ihnen gesehen hat. Bloß die Sache

war die: Wenn du dich zu sicher gefühlt hast,

war er schneller in deinem Nacken, als du dich

umdrehen konntest. Das war eine sehr harte

Zeit, speziell für uns junge Spieler. Wir durften

uns einige Geschichten anhören, es wurde

auch das ein oder andere Mal ein bisschen lauter.

(lacht) Das können sich die jungen Spieler

heute gar nicht mehr vorstellen, die Zeiten

haben sich echt brutal verändert. Ich habe

noch diese alte Schule mitgemacht, das tat mir

aber sehr, sehr gut.

Der Spitzname Alpenvulkan kam bei Zach

also nicht von ungefähr?

Nein, absolut nicht. Ich könnte Geschichten über

ihn erzählen, aber das würde den Rahmen sprengen.

Sagen wir es so: Das ein oder andere Meeting

war ein bisschen intensiver. (grinst)

Zu Beginn Ihrer Karriere galten Sie auch

als Heißsporn. Das kann man sich nur

noch schwer vorstellen, wenn man Sie

jetzt erlebt.

Ich bin in den letzten Jahren schon um einiges

ruhiger geworden. Gott sei Dank. Ich habe einfach

gemerkt, dass es nichts bringt, immer nur

volle Attacke zu fahren. Man muss sich auch

mal selbst hinterfragen: Das habe ich getan und

deshalb für mich entschieden, auf dem Eis etwas

ruhiger zu sein.

Was für Sachen haben Sie sich denn früher

geleistet?

Dumme Fouls, den Schiedsrichter angebrüllt,

Stockschläge – einfach blöde Strafen. Heute sage

ich mir: ‚Es bringt ja nichts, bleib ruhig.‘ Glücklicherweise

habe ich das jetzt einigermaßen drauf.

„Hans Zach hat junge Spieler

gefördert, wenn er etwas in

ihnen gesehen hat. Bloß die

Sache war die: Wenn du dich

zu sicher gefühlt hast, war er

schneller in deinem Nacken,

als du dich umdrehen

konntest.“

Schon vor Jahren haben Sie erzählt,

dass Uli Hoeneß für Sie eine beeindruckende

Persönlichkeit ist. Was fasziniert

Sie an ihm?

Natürlich gibt es viele Menschen,

die ihn nicht so leiden können, aber

ich glaube, dass er nicht nur Großes

für den FC Bayern geleistet hat,

sondern auch im Background

immer für seine Spieler da war

und sehr viele Geschichten zu

erzählen hätte.

Philip Gogulla und

Hans Zach (2005)

Da hätte ich auf jeden Fall ein paar Fragen.

Jetzt sind Sie einem Treffen zumindest

räumlich ja schon mal sehr viel nähergekommen.

Gibt es schon einen Termin?

Nein, nein. (lacht)

So wie Hoeneß engagieren auch Sie sich

im sozialen Bereich, in Ihrem Fall für die

Palliativstation im Uniklinikum Düsseldorf.

Wie kam es dazu?

Die Schwester eines guten Freundes war dort.

Er kam dann zu mir und hat mich gefragt, ob

ich etwas machen könne und seitdem bleiben

wir dran. Ich finde es sehr bewundernswert,

was dort geleistet wird. Man kann vor diesen

Ärzten, Schwestern und Pflegern gar nicht genug

den Hut ziehen. Es zeigt, dass es im Leben

wichtigere Dinge gibt als die, über die man sich

im Alltag oft aufregt. Sie haben meinen allergrößten

Respekt.



Nimm

das Heft

in die

Hand!

ABSCHIED VON BIRGIT MENZ

Sie war die vielleicht beste Verteidigerin, die der

deutsche Basketball je hatte, und als „Balldiebin“

gefürchtet. Die gebürtige Berlinerin absolvierte

über 100 Länderspiele (DDR und BRD), gewann

Bronze bei der EM 1997 und wurde Ü45-

Weltmeisterin 2013. Sie hinterlässt drei Töchter –

mit den beiden älteren spielte sie noch gemeinsam

in Jena in der 2. Liga – und ihren Ehemann, den

früheren Herren-Bundestrainer Frank Menz. Am

22. November 2019 verstarb Birgit Menz im Alter

von nur 52 Jahren nach schwerer Krankheit.

SOCRATES #41 03/2020 erscheint

am 20. Februar 2020.

Fotocredit Imago

Testabo. 3 Ausgaben

für 10 Euro.

Jetzt bestellen unter:

socratesmagazin.de/testabo



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