Socrates 40
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DIE BESTEN STORYS SCHREIBT DER SPORT
02 2020
#40
MENTALITÄT
ANDY MURRAY
EXKLUSIV-INTERVIEW: DIE UNERWARTETE
WIEDERGEBURT DES TENNIS-STARS
MATTHIAS SAMMER
WIE MAN ES SCHAFFT,
ALLES IM FUSSBALL ZU GEWINNEN
COLLETTE
V. SMITH
SUIZID, VERGEWALTIGUNGEN,
SCHICKSALSSCHLÄGE –
DANN KAM DER FOOTBALL
NICO
HÜLKENBERG
DER FORMEL-1-STAR NACH SEINEM AUS:
VERPOKERT, VERLOREN, VERKANNT?
MARCUS
THURAM
EXKLUSIV-INTERVIEW MIT DER NEUEN ENTDECKUNG GLADBACHS:
„KEINE SORGE, ICH WEISS, DASS ICH EXISTIERE“
02
4 190950 706506
ESET ist stolzer Champion Partner
von Borussia Dortmund
Einer der führenden europäischen IT-Sicherheitshersteller
verstärkt die BVB-Abwehr, um die Internetsicherheit
für alle Fußballfans zu gewährleisten.
Reicht der Wille?
FATIH DEMIRELI
EURE LIEBE
IST SICHER
„Das, was wir spielen, ist Sport. Es ist ein Spiel.
Am Ende des Tages ist es nur ein Spiel. Es macht
dich nicht besser oder schlechter als andere, wenn
du gewinnst oder verlierst. Ich habe das verinnerlicht
und es hat auch meine Perspektive geschärft,
wenn ich anderen Menschen begegne.“
Tim Tebow
Dem Mann sollten wir zuhören, immerhin
wählte ihn die Time vor acht Jahren zu
den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten
der Welt. Das ist dahingehend bemerkenswert,
da Tebow als ehemaliger NFL-Star und aktueller
Baseball-Spieler zwar recht erfolgreich ist, aber
kein Typ, der nur durch sportlichen Erfolg auf sich
aufmerksam machen konnte. Die Time begründete
die Nominierung damals mit „seiner Arbeitsmoral
und seinen Führungsqualitäten“, die er auch
außerhalb des Platzes an den Tag legte.
Es ist das, was ihn so besonders machte. Dass er
durch sein bloßes Auftreten, durch sein bloßes
Wirken nicht nur seine eigene Leistung auf ein hohes
Niveau hievte, sondern auch die Leistung und
das Auftreten der anderen. Hört man einem Welt-
Trainer wie Carlo Ancelotti zu, den es aktuell zum
FC Everton verschlagen hat, der aber zuvor bei den
größten Klubs der Welt mit den besten Spielern arbeitete,
kommt man der Sache ein bisschen näher.
„Ich habe mit den wichtigsten Spielern der Welt
gearbeitet. Ronaldo, Ibrahimović, Kaká, Zidane.
Es war einfach, mit ihnen zu arbeiten, weil sie
professionell waren. Ihre Siegermentalität hilft
einem Trainer enorm. Natürlich ärgert man sich
mal, aber das Verhältnis zu Spielern dieser Art war
immer intakt.“ Weil Ancelotti wusste, dass diese
Spieler es nicht zulassen würden, dass durch eine
lasche Mentalität einzelner der sportliche Erfolg
der Mannschaft gefährdet wird. Sie fingen bei sich
an, hörten bei anderen auf – bis es funktionierte.
Wenn wir heute über Mentalität im Sport sprechen,
hat das meist einen negativen Touch. Verliert die
Lieblingsmannschaft, ist es die fehlende Mentalität.
Gewinnt sie, waren es die Typen mit dem Siegergen,
die es umgebogen haben. Sehr wahrscheinlich
machen wir es uns damit aber wohl zu einfach. Tebow,
Ronaldo, Kaká und Co. könnten noch so große
Mentalitätsmonster sein, wenn sie kein Talent oder
die richtige Idee hätten, ihre Wettkämpfe zu gewinnen.
Würde der Wille da reichen? Könnten Zwerge
wie San Marino, Andorra und Co. plötzlich zur Fußball-Macht
aufsteigen, nur weil sie auf einmal mehr
wollen als andere? Punktuell können sie sicher mal
etwas bewegen, aber letztlich braucht es mehr.
Ein anderes NFL-Ass, Brett Favre, sagte mal: „Du
musst so spielen, als würdest im Falle einer Niederlage
deinen Job verlieren. Du musst dafür sorgen,
dass man erst über dich spricht, dann über
die anderen.“ Für jeden „Auf geht’s kämpfen und
siegen“-Vokalisten im Stadion hört sich das wunderbar
an, aber im Grunde ist es auch ganz schön
plakativ. Mentalität geht nicht nur über Herz,
Lunge und Seele, sondern auch über Verstand.
Und auch Anstand.
In dieser Ausgabe haben wir uns mit dem Thema
„Mentalität“ beschäftigt. Mit Sportlern, die auch
mit Hilfe ihrer großartigen Mentalität viel bewegt
haben. Mit Sportlern, die am Boden waren,
und dank ihrer Willenskraft zurückgekommen
sind. Mit Sportlern, die wie Tebow, das Gut und
Schlecht nicht mit Ergebnissen definiert haben.
Viel Spaß beim Lesen.
Bleiben Sie am Ball.
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FEBRUAR 2020
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VERLEGER: Can Öz
HERAUSGEBER: Fatih Demireli
CHEFREDAKTEUR: Fatih Demireli (verantwortlich)
CHEFREDAKTION: Banu Yelkovan (Chefin vom Dienst)
CHEFREDAKTION: Felix Seidel (Leiter Kommunikation)
REDAKTION: Sebastian Hahn / Furkan Karasoy / Oliver Wittenburg
TEAMASSISTENZ: Aslı Spyrou
ÜBERSETZUNG: Levent Konca
SCHLUSSREDAKTION: Sarah Luise Fenske
MAGAZINDESIGN: Can Yayınları
ART DIRECTOR: Hüseyin Sandık
GRAFIK: Erhan Teksöz
MITARBEIT: Christian Bernhard / Hans von Brockhausen / Ali Farhat /
Sarah Luise Fenske / Ole Frerks / Katharina Kleinfeldt / Alexis Menuge
/ Carsten Obst / Stefan Petri / Alex Raack / Collette V. Smith / Anna
Chiara Spigaro / Karin Sturm / Carina Wenninger / Jan Zesewitz
Verantwortlich für Anzeigen: G+J e|MS
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S T E F A N P E T R I
„Ich muss mal wieder was schreiben“, sagte Stefan.
„Ist lange her“, sagte Stefan. Stimmt, Stefan. Und daher haute er
mal wieder in die Tasten und zauberte ein schönes Stück über
Novak Djoković in diese Ausgabe.
ALI FARHAT
Wegen der Ähnlichkeit seines Nachnamens zu einem bestimmten
Fahrzeug nennt ihn manch Kollege „Ulle“, aber das nur am Rande.
Bei seinem SOCRATES-Debüt sprach Ali mit Marcus Thuram.
Das tolle Ergebnis lesen Sie im Heft.
J A N Z E S E W I T Z
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/ S O C R A T E S M A G A Z I N
Wenn wir schon von Debütanten sprechen, auch ein herzliches
„Hallo“ an Jan, unseren nächsten Neuling. Als ehemaliger
Weggefährte von Teilen der Redaktion war uns sein breites
Spektrum an Sportwissen bekannt. So dann...
COLLETTE V. SMITH
Unsere Kollegin Banu traf Collette in Übersee und berichtete
anschließend von den nachdrücklichsten Minuten
und Stunden in ihrem Journalistenleben. Und in der Tat ist
Collettes Leben beeindruckend. Aber lesen Sie selbst.
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sternplus.de
040
MARCUS THURAM
„ICH WEISS, DASS ICH EXISTIERE“
INHALT
003 EDITORIAL
REICHT DER WILLE?
010 ZEITNAH
7:35:39 STUNDEN
012 ROAD TO EURO 2020
DIE WELT IST NICHT MEHR ZU GAST
NÄCHSTER KLOPP-COUP
Nach dem Champions-League-Sieg und
dem Gewinn des europäischen Supercups
triumphiert der FC Liverpool auch bei der
FIFA Klub-WM in Katar. Im Halbfinale gegen
Monterrey und im Endspiel gegen Flamengo
Rio de Janeiro ist es der frühere Hoffenheimer
Roberto Firmino, der die Reds zum Sieg
schießt. Jürgen Klopp ist jetzt schon eine
Anfield-Legende. Nicht auszudenken, was in
Liverpool los wäre, sollte im kommenden Mai
die 30 Jahre andauernde Sehnsucht nach dem
Meistertitel ein Ende haben.
014 UNION BERLIN
NA UND?!
048
ANDY MURRAY
„ICH HATTE EIN GANZ NORMALES LEBEN“
016 PICK’N’ROLL
KATHARINA KLEINFELDT
018 DIE 10
DIE WEITESTEN SKISPRUNG-FLÜGE ALLER ZEITEN
030 WINTER
KLIMAWANDEL UND WINTERSPORT
056
MATTHIAS SAMMER
WEIL ER ES FÜHLT
062 NIKLAS MOISANDER INTERVIEW
„DAS FEUER IN MIR“
066 CARINA WENNINGER KOLUMNE
DEN KOPF IM GRIFF
068 NOVAK DJOKOVIĆ
ALS MENSCH GEGEN GÖTTER
072
078 ROAD TO OLYMPIA
MEINE MAMA, DIE OLYMPIASIEGERIN
COLLETTE V. SMITH
082 BIATHLON-WM 2020
IN ZEITEN DES MACHTVAKUUMS
„UND GOTT GAB MIR FOOTBALL“
084 MARTIN FOURCADE
DER BESESSENE
088 MARIA HÖFL-RIESCH INTERVIEW
„VON EINER AUF DIE ANDERE SEKUNDE IST ALLES AUS“
NICO
HÜLKENBERG
VERPOKERT, VERLOREN, VERKANNT?
092
096 PRIMOŽ ROGLIČ
ÜBERFLIEGER IM ZWEITEN ANLAUF
100 DARKO MILIČIĆ
DAS STREBEN NACH GLÜCK
110 PHILIP GOGULLA INTERVIEW
„DAS WAR NUR NOCH EIN ÜBERLEBENSKAMPF“
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ZEITnah
DIE SOCRATES-AUSLESE
7:35:39
CMP RIGEL
TREKKING-SCHUHE
Die Trekkingschuhe von CMP eignen sich nicht
nur für einen matschigen Winterspaziergang,
dank ihres eigenen Stoffes sind sie auch für eine
Wanderung in den Sommermonaten geeignet.
Eine speziell designte Sohle sorgt dafür, dass die
Füße auch nach zahlreichen Kilometern zu Fuß
nicht mehr wehtun, als sie es sollten.
NIKE X UTAH JAZZ –
CITY EDITION
Die NBA hat sich in Sachen Jerseys in diesem
Jahr erneut selbst übertroffen, die City Jerseys
erfreuen sich auch abseits der verschiedenen
Courts großer Beliebtheit. Die Utah Jazz setzen
in ihrer Variante mit 90er Flair auf das Trikot
der Vorsaison – eine schlechte Entscheidung ist
das nicht.
NIKE BLAZER MID ’77 VNTG
Ein Klassiker unter den Nike-Modellen, der jedes
Outfit nach wie vor gelungen abrundet. Der Nike
Blazer überzeugt trotz seines hohen Knöchels mit
einer guten Passform und schränkt die eigene
Bewegungsfähigkeit nicht ein. Bequem ist er
obendrein.
Fotocredit Getty Images
FELIX SEIDEL
Am 17. Juli 2016 absolvierte Jan Frodeno im mittelfränkischen Roth den schnellsten Langstrecken-Triathlon aller Zeiten.
Und das mit Ansage. Dabei hätte den Kölner auf der Strecke fast ein Auto umgefahren.
3,86 Kilometer Schwimmen. 180,2 Kilometer Radfahren. 42,195 Kilometer
Laufen. Als Jan Frodeno am 17. Juli 2016 den Triathlon
im mittelfränkischen Roth absolviert hatte, blieb die Uhr auf der
Anzeigetafel bei einer Zeit von 7:35:39 Stunden stehen. Noch nie war ein
Sportler bei einem Triathlon über die Ironman-Distanz schneller gewesen.
„Ich bin dankbar für jeden, der mich unterwegs angefeuert hat“, sagte Frodeno
im Ziel. Mit Sprechchören und Plakaten wie „Don’t run, fly Frodo“ pushten
über 200.000 begeisterte Zuschauer an der Strecke Deutschlands Sportler
des Jahres: „Das war so überwältigend. Das habe ich so noch nie erlebt.“
Ein grandioser Sieg, der dem Körper des gebürtigen Kölners alles abverlangte.
„Die Schmerzen gehen auf und ab in meinem ganzen Körper. Es
war ein harter, harter Weg. Ich werde heute Nacht auf jeden Fall gut schlafen“,
meinte der damals 34-Jährige.
Im Vorfeld der Challenge über die Langdistanz hatte Frodeno selbstbewusst
eine neue Weltbestleistung angekündigt. Er hielt Wort. Und
unterbot die fünf Jahre zuvor aufgestellte Marke von Andreas Raelert
um fast sechs Minuten. Der Rostocker hatte an gleicher Stelle 7:41:33
Stunden gebraucht.
„Der Weltrekord ist einer der Höhepunkte meiner Karriere“, jubelte
Frodeno. In seinem Triumph-Jahr 2015 hatte der Olympiasieger neben
dem WM-Titel beim Ironman-Klassiker auf Hawaii auch die Ironman-Europameisterschaft
in Frankfurt gewonnen.
Seine Fabelzeit in Roth stand allerdings gleich zweimal auf der Kippe. Mit
dem Rad stürzte Frodeno bei Kilometer 120: „Da dachte ich schon, das wird
eng mit dem Rekord.“ Körper und Material überstanden den Vorfall aber
unbeschadet. Kurz vor dem Wechsel zum Laufen dann die nächste Schrecksekunde:
Um ein Haar hätte ihn ein unachtsamer Autofahrer erwischt.
Anschließend wurde die Tortur zum Triumph: „Spätestens ab der Hälfte
der Marathonstrecke war mir klar, dass das mit dem Weltrekord klappen
muss.“ Doch an eine große Siegesparty wollte Frodeno nicht sofort denken:
„Heute wird das nur eine Stuhlparty.“ Die Konkurrenz gratulierte
voller Respekt. „Jan ist eine andere Liga, da bin ich dritte Liga“, sagte Vorjahressieger
Nils Frommhold.
Interessant: Offizielle Weltrekorde werden im Triathlon wegen der Variabilität
der Streckenprofile generell nicht geführt, auch gibt es keine obligatorische
offizielle Vermessung der Wettkampfdistanzen. So gelten die Strecken
auf Hawaii und Lanzarote als sehr anspruchsvoll. Die Strecke der Challenge
in Mittelfranken hat sich dagegen im Laufe der Jahre als weltweit schnellstes
Rennen auf dieser Distanz herausgestellt.
GERD MÜLLER:
EINE BIOGRAFIE
Das Hörbuch zur Biografie vom Bomber
der Nation. Gerd Müller hält bis heute
zahlreiche Rekorde in Nationalmannschaft
und Bundesliga. Nach seiner Karriere
ist der Rekordstürmer aufgrund von
Alkoholproblemen in die Schlagzeilen geraten.
Heute lebt er im Pflegeheim, seine Biografie
ist eine Reminiszenz an einen der größten
Stürmer der Fußball-Geschichte.
DIESEL DZ4318
Schlicht mit einem kleinen Farbtupfer – wer so
eine Uhr sucht, ist bei der Diesel DZ4318 genau
richtig. Die Uhr liegt angenehm am Handgelenk
und fällt nicht besonders auf, abgesehen von den
kleinen Farbtupfern auf dem Ziffernblatt. Ein
ideales Accessoire für nahezu jeden Anlass.
SOCRATES BASICS
Bald gibt’s SOCRATES nicht nur als
Sportmagazin, sondern auch zum Anziehen.
Hoodies, T-Shirts und mehr. Inspiriert wurden
wir bei der Erstellung der ersten Modell-Reihe
auch von einem Banner, das einst Fans von
Eintracht Frankfurt im Stadion ausrollten. Zu
kaufen gibt’s das T-Shirt bald im Online-Shop
auf socratesmagazin.de.
R O A D T O E U R O 2 0 2 0
DIE WELT IST NICHT
MEHR ZU GAST
Endlich EM-Jahr, endlich ein großes Fußball-Turnier! Doch die Vorfreude hält sich
diesmal in Grenzen. Das geteilte Turnier ist ein Abbild der Gesellschaft.
FATIH DEMIRELI
Am 12. Juni wird die Fußball-Welt ab 21 Uhr mitteleuropäischer
Zeit nach Rom blicken. Dort eröffnen Italien
und die Türkei die UEFA EURO 2020. Zuvor wird ein DJ
noch laute Musik einspielen, zig Menschen eine pompöse
Tanzeinlage choreografieren, sub- oder supraliminal dargestellt,
wie schön und toll Italien ist. Irgendwann wird
dann angestoßen. Am nächsten Tag, 15 Uhr (bei der Zeit
bleiben wir in Mitteleuropa) dann die gleiche Chose im
3.111 Kilometer Luftlinie entfernten Baku, wenn sich Wales
und die Schweiz in der aserbaidschanischen Hauptstadt
gegenüberstehen. Drei Stunden später stehen sich dann
im von Baku 3.199,67 Kilometer entfernten Kopenhagen
Dänemark und Finnland gegenüber. Wem das nicht genug
ist: Drei Stunden nach Schlusspfiff sind wir im immerhin
von Kopenhagen nur noch 1.150 Kilometer entfernten
St. Petersburg, wo Belgien und Russland um die ersten
EM-Punkte spielen werden.
Man kann ja jetzt sagen, dass es dem TV-Zuschauer eigentlich
egal sein kann, wo die Spiele stattfinden. Wüsste man
es nicht, könnte man wahrscheinlich nicht mal raten, wo
die laufende Partie stattfindet, weil Werbebanden, Schriftzüge
und Co. von der UEFA gleichgeschaltet dargestellt
werden. Die fußballbegeisterten Menschen werden europaweit
vor dem Fernseher sitzen und nicht wahrnehmen,
wo sie sind. Wer den Einwand bringt, dass das bei einem
Turnier, das nur in einem Land stattfindet, nicht anders ist,
hat sogar recht.
Aber eine EM ist nun mal keine reine TV-Veranstaltung,
sondern ein Fußball-Fest, das vor Ort seit jeher eine große
Faszination darstellt. Dabei zu sein, davon erzählen viele
ihren Kindern und Enkeln noch Jahre später. Dabei ist
man vielleicht nur noch in Bruchteilen, für mehr ist für viele
der logistische und finanzielle Aufwand einfach zu groß.
Diese EURO 2020 ist eine Farce – und sie ist ein Abbild
Europas zu Beginn des neuen Jahrzehnts. Eine Union ist
sie längst nur noch auf dem Papier. Die einen wollen weg,
die anderen wieder kontrollierte Grenzen, und wir reden
wieder über Fremdenfeindlichkeit und schüren die Angst
vor Fremden. Wollte man das Europa von heute dokumentieren,
würde man genau so eine EM ausrichten. Chapeau,
UEFA! Es ist ihr tatsächlich gelungen.
Einst war die Welt zu Gast bei Freunden, heute ist die Welt
nicht mehr zu Gast, sondern geteilt und getrennt. Und sie ist
wahrscheinlich auch der Vorbote für eine Superliga, die ironischer
Weise von der UEFA abgelehnt wird. Aber vielleicht
merken die Herren, die dieses Chaos angerichtet haben, welchen
Schaden sie dem Fußball zufügen. Auf einem Flug von
Rom nach Baku oder von Bilbao nach Budapest.
Fotocredit Getty Images
NA UND?!
HANS VON BROCKHAUSEN
Der Fußballgott ist ein viel beschäftigter Mann. Elfmeterschießen, schnell
ein Stoßgebet. Nachspielzeit, bitte, bitte lass den Torhüter über den Ball
ganze Kader besteht aus Überirdischen. Blasphemie schreit der Priester,
ein Himmel auf Erden der Punk.
treten. Und neuerdings gibt’s noch den allseits beliebten Video-Beweis.
Der Schiri funkt in den Keller, der abergläubische Fan direkt nach oben.
Keine Wunder unter dieser Nummer. Als hätte
Das ist Kult, sagt der Feuilletonist mit erhobenem Zeigefinger, ob der
Seltenheit von Besonderheit im glattgebügelten
er nicht bereits genug Stress, kommt auch noch
dieses Union Berlin um die Ecke. Mannschaftsaufstellung
vor dem Heimspiel. Der Stadionsprecher
Union Berlin bereichert die
Fußball-Bundesliga. Weil der Klub
aus Köpenick sich seine eigene
Fußball. Union hat Anti schon immer angezogen.
Identifikation kommt bei den Eisernen aber
nicht von Instagram und „zusammen“ ist keine
ruft den Namen des Spielers, und was
eingekürzte Hashtag-Parole. Kult kommt bei
Identität bewahrt. Diese berauscht
entgegnet die Tribüne? Richtig, Fußballgott! Ruhestörung,
Union von Kultur. Underdogs, Systemkritiker,
Schluss aus! Der Allmächtige hat auch
mal Feierabend.
Revoluzzer und alle, denen der
Name Lewandowski egal ist.
es waren die bunten Vögel, die keinen Bock auf
das grau in grau im kommunistischen Alltag der
DDR hatten und sich dem 1966 gegründeten Verein
Union ist laut, Union ist anders. Union Berlin ist zum ersten Mal in der
Bundesliga. Der Klub aus Köpenick ist geradezu mit der Tür ins Haus gefallen.
Schöne Grüße nach Dortmund und Mönchengladbach. Kein Messi,
kein Ronaldo. Die Glaubensfrage im Fußball der vergangenen 15 Jahre
wird hier beantwortet mit Gikiewicz! Oder mit Polter, Trimmel ist auch einer,
Subotić sowieso. Du sollst nicht andere Götter neben mir haben? Der
anschlossen. Staatlich subventionierte Vereine wie der BFC Dynamo
prägten das Feindbild sportlicher, vor allem aber politischer Natur. Aus
Protest erwuchs eine Philosophie, die sich bis heute auf den Mut und den
Willen einer Wertegemeinschaft stützt. Union eben, oder wie es in der
Vereinshymne heißt: „Hart sind die Zeiten, hart ist das Team“, gesungen
von der schrillen Nina Hagen.
Widerstand schafft Kreativität. Und Gegner gab es einige in der langen
Historie. Als finanzielle Engpässe den Klub in die Knie zwangen, halfen
2.300 freiwillige Helfer beim Umbau des Stadions. 140.000 unentgeltliche
Arbeitsstunden. Alle packten mit an – Maler, Maurer, Installateure. Nicht
viele Fans können behaupten, ihr Pissoir selbst angeschraubt zu haben. Du
hast also den Wellenbrecher vor der Fankurve gemacht, aber Pommes rotweiß
seid ihr beide? So in etwa könnten sie sich anhören, die Heldengeschichten
rund um die Wurstbuden an der Alten Försterei. Union Berlin ist
für die einen wie eine Religion, für andere womöglich eine Droge – irgendetwas
Berauschendes muss es wohl sein. Ob der Drachenbootcup oder das
alljährliche Weihnachtssingen, beim Bundesligaaufsteiger ist immer Party.
Klar, St. Pauli gibt’s auch noch. Der Kiezklub und so. Aber die Geschichte
von bedingungsloser Nächstenliebe und selbstironischer Geisteshaltung
sticht im Umfeld einer allgemein kosmopolitischen Wahrnehmung mehr
heraus. Das ist der Unique Selling Point, also das Alleinstellungsmerkmal.
Ja, Fußballgott geht leichter über die Lippen, aber die Marketingsprache
sprechen sie auch in Köpenick. Seit vielen Jahren. Ein Deal mit Nike in
den späten 1990ern, aktuell fließt Geld vom Immobilienunternehmen
Aroundtown. In Zeiten, in denen das Wort Miete keine sozialen Assoziationen
auslöst, eher ein kontroverser Hauptsponsor. „Wer lässt sich nicht
vom Westen kaufen“, eine inzwischen verwelkte, literarische Blüte aus der
Union-Hymne.
Zurück zur Realität. Fußball ist Unterhaltung, ein Geschäft, das gerade
in der Hipster-Hauptstadt schwer zu vermarkten ist. Mit „We try.
We fail. We win“ versuchte es Hertha BSC, der unbeliebte Nachbar. Am
Ende ist es irgendetwas in der Mitte.
Das Märchen des Kult-Klubs, des Gegenentwurfs, lässt sich weitererzählen,
so lange es die Leipzigs und Wolfsburgs gibt. Jeder will mal ein bisschen
Revoluzzer sein, wenn auch nur für einen Nachmittag. Im Block der
Gottesanbeter stehen nicht ohne Grund immer mehr Besucher aus dem
angelsächsischen Raum. Stehplätze, normale Ticketpreise, günstiges Bier
– kommse rin, könnse rauskieken, wa! Union Berlin ist ein Original, Kult
und Kommerz, aber vor allem ein Verein mit einer bewegenden Geschichte.
Um diese zu verstehen, muss man einfach den Unionern zuhören.
Wenn die Namen der gegnerischen Aufstellung vor dem Anpfiff aufgerufen
werden, antwortet das Stadion auf noch so klangvolle Namen stets
mit „na und!“. Wen juckt’s, ob der Lewandowski heißt. Vielleicht ist diese
Scheißegal-Haltung das identitätstiftende Erfolgsgeheimnis. Auch als
Außenstehender fasziniert und beruhigt einen die Vorstellung, dass Verein
und Anhänger niemals auseinandergehen werden. Vorher lässt sich
Marco Reus von Sky-Reporter Ecki Heuser Mentalität auf den Unterarm
tätowieren.
Die ganze Geschichte über Union Berlin gibt es in
Folge 4 des Podcasts „Nachholspiel“. Hans von
Brockhausen, Oliver Lipinski und Daniel Toth blättern dort
Woche für Woche in den Fußball-Geschichtsbüchern und
diskutieren über Parallelen in der heutigen Zeit.
„Nachholspiel“ – überall wo es Podcasts gibt und auf
„Nachholspiel.de“
Fotocredit Getty Images
– 16 – pick’n’roll
SOCRATES
WARTET
Der Februar hat für Sportfans einiges zu bieten. In Übersee steigen mit dem
Super Bowl und dem NBA-All-Star-Weekend gleich zwei fette Partys,
die Fußballer feiern die Rückkehr der Champions League und gemütlich
(oder auch nicht) wird’s in Antholz. Aber sehen Sie doch selbst.
DIE AUGEN DES SERIENJUNKIES
Arena oder Studio?
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Am allerliebsten im Wechsel! Heißt dann nämlich: Die Vorfreude ist immer maximal!
Handball-Halle oder Tenniscourt?
Die HBL: coolster Job-Alltag. Wimbledon: besonderes once-in-a-year-Event.
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Berge oder Meer?
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Beides bitte mit Sonne. Beides mit einem kühlen Bier. Den Kaiserschmarrn aber dann
doch nur auf dem Berg. Obwohl...
Tattoo oder Piercing?
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Piercing, keine Sorge. Am Ohr. Für Tattoos bin ich zu sprunghaft.
Skifahren oder Surfen?
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Skistatus: Vollprofi! Surfstatus: Stets bemüht.
Städtetrip oder Strandurlaub?
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Egal! Hauptsache los! Amsterdam, Kapstadt, Bali? Sofort dabei!
Sie kennen Katharina Kleinfeldt (26) als
charmante Moderatorin von Sky Sport News
HD. Aber heißt das, dass Sie die 1,77 Meter
große Handballexpertin, die in der Damen-
Oberliga Fußball spielte, wirklich kennen?
Bei Pick’n’Roll verrät die reisefreudige
Hessin, bei was sie abergläubisch wird,
was für sie Heimat ist und warum sie zum
Serienjunkie wurde.
Motorrad oder Fahrrad?
BMW R1100S oder ein 20 Jahre altes Peugeot-Rennrad? Heißt für mich auf jeden Fall
Heimat. Da fahre ich beides am liebsten.
Heiner Brand oder Franz Beckenbauer?
Gibt es eigentlich irgendjemanden, der diese Männer nicht kennt? Werden für mich
immer die Größten ihrer Sportart bleiben.
Stefan Kretzschmar oder Lothar Matthäus?
Ikonen und Vorbilder, die polarisieren. Verschieden und doch auch irgendwo gleich.
Beide machen den Mund auf. Davon brauchen wir mehr!
High Heels oder Turnschuhe?
„Mädels, kommt jemand in meiner Größe mit? Nein? Dann werden es flache Schuhe.“
Story of my life.
Gläubig oder abergläubisch?
Abergläubisch nur, wenn es ums Anstoßen geht. Schaut mir in die Augen! Ist das denn
so schwer?
Netflix oder Kino?
Das Kino ist nach wie vor ein Muss für gute Streifen. Netflix hat mich zum Serienjunkie
gemacht – das war ich früher nie. Nicht mal GZSZ. Wirklich nicht!
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1 l SUPER BOWL LIV
2. Februar (Miami Gardens, USA)
Einige sehen es als eine Show und andere als
das wichtigste Sportevent des Jahres. Ja, Sie
haben richtig geraten: Es ist Zeit für den Super
Bowl! Der 54. in der Geschichte, der 50. in der
modernen Ära; bei dem Super Bowl LIV wird der
Meister der 100. Saison der NFL ermittelt. Zehn
Jahre später sind die Miami Gardens wieder
mal Schauplatz des Geschehens. Und ja, die berühmte
Halbzeitshow wird immer noch ein viel
diskutiertes Thema sein. In diesem Jahr werden
Jennifer Lopez und Shakira in der Halbzeit
auftreten und der Super Bowl wird wieder mehr
als ein Spiel sein.
2 l BIATHLON-WM
12. – 23. Februar
(Rasen-Antholz, Italien)
Die Biathlon-Weltmeisterschaften kommen in
diesem Jahr von Östersund nach Antholz. Die
italienische Gemeinde hat die Abstimmung vor
Slowenien (Pokljuka) und Deutschland (Oberhof)
für sich entschieden und wird zum sechsten
Mal Gastgeber der Wettkämpfe sein. Bei der
Zehn-Tage-Meisterschaft steht der Norweger
Johannes Thingnes Bø im Mittelpunkt, der
im vergangenen Jahr die beste Saison seiner
Karriere hingelegt hatte. Was für ein Turnier das
deutsche Team ohne Laura Dahlmeier haben
wird, wird die große Frage sein.
3 l CHAMPIONS-LEAGUE-
ACHTELFINALE
18. Februar – 18. März
(Spanien, Deutschland, Italien, England
und Frankreich)
Es ist der zweite Akt im prestigeträchtigsten
Turnier des Vereinsfußballs. Drei von vier
deutschen Champions-League-Teilnehmern
setzen ihre Reise im Achtelfinale fort: Borussia
Dortmund trifft auf Paris Saint-Germain, aber
natürlich steht vor allem Ex-Trainer Thomas
Tuchel im Fokus. Bayern München wird sich
bei den Duellen gegen Chelsea an 2012 und das
„Finale dahoam“ erinnern. Wenn die Leipziger
Tottenham herausfordern, wird es auch das
Duell zweier verschiedener Trainer-Generationen.
Mal gucken, ob Julian Nagelsmann José
Mourinho ärgern kann.
4 l NBA-ALL-STAR-WEEKEND
14. – 16. Februar (Chicago, USA)
Die NBA-Saison geht mit Vollgas weiter, aber
nun ist es Zeit für ein bisschen Spaß! Nach
32 Jahren kehrt das All-Star-Weekend nach
Chicago zurück. Das letzte All-Star-Game in
Chicago war von His Airness Michael Jordan
geprägt, der bei diesem Spiel sein All-Star-
Game-Rekord mit 40 Punkten erzielte. Das
United Center wird der richtige Ort für Basketballfans
sein, die sich für spektakuläre Moves
interessieren.
WEITESTEN SKISPRUNG-FLÜGE
ALLER ZEITEN
STEFAN KRAFT
ÖSTERREICH
253,5 METER
Am 18. März 2017 stellte der Österreicher Stefan Kraft beim Skifliegen in Vikersund
den aktuellen Weltrekord auf. Der Doppel-Weltmeister von 2017 verbesserte im ersten
Durchgang des Teamwettbewerbs die kurz zuvor vom Norweger Robert Johansson
erreichte Bestmarke um 1,5 Meter. „Ich habe gemerkt, der geht echt verdammt weit
und habe gedacht: ‚Bleib vorne, stehe ihn!‘ Ja, es war unglaublich“, jubelte Kraft. Der
Rekord war zunächst ein wenig angezweifelt worden, weil einer der fünf Sprungrichter
die fast gerodelte Landung als Sturz gewertet hatte. Es hätten allerdings schon
zwei weitere seiner Kollegen diese Entscheidung treffen müssen, damit der Weltrekord
Krafts nicht gewertet worden wäre.
Bereits am 15. Februar 2015 gelang dem Russen Dmitri Wassiljew mit
254 Metern der bisher weiteste Sprung der Geschichte. Da er in Vikersund
nach der Landung jedoch nicht richtig stehen konnte, wurde sein
Satz nicht gewertet und taucht daher weder in den offiziellen Bestenlisten
noch in dem Ranking der zehn weitesten Skisprung-Flüge aller Zeiten
auf. Genauso ergeht es dem Österreicher Gregor Schlierenzauer, der
2018 in Planica mit 253,5 Metern den aktuellen Weltrekord zumindest
einstellte, bei der Landung jedoch in den Schnee griff. Aus diesem Grund
bleibt sein Landsmann Stefan Kraft offiziell der einzige Skispringer, der
bisher über 253 Meter sprang – und korrekt landete. Auch ein Deutscher
schaffte es mit seinem Sprung in die Top 10.
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ROBERT JOHANSSON
NORWEGEN
252,0 METER
Ebenfalls am 18. März 2017 jubelte zunächst Robert Johansson über einen neuen Weltrekord
beim denkwürdigen Springen in Vikersund, nachdem der Norweger im ersten
Durchgang nach einem Satz über 252 Meter sicher gelandet war. Damit verbesserte er
die zwei Jahre alte Bestmarke seines Landsmanns Anders Fannemel um 50 Zentimeter.
Dass nur wenig später Stefan Kraft noch weiter springen würde, dachte in diesem Moment
weder Johansson noch sein Trainer Alexander Stöckl, der kopfschüttelnd sagte:
„Unfassbar. Den Sprung hat er optimal getroffen. Da ist maximal noch ein Meter mehr
möglich, dann wird es gefährlich.“ Kraft bewies das Gegenteil.
RYŌYŪ KOBAYASHI
JAPAN
252,0 METER
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Vor dem Wettbewerb in Planica im
März 2019 stand Ryōyū Kobayashi bereits
als Gewinner des Gesamtweltcups
fest. Das beflügelte ihn so sehr, dass er
bis anderthalb Meter an die aktuelle
Weltrekord-Weite herankam. Im ersten
Durchgang von der legendären „Letalnica“
landete er bei 252,0 Meter – neuer
Schanzenrekord und zugleich japanischer
Rekord. Bei seinem Flug hatte
Kobayashi eine beeindruckende Höhe.
Der Überflieger erklärte: „Ich hatte einen
guten Absprung und gute Bedingungen
im unteren Teil des Hanges. Es
hat sich super angefühlt, einen neuen
Rekord zu springen. Ich hätte nie gedacht,
dass ich den Fokus bis zum Ende
der Saison halten und den ganzen Winter
auf so einem Niveau springen kann.“
KAMIL STOCH
POLEN
251,5 METER
ANDERS FANNEMEL
NORWEGEN
251,5 METER
Als zweiter Skispringer überhaupt knackte Anders Fannemel am 15. Februar 2015 in Vikersund
die magische 250-Meter-Marke. Der Norweger, der sich als Kind im Biathlon probierte,
strahlte danach und sagte: „Ich bin einfach nur glücklich. Es ist ein unglaublicher Tag für
mich. Ich habe einen neuen Weltrekord gesprungen, ich kann es immer noch nicht glauben.“
Zur besseren Vorstellung: 251,5 Meter entsprechen der 2,5-fachen Länge eines normalen
Fußballplatzes. An ähnliche Weiten wird Fannemel zunächst nicht rankommen. Im Sommer
zog er sich bei einem Trainingssprung eine schwere Kreuzband- und Meniskusverletzung zu,
die ihn in diesem Winter zu einer Pause zwingt.
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Beim Weltcup-Finale im März 2017 in
Planica gelang Kamil Stoch sein bisher
weitester Sprung. Im Teamwettbewerb
landete der Pole erst nach 251,5 Metern.
Interessant: Der dreifache Olympiasieger
lässt sich von seiner Frau Ewa managen.
Stoch meint: „Das ist eine ideale Situation
für mich, auch wenn mich viele Leute gewarnt
haben. Wir machen das nun schon
seit Jahren, und es funktioniert bestens.
Ewa hat sich zu einer tollen Managerin
entwickelt, sie ist die beste Person, um
meine Interessen zu vertreten. Sie wird
mich schon nicht ausnutzen.“ Stoch ist
nicht nur Skisprung-, sondern auch Social-Media-Star.
Bei Facebook folgen ihm
rund 980.000 Leute. Bei Instagram hat er
rund 300.000 Abonnenten.
PETER PREVC
SLOWENIEN
250,0 METER
Am 14. Februar 2015 in Vikersund übersprang der Slowene Peter Prevc als erster
Sportler überhaupt die 250-Meter-Marke. Mit dieser Leistung verbesserte er den vier
Jahre zuvor von Johan Remen Evensen an selber Stelle aufgestellten Weltrekord um
satte 3,5 Meter. „Es ist im Augenblick schwer, meine Gefühle zu beschreiben“, sagte
Prevc nach seinem Triumph. „Es ist immer großartig, weit zu springen, dieser Weltrekord
ist mein bislang größter Erfolg.“ Dass dieser jedoch nur einen Tag halten würde,
hätte sich Prevc bei seinem Interview wohl nicht gedacht – doch Anders Fannemel
sprang nur 24 Stunden später am gleichen Ort nochmal 1,5 Meter weiter.
ANDREAS STJERNEN
NORWEGEN
249,0 METER
Am 14. Februar 2016 gelang dem Norweger Andreas Stjernen beim Skifliegen in
Vikersund der größte Satz seiner Karriere. Er landete bei 249 Metern. Der Mannschafts-Olympiasieger
von 2018 gab Anfang 2019 im Alter von 30 Jahren nach gut
neun Jahren seinen Abschied vom Skisport bekannt. In einem Video des norwegischen
Teams auf Facebook sagte er: „Ich habe darüber bereits im Sommer, Herbst und
Winter nachgedacht. Ich habe mein Bestes gegeben. Als ich zu Hause war, habe ich gemerkt,
dass es mir genauso viel Spaß macht, dem Team im Fernsehen zuzusehen, wie
selbst am Start zu sein. Also das war’s.“ Sein schwerer Sturz in Lahti einige Wochen
zuvor habe bei seiner Entscheidung keine Rolle gespielt, so Stjernen.
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KENNETH GANGNES
NORWEGEN
248,5 METER
Am 14. Februar 2016 sprang der Norweger
Kenneth Gangnes beim Skifliegen in Vikersund
nur einen halben Meter kürzer als sein
Landsmann Andreas Stjernen und landete
bei 248,5 Metern. Gangnes beendete seine
Karriere im Alter von 29 Jahren nach
mehreren schweren Verletzungen Ende
2018. „Ich fühle eine gewisse Erleichterung,
aber gleichzeitig fällt es mir schwer, meine
Träume aufzugeben. Wenn die Beine nicht
zu 100 Prozent fit sind, macht es einfach
keinen Sinn mehr“, begründete er seine
Entscheidung. Gangnes hatte als eines der
größten Talente der Skisprung-Szene gegolten
und im Gesamtweltcup 2015/16 den
dritten Platz belegt.
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KAMIL STOCH
POLEN
248,5 METER
Ein Jahr nach seinem Satz auf 251,5 Meter gelang Kamil Stoch fast noch mal die identische
Weite. Am 24. März 2018 landete der Pole beim Teamspringen in Planica bei 248,5 Metern.
In seiner Heimat ist Skispringen äußerst populär. Stoch sagt dazu: „Meiner Meinung nach
handelt es sich um einen Sport ohne Aggressionen, Gewalt gibt es nicht. Das sehen die Leute
natürlich auch. Das ist ein Grund. Hinzu kommt, dass die Zuschauer uns während der
Wettkämpfe aus der Nähe betrachten und Autogramme sammeln können. Zudem haben wir
in Polen nicht so viele Sportidole. Als damals mein Landsmann Adam Małysz seine Siegesserie
begann, waren die Leute begeistert. Sie waren stolz auf Adams Titel und Trophäen.“
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MARKUS EISENBICHLER
DEUTSCHLAND
248,0 METER
Am 25. März 2017 stellte Markus Eisenbichler in Planica mit 248 Metern den aktuellen deutschen
Skisprungrekord auf. „Das ist schon etwas Besonderes für mich. Mein Vater hat mich
mal gefragt, was ich erreichen will. Da habe ich gesagt: ‚Den deutschen Rekord möchte ich
irgendwann mal haben.‘“ Der Mann aus dem bayerischen Siegsdorf trägt den Spitznamen
„Eisei“ und gewann 2019 den Weltmeistertitel im Einzel von der Großschanze. In diesem
Winter führt er das deutsche Aufgebot an. Erst zwei Jahre nach Eisenbichlers bisher weitestem
Karriere-Sprung erreichte auch Piotr Żyła die Weite von 248,0 Meter, weshalb sich der
Pole in dem Ranking mit Platz elf begnügen muss.
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Skitourismus mit der Brechstange.
Mit vier Worten geben
die Naturschützer ihrem Ärger
ein Ventil. Doch nicht nur sie
schüttelten beim frühen Wintersaisonstart
im Oktober auf der
Resterhöhe unweit von Kitzbühel
ungläubig den Kopf. Auch
die mit T-Shirts bekleideten
Wanderer und Mountainbiker
blickten irritiert auf den weißen
Schneestreifen, der sich vor
ihren Augen 1,6 Kilometer lang
den Berg hinunterschlängelte.
„Die Fotos zeigen eindrücklich,
dass der Respekt vor der Natur
im Wintertourismus immer
weiter verloren geht“, kritisiert
Josef Schrank, Landschaftsökologe
vom WWF Österreich.
Weder brauche das Tirol, noch
habe Tirol das notwendig, heißt
es in einer Pressemitteilung der
Tiroler Grünen. „In Zeiten der
Klimakrise ist das nur mehr
grotesk, was die Kitzbüheler
Bergbahnen aufführen.“
Die Bergbahnen Kitzbühel sind
bereits zum fünften Mal in Folge
im Oktober in Betrieb gegangen.
In diesem Jahr bei 20 Grad. Ihr
Verständnis für den öffentlichen
Aufschrei? Nicht vorhanden.
Im Gegenteil. Sie sehen in der
Piste oberhalb von Mittersill im
Pinzgau sogar einen wirtschaftlichen
und ökologischen Nutzen.
Das Angebot sei, so äußerte sich
Bergbahnenchef Josef Burger
im ORF, eine Alternative „zum
aufwendigeren und teureren
Gletschertraining“. Was er damit
meint: Durch die vorhandene
Piste verkürzt sich der Anfahrtsweg
für Skiklubs entscheidend.
Diese müssten ansonsten zu den
österreichischen Gletschern in
deutlich höhere Lagen fahren,
was die Umwelt und das Klima
deutlich mehr belasten würde als
das weiße Band auf der Resterhöhe.
Neben dem Österreichi-
In 1.800 Metern
Höhe brodelt es. Seit
fünf Jahren startet
auf der Resterhöhe
in den Kitzbüheler
Alpen der Skibetrieb
bereits im Oktober.
Naturschützer
sehen ein groteskes
Klima-Signal, die
Bergbahnen einen
ökologischen
Nutzen.
schen trainiert auch der Deutsche
Skiverband in Kitzbühel.
Wer beim Betrachten der Fotos
sofort an Kunstschnee denkt, irrt
sich. Der Restschnee der vorigen
Wintersaison sei unter einer
Plane deponiert worden. Das sei
zudem günstiger und umweltfreundlicher
als Schneekanonen.
Die Grünen konterten: Durch
Gletscherskigebiete gebe es in
Tirol ausreichend Möglichkeiten,
schon im Herbst die Ski anzuschnallen.
„Wer hier die Augen
verschließt, der verschließt die
Augen vor der Klimakrise.“
Augenscheinlich hingegen: der
Aufmerksamkeitseffekt. Die
Region Kitzbühel bleibt Jahr für
Jahr mit einem kleinen Schneeband
groß im Gespräch.
Die schrumpfende Elite
SEBASTIAN HAHN
Fotocredit Getty Images
Wer sich für Wintersport
interessiert, der braucht vor
allem eines: Durchhaltevermögen.
Denn mehr als alle
anderen Outdoor-Sportarten
sind die Winter-Disziplinen
schonungslos den Wetterbedingungen
ausgeliefert. Zu wenig
Schnee bedeutet in der Regel
keine Wettkämpfe, zu viel
Schnee kann zu dem gleichen
Ergebnis führen. Das zeitliche
Fenster, in dem Wettkämpfe
stattfinden können, ist winzig.
Deshalb geht die Saison nur
von Oktober bis März, deshalb
müssen immer wieder Wettkämpfe
verschoben, abgesagt
oder an andere Orte verlegt
werden. Der Klimawandel hat
die Probleme des Wintersports
verstärkt. Und das zeigt sich
nicht nur, wenn es darum geht,
ob in Gröden nun eine Abfahrt
stattfinden kann oder nicht.
Der Klimawandel sorgt auch
dafür, dass der Zugang für
junge Talente zum Wintersport
immer schwieriger wird.
Ski Alpin und Skispringen sind
kein Fußball. Es reichen nicht
mal eben ein Ball und zwei
Tore aus leeren Plastikflaschen
oder Rucksäcken. Es braucht
Ski-Ausrüstung, entsprechende
Trainer und vor allem eines:
Schnee. Schon jetzt beschränkt
sich die Zahl der Top-Athleten,
die sich in den verschiedenen
Sportarten tummeln, auf Sport-
Für den Wintersport ist Europa jetzt schon
eine Bank. In Zukunft wird selbst diese
Bank durch den Klimawandel nicht mehr
sicher sein.
ler aus Nord- und Mitteleuropa
und Nordamerika. Ausnahmen
bilden in manchen Fällen Japan
und Südkorea, aber selbst
die chinesischen Anläufe, bis
zu den Winterspielen 2022
in Peking eine schlagkräftige
Mannschaft zusammenzustellen,
gestalten sich nicht
gerade erfolgsversprechend.
Chinesische Athleten laufen
überwiegend hinterher. Eine
Biathlon-Mannschaft lässt sich
eben nicht so schnell in die
Weltspitze bringen wie eine
Handball-Mannschaft, wenn in
Katar mal eben die Weltmeisterschaft
ausgespielt wird.
Durch den Klimawandel
wird auch den letzten „Exoten“
im Wintersport, die sich
etwa in Australien oder den
südamerikanischen Anden
ihre Trainingshänge suchen
müssen, eine entscheidende
Grundlage geraubt. Nicht nur
das Wettkampffenster, in dem
Wintersport stattfinden kann,
wird kleiner, sondern auch der
Bereich, in dem dieser professionell
betrieben wird. Schon jetzt
konzentriert sich viel auf Europa,
die Zahl der Absagen und
Verschiebungen, vor allem wegen
des fehlenden Schnees, häufen
sich auch dort. Abfahrten,
die links und rechts von grünen
Wiesen flankiert werden, sind
in den alpinen Disziplinen keine
Seltenheit mehr.
Durch den Klimawandel wird der
Wintersport noch mehr zu einem
Sport der Elite, der sich dadurch
unfreiwillig global von Zuschauern
und Fans entfernen wird. Wie
authentisch kann der Weltverband
FIS seine Sportarten noch
transportieren, wenn de facto nur
ein immer kleiner werdender
Bruchteil der Weltbevölkerung
überhaupt Zugang dazu hat? Wie
viele Nationen müssen ihre
Wintersportprogramme künftig
einstellen, weil sich keine
aussichtsreichen Nachwuchsklassen
für Talente mehr finden? Der
Sport ist in Sachen Klimawandel
keine Oase, in der die Probleme
der Welt mal für ein paar
Stunden vergessen werden
können. Er ist längst Teil des
Problems und dessen Konsequenzen.
mentalität – 35 –
Immer noch cool
danach tauchte Jamaikas Bobmannschaft
immer wieder auf.
In Michael Williams stellte Jamaika
lange sogar einen Skifahrer.
„Die Geschichte von den vier
Bobfahrern kennt auf Jamaika
fast jeder. Wie die Jungs den
Eiskanal runtergefahren sind, hat
mich damals sehr stolz gemacht.
Und mir gezeigt: Man kann alles
im Leben schaffen, wenn man
ganz fest an sich glaubt. Ich habe
mit Devon Harris sogar einen der
originalen Truppe kennenlernen
dürfen und mich bedankt“, sagte
Williams in einem Interview mit
SPOX.
Er hatte den Vorteil, in Kanada
geboren zu sein. Schnee und Kälte
waren ihm bekannt, er spielte
sogar Eishockey, wollte aber
mehr. Auch dass ihm sein eigens
engagierter Ski-Lehrer nach dem
ersten Trainingstag sagte, dass
Williams „keine Ahnung vom
Skifahren“ hat, warf Williams
nicht um und er schaffte es bis in
die Winterspiele.
Doch nicht jede Wintersport-Geschichte
aus Jamaika hat ein Happyend.
In PyeongChang durfte die
Welt wieder einen jamaikanischen
Bob bejubeln. Jazmine Fenlator-Victorian
und Carrie Russell
starteten für ihr Land, gerieten
aber schnell in die Schlagzeilen,
weil kurz vor den Winterspielen
2018 der Verband die deutsche
Trainerin Sandra Kiriasis
rauswarf. Kiriasis drohte damit,
den Jamaikanerinnen ihren Bob
wegzunehmen, weil sie nach eigener
Aussage dafür sorgte, dass sie
überhaupt einen hatten.
Jamaika widersprach der
Darstellung und erklärte, dass
Kiriasis, die später bei einem
TV-Dschungel mitmachte, „nur“
eine Assistenztrainerin gewesen
sei. In PyeongChang landeten die
Damen auf Platz 18, wenig später
wurde Fenlator-Victorian positiv
auf Clenbuterol getestet und
wurde wegen Dopings für ein
Jahr gesperrt. Bei Walt Disney
hätte man sicher keine Mühe, die
Geschichte zu erzählen.
FATIH DEMIRELI
Cool Runnings - Dabei sein ist alles
Wie kann man Schnee-Sport betreiben, wenn
man selbst noch nie Schnee gesehen hat?
Jamaikas Bobmannschaft von 1988 lehrte die
Welt, wie das geht. Sie fanden Nachahmer,
aber nicht alle hatten ein Happyend.
Dass sie bei Disney gute Märchen
und Geschichten erzählen
können, sollte recht bekannt sein.
Sämtliche historischen Meisterwerke
sollten als Beleg dienen.
Große Augen machte die Welt,
als die Filmemacher aus Burbank
in Kalifornien Anfang der 1980er
Jahre Cool Runnings – Dabei sein
ist alles drehten und in die Kinos
brachten. Vier Jamaikaner, die
in ihrem Leben noch nie Schnee
gesehen hatten und als Sprinter
versagten, qualifizieren sich für
die Winterspiele in Kanada – als
Bobmannschaft. Und werden trotz
Unfall (oder vielleicht auch deswegen)
zu gefeierten Helden. Es
stimmt, dass es diese Mannschaft
gab, es stimmt, dass sie 1988 in
Calgary antrat und Achtungserfolge
erzielte, aber ansonsten ist sehr
vieles frei erfunden.
Die vier Athleten waren in Wirk-
lichkeit keine Athleten, sondern
Soldaten, weil die ursprünglich
angesprochenen Sportler keine
Begeisterung für die Idee entwickeln
konnten und dankend
ablehnten. Beim Militär, das –
warum auch immer – die zweite
Station der US-amerikanischen
Initiatoren George B. Fitch und
William Maloney war, war das
schon anders. Vier Soldaten wurden
für das Projekt abkommandiert
und mussten sich fortan der
neuen Disziplin widmen.
Doch die Geschichte, ob erfunden
oder nicht, hat eine inspirierende
Wirkung. Devon Harris, einer der
vier Soldaten, die einst für das
Projekt ausgesucht wurden und
selbst großes Interesse entwickelten,
hält heute noch Reden über
damals. Er schrieb Bücher und die
„Cool Runnings“ fanden Nachahmer.
Auch in den Winterspielen
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CENTRE
COURT
S.40
KLEINER MARCUS
Wer einen weltberühmten Vater hat, empfindet dabei nicht
unbedingt Vergnügen. Bundesliga-Shooting-Star Marcus Thuram
scheint da eine löbliche Ausnahme zu sein.
S.56
GIERIG
Matthias Sammer polarisiert. Hat er schon immer.
Dabei sollte man nicht den Fehler machen, den Mann als
Besessenen abzutun, denn: Alles was er tut, geschieht aus Liebe.
S.72
STEH AUF!
Collette V. Smith wurde mehrfach vergewaltigt, dreimal versuchte sie,
sich das Leben zu nehmen. Mit 42 rauchte sie ihre letzte Zigarette, stellte ihr
Bier zur Seite – und wurde Football-Profi.
MENTALITÄT
Mentalität ist ein komplexes Ding. Wichtig ist, dass Verstand und Gefühl gemeinsam eine Rolle spielen.
Man kann sie deshalb nicht verordnen, mal eben ändern oder beliebig einpflanzen.
Sie ist kennzeichnend für Individuen und Gruppen. Und: Jeder hat eine.
– 40 – mentalität
mentalität – 41 –
„ KEINE SORGE,
ICH WEISS SCHON,
DASS ICH EXISTIERE“
Marcus Thuram ist eine der Entdeckungen der Bundesliga.
Aber er ist nicht nur ein unverschämt talentierter Stürmer, sondern auch ein geistreicher wie
charmanter und humorvoller Gesprächspartner, wie er im Gespräch mit SOCRATES zeigte.
ALI FARHAT
– 42 – mentalität
mentalität – 43 –
Marcus, Sie sind jetzt seit einigen Monaten
in Deutschland. Wo sehen Sie
die Unterschiede zu Frankreich?
Wenn man sich in Deutschland an die Regeln
hält, gibt es kein Problem. In Frankreich
ist das anders. Viele Spieler tragen ihr
Leben an die Öffentlichkeit, in die Zeitungen,
weil sich das lohnt. Es liegt mir nichts
daran, Frankreich zu kritisieren, aber so ist
es nun mal. Spieler sagen in den Medien:
„Im Ausland ist es besser als in Frankreich.“
Oder: „Im Ausland ist man professioneller.“
Ich glaube, jeder Spieler ist selbst dafür verantwortlich,
was er auf dem Spielfeld macht.
Da ist es vollkommen egal, wo er ist. Aber
ich möchte auf die Frage zurückkommen.
Sehr gern.
Die auffälligsten Unterschiede sind die
Stadien, die Stimmung und die Spielweise.
Darüber kann ich reden. Die Mentalität
„In Deutschland geht jedes
Team auf den Platz, um ein
Tor mehr als der Gegner
zu schießen. Deshalb sieht
man jede Menge offene
Spiele, viel Tempo – und
dieser Aspekt ist ein großer
Unterschied im Vergleich zu
Frankreich.“
ist auch eine andere hier. Aber was jeden
Spieler selbst angeht, das liegt in seinen
Händen. Wenn jemand Blödsinn machen
will, dann macht er das, egal ob er in
Deutschland, Frankreich oder Italien ist.
Und wie ist sie, die Mentalität im
deutschen Fußball?
Immer nach vorne. Angreifen, angreifen,
angreifen. Egal ob Bayern, Paderborn,
Hertha, Union oder Freiburg – jedes Team
geht auf den Platz, um ein Tor mehr als
der Gegner zu schießen. Deshalb sieht man
jede Menge offene Spiele, viele Kontersituationen,
viel Tempo – und dieser Aspekt
ist ein großer Unterschied im Vergleich zu
Frankreich.
Waren Sie am Anfang davon überrascht?
Ja. Ich war es gewohnt, dass man sich erst
mal abtastet, zehn bis 15 Minuten. Aber hier
geht es direkt los, ein Tor kann schon in
der ersten Minute fallen. Alle greifen sofort
an, keiner kalkuliert, was er danach in der
Defensive zu tun haben wird. Jeder greift an
und dann … schauen wir mal.
Warum eigentlich Gladbach?
Von den Teams, die mich im vergangenen
Sommer verpflichten wollten, war Gladbach
Fotocredit Getty Images, Imago
der Verein, der mich am besten kannte. Als
ich mit den Verantwortlichen sprach, fand
ich heraus, dass mich der Klub seit der U19-
EM in Griechenland beobachtet hatte. Seit
2015 haben sie alle meine Spiele geguckt
und ein sehr genaues Profil von mir erstellt.
Sie kannten mich wirklich gut und das hat
mir Vertrauen gegeben. Ich habe keine
Reise ins Unbekannte angetreten.
Sie kommen aus einer Fußballerfamilie:
Ihr Vater Lilian ist weltberühmt,
der Cousin Ihres Vaters (Yohann
Thuram, Anm. d. Red.) ist Torwart
und Ihr jüngerer Bruder (Khéphren
Thuram, Anm. d. Red.) Mittelfeldspieler.
Wie hat Sie das geprägt?
Yohann habe ich eigentlich nicht so oft getroffen,
vielleicht zwei-, dreimal in Guadeloupe,
aber ich erinnere mich nicht sehr gut
daran. Mit meinem Vater habe ich mich nie
in einer Art Konkurrenzsituation gesehen,
das trifft vielleicht eher auf meinen Bruder
zu. Ich habe mich sehr schnell in den Fußball
verliebt, weil mein Vater Spieler war.
Es gab keinen Tag, an dem ich nicht Fußball
gespielt habe.
Würden Sie sagen, dass Sie das Aufwachsen
als Fußballersohn besser auf
das Geschäft vorbereitet hat?
Ich habe das Glück, so einen Vater zu haben.
Ich habe noch nicht alles verinnerlicht,
was er mir beigebracht hat, aber es ist gut,
„Seit 2015 hat Gladbach alle
meine Spiele geguckt und
ein sehr genaues Profil von
mir erstellt. Sie kannten mich
wirklich gut und das hat mir
Vertrauen gegeben.“
dass ich mit ihm über alles sprechen konnte
und kann. Das spart eine Menge Zeit.
Inwiefern?
Das geht mit der Ernährung los. Oder ich
weiß, dass der Schlaf nach dem Spiel das
Allerwichtigste ist und ich nicht den ganzen
Tag vor dem Fernseher hängen soll. Das
sind vielleicht nur Kleinigkeiten, aber die
machen am Ende den Unterschied.
Sie telefonieren nach den Spielen
miteinander. Was bringt Ihnen das
konkret?
Das bringt mich noch weiter voran. Nach
dem Spiel sind die Bilder noch ganz frisch
und wir besprechen und beurteilen, was ich
gemacht habe. Ich gewinne echt viel Zeit.
Wie viele Spieler können schon sagen, sie
machen ein Debriefing von dieser Qualität?
Es erlaubt mir, meine Fehler sehr schnell
– 44 – mentalität
„Wenn ich ins Stadion gehe, und das Stadion ist
voll und alles ist grün – dann kann ich
nicht vergessen, wie ich als Kind im Park
gespielt habe. Ich bin beeindruckt.“
wie verhalte und wie ich mein Verhalten
verbessern kann. Es ist ein langer Prozess.
Ich rede von Jahren.
„Er war es nicht, da bin ich mir ganz sicher! Es war
eine Filmmontage! Auch er weiß, dass er es nicht
war! Nur Ihr, die Fernsehzuschauer, glaubt, dass er
die zwei Tore geschossen hat!“
zu korrigieren. Das heißt aber nicht, dass
ich beim nächsten Spiel keine Fehler mehr
mache. Aber ich höre zu, lerne und weiß,
dass ich mich verbessern werde.
Ich höre, dass Ihr Vater offensichtlich
ein guter Coach ist. Wie ist er als
Vater?
Fantastisch. Meine Mutter und er haben
uns sehr gut erzogen. Er war sehr geduldig,
er hat die Dinge immer wiederholt. Klar ist
da der Fußball, aber das Wichtigste ist, ein
guter Mensch zu sein. Wenn man ein guter
Mensch ist, ist man auch besser auf dem
Platz. Daran glaube ich.
Sie haben mal
verraten, dass
Sie sich intensiv
hinterfragen. Was
bedeutet das?
Das bedeutet tatsächlich,
dass ich mir
selbst viele Fragen
stelle und mich jeden
Tag bemühe, ein
besserer Mensch zu werden.
Um das zu erreichen,
muss man mit sich selbst im
Reinen sein. Ich versuche zu
verstehen, warum ich mich
Sie sind in Gladbach grandios eingeschlagen,
aber jeder Stürmer kommt
irgendwann einmal in eine Phase, in
der es nicht läuft. Das kennen Sie auch.
Kann man sich darauf vorbereiten?
Nein, das kann man nicht, sonst würde
die Schwächephase schon früher kommen!
(lacht) Man muss jedes Spiel nehmen, wie
es ist. Wenn man zehn Spiele lang kein
Tor geschossen hat, muss man sich auf das
elfte genauso vorbereiten, als hätte man in
den Spielen davor getroffen. Man darf sich
nichts einreden. Umgekehrt ist es genauso:
Wenn man eine Serie hat, darf man sich
nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Das
Wichtigste ist aber, gut zu spielen. Tore zu
schießen ist die Belohnung für eine gute
Leistung auf dem Platz.
Hatten Sie schon mal so eine
Hochphase?
Ich habe schon mal gut gespielt,
sonst wäre ich nicht hier.
(lacht) In der Saison zuvor
für Guingamp war ich in der
Hinrunde schon auf einem
ganz guten Niveau. Auch in
der Coupe Gambardella, das
ist ein Pokalwettbewerb
für Jugendmannschaften
in Frankreich, war ich
schon mal ganz gut. Es ist
allerdings das erste Mal in meiner
Karriere, dass ich in einer so
guten Mannschaft spiele.
Die beiden Tore Ihres
Vaters Lilian im
Fotocredit Imago
– 46 – mentalität
mentalität – 47 –
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„Rose weiß genau, es gibt Momente, in denen wir Spaß haben
können und andere, in denen wir Ernst machen müssen.
Er kann das sehr gut und ich schätze diese Art an ihm sehr.“
WM-Halbfinale 1998 gegen Kroatien
sind zwei der besten Beispiele für Siegermentalität
im französischen Sport.
Wie gehen Sie damit in der Familie um?
Wenn ich mit ihm darüber spreche, dann
immer, um mich über ihn lustig zu machen.
Oder er macht sich selbst lustig darüber. Er
war ein großer Fußballer, was seine mentale
Stärke angeht vielleicht einer der besten
aller Zeiten. Technisch gesehen ist das aber
eine andere Geschichte. (lacht)
Man muss dazusagen: Ihr Vater war
Verteidiger und hat in 140 Länderspielen
genau zwei Tore geschossen
– und diese beiden ausgerechnet zum
2:1 im WM-Halbfinale. Wie finden
Sie persönlich diese beiden Treffer?
Sehen Sie Lilian Thuram, den Fußballstar
oder Ihren Vater?
Ich sehe ganz jemand anderen! Er war es
nicht, da bin ich mir ganz sicher! Es war
eine Filmmontage! Auch er weiß, dass er es
nicht war! Nur Ihr, die Fernsehzuschauer,
glaubt, dass er die zwei Tore geschossen
hat! Er war es nicht.
Okay, wieder was gelernt. Stört es Sie,
dass Ihr Vater viel Raum einnimmt?
Nein, überhaupt nicht. Ich weiß seit meiner
Kindheit: Ich bin ich und er ist er. Ich habe
aber Glück, dass ich kein Verteidiger bin,
denn dann hätte man mich noch mehr mit
ihm verglichen und es wäre vielleicht härter
gewesen. Die Leute, die mich auf „den Sohn
von Lilian Thuram“ reduzieren, sind die
Journalisten. Die Kollegen und die Trainer
wissen, dass es zwei verschiedene Personen
gibt. Außerdem habe ich nicht das gleiche
Temperament wie mein Vater. Mehr kann ich
nicht sagen. (lacht) Es ist schon vorgekommen,
dass ich in einem Interview 15 Fragen zu
meinem Vater gestellt bekam und nur sechs
zu mir selbst. Ich finde das aber legitim.
Wenn Dein Vater Weltmeister wäre, hätte
ich auch was zu ihm gefragt. (lacht)
Es stört Sie wirklich nicht?
Nein. Er ist mein Vater. Ich bin stolz,
sein Sohn zu sein. Soll ich etwa
eifersüchtig sein? Das wäre doch
verrückt!
Verstanden. Aber Sie könnten
es ja manchmal satthaben
und einfach mal sagen: „Hey,
mich gibt es auch noch!“
Machen Sie sich keine Sorgen:
Ich weiß schon, dass ich
existiere. Ein bisschen zu viel,
manchmal. (lacht)
Sie scheinen ein gutes Verhältnis
zu Marco Rose zu
haben. Warum?
Er ist ein Trainer, der gut trennen
kann. Abseits des Platzes macht er
zwei, drei Scherze mit dir und nur we-
„Ich bin stolz, Lilian
Thurams Sohn zu
sein. Soll ich etwa
eifersüchtig sein?
Das wäre doch
verrückt! Ich weiß
schon, dass ich auch
existiere.“
nige Minuten später auf dem Feld brüllt er
dich zusammen, wie es noch niemand zuvor
getan hat. Er weiß genau, es gibt Momente,
in denen wir Spaß haben
können und andere,
in denen wir Ernst
machen müssen. Er
kann das sehr gut
und ich schätze diese
Art an ihm sehr.
Was haben Sie
noch hier gelernt?
Die deutsche Sprache.
(lacht)
Und
fußballerisch?
Ich versuche, jeden Tag Fortschritte
zu machen. Als Spieler und
als Mensch. Ich kann kein konkretes
Beispiel nennen, ich weiß aber, dass ich
nicht mehr der Spieler bin, der ich noch vor
ein paar Monaten war. Ich würde sagen, ich
verhalte mich besser auf dem Platz. Aber
konkret benennen kann ich das nicht.
Würden Sie französischen Spielern
raten, hierher zu kommen?
Das kann man nicht pauschal sagen. Es
hängt von jedem einzelnen Charakter ab
und davon, was der Spieler will. Es ist doch
alles sehr komplex. Fußballer sind komplex,
Menschen sind komplex. Für einige wäre
es sicher schwer, weil die Spielweise in
Deutschland sehr besonders ist. Für andere
wäre es das nicht.
Ganz was anderes: Was können Sie
uns über „Tikus“ erzählen?
(lacht) Das ist mein echter Name. Ich werde
ihn in meinen Pass eintragen lassen. Tikus
ist besser als Marcus.
Tikus setzt sich zusammen aus dem
Adjektiv „petit“ und Ihrem Vornamen,
soll also kleiner Marcus oder Markus
heißen. Dabei sind Sie gar nicht klein,
sondern knapp einsneunzig?
Das war mein Spitzname als Kind und er ist
es bis heute geblieben. Ich glaube, es ist ein
guter Spitzname, weil jeder Erwachsene
einen Teil seiner Kindheit behalten sollte.
Nicht zu viel, sonst ergibt das gefährliche
Erwachsene. (lacht) Dann kommen da Peter
Pans raus. (lacht weiter) Wenn ich ins
Stadion gehe, und es ist ein Europa-
League-Spiel, das Stadion ist voll und alles
ist grün – dann kann ich nicht vergessen, wie
ich als Kind im Park gespielt haben. Ich bin
beeindruckt. Wenn ein Spieler davon nicht
beeindruckt ist, heißt das, er hat diesen Teil
vergessen. Man darf nicht vergessen, warum
man Fußball spielt. Als Kinder träumen wir
alle davon, in einem Stadion mit 50.000
Zuschauern aufzulaufen. Das darf man
einfach nicht vergessen.
„ ICH HATTE EIN GANZ
NORMALES LEBEN“
Andy Murray wollte den Schläger 2019 eigentlich an den Nagel hängen,
kam dann aber nach heikler OP und langer Pause zurück. Jetzt will er genießen
und einfach sehen, wie weit ihn seine Hüfte aus Metall noch trägt.
ALEXIS MENUGE
– 50 – mentalität
mentalität – 51 –
Andy, wenn wir auf das vergangene
Jahr zurückblicken, kann man sagen,
dass Sie unerwartet wiedergeboren
wurden?
In gewisser Weise kann man das tatsächlich.
Ich hätte es jedenfalls nicht für
möglich gehalten, so schnell wieder auf der
Tour Fuß zu fassen und von Turnier zu
Turnier schauen zu können, ohne einen
Rückschlag hinnehmen zu müssen.
Man kann nicht gerade behaupten,
dass Sie vom Glück
verfolgt würden, oder?
Das ist leider Fakt. Vor meiner letzten
Hüft-Operation hatte ich mich
ja bereits einer Leisten-OP unterzogen,
es gab diesen ersten Eingriff an
der Hüfte und immer wieder Spritzen,
so dass ich trotz Schmerzen in der
Lage war zu spielen, was im Nachhinein
betrachtet aber nicht wirklich
funktioniert hat. Die zweite Hüft-OP hat
deutlich mehr geholfen und schließlich
waren die Schmerzen völlig verschwunden.
Und heute bewege ich mich deutlich besser
als vor dem letzten Eingriff.
Dieser Eingriff fand am 28. Januar
2019 statt – und es
war völlig unklar,
was danach
„Meine größte Hoffnung
und tiefste innere
Überzeugung war, dass
der Eingriff gut ausgehen
würde. Aber ganz ehrlich:
Als ich auf dem OP-Tisch
lag, dachte ich keine
Sekunde an
Tennis.“
sein würde. Wie fühlten Sie sich, als
die OP unmittelbar bevorstand?
Ich war sehr nervös, weil ich ja nicht
wusste, wie ich den Eingriff überstehen
und ob es womöglich Komplikationen
geben würde. Meine größte
Hoffnung und tiefste innere Überzeugung
war jedoch, dass es gut ausgehen
würde. Es war einfach höchste Zeit,
endlich diese Schmerzen loszuwerden.
Ich wollte einfach aufwachen und spüren,
dass es mir besser geht. Und ganz ehrlich:
Als ich auf dem OP-Tisch lag, dachte ich
keine Sekunde an Tennis.
Wussten Sie genau, was auf Sie
zukommt?
Ich hatte ein Video gesehen, das den Ablauf
der OP simulierte. Die Situation war eine
völlig andere als bei meinem Rücken-Eingriff
und sogar völlig anders als bei meiner
ersten Hüft-OP ein Jahr zuvor. Das war ein
sehr komplizierter Eingriff und dessen war
ich mir vollkommen bewusst.
Ihnen wurde ein künstliches Gelenk
eingepflanzt. Welche Risiken gab es?
Es bestand ganz einfach die Gefahr, dass
ich den Eingriff nicht gut verkraften könnte
und niemals wieder einen Tennisschläger
vernünftig in der Hand halten
könnte. Es gab keine
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Garantie. Das konnte ich in der Simulation
gut sehen. Nichtsdestotrotz wollte ich das
Risiko eingehen.
Gut zwei Wochen zuvor schieden Sie
in der ersten Runde der Australian
Open nach hartem Kampf aus. Das
Publikum feierte Sie, als hätten Sie
den Titel gewonnen. Wäre das nicht
ein guter Zeitpunkt gewesen, ganz
aufzuhören?
Kurz nach dem Spiel ließ ich meine Familie
und Freunde wissen, dass ich mit mir im
Reinen sei. Wenn es tatsächlich das letzte
Match meiner Karriere gewesen wäre, wäre
es in Ordnung gewesen. Wenn man völlig
gesund ist, kann man leichter entscheiden,
welches Turnier das letzte sein soll.
Ich wollte damals gerne in Wimbledon
Abschied feiern und machte damals die
entsprechende Ankündigung.
„Kurz nach dem Bautista-
Agut-Spiel ließ ich meine
Familie und Freunde wissen,
dass ich mit mir im Reinen
sei. Wenn es tatsächlich das
letzte Match meiner Karriere
gewesen wäre, wäre es in
Ordnung gewesen.“
Nach der OP vergingen fünf Monate
bis zu Ihrem Comeback. Was haben
Sie in dieser Zeit gelernt?
Dass Tennis nicht alles ist. Ich kann auch
ohne Tennis glücklich sein. Das war mir
vor der Operation gar nicht so bewusst
gewesen. Davor ging es immer nur um Tennis
und darum, wie ich möglichst schnell
wieder fit werden und auf die Tour zurückkehren
könne. Während ich mich nun von
der OP erholte, verbrachte ich viel mehr
Zeit mit meinen Kindern als zuvor. Das war
wunderbar. Ich liebe es immer noch, auf
dem Tennisplatz zu stehen, doch wenn ich
in ein paar Monaten oder auch erst in drei
Jahren endgültig aufhöre, werde ich ein
glücklicher Mann sein.
Was haben Sie sonst noch so gemacht?
Ich war oft mit meinen Hunden spazieren,
ging mit meiner Frau ins Restaurant, habe
Golf gespielt und Arsenal beim Verlieren
zugeschaut. (lacht) Ich hatte ein ganz normales
Leben. Es war herrlich.
Wenn Sie sagen, dass Sie auch ohne
Tennis glücklich sind, warum haben
Sie sich das Comeback dann überhaupt
angetan?
Weil ich Tennis immer noch liebe. Ich liebe
es, gegen den Ball zu schlagen. Das tue ich
A N O N I M O U S C Y C L E S
C
M
so gut wie jeden Tag, seit ich vier Jahre
alt bin. Als ich das Gefühl hatte, dass ich
es wieder versuchen könnte, musste ich es
auch unbedingt tun. Vor der OP war ich
unglücklich auf dem Platz geworden, ich
hatte keinen Spaß mehr, weil die Schmerzen
einfach unerträglich wurden. Aus dieser
schweren Zeit habe ich auch gelernt, dass
Tennis zu spielen nicht nur gewinnen oder
verlieren bedeutet, sondern dass es eben
auch andere Sachen im Leben gibt.
Ihre Spielweise seit der Rückkehr ist
nicht so aggressiv wie zuvor. Wann
sehen wir den alten Andy Murray
wieder?
Das wird mit der Zeit kommen. Es kann
nicht von heute auf morgen wieder alles
so sein wie immer. Ich spiele jetzt deutlich
geduldiger und taste mich langsam, aber
sicher an mein altes Niveau heran.
Welche Ziele haben Sie sich für die
nähere Zukunft gesteckt?
In meinem Zustand will ich erst mal abwarten,
wie ich mich entwickle, was für mich
realistisch gesehen möglich ist, um dann
im zweiten Schritt über konkrete Ziele zu
sprechen. Momentan bin ich einfach happy,
mithalten zu können und keine Schmerzen
zu haben. Wichtig ist schon mal, dass ich
ehrgeizig und motiviert bin. Ich weiß aber,
dass ich nicht mehr mit der neuen Generation
mithalten kann, was das Fitness-Level
angeht. Da muss man einfach realistisch
sein. Ich muss diesen Nachteil mit meiner
Technik und Erfahrung ausgleichen. Ich
bin jedenfalls sehr gespannt, wie weit mich
meine nagelneue Hüfte tragen wird. Wenn
„Ich weiß, dass ich nicht mehr
mit der neuen Generation
mithalten kann, was das
Fitness-Level angeht. Ich
muss diesen Nachteil mit
meiner Technik und Erfahrung
ausgleichen.“
alles passt, will ich den Besten das Leben
schwer machen, das auf jeden Fall.
Sie haben zwei olympische Goldmedaillen
gewonnen, zweimal in Wimbledon
triumphiert und waren die Nr. 1
der Welt. Was war und ist das Größte
in Ihren Augen?
Meine Antwort wird Sie womöglich überraschen,
aber es ist noch gar nicht so lange
her: Feliciano López und ich haben die
Doppelkonkurrenz in Queen’s gewonnen,
ich mit meiner Hüfte aus Metall. Es ist total
verrückt, weil wir das erste Mal zusammengespielt
haben. In der ersten Runde
bezwangen wir sogar die topgesetzten Juan
Sebastián Cabal und Robert Farah. Dieser
Triumph war für mich emotionaler als so
mancher Einzeltitel. Ursprünglich wollte
ich gar nicht Doppel spielen, aber um den
Rhythmus Schritt für Schritt wieder zu finden,
war es die perfekte Ergänzung. Doppel
ist nicht so kraftraubend, dafür muss man
hellwach sein und gute Reflexe haben.
Y
CM
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CY
CMY
K
Fotocredit Getty Images
A N O N I M O U S . C H
– 54 – mentalität
„Ich liebe Tennis immer noch. Als ich das Gefühl
hatte, dass ich es wieder versuchen könnte,
musste ich es auch unbedingt tun.“
Stimmt es, dass Ihnen José Mourinho
daraufhin gratuliert hat?
Das ist wahr. Er kam zu mir und hat mich
beglückwünscht. Er liebt Tennis und wir
unterhielten uns ein paar Minuten. Es war
nicht unsere erste Begegnung. Damals
wollte ich von ihm wissen, ob er der nächste
Trainer von Arsenal wird, aber er ist meiner
Frage geschickt ausgewichen. (lacht)
Sie haben viel gewonnen, es hätte
aber noch viel, viel mehr sein können.
Wünschen Sie sich manchmal, Federer,
Nadal und Djoković wären nicht
in der gleichen Epoche wie Sie aktiv?
Eigentlich nicht, weil wir uns viele Jahre
gegenseitig gepusht haben. Ich weiß nicht,
ob ich ohne diese Konkurrenten dieses Level
erreicht hätte. Diese Duelle waren und sind
unglaublich spannend – und ich bin mir
nicht sicher, ob Tennis schon mal dermaßen
attraktiv und qualitativ hochwertig war.
Gibt es so etwas wie die bitterste
Niederlage in Ihrer Karriere?
Da gibt es einige, aber nennen würde ich
die French Open 2014, als mir Rafa Nadal
eine Lehrstunde erteilte, 3:6, 2:6, 1:6.
Das hat richtig wehgetan, weil alle meine
Versuche scheiterten. Aber ich war auch
einfach chancenlos. Nadal war auf diesem
Belag unschlagbar. Er hat zwölfmal in Paris
gewonnen, das ist schlichtweg unglaublich.
Was denken Sie über die neue
Generation?
Es ist nicht einfach für sie, sich ganz
oben durchzusetzen, weil Federer, Djoko
und Rafa kaum schwächeln und die
Grand-Slam-Turniere immer noch unter
sich ausmachen. Stefanos Tsitsipas,
Alex Zverev, Dominic Thiem und vor
allem Daniil Medwedew bringen immer
wieder Top-Leistungen. Vielleicht
sorgt ja Medwedew für das Ende der
Ära Federer-Djoković-Nadal, indem er
ein Grand-Slam-Turnier gewinnt.
Nehmen Sie die Tour eigentlich
jetzt mit anderen Augen wahr?
Absolut. Ich werde mich mehr für
die Städte interessieren, mir ihre
Sehenswürdigkeiten ansehen. Tennisprofis
sind oft an den schönsten
Orten der Welt. Ich will nicht
mehr nur spielen, trainieren und
Room-Service machen.
Wie wird Ihr Leben nach dem
Tennis aussehen?
Durch meine lange Abwesenheit
sind mir verschiedene Sachen
klar geworden. Das Thema
Gleichberechtigung interessiert
mich, wie etwa die Rolle der Frau
im Profisport. Damit möchte ich mich
beschäftigen und mich einbringen.
„Jetzt werde ich mich
mehr für die Städte
interessieren, mir ihre
Sehenswürdigkeiten
ansehen. Ich will nicht
mehr nur spielen,
trainieren und Room-
Service machen.“
mentalität – 57 –
WEIL ER ES FÜHLT
Matthias Sammer hat im Fußball als Spieler, Trainer und Funktionär nahezu alles gewonnen.
Weil er bis heute den höchsten Anspruch an sich selbst und seine Umgebung hat.
Und im Laufe seiner Karriere eine leidenschaftliche Liebesbeziehung zum Spiel aufbaute,
die nicht jeder verstehen, aber jeder bewundern kann.
FELIX SEIDEL
– 58 – mentalität
mentalität – 59 –
„Ich weiß nicht,
ob Leidenschaft im
Sport entstehen
kann ohne Liebe.
Es ist für mich
unmöglich. Sie
müssen etwas
empfinden,
sich dabei
wiedererkennen
und wohlfühlen.“
Matthias Sammer
Er nervt. Den Verband. Die Klubs. Die
Fans. Sogar sich selbst. Weil er das
Spiel zu sehr liebt.
Was Matthias Sammer antreibt, ist nur für
diejenigen wirklich zu verstehen, die sich
mit vollem Herzen dem Fußball und seinen
Akteuren hingeben. Hingabe als Hürde. Wer
diese nicht überspringen kann, wird mit dem
52-Jährigen nur schwer auf Augenhöhe diskutieren
können.
„Ich weiß nicht, ob Leidenschaft im Sport
entstehen kann ohne Liebe. Es ist für mich
unmöglich. Sie müssen etwas empfinden,
sich dabei wiedererkennen und wohlfühlen.
Ich rede nicht davon, dass es auf diesem Weg
steinig ist, dass Verletzungen oder Formtiefs
dazugehören. Dass man möglicherweise auch
medial mal kritisiert wird. Man muss ein Gefühl
dafür entwickeln, dass das, was man tut,
auch seins ist und dass man nicht von anderen
immer irgendwo hingetrieben ist“, sagt Sam-
mer, als er für einen Vortrag zum Thema Spitzenwege
befragt wird.
Sammer übersprang die Hürde bereits als Junge
in Dresden. Sein Vater Klaus war DDR-Nationalspieler
und hatte seinen Sohn zum Fußball
geführt. Als der Junior gerade mal fünf Jahre
alt war, meldete der Senior ihn bei Dynamo
Dresden an, wo Matthias Sammer der Jüngste
war und sich sofort mit Sieben- und Achtjährigen
messen musste. Mit 14 Jahren schoss er
unglaubliche 260 Tore in einer Spielzeit. Mit
17 Jahren debütierte er in der von Papa Klaus
trainierten Oberliga-Mannschaft von Dynamo,
führte die U18 der DDR zum EM-Titel und feierte
mit gerade erst 19 Jahren seine Premiere in
der DDR-Nationalmannschaft.
Sammer spürte das, was er heute anderen
versucht, mit auf den Weg zu geben: „Passion
zu empfinden und dann auch zu sich selbst zu
sagen: ‚Also, wenn ich es liebe und wenn ich es
schon tue, dann lass es mich so tun, dass ich
all das gebe, was in mir steckt.‘“
Sammer bewegte sich früh im Spitzenbereich,
den er heute als „Grenzbereich“ tituliert. „Sicherlich
wird man da auch mal als ein bisschen
verrückt hingestellt: Wie kann man das nur
tun? Wie kann man so viel trainieren? Wie
kann man auch mental so eine Bereitschaft
entwickeln? Aber davon darf man sich nicht
verrückt machen lassen. Aus dieser Situation
heraus – wenn man es anfängt zu spüren –
entsteht ein Gedanke, dann auch alles erreichen
zu wollen, alles gewinnen zu wollen.“
Sein geistiger Antrieb war stets außergewöhnlich
und Grundlage seines außergewöhnlichen
Werdegangs. „Der mentale Rahmen ist der
entscheidende Punkt, um für sich im Lauf der
Entwicklung zu spüren und zu fühlen, unter
welchen Voraussetzungen bin ich in der Lage,
Top-Leistungen zu bringen. Da gehört in
meinen Augen mehr dazu als das vorgegebene
Training eines Trainers – egal ob Einzelsport-
Fotocredit Getty Images, Imago
art oder in einer Mannschaftssportart wie
Fußball. Darüber hinaus zu fühlen: Ist das für
mich ausreichend? Ist das für mich nicht ausreichend?
Die Rahmenbedingungen sind wichtige
Faktoren, die aber vorher abgeholt werden
von dem eigenen Gefühl, was ich tun muss,
um mich wirklich stark zu fühlen. Sowohl
körperlich als auch geistig. Das ist für mich die
absolute Stärke.“
Sammer ist sich bewusst, dass einige Leute –
selbst im Profifußball – auf seine Ansichten
und Aussagen mit Kopfschütteln reagieren oder
sie abtun. Doch Sammer spricht nicht, um von
allen gemocht zu werden. Er spricht, wenn
er es denn öffentlich tut, der Liebe zum
Fußball wegen. Und weil er aufgrund
ausbleibender großer Titel der deutschen
Nationalmannschaft und Klubs
antreiben und aufwecken will. So, wie
er es schon als Spieler gemacht hat. Er
wählt seine Worte stets mit Bedacht,
auch die unbequemen.
„Wenn wir im Spitzenbereich sind und wir
sind an der Schwelle zur ‚Eins‘ oder zum ‚Sehr
gut‘ oder zum Titel, ist das entstanden aus der
Leidenschaft. Aber es dann wirklich umzusetzen,
ist am Ende die Gier, die Verrücktheit,
auch ein bisschen die Unberechenbarkeit des
Während Gier eher negativ
wahrgenommen wird,
begreift Sammer den Begriff
im Fußballjargon positiv.
Für ihn ist Gier die gesteigerte
Form der Leidenschaft, die
auf dem höchsten Level den
entscheidenden Unterschied
ausmachen kann.
Täglichen. Um Sachen aus sich herauszuholen,
die man rational gar nicht nachvollziehen
kann. Und dann sind wir bei den letzten paar
Prozent. Diese entstehen aus der Gier – aufbauend
auf der Leidenschaft, Außergewöhnliches
zu erreichen“, sagt Sammer.
Während Gier in der Finanzwelt eher negativ
wahrgenommen wird, begreift Sammer den
Begriff im Fußballjargon positiv. Für ihn ist
Gier die gesteigerte Form der Leidenschaft, die
auf dem höchsten Level den entscheidenden
Unterschied ausmachen kann.
Diese Gier, so nimmt es Sammer wahr, ist in
Deutschland in den vergangenen Jahren ein
wenig abhandengekommen. Ihn selbst trieb
sie in den 1990er Jahren zu nahezu allen
wichtigen Titel im europäischen Fußball. Er
war Champions-League-Sieger und Weltpokalsieger
mit Borussia Dortmund. Dreimal
wurde er Deutscher Meister. 1996 holte er mit
der deutschen Nationalmannschaft zudem den
Europameister-Titel. Seine außergewöhnlichen
Leistungen
waren ausschlaggebend
dafür, dass er im gleichen
Jahr zum Europäischen
Fußballer
des Jahres gewählt
wurde. Sammer ist
damit seit 1956 neben
Franz Beckenbauer, Fabio
Cannavaro und Virgil
van Dijk einer von bislang
nur vier Abwehrspielerin, die
diese Auszeichnung erhielten.
Es gibt Spieler, die sich nach einer
Karriere voller Erfolge aus dem
Fußballgeschäft zurückziehen. Das
Spiel das Spiel sein lassen. Und es
gibt Sammer.
Weil eine Infektion im Knie ihn eher
als geplant als Spieler zum Aufhören
zwang, erwarb er beim DFB die Fußball-Lehrer-Lizenz
und stellte sich
im Jahr 2000 der Aufgabe, Borussia
– 60 – mentalität
mentalität
– 61 –
Dortmund als Trainer zu Titeln zu führen. In
seiner ersten Saison erreichte der BVB den
dritten Platz und qualifizierte sich für die
Champions League. Ein Jahr später, im Jahr
2002, stand Sammer dann wieder ganz oben
– er hatte die Borussia zum Meister gemacht.
Und sich selbst, mit 34 Jahren, zum jüngsten
Meistertrainer der Bundesligageschichte.
Schon damals zog sich Sammer beim Jubel
der Mannschaft zurück: „Ich freue mich
innerlich. Es ist nicht mein Ding, wie ein
Hampelmann herumzuspringen.“ Eine Eigenschaft,
die später auch beim DFB als
Sportdirektor sowie beim FC Bayern in seiner
Funktion als Sportvorstand zu beobachten
war. Selbst als die Münchner die Champions
League und den Weltpokal gewannen, blieb
Sammer im Hintergrund. Trophäen gehören
Matthias Sammer
und sein Ballon
d’Or (1996)
in seiner Wahrnehmung immer dem Team.
Demut im Handeln ist eine Prämisse Sammers,
die er stets vorlebt. Und die er bei den
größten Akteuren des Fußballs schon in der
Vergangenheit bewunderte. „Wenn Sie sehen,
wie 1954 nach dem Finalsieg gegen Ungarn
der WM-Pokal an Fritz Walter überreicht wird
und er sich unwohl fühlt, weil er den Pokal
nicht alleine in die Höhe recken will. Auch
Sepp Herberger nicht. Es waren die beiden
wichtigsten Protagonisten – und beide wollen
den Pokal nicht haben! Der Geist, Weltmeister
zu sein, reichte ihnen. Sie wollten persönlich
gar nicht im Mittelpunkt stehen. Sowas
müssen wir auch beim FC Bayern haben“,
forderte Sammer 2012 bei einem Medientag in
München wenige Wochen, nachdem er seinen
Wer seine Denkweise
versteht, begreift,
warum Sammer die
Zusammensetzung der
Mannschaft so immens
wichtig ist. Gleichförmigkeit
ist für Sammer im Fußball
ein Graus.
neuen Posten beim Rekordmeister übernommen
hatte.
Was Sammer hingegen erst lernen musste, war
Demut gegenüber den eigenen Kräften. Als er
im April 2016 eine leichte Durchblutungsstörung
erlitt, fand ein Umdenken statt. Sammer
entschied sich, nicht mehr mit der Intensität
wie all die Jahrzehnte zuvor zu arbeiten, stattdessen
mehr Zeit mit der Familie zu verbringen.
Sein Rückzug beim FC Bayern im Sommer
2016 war die logische Konsequenz. Den Rückzug
vom Fußball bedeutete die Entscheidung
jedoch keineswegs. Gedanklich hat Sammer
nichts an Intensität verloren.
Wenn er bei einem seiner wenigen Vorträge
in der freien Wirtschaft nun über Führung
spricht, weist er vor allem auf die Struktur eines
Teams hin – es brauche Leader wie Manuel
Neuer, Bastian Schweinsteiger oder Philipp
Lahm, Teamplayer wie Javi Martínez, Jérôme
Boateng oder David Alaba, aber eben auch
Individualisten wie Franck Ribéry und Arjen
Robben. „Franck kann mit seiner Kreativität
Spiele entscheiden. Aber gib ihm die Führung
Fotocredit Getty Images, Imago
Sammer spricht nicht, um von allen gemocht zu werden.
Er spricht, wenn er es denn öffentlich tut, der Liebe zum
Fußball wegen.
und es geht in die Hose“, sagte Sammer einst.
Wer seine Denkweise versteht, begreift, warum
Sammer die Zusammensetzung der Mannschaft
so immens wichtig ist. Es ist einer der
zentralen Punkte, auf die Sammer auch in
seiner aktuellen Funktion als externer Berater
von Borussia Dortmund immer wieder zu sprechen
kommt. Gleichförmigkeit ist für Sammer
im Fußball ein Graus. „Wenn man es auf den
Punkt bringen will, dann gehören Egoismen
für den Teamgedanken eigentlich nicht dazu.
Außer wenn der einzelne für sich auf seiner
Position sagt: ‚Ich will gut sein, ich will der
Beste sein, dann profitiert über diese Individualität
auch die Mannschaft davon.‘“
Beim BVB hatte man früh wahrgenommen,
dass Sammers Rolle beim FC Bayern dominanter
und wichtiger war, als es öffentlich den
Anschein gemacht hatte. „Ich habe von mehreren
Spielern gehört, welche Bedeutung Matthias
für das Mannschaftsgefüge hatte. Als
seine Bayern-Zeit zu Ende ging, wir älter und
reifer und vernünftiger wurden, haben wir uns
sukzessive angenähert“, sagte Geschäftsführer
Hans-Joachim Watzke 2018 im Zuge der Verständigung
über die Zusammenarbeit. „Wir
benötigen einen wie Matthias Sammer. Seine
Analyse-Fähigkeit, seine Leidenschaft, seine
Identifikation, seinen klaren Blick von außen.“
Sammer sei beim BVB der richtige Chefbaumeister,
urteilte Fußballexperte Marcel Reif
im vergangenen September. Ob dieser das Lob
überhaupt vernommen hat, ist jedoch zweifelhaft.
Sammer lässt sich medial nicht treiben
und erst recht nicht vereinnahmen, weshalb er
im Sommer auch sein Aus als Eurosport-Experte
verkündete.
Ihm missfällt, dass viele angebliche Insider im
Fußball öffentlich Meinungen in die Welt setzen,
ohne Hintergründe und Zusammenhänge zu
kennen. „Viele sind Plauderer“, meint Sammer.
Wieder so ein Sammer-Satz, der nervt. Aber
verkneifen kann er ihn sich nicht. Dafür liebt
er den Fußball zu sehr.
„DAS FEUER IN MIR“
Wie man eine Mannschaft anführt, lernte Werder Bremens Niklas Moisander von keinem Geringeren als
Finnlands Fußball-Legende Sami Hyypiä. Der 34-jährige Abwehrspieler über Vorbildfunktionen und die
Gemeinsamkeiten von Louis van Gaal und Florian Kohfeldt.
ALEX RAACK
Niklas Moisander, in dieser Saison hatten
Sie einige Verletzungen. Kann man als
Kapitän auch dann seiner Mannschaft helfen,
wenn man nicht auf dem Platz steht?
Das ist in der Tat schwierig. Als Spielführer ist
es wichtig, nah an der Mannschaft zu sein. Aber
das ist während einer Verletzungspause schon
allein deshalb ein Problem, weil sich Reha- und
Trainingszeiten überschneiden. Trotzdem versuche
ich, so viel Zeit wie möglich mit meiner
Mannschaft zu verbringen, bin vor den Spielen
in der Kabine oder versuche nach Trainingsschluss
Einfluss auf die Jungs zu nehmen, wenn
ich glaube, dass sie meine Hilfe benötigen.
Aber ein Kapitän gehört eigentlich auf den
Rasen, ganz klar.
Wie schaffen Sie es, sich in so
einer Phase nicht entmutigen
zu lassen?
Verletzungen gehören zu einer
Karriere als Profifußballer
genauso dazu wie Siege,
Niederlagen oder Interviews.
Meine Einstellung war schon
immer: Wenn ich mal ausfalle,
will ich noch stärker zurückkommen.
Physisch und psychisch. Außerdem
kann man in einer Reha ja auch alle anderen
kleineren Wehwehchen behandeln, die
man sonst im Alltag von Spieltag zu Spieltag
schleppt. So eine Zwangspause ist also auch eine
Art „Resetknopf“.
Was zeichnet einen guten Kapitän aus?
Auf Englisch würde man sagen: leading by
example! Immer vorneweg gehen. Seriös sein.
Nie die Kontrolle verlieren. Jeden Tag mit einer
absolut professionellen Einstellung beim Training
auftauchen. Jedes Spiel gewinnen wollen. Und
natürlich immer ein Auge für seine Mitspieler
haben. Ich hatte mit Sami Hyypiä (dem ehemaligen
Liverpool- und Leverkusen-Spieler, 105
Länderspiele für Finnland, Anm. d. Red.) in dieser
Hinsicht ein großartiges Vorbild, als Kapitän der
Nationalmannschaft hat er all das vorgelebt.
Gibt es etwas, dass Sie sich speziell
bei ihm abgeschaut haben?
Sami hat nicht viel gesprochen auf
„Sami musste nicht
groß rumschreien, um
Autorität zu haben. Aber
wenn er dann etwas sagte,
hatte das richtig Inhalt und
jeder hat ihm automatisch
zugehört. Ich hoffe, mir gelingt
das ähnlich gut.“
dem Platz oder in der Kabine, er musste nicht
groß rumschreien, um Autorität zu haben. Aber
wenn er dann etwas sagte, hatte das richtig Inhalt
und jeder hat ihm automatisch zugehört. Ich
hoffe, mir gelingt das ähnlich gut.
Sie sind jetzt 34 Jahre alt und befinden
sich in der 18. Profi-Saison Ihrer Karriere.
Welche Erfahrungen können Sie an die
jungen Kollegen weitergeben?
Natürlich eine ganze Menge, aber der wichtigste
Punkt ist sicherlich der, dass es im Leben gute und
schlechte Zeiten gibt. Und dass sich gerade in den
schlechten Zeiten zeigt, ob ein Leistungssportler
die richtige Mentalität hat, um diese Situationen
nicht nur zu überstehen, sondern gestärkt aus
ihnen hervorzukommen.
In welchen Phasen Ihrer Laufbahn mussten
Sie diese besondere Mentalität an den
Tag legen?
Als Jugendlicher galt ich als großes Abwehrtalent
und schaffte es tatsächlich in die berühmte
Ajax-Schule. Leider ließ der Durchbruch in der
ersten Mannschaft auf sich warten, ich spielte zunächst
für die Ajax-Amateure und wechselte 2006
zum FC Zwolle in die zweite niederländische Liga.
Das war hart. Bis dahin hatte ich immer meine
Familie um mich herum, mein Zwillingsbruder
Henrik ist Torwart, er spielte auch bei Ajax. In
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– 64 – mentalität
WENN ANDERE
FASTEN...
Zwolle war ich erstmals komplett auf mich allein
gestellt, ohne Familie, ohne Freunde. Das war
hart. Damals nahm ich mir vor: Du arbeitest jetzt
so intensiv wie noch nie in deinem Leben und
wirst so gut, dass sie bei Ajax und in der Nationalmannschaft
gar nicht mehr an dir vorbeikommen.
Von da an hatte ich das Feuer in mir.
...SCHMEISSEN WIR SCHON MAL DEN GRILL AN.
MIT RIB EYE, RIPPE, WILDSCHWEIN UND MEHR.
2012 wechselten Sie tatsächlich zurück
zu Ajax. Vorher waren Sie allerdings
vier Jahre bei AZ Alkmaar unter Vertrag.
Ihr Trainer dort: Louis van Gaal.
Wenn man seinen Namen gemeinsam
mit dem Wort „Mentalität“ googelt,
bekommt man 34.000 Treffer. Was hat
ihn ausgezeichnet?
Als er nach Alkmaar kam, hatte er schon fast
alles gewonnen, was es im Fußball zu gewinnen
gibt. Und trotzdem stand er jeden einzelnen Tag
unter Strom, war unglaublich fokussiert, hat
jeden spüren gelassen, dass er die Mannschaft
besser machen wollte und sehr hart gearbeitet.
Viele dieser Eigenschaften erkenne ich auch heute
bei unserem Werder-Trainer Florian Kohfeldt
wieder. Der brennt ganz genauso. Er ist morgens
der Erste und abends der Letzte. Das ist sehr
beeindruckend.
Bremen definiert sich seit vielen Jahren
über seine „Werder-Familie“. Wie familiär
geht es wirklich bei Ihrem Arbeitgeber zu?
Ich habe mich neulich mal mit dem früheren
Bremer Petri Pasanen (Moisanders finnischer
Landsmann, der von 2004 bis 2011 bei Werder
spielte, Anm. d. Red.) ausgetauscht und festgestellt,
dass viele Mitarbeiter schon damals beim
SVW arbeiteten. Diese Kontinuität ist besonders.
Dazu kommt, dass tatsächlich die ganze
Stadt hinter dem Verein steht, dieses Glück hat
nicht jeder Klub. Gleichzeitig darf es aber auch
nicht zu familiär werden. Erfolg braucht Feuer
„Van Gaal hat jeden spüren gelassen, dass er die Mannschaft
besser machen wollte und sehr hart gearbeitet. Viele dieser
Eigenschaften erkenne ich auch heute bei Kohfeldt wieder.“
und Feuer entsteht durch Reibung.
Wie legt man Feuer, ohne einen Flächenbrand
entstehen zu lassen?
Das ist das Außergewöhnliche am Fußball.
Während eines Spiels kann ich 90 Minuten lang
meinen linken Verteidiger zusammenschreien,
nach dem Schlusspfiff ist das alles aber kein Thema
mehr. Auf dem Platz muss man hart sein.
Und wann greift man sich den Kollegen,
wenn man ihm nach dem Spiel doch noch
die Meinung sagen muss?
So schnell wie möglich, wenn man noch in
der Emotion drin ist und nicht erst nach dem
Duschen. Aber dann unter vier Augen, in den
Argumenten klar und sachlich.
Welchen Bundesliga-Konkurrenten bewundern
Sie für seine Mentalität?
Eintracht Frankfurt. Bei denen hat man seit Jahren
in jedem Spiel das Gefühl, dass sie unbedingt
gewinnen wollen. Die strahlen eine besondere
Stärke und einen tollen Zusammenhalt aus. Die
Spiele gegen die Eintracht haben bei mir sehr viel
Eindruck hinterlassen.
Wer ist das Mentalitätsmonster der Liga?
Joshua Kimmich. Der ist ein überragender
Fußballer und strahlt als junger Kerl schon
dieses Selbstbewusstsein aus, dass einen echten
Führungsspieler ausmacht. Er macht seine Nebenleute
besser und wird in naher Zukunft sehr
wahrscheinlich Kapitän bei den Bayern und in der
Nationalmannschaft sein.
Haben Sie sich schon Gedanken über die
Zeit nach dem aktiven Fußball gemacht?
Dazu bleibt nicht viel Zeit, wenn man sich wie
ich eigentlich nur auf das nächste Spiel
konzentrieren darf. Aber ich kann mir gut
vorstellen, dass ich erst mal ein Jahr Pause
einlege und mich etwas erhole. Spätestens dann
wird mich der Fußball wiederhaben, in welcher
Form auch immer. Fußball ist meine erste
Liebe, vom ersten Ballkontakt an war es um
mich geschehen. Deshalb wird mich dieses Spiel
nie ganz loslassen.
Fotocredit Imago
MÄNNER KOCHEN ANDERS
JETZT AUSGABE BESTELLEN: beef.de/test
DEN KOPF IM GRIFF
Bayern-München-Profi Carina Wenninger muss in ihrer Fußballkarriere immer wieder mit harten
Entscheidungen zurechtkommen. Die Österreichischerin stellt sich diesen Situationen, weicht ihnen nie aus.
Und gilt auch deshalb als absolute Mentalitätsspielerin.
CARINA WENNINGER
Fotocredit Imago
So eine Situation wünscht man sich als
Spielerin eigentlich nicht. Und trotzdem
kommt sie immer mal wieder auf
einen zu.
Man ist gut im Rhythmus und körperlich in starker
Verfassung – und geht deshalb davon aus, im
anstehenden Spiel in der Startelf zu stehen. Doch
stattdessen sitzt man draußen, weil der Trainer
eine andere Überlegung für die Partie hat. Das
nervt einen als Profi natürlich. Und trotzdem gilt
es, in diesen Momenten das Beste aus der Situation
zu machen, sich in den Dienst der eigenen
Mannschaft zu stellen. Nicht den Kopf hängen zu
lassen, sondern ihn auf die unerwartete Situation
einzustellen. Positiv zu bleiben, so schwer es
gelegentlich auch fallen mag.
Genau das habe ich in der Vergangenheit
immer wieder gemacht: Meine Gedanken auf
das zu lenken, was ich selbst beeinflussen
kann. Dafür wurde ich oft belohnt. Mitspielerinnen
und Menschen in meinem Umfeld
bezeichnen diese Einstellung als große Qualität
von mir. Ich urteile allerdings nur ungern
über mich selbst.
Ich kann jedoch aus meiner Erfahrung sagen:
Es lohnt sich immer, fokussiert zu bleiben. Die
eigene mentale Energie für sich zu nutzen –
nicht für andere zu verschwenden. So begreife
ich Mentalität im Sport. Den Kopf im Griff zu
haben, ist gelegentlich schwerer, als den Körper
auf eine Situation vorzubereiten. Aber er kann
am Ende entscheidend sein.
Für mich hat Mentalität deshalb in allererster
Linie mit Charakter zu tun. Im Sport gibt es,
wie im Leben generell, Situationen, die nicht
einfach zu akzeptieren sind, die möglicherweise
einen Rückschlag bedeuten. Und trotzdem
müssen die Gedanken nach vorne gehen. Der
eigene Kopf muss sagen: Ich stelle mich, ich
glaube an mich. Ich lasse mich nicht unterkriegen.
Ich mache weiter.
Was dafür essenziell ist: bei sich zu bleiben.
Nicht damit anzufangen, die Schuld oder den
Fehler bei anderen zu suchen. Aber das muss
von innen kommen, aus einem heraus. Das
kann man mit den Jahren ein Stück weit üben,
weshalb ich der Meinung bin, dass man Mentalität
bis zu einem gewissen Grad erlernen und
sich aneignen kann.
Mentalität zeigt sich jedoch nicht nur in
Momenten, die schwierig sind. Mentalität
zeigt sich bei einem Sportler bereits in seiner
Einstellung zum Training und zu seinem Sport
im Allgemeinen. Lebt er professionell? Achtet
er auf seinen Schlaf, auf seine Ernährung?
Arbeitet er individuell an Schwächen? Kommt
er auch mal früher, bleibt er auch mal länger?
Will er immer gewinnen?
Um sportlich richtig erfolgreich zu sein, bedarf es
sicherlich eines gewissen Grundtalents. Aber
eben auch der inneren Stimme, die einen immer
wieder antreibt. Die einem sagt, dass sie auch
dann noch an mich glaubt, wenn es kein anderer
mehr tut. Es ist die Stimme der eigenen
Leidenschaft und Überzeugung. Die Stimme, die
mir dauerhaft entscheidende Stärke verleiht.
Möglicherweise können Sie jetzt nachvollziehen,
warum ich der festen Überzeugung bin, dass
Mentalität auf lange Sicht Talent schlägt.
Carina Wenninger (28)
spielt bereits seit 2007
für den FC Bayern
München, mit dem
die österreichische
Nationalspielerin 2015
und 2016 die deutsche
Meisterschaft und 2012
den DFB-Pokal gewann.
Im Sommer verlängerte
die Innenverteidigerin
ihren Vertrag bis 2021. Wenninger ist damit
die dienstälteste Profifußballerin in der fast
50-jährigen FC-Bayern-Frauen-Historie.
ALS MENSCH GEGEN GÖTTER
Er schien dazu verdammt, ein Dasein im Schatten von Roger Federer und Rafael Nadal zu fristen.
Doch dann erfand Novak Djoković sich neu – und eroberte den Tennis-Thron.
STEFAN PETRI
Fotocredit Getty Images
Lache, solange du atmest.“ Mit diesem
Ratschlag empfängt Novak Djoković seine
fast neun Millionen Twitter-Follower. Es
passt zu dem Mann, der vor vielen Jahren den
Spitznamen „Djoker“ bekam, unter anderem auch
deswegen, weil er das Publikum mit punktgenauen
Imitationen der großen Tennis-Stars so gern
zum Lachen brachte.
Dieser kecke, jugendliche Übermut ist beim mittlerweile
zweifachen Familienvater einer gewissen
Reife gewichen, die mit genügend Lebenserfahrung
fast schon zwangsläufig einhergeht. Hie
und da blitzt er aber noch auf, Noles Drang, die
Zuschauer zu unterhalten. Wie nach seinem Sieg
bei den Australian Open 2019, als er den Akzent
eines italienischen Journalisten so perfekt imitierte,
dass sich alle Zeugen auf der Pressekonferenz
bogen vor Lachen.
Ein halbes Jahr später war es allerdings ein
ungläubiges Gelächter, das Djoković heraufbeschwor.
Er hatte gerade Roger Federer in einem
kolossalen Fünfsatzmatch im Finale von Wimbledon
bezwungen, ein Match, in dem er nicht nur
den besten Rasenspieler aller Zeiten gegen sich
hatte, sondern auch die 15.000 Zuschauer auf
dem Centre Court, die ihren Liebling ein neuntes
Mal zum Titel peitschen wollten.
Dennoch hatte Djoković am Ende triumphiert.
Trotz einer für seine Verhältnisse recht schwunglosen
Leistung, trotz zweier Matchbälle gegen ihn,
trotz der Tatsache, dass Federer in so ziemlich
allen Statistiken teilweise deutlich vorne lag.
Die wichtigen Punkte gingen an Djoković, und
so gewann er drei Tiebreaks, darunter den zum
13:12 im fünften Satz. Wie er mit der einseitigen
Unterstützung von den Rängen für den Gegner
umgegangen sei, wurde er anschließend gefragt.
Seine Antwort: „Wenn die Menge ‚Roger!‘ ruft,
höre ich ‚Novak!‘“
Niemand, selbst Djoković nicht, konnte den
anwesenden Journalisten in diesem Moment ihr
Auflachen verdenken, und so zuckte er nur mit
den Schultern und lächelte nachsichtig: „Ich weiß,
es hört sich albern an, aber es ist wirklich so. Ich
versuche mich davon zu überzeugen.“ Der Unter-
Wie er mit der einseitigen
Unterstützung von den Rängen
für den Gegner umgegangen
sei, wurde er anschließend
gefragt. Seine Antwort: „Wenn
die Menge ‚Roger!‘ ruft, höre
ich ‚Novak!‘“
schied im vielleicht dramatischsten Match der
Wimbledon-Geschichte: ein fleischgewordener
Simpsons-Witz. „Smithers, buhen die mich aus?“
– „Nein, die rufen nur Buh-urns!“
Eine amüsante Fußnote, die in den Tagen
danach ihren Weg in zahllose Artikel fand, die
allesamt dem Sieger Djoković huldigten. Und die
allesamt nicht sonderlich gut aufgepasst hatten,
denn die „Transmutation“, von der der alte und
neue Wimbledon-Champ gesprochen hatte, war
keineswegs neu. „Ich spielte ein Psychospielchen
mit mir selbst: Sie schrien ‚Roger!‘ und ich stellte
mir vor, sie schrien ‚Novak!‘“ Ein Zitat vom Tag
nach dem US-Open-Finale 2015 – damals hatte
Djoković Federer und das Arthur-Ashe-Publikum
in vier Sätzen bezwungen.
Es sind diese Matches, die Djoković den Ruf
eines „mentalen Giganten“ eingebracht haben.
Matches, die er von Rechts wegen niemals hätte
gewinnen dürfen. „Das war wahrscheinlich das
mental härteste Match, das ich jemals gespielt
habe“, sagte er nach dem fast fünf Stunden
dauernden Wimbledon-Finale, und gab faszinierende
Einblicke in sein Innenleben und seine
Vorbereitung. „Ich spiele jedes Match in meinem
Kopf durch, bevor ich auf den Court gehe, und
versuche, mich selbst als Sieger zu sehen. Ich
mentalität
– 71 –
Dieses Jahr wird er sich erneut auf die Suche
machen, nach neuen alten Titeln und – wie so oft
– der bedingungslosen Verehrung des Publikums.
Vielleicht das Einzige, was ihm noch fehlt. „Ich
weiß nicht, warum das so ist. Ich leide mit ihm“,
sagte seine Mutter Dijana im Interview mit GQ.
„Sie respektieren seinen Erfolg, aber wenn er
gegen Federer spielt, feuern sie Federer an.“ Doch
auch sie weiß: Womöglich hat diese Tatsache, das
jahrelange Ankämpfen gegen die Federers, Nadals
und ihre Fans, ihren Sohn noch stärker gemacht.
Der US-Journalist Brian Phillips drückte es nach
Wimbledon so aus: „Wir halfen ihm dabei, Siegen
zu lernen – weil wir wollten, dass er verliert.“
Djoković ist 32, er hat noch einige Jahre vor sich:
Wo Federer und Nadal aus dem Tennis-Olymp herabgestiegen
scheinen, der eine mit kühler Eleganz, der andere mit herkulischer
Kraft, ist Novak bei all seinen Fähigkeiten „nur“ ein Mensch.
glaube, darin liegt Kraft“, erklärte er, und sprach
über Willensstärke, ständig neues Fokussieren,
über den unbedingten Glauben an sich selbst.
Ein Glaube, der ihm lange gefehlt hatte und den er
sich hart erarbeiten musste.
Novak Djoković ist ein überragender Tennisspieler.
Sein Spiel von der Grundlinie ist makellos, er
hat die Fähigkeit, jeden noch so aussichtslosen
Ball zu erreichen und mit einem Winner zu
kontern. Sein „Ausrutschen“ der Bälle auf Hartplatz
ist legendär, sein Return der beste in der
Geschichte des Herrentennis. Wie ein Supercomputer
nutzt er die ersten Aufschlagspiele jeder
Partie, um sein Spiel auf das des Gegners zu
kalibrieren, kaum jemand hat so viele Möglichkeiten,
sich das Gegenüber zurechtzulegen und
die Schlinge dann zuzuziehen.
Aber Djoković hat nicht das Talent seiner beiden
größten Kontrahenten. Wo Roger Federer und
Rafael Nadal aus dem Tennis-Olymp herabgestiegen
scheinen, der eine mit kühler Eleganz, der
andere mit herkulischer Kraft, ist Novak bei all
seinen Fähigkeiten „nur“ ein Mensch. Als er 2006
sein erstes ATP-Turnier gewann, hatten Roger
und Rafa den Tennis-Zirkus bereits unter sich
aufgeteilt, die weltweite Fangemeinde inklusive.
Djoković war der ungeliebte Eindringling, jahrelang
blieb er die dritte Kraft. Bis 2011 gewann er
ein Grand Slam – Nadal stand da schon bei neun,
Federer gar bei 16.
Es gab nur eine Trumpfkarte, die ihm blieb: Auf
dem Platz konnte er Federer und Nadal nicht
bezwingen – doch im Kopf schon.
Dafür musste er allerdings erst lernen, sich selbst
zu besiegen. In seinem Buch Siegernahrung
von 2013 schildert Djoković seinen Wandel vom
Spaßmacher zum Asketen, man erfährt, wie er mit
manischer Präzision jedes Fitzelchen Potenzial
aus seinem Körper herauspresst. Viel wichtiger
aber: Er lernte, seinen Respekt vor Federer und
Nadal abzulegen, den eigenen Minderwertigkeitskomplex
zu überwinden.
Möglich machte dies jahrelanges mentales
Training. Tag für Tag für Tag. Djoković setzt
auf Meditation, auf ständige Visualisierung des
Erfolgs: „Ich glaube fest daran, dass du die Dinge
bekommst, die du dir vorstellst. So funktioniert
das Leben einfach.“ Mindestens so viele Stunden
wie auf dem Platz oder im Fitnessstudio müsse
man in sich selbst investieren, in den eigenen
Charakter, in die eigenen Fehler, sagte er einmal,
sprach von ständigen inneren Kämpfen, die es
auszufechten gilt.
Es ist ein holistischer Ansatz, der in seinen Interviews
immer wieder durchscheint. Man mag ihn
als krude Selbsthilfe belächeln, mit dem Verweis
darauf, dass der spirituell stets wissbegierige
Djoković damit schon in der einen oder anderen
Sackgasse gelandet ist: Als er 2017 in einer
Sinnkrise steckte, feuerte er sein gesamtes Team
inklusive Erfolgstrainer Marián Vajda und nahm
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Schon 2006 sprach David Foster Wallace von Federer als
„religiöser Erfahrung“. Es passt zu Djoković, dem Getriebenen,
dem ständig Suchenden. Suchend nicht unbedingt nach
Perfektion, vielmehr nach Einklang mit sich und der Welt.
die Hilfe eines spanischen Gurus mit eher zweifelhaftem
Ruf in Anspruch. Ein Jahr später kehrte
Vajda zurück – und mit ihm der Erfolg.
Oder man mag bewundern, mit welcher Konsequenz
Djoković seine Erkenntnisse in die Tat
umsetzt, und wie weit sie ihn gebracht haben. Als
Siebenjähriger träumte er nicht einfach nur vom
Sieg auf dem Heiligen Rasen, sondern bastelte
sich eine Version der Wimbledon-Trophäe dazu.
2011 hielt er endlich das Original in den Händen,
2019 folgte sein vielleicht größter Triumph, sein
Meisterstück mentaler Stärke. Wie ihm das
gelang? „Du musst dich immer wieder daran
erinnern, dass du nicht ohne Grund hier stehst.
Dass du besser bist als der Andere.“
Meditation, Visualisierung, Psychotricks. Derartigen
Methoden scheint ein Federer längst entrückt
zu sein – vielleicht auch deshalb, weil er
vom Publikum geradezu überhöht wird.
Schon 2006 sprach der Schriftsteller
David Foster Wallace vom
Schweizer als „religiöser
Erfahrung“. Auch zu
einem Nadal mag es
nicht passen, dem Mallorquiner
haftet in seinem
Spiel und seinem Auftreten
bis heute etwas unverbraucht
Kindliches an.
Aber es passt zu Novak Djoković,
dem Getriebenen, dem
ständig Suchenden. Suchend
nicht unbedingt nach Perfektion,
vielmehr nach Einklang mit sich
und der Welt.
Das letzte Kapitel ist noch nicht geschrieben.
„Wenn sie mich nicht respektieren, wie können
sie mich dann jemals lieben?“, fragt Imperator
Commodus in Ridley Scotts Gladiator. Den
Respekt hat sich Novak bereits erkämpft, die
Liebe wird irgendwann folgen. Und wenn nicht,
weiß er schließlich um eine andere Lösung. So
oder so – am Ende rufen alle seinen Namen.
„ UND GOTT GAB
MIR FOOTBALL“
Collette V. Smith hat mehrere Vergewaltigungen und Suizidversuche überlebt. Sie war ein Opfer.
Dann kam Football in ihr Leben und veränderte alles. Heute ist sie die erste afroamerikanische Trainerin in der
Männerdomäne NFL und engagierte Kämpferin für soziale Gerechtigkeit. SOCRATES erzählt sie ihre Geschichte.
BANU YELKOVAN
Collette, wann haben Sie angefangen,
Football zu spielen?
Ich habe erst mit 42 angefangen. Heute bin ich
50, also nicht heute, aber ich bin 50, jedenfalls
sagen meine Eltern, dass ich das bin.
Sie sehen nicht wie 50 aus…
Als ich 8, 9, 10, 11, 12 Jahre alt war, hat man mir
ins Gesicht gesagt: „Du kannst nicht spielen, weil
Du ein Mädchen bist!“ Heute sagt man das vielleicht
nicht mehr, aber früher war das so. Es hat
mich richtig angekotzt, um ehrlich zu sein. Und
mein Bruder dagegen musste spielen, aber hatte
es einfach nicht drauf. Als ich mit Football begann,
begann auch mein Leben. Football hat mir
buchstäblich das Leben gerettet. Ich saß zu Hause,
rauchte eine Zigarette und hatte einen Drink.
Viele Jahre hatte ich im Immobiliengeschäft gearbeitet,
doch der Markt brach zusammen. Ich war
sehr erfolgreich in diesem Business gewesen. Ich
bin für gewöhnlich ziemlich gut, wenn ich etwas
will, weil ich diese Sache dann wirklich beherrschen
will. Tja, dann machte es BOOM.
Was haben Sie dann gemacht?
Plötzlich hatte ich jede Menge Zeit zur Verfügung,
doch ich wusste damit nichts anzufangen, weil ich
es nicht gewohnt war, Zeit zu haben. Ich bin immer
sehr beschäftigt gewesen. Ich bin dann durch
Zufall zu einem Probetraining für eine Profi-
Frauen-Football-Mannschaft gekommen. Ich
habe überhaupt nicht danach gesucht, ich bin da
mehr so hineingestolpert. Ich würde sehr gerne
sagen, Gott hat mir diese Chance geschenkt, denn
ich habe sehr viel in meinem Leben durchgemacht.
Ich sagte mir: ‚Ich versuche das jetzt‘ –
und es war das letzte Tryout der Saison. Sie sagten
mir, ich müsste Stollenschuhe tragen. Und ich
sagte: „Warum in aller Welt sollte ich Stollenschuhe
haben?“ Ich sagte: „Ich will Football
spielen, also los, spielen wir!“ Schließlich trug ich
Schneestiefel. Ich sagte mir: ‚keine Ausreden, keine
Ausreden‘. Ich gehe hin. Samstag gehe ich zum
Tryout. Das war an einem Dienstag. Ich habe also
meine Zigarette zu Ende geraucht, mein Bier ausgetrunken
und angefangen zu trainieren und zum
Mannschaftstraining zu gehen. Ich hatte nicht den
leisesten Schimmer, wer ich eigentlich war.
So fing Ihre Karriere an? Kein Witz?
Aber ja. Ich habe mich in jemand verwandelt –
oder besser: Ich entdeckte eine Seite an mir, die
ich bis dahin immer unter Verschluss gehalten
hatte. Und ich verliebte mich sofort in mein
„Als ich mit Football begann,
begann auch mein Leben. Football
hat mir buchstäblich das
Leben gerettet.“
neues Ich. So fing meine Football-Karriere im
Prinzip an. Leider hatte ich nicht genug Zeit. Ich
war nur drei Jahre aktiv und eins davon spielte
ich nicht, weil ich Probleme hatte. Aber ich war
bei jedem Training…
Sie sagten, als Kind hätte man Ihnen
verboten zu spielen. Wie haben Sie die
Angst überwunden und Ihren Traum doch
verwirklicht?
Ich würde nicht einmal sagen, dass ich einen
Traum verwirklichte, denn ich durfte diesen
Traum noch nicht einmal haben. Ich durfte nicht.
Ich war ein Mädchen. Ich durfte nicht träumen.
Aber als ich dann erstmals Frauen Football
spielen sah… Ich sage Ihnen: Der Herr ist gnädig.
Da war ich also bei diesem Probetraining und da
waren 45 oder 50 Frauen. Und ich rede von Football:
Helme, Shoulder Pats, die volle Ausrüstung
– nicht diesen Lingerie-Mist, mit dem wir uns zu
Objekten sexueller Begierde herabwürdigen –,
ich rede von richtigem Football. Elf gegen elf auf
einem Großfeld, 120 Yards, Vollgas! Als ich diese
Frauen sah… Man, das war überwältigend!
Wie haben Sie es von dort aus geschafft,
Trainerin in der NFL bei den New York
Jets zu werden?
Das ist auch eine sehr komplexe Geschichte. Vor
vielen Jahren bin ich mit zwei Jungs von den Jets
Fotocredit Believe N You Inc.
– 74 – mentalität
mentalität – 75 –
„Meiner Ansicht nach engagiert sich die NFL für das Thema Missbrauch
zu wenig. Wir müssen den Männern helfen. Sie tun nicht genug.“
ausgegangen und wir sind Freunde geblieben.
Als ich mit 45 meine aktive Karriere beendete,
habe ich zum Telefon gegriffen und sie angerufen.
Ich sagte: „Ratet mal, was ich jetzt tue?“ Und sie
sagten: „Was denn, Collette?“ Ich: „Ich spiele
Football.“ Und sie: „Das wissen wir.“ Und ich
sagte: „Oh mein Gott, warum habt ihr das vor 20
oder 30 Jahren noch nicht gewusst?“ Auch wenn
ich nicht mehr aktiv spielen konnte, war ich immer
noch fester Bestandteil des Teams und mein
Cheftrainer wusste, dass ich alles gab, was ich hatte.
Und ich wusste, ich musste noch mehr geben.
Und wenn ich noch mehr gegeben hätte, wollte
ich noch eins draufsetzen. Als ich zurückgetreten
war, fragten sie mich, ob ich nicht zurückkommen
und Coach werden wolle. Sie sagten mir, sie
wollten mich im Team haben, mich und meine
Energie. Man kann schon sagen, dass ich hibbelig
bin. Es fällt mir schwer stillzusitzen.
Also fingen Sie an zu coachen.
Ja genau. Es entpuppte sich als überraschend
schwierig für mich.
Warum?
Weil die Frauen meine Teamkameradinnen waren,
wir hatten ja zusammengespielt. Wissen Sie,
wir haben uns High-Fives gegeben, uns gegenseitig
aufs Übelste beschimpft; wir haben zusammen
gelacht und geweint. Es gab da dieses unsichtbare
Band zwischen uns. Es war schwierig für mich,
ihnen zu sagen, was sie tun sollten. Viel leichter
tat ich mich mit den Rookies.
Wie kamen Sie zu den Jets?
Ich habe für das Frauen-Team auch das Marketing
und die PR gemacht. Wie alle Frauen
habe ich mich um alles gekümmert, ich war das
Mädchen für alles. Manchmal habe ich auch
die Linien auf dem Feld gezogen, verrückt. Wo
war ich? Ach ja, ich habe also PR und Marketing
gemacht, habe Events organisiert und war
„Ich würde wirklich gerne sagen: Wir brauchen die Männer nicht.
Die Wahrheit ist aber: Wir brauchen sie. Coach Bowles ist ein
guter Mann. Er hat für immer einen Platz in meinem Herzen.“
Trainerin. Dazu kam dann noch Social Media.
Da ich als Jets-Fan aufgewachsen bin, trieb ich
mich vorwiegend auf deren Seiten herum und
machte dort Blödsinn mit den durchgeknallten
Typen, die eben auf solchen Seiten unterwegs
sind. Die sind alle Klempner oder sowas, hängen
in den sozialen Medien ab und erzählen sich
gegenseitig, wie sehr sie die Jets lieben und wie
sehr sie die Jets hassen – und dann wieder, wie
sehr sie sie lieben.
Okay, das kennt man ja von vielen Sportfans.
Die werden dadurch aber nicht
Trainer bei einem NFL-Team?
Moment, das erkläre ich ja jetzt. Ich musste auf
diesen Seiten sein, damit die Leute erfahren,
dass es uns überhaupt gibt. Verstehen Sie? Ich
habe das ganz strategisch angefangen. Alles
ist Strategie im Leben. Die Taktik fürs Spiel,
Work-Life-Balance, die Kids in die Badewanne
kriegen oder deinen Freund dazu, dass er dich
schick zum Essen ausführt: alles Strategie. Ich
sagte dort also immer: „Wir sind die New York
Sharks, wir sind Eure Schwestern, Jungs!“ Mit
der Zeit lernten die Leute also mich und das
Team kennen und irgendwann rief jemand vom
Jets-Headquarter bei mir an.
Todd Bowles, der frühere Headcoach der
Jets, gab Ihnen dann eine Chance. Wie
wichtig ist es für Frauen, dass sich männliche
Kollegen für Ihre Belange einsetzen?
Ich würde wirklich gerne sagen: Wir brauchen die
Männer nicht. Die Wahrheit ist aber: Wir brauchen
sie. Coach Bowles ist ein guter Mann. Er hat
für immer einen Platz in meinem Herzen.
Wie wurden Sie bei den Jets aufgenommen?
Können Sie Tipps geben, wie sich
Frauen in einem von Männern dominierten
Umfeld verhalten sollen?
Ich wurde nicht anders behandelt als andere, ich
bin aber auf Distanz geblieben. Du musst deine
Hausaufgaben machen, du musst vorbereitet
sein, du musst einen Plan haben. Und ich habe
Zuversicht ausgestrahlt. So kam ich dann auch ins
Gespräch mit Coach Bowles über Vorbereitung
und Taktik. Wir trafen uns, als ich mir das Training
ansah. Ich wollte sehen, wie die Jungs und
vor allem diese großartigen Trainer arbeiten. Ich
wollte lernen, eine bessere Trainerin zu werden
und damit mein Team besser machen. Herausgekommen
ist ein Jobangebot. Gelegenheit,
Leidenschaft, Ziel – das ist meine Devise.
Gelegenheiten warten nicht an
jeder Ecke…
Ich warte nicht auf sie, ich schaffe sie. „Klopf,
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klopf. Wer ist da? Deine Gelegenheit!“ So funktioniert
das nicht. Du musst schon selbst aktiv
werden – und du musst es mit Leidenschaft tun.
Coach Bowles kam also auf mich zu und sagte:
„Ich habe gehört, Sie sind Spielerin und Trainerin.“
Ich sagte: „Stimmt.“ Er: „Welche Position
coachen Sie?“ Und ich: „Die Position, die Sie an
der Temple University spielten.“ Er sah mich sehr
verdutzt an und wir vertieften unser Gespräch.
Nicht alle Männer sind wie Coach Bowles.
Egal wo du auch hinkommst: Mistkerle gibt es
überall. Wenn du Glück hast, ist es nur einer. Bei
den Jets gab es einen, der mich vom ersten Moment
an wie Dreck behandelt hat. Das hat mich
traurig und wütend gemacht, aber die anderen
waren toll. Ich fing also an, das Playbook zu studieren
und das war ein richtig dickes Ding. Beim
Zähneputzen stand es vor mir an den Spiegel
gelehnt – und es hätte gerade noch gefehlt, dass
ich es mit unter die Dusche nehme. Die Jungs
merkten schnell, dass ich es draufhatte.
Viele Leute wissen nicht, dass Sie Opfer
sexueller Gewalt wurden. Football habe
Ihnen geholfen, damit fertig zu werden,
sagten Sie einmal. Wollen Sie uns davon
erzählen?
Ich habe fünf Vergewaltigungen überlebt. Ich
habe dreimal versucht, mich umzubringen.
Wenn ich sage: Football hat mir das Leben
gerettet, dann ist das wörtlich zu verstehen. Ich
habe Frauen gesehen, die auf dem Football-Feld
eine Stärke gezeigt haben, die ihnen andere
nicht zugetraut hatten. So habe ich lange mein
Leben gelebt: „Das kannst du nicht!“ Ich habe
mich selbst limitiert. ‚Ich bin nicht gut genug.
Ich bin wertlos. Ich verdiene es nicht zu leben.‘
Football war für mich ein Neuanfang, ein
Startschuss. Football sagte mir: „Let’s go!“ Und
dieses „Let’s go!“ erfasste meinen Verstand,
meine Seele und meinen Körper. Und ich sage
es noch mal: Football rettete mein Leben.
Ich bin Botschafterin der „National Coalition
Against Domestic Violence“ und spreche überall
auf der Welt zu Opfern häuslicher und sexueller
Gewalt. Sport kann dein Leben verändern.
Sport verlangt nach Verantwortung. Ich habe
aufgehört zu rauchen und mich bis spät in die
Nacht rumzutreiben und high zu werden. Ich
bin früh aufgestanden, habe trainiert und mich
gesund ernährt. Erstmals habe ich auf mich
achtgegeben, mich um mich selbst gekümmert.
Mit 42 konnte ich mich erstmals annehmen, ich
konnte sagen: ‚Ja, ich mag mich.‘ Und das nur
wegen Football.
Für viele sind Sie eine Pionierin, junge
Mädchen sehen Sie als Vorbild. Wie wichtig
ist Ihnen diese Rolle oder Funktion?
Das ist mir überhaupt das Wichtigste. Ich glaube,
dass ich ein Vorbild bin und nehme die Rolle mit
ganzem Herzen an. Ich erinnere mich an eine
Zeit, als ich fünfmal die Woche Oprah Winfrey
zugesehen habe und mir dachte: ‚Lieber Gott,
bitte gib mir eines Tages eine Plattform, sodass
ich anderen Menschen helfen kann.‘ Auf Knien
gefleht habe ich. Und Gott gab mir Football. Und
dann gab er mir die NFL. Ich bin die erste schwarze
Frau, die in der NFL coacht und die erste Frau
überhaupt im Trainerteam bei den Jets. Und
– verdammt noch mal! – ich habe auch Football
gespielt. Das sind die Plattformen, von denen aus
ich Mädchen und Frauen ermutigen kann – und
ich nutze sie. Die Kinder sind mir am wichtigsten.
Oh mein Gott, sie drehen völlig durch, wenn sie
mich sehen. Ich sage Ihnen: „Ich bin Ihr. Ich bin
Ihr und Ihr seid ich. Let’s go!“
Sie haben soziale Stereotype erschüttert
und Klischees aufgebrochen. Wie denken
Sie darüber?
Ich habe meine Bestimmung gefunden. Ich
erzähle Ihnen eine Geschichte ganz vom Anfang.
– 76 – mentalität
mentalität
– 77 –
„Es ist wichtig, über Dinge zu sprechen. Es gab Zeiten,
da habe ich auch nicht darüber gesprochen – über
Vergewaltigung, Belästigungen, Selbstmordversuche.
Man muss über solche Dinge sprechen.“
Vielleicht beantwortet das die Frage. Ich weiß
noch genau, wie ich meinem Vater von den
Jets erzählte. Von meinem Gespräch mit Coach
Bowles. Und wie Coach Bowles zu mir sagte: „Sie
sollten für diese Organisation arbeiten.“ Und ich
sagte nur: „Yes, Sir.“ Und dann stieg ich in mein
Auto, fuhr nach Hause und sagte: „Dad, du wirst
es nicht glauben. Du wirst es nicht glauben.“
Und mein Dad sagte: „Weißt du was, Collette,
ich glaube es. Und ich wäre noch stolzer auf dich,
wenn du es geglaubt hättest.“ Deshalb heißt
meine Firma: „Believe N You Inc.“ Mein Vater
wünschte sich nichts mehr für mich, als dass ich
an mich glaubte. Und genau das wünsche ich mir
für alle Mädchen.
Was raten Sie jemandem, der versucht,
das Unmögliche möglich zu machen?
Schritt eins lautet: Denke nicht eine Sekunde
daran, dass etwas unmöglich ist. Es ist nicht
unmöglich, ich kann es schaffen. Machen wir
aus „impossible“ einfach „I’m possible“. Und
dann: Fang an, das Ziel zu verfolgen! Finde
heraus, welche Schritte erforderlich sind. Und:
Keine Entschuldigungen! Die einzig akzeptable
Entschuldigung auf dem Footballplatz ist ein
gebrochenes Bein. Ansonsten heißt es: Steh auf
und tu es! Manchmal muss ich mir das selbst auch
noch sagen, es ist nicht immer einfach. Manchen
morgen schreie ich mich sogar selbst an: ‚Steh auf,
Mädchen! Steh auf, du schaffst es! Steh auf, just
do it! Tu es! Tu es!‘
Aus Ihrer Sicht als Frau: Wie geht die NFL
mit dem Thema Missbrauch um?
Meiner Ansicht nach engagiert sich die NFL zu
wenig. Ich glaube, die Liga sollte sich an mich
und andere Frauen wenden, um sich helfen
zu lassen. Wir sprachen vorhin über Männer,
die Frauen helfen. Wir müssen aber auch den
Männern helfen. Sie tun nicht genug. Ich habe so
viele Ideen, was sie auf diesem Gebiet unternehmen
könnten.
Zum Beispiel?
Es ist wichtig, über Dinge zu sprechen. Es gab
Zeiten, da habe ich auch nicht darüber gesprochen
– über Vergewaltigung, Belästigungen,
Selbstmordversuche. Ich habe nicht darüber
gesprochen und das bringt natürlich überhaupt
nichts. Man muss über solche Dinge sprechen.
Ich schreibe gerade ein Buch über mein Leben
und ich werde über alles sprechen. Mein Lektor
sagte, er würde es „bereinigen“. Er sagte:
„Weißt du, Collette, ich finde, du solltest das
Wort ‚rape‘ nicht benutzen. Die Leute mögen es
nicht besonders. Es ist echt grob.“ Mein erster
Impuls war, durchs Telefon zu springen, doch
dann dachte ich mir: ‚Lass ihn reden.‘ Als er
fertig war, sagte ich: „Wie kannst du es wagen!
Erstens: Das ist mein Buch. Zweitens: Ich bin
nicht dazu da, dass es du oder irgendjemand
sonst besonders nett hat.“
Wir sprachen über Ihre Rolle als Vorbild.
Zu wem haben Sie aufgesehen, als Sie
aufwuchsen?
Das ist eine sehr gute Frage. Ich bin es umgekehrt
angegangen. Ich hatte einen Blick für
Leute, denen ich ganz und gar nicht nacheifern
wollte. Ich bin in der hood aufgewachsen und
war das einzige Kind, das vom College gesprochen
hat. Als ein echtes Vorbild würde ich aber
Billie Jean King nennen.
Fotocredit Believe N You Inc., Getty Images
Die vielfache
Grand-Slam-Siegerin im
Tennis, die so viel für Gleichberechtigung
getan hat.
Ja. Ihr Engagement für die Frauen
hat den Sport wirklich verändert.
Ich habe aber auch Vorbilder in
meinem Umfeld. Meine Tante
etwa. Sie war Ärztin. Das war eine
große Sache. Da, wo ich aufgewachsen
bin, wurde man das nicht.
Und meine Eltern. Mein Dad war
beim Militär und arbeitete jeden
Tag sehr hart. Viele Kinder aus der
Umgebung kannten ihre Väter gar
nicht oder sie hatten einen Vater,
der aber nicht arbeitete. Mein Dad
ist immer mein Vorbild gewesen,
bis zum heutigen Tag.
Vor geraumer Zeit ging ein
Clip viral, der die Fußball-Weltmeisterin
Carli Lloyd zeigt, wie
sie im Training der Philadelphia Eagles ein
Field Goal aus 55 Yards erzielt. Was sagen
Sie dazu?
Für mich ist das keine große Sache, weil wir das
auch können. Meine Reaktion war: „Cool, das
machen wir auch immer.“
Werden wir irgendwann eine Frau in der
NFL als Kickerin sehen?
Ich will das gar nicht. Die NFL ist eine Männerliga
und die Frauen haben ihre Profiteams.
Ich würde mir wünschen, dass die NFL und die
Women’s Pro Football League zusammenkommen.
Als Director of Community Relations der
„Women’s National Football Conference“ würde
ich mir mehr Männer wünschen, die uns unterstützen.
Es gibt in den USA etwa 100 professionelle
Frauen-Football-Teams. 100! Wirf einen
Stein und du wirst eins treffen… Aber niemand
„Als ein echtes Vorbild würde ich Billie Jean
King nennen. Ihr Engagement für die Frauen
hat den Sport wirklich verändert.“
berichtet über uns, weil wir kein Geld mitbringen.
Ich will keine Frauen in der NFL auf dem
Feld, aber an der Seitenlinie als Trainerinnen.
Davon wünsche ich mir mehr.
Woher nehmen Sie die Kraft für alle Ihre
Unternehmungen?
Ich habe zwei Quellen. Die eine ist Gott. Ich bin
sehr, sehr gläubig. Gott gibt mir Kraft, weil ich
weiß, dass er nur das Beste für mich will. Ich
habe ihm mein Leben gewidmet, ich bin eine
Dienerin Gottes. Ich bin aber auch eine Kämpferin
in seinem Namen. Die andere Quelle sind die
Mädchen, kleine schwarze Mädchen. Wenn ich
einen schlechten Tag hatte und nicht genug Geld
reinkam, dann greife ich zum Telefon und versuche
Sponsoren aufzutreiben, sodass ich noch
mehr Schulen in der Umgebung besuchen kann.
Diese Schulen können mich nicht bezahlen,
aber ich kann solche Dinge auch nicht immer
umsonst machen. Mein Dad wird
dann sauer: „Gehst du schon
wieder an eine Schule? Bezahlen
die dich auch?“ Ich sage dann:
„Kannst du mir Mom geben, Dad?
Was habt ihr gestern gegessen?
Kocht ihr heute was Feines?“
So machen Sie weiter, auch
wenn die Umstände schwierig
sind?
Ja, weil ich immer an diese kleinen
Mädchen im Besonderen und die
schwarze Jugend im Allgemeinen
denke, die – so bitter das ist – immer
noch unterversorgt und
benachteiligt ist. Gehen Sie mal in
eine der Schulen in der hood, die
sehen nicht aus wie die Schulen in
anderen Gegenden. Wenn ich
einen schlechten Tag habe, schaue
ich in den Spiegel und frage mich:
‚Warum so schlapp heute? Willst du mich
veräppeln? Du musst aufstehen, Mädchen! Steh
auf!‘ Dann mache ich Liegestützen oder Planks
und bringe mich in Fahrt. Als ich noch Football
spielte, waren es Planks, für fünf Minuten. Aber
an die kleinen Mädchen zu denken, ist Feuer
genug für mich. Wie könnten wir es überhaupt
nur wagen, ans Aufgeben zu denken! Das wird
nicht passieren. Nicht mit mir!
Das Interview entstand am 20. November 2019 in
den Räumen des Bleacher Report Headquarters
in New York im Rahmen des Association for
Women in Sports Media (AWSM) Summit als Teil
des Leadership-Programms für internationale
Medienvertreterinnen unter dem Titel „Empowering
Women Through Sports Journalism“.
R O A D
T O
2 0 2 0
T O K I O
O L Y M P I A
MEINE MAMA, DIE OLYMPIASIEGERIN
Eigentlich soll sie in der Fabrik arbeiten und Kinder kriegen, doch Gabriella Dorio will nicht. Sie will lieber laufen
und Olympiasiegerin werden. Der Anfang einer fast märchenhaften Geschichte. In SOCRATES erzählt Gabriellas
Tochter, die Sportjournalistin Anna Chiara Spigaro, vom Leben ihrer Mutter und ihrer eigenen Emanzipation.
ANNA CHIARA SPIGARO
Als Kind dachte ich: Wenn ich groß bin, werde
ich Olympiasiegerin. Vielleicht sogar zweimal.
Jetzt bin ich 34, arbeite als Sportjournalistin und
habe keine großen Hoffnungen, Medaillen zu
gewinnen – außer im Curling vielleicht. Schuld
an meinem existenziellen Scheitern ist ganz allein
eine Person: meine Mutter Gabriella Dorio,
ihres Zeichens Goldmedaillengewinnerin im
1.500-Meter-Lauf bei den Sommerspielen 1984
in Los Angeles. Wenn du aufwächst und der
Mensch, der dir tagtäglich das Essen zubereitet,
ist eine Olympiasiegerin und die Inhaberin aller
italienischen Mittelstrecken-Rekorde, dann ist
das Letzte, das du tun solltest, dir einzubilden,
einmal besser zu sein. Mama hat olympisches
Gold gewonnen! Dann gewinne ich eben zwei!
Oder besser: drei! Kein Problem!
Wolle, rote Wangen und wieder Beine. Sie sieht
aus wie ein Kind, hat keinen Busen, und etwas
Wildes liegt in ihrem Blick. Im Hintergrund, weit
dahinter: die anderen Mädchen.
Ich war ebenfalls 14, als ich das Laufen entdeckte
und wie alle an meiner Schule an Cross-Rennen
teilnahm. „Natürlich“ war ich die Schnellste. Ich
erinnere mich an kalte Luft auf meinem Gesicht
und in meinen Lungen, an Freiheit. Ich war
glücklich. In diesem Jahr wurden wir Schulmeister
bei den nationalen Meisterschaften mit mir
als Schlussläuferin. Wir lagen nicht in Führung,
als ich den Staffelstab übernahm, aber ich holte
auf und ließ alle hinter mir. Auf dem Podium
bekamen wir Medaillen überreicht und kleine
Blumentöpfe. Alles war gut.
Fotocredit Getty Images, Gabriella Dorio Privatarchiv
Meine Mutter kam zum Laufen, als sie 14 war.
Aber lassen Sie mich ganz präzise sein: Sie
entdeckte das Laufen und fasste den Entschluss,
Olympiasiegerin zu werden. Es war in Rom,
im Stadio dei Marmi, bei den italienischen
Cross-Meisterschaften. „Wenn ihr hier ankommt,
dann schüttelst du sie ab und ziehst davon.
Okay?“ Ein vages Zeichen von Zustimmung
(Mama machte schon damals nicht viele Worte).
Es passierte Folgendes: Als die Läuferinnen an
dem bezeichneten Punkt ankamen – und zwar
an der exakten Stelle –, ließ Gabriella die anderen
stehen und machte sich auf, das Rennen zu gewinnen.
Es gibt ein Foto davon. Es ist schwarzweiß,
etwas unscharf. Das Mädchen auf dem Bild ist
sehr dünn, die Haare sind zerzaust. Dann sind da
Beine, ein viel zu großes Trikot, vermutlich aus
An diesem Nachmittag in
Rom ist Gabriella glücklich.
Sie hat etwas gefunden, das
ihr Freude bereitet. Auf den
Stufen des Stadio dei Marmi
platzt es aus ihr heraus:
„Wenn ich groß bin, werde ich
Olympiasiegerin!“
An diesem Nachmittag in Rom ist Gabriella
glücklich. Sie, die bis dahin nie aus dem Dörfchen
in Norditalien, in dem ihre Eltern ein Stück Land
bewirtschaften, herausgekommen ist, hat etwas
gefunden, das ihr Freude bereitet und worin sie
die Beste ist. In Rom scheint die Sonne, sie riecht
das Harz der Pinien und das Meer; das Foro
Italico sieht aus wie auf einer Ansichtskarte. Ihr
Herz platzt beinahe, so glücklich ist sie. Gabriella
fasst all ihren Mut und spricht. Auf den Stufen des
Stadio dei Marmi, eingerahmt von den weißen
Statuen griechischer Athleten, platzt es aus ihr
heraus: „Wenn ich groß bin, werde ich Olympiasiegerin!“
Um sie herum Gelächter, höhnische
Blicke. „Das kleine Mädchen spinnt. Los, machen
wir das Gruppenfoto.“ Gabriella wird rot, ein
bisschen wütend auch, und am liebsten würde
sie in die granitenen Stufen sinken, um sich zu
verstecken. Sie spricht kein Wort mehr, bis sie
wieder zu Hause ist. Lasst mich Ruhe, ihr werdet
schon sehen.
Ich habe nie etwas so geliebt wie das Laufen,
eine instinktive, allumfassende Liebe. Meine
Mutter und mein Vater beobachteten mich aus
der Ferne. Heute weiß ich, dass ihre Herzen vor
Stolz und Hoffnung fast barsten, aber das ließen
sie mich nie wissen. Ich habe liebevolle Eltern,
die mich erst zur Leichtathletik brachten, als ich
sie darum bat. Und tatsächlich: In den ersten
Jahren machte ich sie sehr stolz.
Für meine Mutter bedeutet das Laufen Selbstbestimmung,
Freiheit, die Welt kennenlernen,
träumen. Meine Großeltern waren arm. Sie
brauchten Geld, um etwas zu essen auf den Tisch
zu bekommen. Die Kinder wurden zur Arbeit
geschickt, sobald sie ihre Schulpflicht erfüllt
hatten. Sport war überhaupt keine Option, schon
gar nicht für ein Mädchen. Sie konnten sich nicht
damit anfreunden, dass ihr Kind allein durch
die Weltgeschichte reisen sollte. Eigentlich sollte
Gabriella gar nicht zu dem Rennen nach Rom
fahren. „Das ist nicht gut. Ende der Diskussion!“
Sie hatte nur eine Fürsprecherin: Oma Vittoria.
Und die kam mit der einflussreichsten Person, die
sie kannte, dem Pfarrer, zum Essen vorbei. Die
Geschichte endete damit, dass mein Großvater
stinkwütend aus dem Haus gestürmt kam. Ihm
auf den Fersen der Geistliche, der ihn beschwor:
„Lass sie gehen!“, während er Großvater quer
über den Acker verfolgte. Am Ende beugte sich
dieser der höheren Gewalt. „Aber wir machen ihr
anständige Kleider“, sagte er.
Ich musste niemanden überzeugen. Bei mir war
die Intervention der Kirche nicht notwendig.
Ganz im Gegenteil: Es herrschte große Hoffnung,
dass ich eine erfolgreiche Läuferin werden würde.
Das Schlimmste war für mich, wenn Leute
mich „die Dorio-Tochter“ nannten. Wenn du an
der Startlinie stehst, ist es nicht das Erbaulichste
der Welt, wenn die Stimme aus dem Lautsprecher
von den Erfolgen deiner Mutter erzählt.
Spätestens da begegneten mir die anderen mit
Misstrauen, so als könnte ich mit einem Auto
mithalten. Aber ich liebte das Laufen so sehr…
Das Schicksal meiner Mutter sollte eigentlich so
Menschen nannten mich immer „Dorios Tochter“. Doch ich dachte:
Bald werdet ihr nur über mich sprechen. Das wird eine tolle
Geschichte, auch weil ich die Goldmedaille meiner Mutter widmen
werde: „einer großartigen Frau und großartigen Athletin“.
aussehen wie das vieler Frauen in diesen Jahren:
Fabrik, frühe Heirat, Kinder kriegen. Ihre beiden
älteren Schwestern arbeiteten damals schon in der
Fabrik. Am Morgen ihres ersten Arbeitstags zog
sich Gabriella an und schwang sich aufs Fahrrad.
Als sie an der Fabrik ankam, das große Tor und
gingen, erstarrte sie. Es war eine gute Arbeit, ihre
Schwester hatte für sie gebürgt, doch Gabriella
machte auf dem Absatz kehrt. So würde ihr Leben
nicht aussehen.
Ich habe ihn nie erlebt, diesen Moment, wenn
dir klar ist, was du mit deinem Leben anfangen
Fotocredit Getty Images, Gabriella Dorio Privatarchiv
willst. Als ich meine erste Goldmedaille bei den
italienischen Meisterschaften gewann, schrieb die
Gazzetta dello Sport: „Dorios Tochter gewinnt den
Titel“. Sie nannten mich immer „ihre Tochter“.
Das nervte mich, doch ich dachte: Bald werdet ihr
nicht mehr über meine Mutter sprechen, sondern
nur noch über mich. Das wird eine tolle Geschichte,
auch weil ich die Goldmedaille meiner Mutter
widmen werde: „einer großartigen Frau und
großartigen Athletin“. Ihr werdet schon sehen!
Meine Mutter wird 13 Jahre brauchen, ihr Versprechen
aus dem Stadio dei Marmi einzulösen.
In Montreal 1976 wird sie Sechste. Damals ist
sie 19 Jahre alt. In Moskau 1980 belegt sie den
vierten Platz. Mamas Spiele finden in Los Angeles
1984 statt. Über die 800 Meter wirft sie die Medaille
einfach weg, wird wieder Vierte. Sie weint
einen Tag lang, um dann die 1.500 zu gewinnen.
Endlich. Es ist ein verrücktes Rennen. 13 Jahre
Training liegen zwischen dem Tag in Rom und
jenem in Los Angeles: 13 Jahre Training, Wettkämpfe,
Reisen um die ganze Welt, Verletzungen,
Aufstehen im Morgengrauen. Manchmal steht sie
schon morgens um fünf bei beißender Kälte am
Bahnhof. Sie will so früh wie möglich in Padua
sein, weil sie vor der Uni noch trainieren muss.
Sie ist nicht nur Läuferin, sondern auch Studentin.
Oma Vittoria sei Dank: „Wenn du studierst,
steht dir die Zukunft offen.“
Ich hatte eine vielversprechende Karriere als
Jugendliche, doch der Durchbruch blieb aus.
Der Höhepunkt war meine Teilnahme an der
U20-Weltmeisterschaft 2004. Jemand sagte,
ich habe Talent; die Wahrheit ist jedoch: Ich
habe es nicht geschafft. Zu viele Dinge müssen
zusammenpassen, um nach oben zu kommen.
Wenigstens habe ich es nie lautstark behauptet.
Man stelle sich vor: Die Dorio-Tochter kündigt
an, eine große Sportlerin zu werden. Vielleicht ist
das der entscheidende Unterschied…
Die Geschichte vom Coliseum ist gut. Anfang
1984 leidet meine Mutter an Achillessehnenproblemen.
Man schickt sie zum weltbesten Spezialisten
nach Los Angeles. Jeden Tag fährt sie dort mit
dem Bus an diesem gigantischen Bauwerk vorbei.
Es ist das Coliseum, wo bei den Sommerspielen
die Wettbewerbe der Leichtathleten stattfinden
sollen. Sie drückt dem fetten Typen mit der
Baseballmütze, der einen der Eingänge bewacht,
Es ist ein verrücktes Rennen. 13 Jahre Training liegen zwischen
dem Tag in Rom und jenem in Los Angeles: 13 Jahre Training,
Wettkämpfe, Reisen um die ganze Welt, Verletzungen,
Aufstehen im Morgengrauen.
die Hunderte von Frauen sah, die dort hineinein
paar Dollar in die Hand und schon ist sie drin.
Dort auf den staubigen Stufen sitzend, den Blick
auf die Wüste des riesigen Innenraums gerichtet,
umtost vom Lärm der Bulldozer, verfolgt Gabriella
ihr Olympia-Finale. Sie hört das Schreien des
Publikums, sie fühlt die Bahn unter ihren Spikes,
sieht die weißen Linien auf rotem Grund. Und da
ist auch mein Vater auf den Rängen. „Wenn ich an
jene Nachmittage auf der Baustelle im Coliseum
zurückdenke, sehe ich ein volles Stadion. Aber
da war keiner, nur ich und ein paar hundert
Bauarbeiter.“
Wenn ich morgens besser aus dem Bett kommen
würde, hätte ich vielleicht mehr erreicht in
meinem Leben. Auch deshalb mag ich ja den
Beruf als Journalistin; wir kommen erst am
späteren Morgen in die Redaktion. Aber ich bin
glücklich mit meinem Leben. Ich hörte früh mit
dem Laufen auf, mit 25. Ich hätte als Profi noch
zehn Jahre weitermachen können, doch als ich
merkte, dass es für die ganz großen Erfolge nicht
reichen würde, entschied ich mich für den Job.
Die Vorstellung, als 35-jährige Durchschnittsathletin
morgens aufzuwachen und keine Ahnung
zu haben, was ich mit mir anfangen sollte, glich
einem Albtraum. Ich kam durch Zufall zum
Journalismus, doch habe ich mich schnell damit
angefreundet. Das war schon lustig.
Am Tag der Siegerehrung warten die Journalisten
auf der Pressekonferenz auf sie. Vergeblich.
Erstens weil sie Journalisten hasst und zweitens,
weil sie lieber mit meinem Vater Disneyland besucht.
„Wir sind alles gefahren, auch die größten
Achterbahnen. Um ehrlich zu sein: Die haben wir
zweimal genommen.“
In den vergangenen Jahren habe ich von allen
Welt- und Europameisterschaften berichtet. Ich
war in Beijing, London und Doha. Das Schreiben
bedeutet für mich Selbstbestimmung, unabhängig
und frei zu sein, die Welt kennenzulernen, zu
träumen.
Wenn sie von dem Zieleinlauf in Los Angeles
spricht, erzählt meine Mutter immer dies: Als
sie die Linie überquerte, ihre Arme in die Höhe
reckte, begriff, dass sie Gold geholt hatte, das
Größte, was ein Athlet überhaupt nur erreichen
konnte… „Und was habe ich dann gemacht?“
Dann bekam sie mich. Die Tochter, die nie
Olympiasiegerin werden wird und sich für einen
ganz furchtbaren Karriereweg entschieden hat.
„Anna, bist du überhaupt eine richtige
Journalistin?“
IN ZEITEN DES MACHTVAKUUMS
SEBASTIAN HAHN
leistung kann durchaus schwache Schießergebnisse überdecken.
Im Gesamt-Weltcup schlägt sich das auch nieder. Die Italienerin Dorothea
Wierer überzeugt mehr in der Loipe als am Schießstand. Liefert sie
mal null Fehler ab, ist sie nahezu unschlagbar. Ähnliches gilt für Landsfrau
Lisa Vittozzi. Die Zeiten, in denen Magdalena Neuner alleine das
Feld in der Loipe dominieren konnte sind vorbei, eben weil sie einen
Trend gesetzt hat, der sich bis heute hält. Immer mehr Langläuferinnen
suchen den Weg in den Biathlon-Sport. Weil die Branche medienwirksamer
und auch attraktiver für Sponsoren ist als der oft eintönige
Langlauf. Dort hat Norwegen eine ähnliche Dominanz wie Deutschland
im Rodel- oder Bob-Sport.
In Antholz soll im Frühjahr die nächste große Party am Schießstand steigen.
Die Italiener haben aktuell eine Hochphase, neben Wierer und Vittozzi
haben auch die Herren mit Lukas Hofer einen aussichtsreichen Läufer im
Favoritenkreis. Antholz gilt unter Biathleten traditionell als beliebter Weltcup-Standort,
auch für Fans ist Südtirol in Sachen Anreise sicher angenehmer
als das verschneite und neblige Östersund in Schweden.
Während der Kampf um die Medaillen bei den Damen sehr offen ist, haben
die Herren mit Johannes Thingnes Bø einen überragenden Alleinunterhalter,
der im Vorjahr 16 Weltcup-Rennen für sich entscheiden konnte. Dem
Zweitplatzierten im Weltcup, Alexander Loginow, fehlten über 400 Punkte
auf den überragenden Norweger. Aus deutscher Sicht ruhen die Hoffnungen
auf Arnd Peiffer, Benedikt Doll und dem wiedergenesenen Simon Schempp,
der sich nach einer verletzungsgeplagten Saison allerdings erst zurück
in die Weltspitze kämpfen muss.
Ohne Laura Dahlmeier fehlt dem deutschen Team eine
starke Führungspersönlichkeit bei der Biathlon-WM. Das
bedeutet aber nicht, dass die Chancen gleich null sind.
Die deutsche Biathlon-Szene hatte im letzten Frühjahr ihren zweiten Magdalena-Neuner-Moment.
Dabei ist es im Zusammenhang mit Laura Dahlmeier
eigentlich unangebracht, über Magdalena Neuner zu sprechen. Aber die Parallelen
zwischen zwei Frauen, die die Biathlon-Szene in den vergangenen 15
Jahren mehr geprägt haben als viele Athletinnen vor ihnen, sind einfach zu
stark, um sie voll und ganz zu ignorieren. Sowohl Neuner als auch Dahlmeier
setzten mit ihren Leistungen in der Loipe neue Maßstäbe, beide holten zahlreiche
WM-Titel und olympische Medaillen. Und beide beendeten ihre Karriere
auf dem Höhepunkt, lange bevor Top-Athleten ihren Zenit eigentlich
überschreiten. Und beide mit nur 25 Jahren. Außergewöhnliche Entscheidungen,
die großen Respekt verdienen, die die deutsche Biathlon-Szene im
Weltcup-Winter 2019/20 aber vor neue Herausforderungen stellen.
Vor allem Denise Herrmann soll die Lücke füllen. Herrmann ist einen
anderen Weg gegangen als Neuner und Dahlmeier, auch wenn sie über
ihre starke Laufleistung kommt. Ursprünglich als Langläuferin aktiv, ist
Herrmann erst seit 2016 im Biathlon-Weltcup unterwegs, hat in dieser
Zeit aber schon vier Weltcup-Siege eingefahren, gekrönt
vom WM-Titel in der Verfolgung in Östersund 2019
– zwei Ränge vor Dahlmeier, die sich zum Ende
ihrer Karriere noch
mal zwei Medaillen
in Schweden
sichern
konnte. Herrmann
wird mit 31
Jahren nicht mehr zur überragenden
Schützin werden. Aber sie bringt
Stärken mit, die Neuner und Dahlmeier
groß gemacht haben und die im deutschen
Biathlon seit Jahren als Schlüsselfaktoren für
den Erfolg gelten. Der Tenor: Eine gute Lauf-
Ähnlich wie bei den Damen wird es auch bei den Herren darum
gehen, als Team zu überzeugen, denn trotz der großen
Hoffnungen in Denise Herrmann sticht kein deutscher Athlet wirklich heraus.
In den Staffel-Wettbewerben ist ein Sieg trotz der hohen Leistungsdichte
aber keine Selbstverständlichkeit. Die Konkurrenz hat aufgeholt –
aber im Gegensatz zu den Vorjahren gibt es in engen Situationen keinen
herausragenden Biathleten oder eine Biathletin, der oder die die Konkurrenz
ausstechen könnte. In Einzelfällen ist das möglich, aber nicht mehr
konstant. In solchen Momenten wird Laura Dahlmeier fehlen, genau wie
Magdalena Neuner. Eine Nachfolgerin wird es aber mit Sicherheit geben.
Die Frage ist nur, ob schon in Antholz.
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DER BESESSENE
Martin Fourcade gehört zu den erfolgreichsten Biathleten aller Zeiten, gewann siebenmal den
Gesamtweltcup und mehr als 70 Einzelrennen. Ein Wettkampf ohne Sieg ist für den
Franzosen ein verlorener Wettkampf.
SARAH LUISE FENSKE
Frankreich um die Jahrtausendwende.
Gut eine halbe Autostunde von der
Gemeinde Font-Romeu-Odeillo-Via im
Naturpark Pyrénées Catalanes entfernt. Martin
Fourcade lebt hier mit seinen Eltern und seinen
zwei Brüdern in dem Ferienhaus „La Cassagne“.
Die Hauptbeschäftigung der Jungen: Sport.
„Mir kam es von Anfang an auf den Wettbewerb
an: Egal mit welcher Art der Fortbewegung, ich
musste immer als Erster auf dem Gipfel sein“,
schreibt er in seiner Biografie Mein Traum von
Gold und Schnee über diese Zeit. 20 Jahre später
hat sich daran nichts geändert. „Ich muss bis
zum Äußersten gehen, alles dafür tun, um es zu
erreichen. (…) Ich träume nicht davon, Titel zu
sammeln, aber ich möchte jedes Mal, wenn ich
an den Start gehe, gewinnen. Ich will der Beste
sein: heute!“ Er ist besessen vom Siegen.
Durch seinen vier Jahre älteren Bruder Simon
kommt Martin mit Biathlon in Berührung
„Martin hat ein enormes
Talent und die körperlichen
Voraussetzungen, um der Beste
der Welt zu sein. Ich habe ihn
aber eben auch als wahnsinnig
ehrgeizig und zielstrebig
erlebt.“ Simon Schempp
und beschließt: Ich werde Profi. Schon damals
verliebt er sich in Hélène – seine heutige Frau.
Martin ist gerade 14 Jahre alt, als er ihr mitteilt:
„Wenn Du mich heiratest, wirst Du mich
mehr im Fernsehen sehen als in echt.“ Mit 15
beschließt er, sein idyllisches Elternhaus in den
Pyrenäen gegen ein Sportinternat in den Alpen
einzutauschen. „Meine Eltern wollten nicht,
dass ich sie verlasse. Ich musste lange betteln,
bis ich gehen durfte. Es war meine Entscheidung
und deswegen fiel sie mir leicht.“ Er ist
besessen und angetrieben von dem Gedanken,
der beste Biathlet der Welt zu werden. Obwohl
Biathlon damals in Frankreich wenig Beachtung
fand. Zwar dominierte mit Raphaël Poirée ein
Franzose den Weltcup – in Skandinavien oder
Deutschland war der Hype um ihn aber um ein
Vielfaches höher. Eine Tatsache, die Martin
Fourcade wenige Jahre später änderte.
In der Saison 2007/08 gab der damals 19-Jährige
in Oslo sein Debüt im Weltcup. 2010
gewann er an gleicher Stelle sein erstes Einzelrennen.
Seitdem sicherte Martin sich mehr
als 70 Siege, gewann siebenmal hintereinander
den Gesamtweltcup, ist im Besitz von elf
WM-Goldmedaillen. Mit fünf Olympiasiegen
ist er zudem der erfolgreichste französische
Olympionike aller Zeiten. „Natürlich hat Martin
ein enormes Talent und die körperlichen
Voraussetzungen, um der Beste der Welt zu
sein. Ich habe ihn aber eben auch als wahnsinnig
ehrgeizig und zielstrebig erlebt“, erklärt
der deutsche Biathlet Simon Schempp im
Gespräch mit SOCRATES. „Ich denke, er hat
viele Jahre immer genau die richtigen Schlüsse
aus jeder einzelnen Saison gezogen und konnte
sich dadurch immer weiterentwickeln. Die
meisten Dinge, die er verbessern wollte, hat er
dann tatsächlich besser hingekriegt.“ Für den
Norweger Johannes Thingnes Bø ist der Franzose
ein großes Vorbild: „Ich wollte immer
sein wie er. Ich wollte nur deshalb so konstant
gut sein, weil er es immer war.“
Und Fourcade hat eben geschafft, was seinem
erfolgreichen Vorgänger Poirée verwehrt blieb:
Das Interesse der Franzosen an Biathlon hat
enorm zugenommen. Im Dezember 2013 fand
in Le Grand-Bornand zum
ersten Mal nach 21 Jahren
wieder ein Weltcup statt.
Fourcade hatte in den
beiden Jahren zuvor
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Fourcade hat geschafft, was
seinem erfolgreichen Vorgänger
Poirée verwehrt blieb: Das
Interesse der Franzosen
an Biathlon hat enorm
zugenommen.
Jahren mit Fourcade befreundet und weiß, wie
dieser Eindruck entsteht: „Von Anfang an, seit
ich ihn kenne, war er schon immer ein wirklich
umgänglicher Typ – außerhalb der Strecke. Im
Wettkampf war und ist er immer unbequem.
Was einfach damit zu tun hat, dass er den Sieg
unglaublich mag und er wirklich immer die 100
Prozent aus sich rausholen möchte.“
Es sind aber auch Fourcades Aussagen, die so
den Gesamtweltcup für sich entschieden und
reiste als Favorit an. Doch ausgerechnet in Le
Grand-Bornand macht er nicht mit einem Sieg
von sich reden, sondern mit einer kuriosen Situation:
Der Schwede Fredrik Lindström steigt
ihm bei einem Anstieg versehentlich auf den
Ski. Fourcade haut vor Wut mit seinem Stock
nach hinten und schlägt dem Schweden dabei
den Stock aus der Hand. Wenige Meter später
haben sich seine Nerven plötzlich wieder
beruhigt. Martin bleibt stehen, überlässt einen
seiner Stöcke dem Schweden und läuft selbst
einen Teil der Strecke mit nur einem Stock.
Populär wird zu dieser Zeit auch seine Siegerpose
nach dem letzten Schießen – die in die Luft
gestreckte Faust in Richtung seines Trainers,
weil er sich zum Zeitpunkt der Rennen oftmals
dort schon des Sieges sicher war. Es sind
unter anderem Aktionen wie diese, die ihm
den Ruf einbrachten, ein etwas unbequemer
und spezieller Athlet zu sein. Schempp ist seit
manchen erst mal stutzen lassen. Ein TV-Team
der ARD besuchte ihn vor einigen Jahren in
seinem Heimatort in den Pyrenäen, wo er
sich allein auf die nächste Saison vorbereitete.
„Ich glaube, jeden Tag in einer Gruppe zu
trainieren, wäre nichts für mich. Das wäre, wie
in einer Firma zu arbeiten. Ich muss es allein
machen“, erklärte er. Ein weiteres Beispiel: Als
sein jahrelanger Schießtrainer und enger Vertrauter
Siegfried Mazet 2016 als Trainer nach
Norwegen wechselte, sprach Martin offen von
Verrat. „Ich weiß, dass sich meine Verbitterung
legen und ich niemals vergessen werde, was er
alles für mich getan hat. Aber es schnürt mir
trotzdem den Hals zu bei dem Gedanken, dass
er ausgerechnet zu unseren größten sportlichen
Gegnern wechselt. Sauer bin ich auch
auf den norwegischen Verband, da ich weiß,
dass es ihnen nicht nur um das Projekt geht,
sondern auch darum, meine Organisation aus
dem Gleichgewicht zu bringen.“
Der zweifache Familienvater hat keine Angst,
seine Meinung zu sagen. Besonders deutlich
wird das beim Thema Doping. Wie kein anderer
Athlet kämpft er laut und entschieden
gegen Dopingvergehen im Biathlon. „Man
sagt mir oft, dass es viel Mut brauche, um zu
diesem Thema Position zu beziehen. Ich halte
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„Er hat viele Jahre immer genau die richtigen Schlüsse aus
jeder einzelnen Saison gezogen und konnte sich dadurch immer
weiterentwickeln. Die meisten Dinge, die er verbessern wollte, hat
er dann tatsächlich besser hingekriegt.“ Simon Schempp
mich nicht für besonders mutig, aber der Sport
war für mich ein Kindheitstraum. (…) Ich wäre
nicht fähig, mit dem Wissen weiterzuleben,
dass das falsch ist, dass meine Leistungen die
Folge einer künstlichen Hilfestellung sind,
dass das, was ich mache, tatsächlich nur eine
Täuschung ist.“ Bei der WM 2017 wurde
die russische Mixed-Staffel Dritter hinter
Deutschland und Frankreich. Mit im Team:
unter anderem der überführte Doping-Sünder
Alexander Loginow. Fourcade verließ die Siegerehrung
aus Protest vorzeitig. „Ich kämpfe
für sauberen Sport und wer das nicht akzeptiert,
muss damit klarkommen.“
Seit 2018 gehört Fourcade zum Team der
Athletensprecher des Biathlonverbandes IBU.
In den Augen von Simon Schempp genau die
richtige Wahl: „Ich empfinde ihn als einen sehr
kompetenten Athletensprecher. Er hat zu fast
allen Themen eine klare Meinung. Auch bevor
er dieses Amt innehatte, hat er zu einigen
Themen Stellung bezogen und sich dann auch
dafür eingesetzt. Da er zu den erfolgreichsten
Athleten überhaupt gehört, hat sein Wort dementsprechend
auch Gewicht und wir bekommen
vielleicht sogar mehr Gehör.“
Martin Fourcade hat aus seiner Besessenheit
eine große Karriere aufgebaut. Er ist einer
der erfolgreichsten Biathleten aller Zeiten,
verdient mit seinen Erfolgen und Werbepartnern
Millionen und hat im Musée Grévin in
Paris sogar eine eigene Wachsfigur. All das
beschäftigt ihn derzeit jedoch wenig. Vielmehr
sind es seine sportlichen Leistungen, mit
denen er seit der letzten Saison hadert. Bei
der WM in Östersund bliebt der erfolgsverwöhnte
Franzose sogar ganz ohne Medaille.
Seine Formkrise vermutet er unter anderem in
mangelnder Regenerationszeit durch zu viele
öffentliche Termine. „Ich kann das durchaus
nachempfinden. Bei mir hatte es andere Gründe,
aber meine Regeneration ließ auch schon
zu wünschen übrig und ich hatte nicht die Zeit,
um nach den harten Trainingseinheiten richtig
zu regenerieren. Dass die Leistung im Winter
dann nicht so ist, wie er es gewohnt war und
sich auch erhofft hatte, ist dann die logische
Folge dessen“, sagt Schempp.
Der Dominator, der nahezu unschlagbare
Superstar im Biathlon heißt jetzt Johannes
Thingnes Bø. Er wurde vom Jäger zum
Gejagten und erläuft sich seine zahlreichen
Siege scheinbar spielerisch. Dass der 26-Jährige
die ersten Weltcups zu Beginn des neuen
Jahres auslässt, weil er sich mit seiner Frau
Hedda über Nachwuchs freut, wird die
Zuschauer ein wenig aufatmen lassen. Fünf
von sieben Einzelrennen entschied Bø für sich;
das lässt Angst vor Langeweile aufkommen.
Während der Norweger sich seinem Nachwuchs
widmet, wird Fourcade weiter hart an
seinem Erfolgscomeback arbeiten. „Solange
ich den Funken von damals noch immer spüre,
solange die Flamme, die in mir brennt, nicht
aufhört zu brennen.“ Dass er Bø schlagen
kann, hat er am 4. Dezember gezeigt, als er das
Einzelrennen in Östersund für sich entschied.
Aber ein Sieg in sieben Rennen – das ist einem
Besessenen viel zu wenig.
VON EINER AUF DIE ANDERE
SEKUNDE IST ALLES AUS
„
“
Maria Höfl-Riesch ist dreifache Olympiasiegerin und eine Legende des alpinen Skisports.
Mit SOCRATES sprach die 35-Jährige über Unwägbarkeiten und Risiken,
ihr großes Idol und eine echte Freundin.
BANU YELKOVAN
Maria, weil wir uns hier am Rande einer
Laureus-Veranstaltung treffen, muss
ich Sie fragen: Wie würden Sie Ihre Verantwortung
für den Sport beschreiben?
Gerade Athleten, die sehr erfolgreich waren,
sollten dankbar sein für die Möglichkeiten, die
sich ihnen geboten haben. Wenn man in der
Lage ist oder eine Rolle innehat, in der man
anderen helfen und sie unterstützen kann,
dann sollte man es auch tun. Das halte ich jedenfalls
für sehr wichtig. Die Laureus Stiftung
ist eine sehr gute Möglichkeit dafür.
Ich stelle allen Sportlern, die ich treffe,
diese Frage: Welches sind die drei
besten Momente Ihrer Karriere? Sie
müssen sich entscheiden.
Dann würde ich sagen: Mein erster Titel
bei der Junioren-WM 2001 in Verbier, der
Comeback-Sieg in Lake Louise 2006 nach
meiner schweren Verletzung und die zweite
Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in
Vancouver 2010.
Okay, damit hatte ich gerechnet. Und
die drei schlimmsten?
Natürlich fallen mir da sofort meine beiden
schweren Verletzungen ein. Es ist immer sehr
bitter, wenn die Arbeit eines ganzen Sommers
verloren ist. Man arbeitet Tag für Tag und
dann, von einer Sekunde auf die andere, ist
alles aus. Für ein halbes Jahr! Das tut nicht
nur weh: Man weiß ja auch nicht, wie es
danach weitergeht. Schaffe ich überhaupt die
Rückkehr? Kann ich wieder Rennen gewinnen?
Das war jedes Mal schon richtig schlimm.
Enttäuschende Rennen gab es natürlich mehrere,
aber an eins erinnere ich mich besonders.
Ich hatte eine sehr schwierige Saison, bin sehr
schlecht gefahren und hatte einfach keine Ahnung,
woran es lag. Dann kam dieser Slalom in
Österreich und plötzlich ging es wieder. Ich lag
nach dem ersten Durchgang in Führung, hatte
den Sieg vor Augen und stürzte dann kurz
vor dem Ziel. Das war fürchterlich. Ich weiß
nicht genau, warum, denn es war auch nur ein
Rennen von vielleicht 400, aber es ist mir im
Gedächtnis geblieben.
Skisport ist sehr heikel. Man muss un-
„Ich habe am Anfang davon
geträumt, eine Weltklasse-Rennläuferin
zu werden.
Ich war eine leidenschaftliche
Skiläuferin, der Rest kam dann
später einfach dazu.“
glaublich schnell sein, wenige Sekundenbruchteile
entscheiden über einen
Sieg oder einen Platz außerhalb der Top
Ten, das Risiko von Verletzungen fährt
immer mit – und man kann im Prinzip
nichts kontrollieren. Denken wir nur
allein an das Wetter…
Das stimmt, es ist schon hart.
Mit dem Wissen von heute: Würden Sie
noch mal den gleichen Weg einschlagen?
Über diese Dinge habe ich nie nachgedacht.
Ich habe am Anfang davon geträumt, eine
Weltklasse-Rennläuferin zu werden und bei
Olympia auf dem Podium zu stehen. Aber als
Kind oder als Jugendliche denkst du nicht an
die Begleitumstände und daran, dass du auch
Pech haben könntest. Ich war eine leidenschaftliche
Skiläuferin, der Rest kam dann
später einfach dazu.
Am Anfang weiß man nie, was werden
wird. Wann haben Sie gemerkt, dass Sie
das Zeug für eine große Karriere haben?
Waren Sie von Anfang an ambitioniert?
Ich war schon sehr früh sehr talentiert, aber da
gab es viele Kinder, die auch sehr gut waren.
Man kann nie wissen, was einmal daraus wird.
Man versucht natürlich alles, gibt sein Bestes
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– 90 – mentalität
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„Lindsey war eine unglaublich harte Konkurrentin. Was sie charakterlich von allen anderen
unterschieden hat, war ihr Mut zum Risiko. Sie ging immer ans Limit.“
und vertraut in die eigenen Fähigkeiten, aber
man braucht auch jede Menge Unterstützung.
Es braucht die Hilfe der eigenen Eltern, man
benötigt gute Trainer und zum richtigen Zeitpunkt
auch einfach Glück. Wenn man das alles
hat und Tag für Tag und Jahr für Jahr daran
arbeitet, dann klappt es irgendwann.
Welches wäre Ihr Sport gewesen, wenn
es mit der Laufbahn auf Skiern nicht
geklappt hätte?
Bis 13 war ich eine ziemlich gute Tennisspielerin.
Dann wurde es zu kompliziert, beiden
Sportarten nachzugehen. Es gab ja auch noch
die Schule. Also konzentrierte ich mich aufs
Skifahren, weil meine Leidenschaft dafür noch
größer war. Ich habe die Entscheidung nie bereut.
Ich spiele aber immer noch gerne Tennis
und sehe gerne zu.
Wer ist Ihr Idol? Sie dürfen keinen Ski-
fahrer nennen…
Boris Becker.
Echt?
Wie erwähnt bin ich ein großer Tennisfan und
ich kenne Boris schon eine ganze Weile ganz
gut. Ich empfinde den größten Respekt für
seine Leistungen und Erfolge. Ich weiß auch,
dass in seinem privaten Leben nicht immer
alles perfekt gelaufen ist, aber er war und ist
ein großer Sportsmann.
Ihre größte Rivalin? Nicht nachdenken,
seien Sie spontan.
Lindsey Vonn. Das ist doch keine Frage! Ich
habe mit ihr in Schweden nach dem letzten
Rennen ihrer Karriere gefeiert. Ich habe mich
so für sie gefreut, dass sie am Ende noch mal
eine Medaille gewonnen hat. Sie hatte eine so
harte Zeit davor. Schließlich hat sie gemerkt
und vor allem akzeptiert, dass es vorbei ist.
Ihre Leistung bei der WM-Abfahrt war fantastisch
und der dritte Platz das perfekte Ende
ihrer Karriere.
Lindsey hat sich in einem Interview für
unser Magazin ebenfalls sehr positiv
über Sie geäußert, deshalb würde ich Ihnen
gerne noch eine Frage zu ihr stellen.
Wie war es, sie zur Rivalin zu haben und
was zeichnet ihre Persönlichkeit aus?
Sie war natürlich eine unglaublich harte
Konkurrentin. Einige Jahre lang war sie einfach
zu stark. Sie hatte ein fantastisches Gefühl für
den Ski. Was sie charakterlich von allen
anderen unterschieden hat, war ihr Mut zum
Risiko. Sie ist immer in die Vollen gegangen
ohne Rücksicht auf Verluste. Deshalb ist sie so
oft gestürzt und war so oft verletzt. Sie ging
immer ans Limit. Sie war eine tolle Sportlerin
– und ich bin stolz und glücklich, dass ich sagen
kann: Sie ist meine Freundin.
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VERPOKERT, VERLOREN,
VERKANNT?
Nico Hülkenbergs Tage in der Formel 1 sind nach zehn Jahren offenbar gezählt.
Die immensen Erwartungen hat er nie erfüllen können. Warum der 32-Jährige in der Königsklasse
in die Sackgasse geriet, hat diverse Ursachen. Ganz unschuldig daran ist er sicher nicht.
KARIN STURM
Es gab Zeiten, da galt Nico Hülkenberg
als das ganz große neue deutsche
Talent in der Formel 1. Als einer,
der neben Sebastian Vettel die deutsche
Formel-1-Geschichte fortschreiben würde.
Damals, 2010 in Brasilien zum Beispiel, als
Vettel mitten im Kampf um seinen ersten Formel-1-WM-Titel
steckte. Und Hülkenberg, der
GP2-Champion von 2009, in seinem ersten
Formel-1-Jahr überhaupt, seinen Williams in
Interlagos völlig überraschend auf die Pole
Position stellte. Sicher, die Umstände spielten
ein bisschen mit: In seinem 18. Formel-1-Qualifying
profitierte er von wechselhaften Bedingungen,
er ging zum idealen Zeitpunkt mit
Slicks auf die brasilianische Rennstrecke und
war letztlich eine Sekunde schneller als Vettel,
gefolgt von Mark Webber im zweiten Red Bull.
Und war damals selbst überrascht: „Damit hatte
keiner gerechnet, auch ich nicht.“
Toro Rosso in Monza. Jener Vettel, der Hülkenberg
damals in Brasilien große Komplimente
machte: „Hut ab, das hat Nico toll gemacht. Die
Verhältnisse waren tückisch, es war sehr leicht,
einen Fehler zu machen.“
Aber im Gegensatz zu denen, die nach solchen
Highlights zu absoluten Superstars der Szene
wurden, startete die Karriere des Nico Hülkenberg
nie so richtig durch. Sicher, da spielten auch
äußere Umstände mit, politische Entscheidungen,
Konkurrenten mit Sponsor-Millionen in der
Hinterhand... Dennoch: Anstatt irgendwann in
einem Top-Team zu landen, stand der inzwischen
32-Jährige am Ende der Saison 2019 vor
dem zumindest vorläufigen, wenn nicht endgültigen
Aus seiner Formel-1-Karriere.
Und sah sich immer wieder mit der Frage
nach dem Warum konfrontiert. Nur Pech und
äußere Umstände? Oder vielleicht doch auch
noch etwas anderes? Seine Einschätzung:
„Klar habe ich in der Königsklasse Fehler
gemacht, so wie das jeder Mensch in seinem
Leben getan hat. Gewiss würde ich rückblickend
heute Einiges anders machen, aber im
„Gewiss würde ich rückblickend heute Einiges anders machen, aber
im Nachhinein bist du immer der Schlaue. Ich bereue nichts, ich sehe
die Formel 1 nicht als unerledigtes Geschäft.“ Nico Hülkenberg
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Aber gerade das Ausnützen günstiger Umstände,
die Fähigkeit, dann im entscheidenden
Moment auch in einem unterlegenen Auto sein
Talent zu zeigen, das brachte in der Geschichte
der Formel 1 schon vielen der ganz Großen die
ersten wichtigen Schritte ihrer Karriere. Man
denke an Ayrton Sennas zweiten Platz im Toleman
1984 in der Regenschlacht in Monaco,
an Michael Schumachers siebten Startplatz bei
seinem Formel-1-Debüt in Spa 1991, an Fernando
Alonso, der mit dem an sich hoffnungslosen
Minardi 2001 immer wieder aufhorchen ließ –
oder auch an Vettels ersten Sieg 2008 mit dem
mentalität
– 95 –
Als der Sprung in ein Top-Team nie gelang, entstand ja der Eindruck,
Hülkenberg werde, nach mehreren Management-Wechseln nicht
immer gut beraten, von seiner Umgebung in der Tendenz, sich doch
bisweilen selbst zu überschätzen, noch bestärkt.
Nachhinein bist du immer der Schlaue. Ich
bereue nichts, ich sehe die Formel 1 nicht als
unerledigtes Geschäft. Ich habe über Jahre
hinaus konstant Leistung gebracht. Ich finde,
das spricht für eine gewisse Qualität. Gewiss,
ich würde gerne eine bessere Bilanz vorweisen
können. Aber alles in allem bin ich mit
mir im Reinen.“
Objektiv stehen da einige Zahlen: 177 Grands
Prix, dabei kein einziger Podiumsplatz – ein
einsamer, wenn auch eher negativer Rekord.
Dreimal Vierter stehen als beste Rennergebnisse
zu Buche. Mehrfach vergab er die Chance
auf ein Podest, wenn die Situation ihm in die
Hände spielte, auch durch eigene Fehler – zuletzt
im Chaos-Rennen von Hockenheim 2019.
Ein Image, das ein bisschen kleben blieb, vor
allem im Zusammenspiel mit der Tatsache,
dass der Emmericher im Fahrerlager stets den
Ruf hatte, eine sehr hohe Meinung über sein
eigenes Potenzial zu haben – und das auch
deutlich zu zeigen.
Und dabei vielleicht auch manchmal ein
bisschen die Realität zu verkennen – oder sie
einfach nicht sehen zu wollen: 2019 bekam er
bei Renault mit Daniel Ricciardo einen neuen
Teamkollegen – und tat sich teilweise ziemlich
schwer gegen den Australier. Was in der Formel
1 nun einmal bedeutet, dass die eigene Aktie
schnell an Wert verliert. Hülkenberg merkte
das anscheinend nicht wirklich: Dass er bei
Renault durch Mercedes-Junior Esteban Ocon
ersetzt würde, sicher zum Teil auch aus politischen
Gründen, weil ein französischer Fahrer
im Team hilfreich sein könnte, einen zögernden
französischen Konzernvorstand von einem
weiteren Formel-1-Engagement zu überzeugen,
das war im Sommer dem ganzen Fahrerlager
über Wochen klar – nur ihm selbst lange nicht.
Wer ihn darauf ansprach, der wurde schon mal
brüsk als unwissend, auf Gerüchte hereinfallend
oder noch drastischer abgebügelt.
Nun ja, in der Sommerpause 2019 vor dem
Belgien-GP wurde der Wechsel dann offiziell.
Doch noch schien das nicht das Ende der
Hülkenberg-Karriere. Da waren ja schließlich
noch das Haas-Team und dessen Chef Günther
Steiner. Der hatte immer wieder sein Interesse
an dem Deutschen bekundet und durchklingen
lassen, dass er eigentlich keine Lust mehr auf
eine weitere Zusammenarbeit mit dem zwar
manchmal sehr schnellen, aber auch inkonstanten
und öfters selbstmitleidigen und aufbrausenden
Franzosen Romain Grosjean habe.
Umso größer dann die Überraschung, als sich
Steiner doch, noch vor Singapur im September,
für Grosjean entschied und im Nachhinein
überall herumerzählte, man habe zwar verhandelt,
aber es habe kein konkretes Angebot an
Hülkenberg gegeben und man habe sich angesichts
der massiven technischen Probleme des
Teams doch lieber für die bekannte Größe Grosjean
entschieden. Diese Erklärung nahm dem
sonst so direkten und geradlinigen Südtiroler
keiner im Fahrerlager wirklich ab. Hülkenberg
sagte ja selbst auch deutlich: „Natürlich hatte
ich ein Angebot!“ Warum er es dann nicht annahm?
Das „Gesamtpaket“ habe nicht gepasst,
wie das so schön heißt, man sei einfach nicht
zusammengekommen. Bedeutete wohl: Der
32-Jährige wollte zu viel Geld – was unter der
Hand massiv die Runde machte, auch wenn
Hülkenberg selbst das dementierte. Auch die
Vertragslaufzeit sei ein Streitpunkt gewesen.
Ob er da noch auf seinen alten Kumpel, Alfa-
Romeo-Teamchef Frédéric Vasseur, hoffte?
Der war 2009 sein Teamchef bei ART, als
Hülkenberg den GP2-Titel holte. Ende 2016
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lotste ihn Vasseur von Force India, wo er beim
für seine nicht besonders gute Zahlungsmoral
bekannten Teamchef Vijay Mallya immer
wieder seinem Geld hinterher laufen musste,
zu Renault, wo Hülkenberg drei Jahre richtig
gut verdiente. Vasseur hält immer noch große
Stücke auf seinen Champion von damals, doch
Hülkenberg hätte eigentlich klar sein müssen,
dass das allein wohl nicht reichen würde.
Denn Vasseur waren von Anfang an die Hände
gebunden: Der politische Druck von Ferrari
auf das Kundenteam Alfa war so groß, dass
er den Ferrari-Junior Antonio Giovinazzi als
Teamkollegen von Altmeister Kimi Räikkönen
behalten musste, obwohl der Italiener die ganze
Saison über nicht besonders geglänzt hatte,
durch wenig Konstanz in den Rennen besonders
aufgefallen war und durch überflüssige
Fehler wichtige Punkte weggeworfen hatte.
Zu hoch gepokert also? Und dadurch eine einst
so vielversprechende Karriere in den Sand
gesetzt? Schon früher, als der Sprung in ein
Top-Team nie gelang, entstand ja der Eindruck,
Hülkenberg werde, nach mehreren Management-Wechseln
nicht immer gut beraten, von
seiner Umgebung in der Tendenz, sich doch
bisweilen selbst zu überschätzen, noch bestärkt.
Oder ist er doch vor allem Opfer der Umstände
geworden, die Geld und Politik höher werten
als fahrerische Leistung, wie etwa Sergio Pérez,
Ex-Teamkollege bei Force India, glaubt? Oder
ist er einfach doch nicht so gut, um zu den ganz
Großen in der Formel 1 zu gehören? Das jedenfalls
meinte Jacques Villeneuve, der Weltmeister
von 1997, um dann noch in seiner typisch
provokanten Art hinterher zu schieben: Angesichts
seiner Leistungen habe sich Hülkenberg
doch ziemlich lange in der Formel 1 gehalten.
Die Wahrheit enthält wohl ein bisschen von
allem. Dazu gesellte sich ein langsam einsetzender
Prozess von Umdenken, von Neuorientierung,
weg von der absoluten Fixierung auf
die Formel 1 um jeden Preis, für weniger Geld,
mit Chancen maximal auf Mittelfeldplätze.
Der Nico Hülkenberg der letzten Rennen der
Saison 2019 schien innerlich tatsächlich auf
dem Weg, sich selbst davon zu überzeugen, die
Formel 1, vielleicht sogar den Rennsport insgesamt,
zu seinem Glück nicht mehr unbedingt
zu brauchen. Ohne sich dabei hundertprozen-
Der Nico Hülkenberg der letzten Rennen der Saison
2019 schien innerlich tatsächlich auf dem Weg,
sich selbst davon zu überzeugen, die Formel 1 zu
seinem Glück nicht mehr unbedingt zu brauchen.
tig darüber im Klaren zu sein, wie es mit ihm
weitergehen solle.
Auf die Frage, welche Wege ihm künftig noch
offenstünden, spottete er gerne mit Galgenhumor:
„Zur Auswahl stehen jetzt Pizzabäcker, Friseur,
Zahnarzt, Schönheits-Chirurg oder Frauenarzt.“
Ganz so schlimm sei es natürlich nicht: „Es ist
nichts unterzeichnet, und das wird sich in absehbarer
Zukunft auch nicht ändern. Ich habe aber
Anrufe von verschiedenen Rennställen erhalten,
aus ganz unterschiedlichen Serien, aber konkret
tut sich derzeit gar nichts.“ Trotzdem sei er eigentlich
ganz entspannt. „Ich werde mich in Ruhe
hinsetzen und entscheiden, was aus mir werden
soll. Ich fühle mich nicht unter Druck, und ich
werde ganz sicher nichts überstürzt unterschreiben,
nur um irgendwo fahren zu
können.“ Ist vielleicht auch
eine echte Auszeit denkbar
– zumindest für ein Jahr?
„Ein Sabbatical? Ich weiß
nicht. Ein Jahrzehnt Formel 1,
das ist sehr intensiv, da lebst du
in einem hohen Rhythmus. Ich
muss vielleicht zunächst mal
herausfinden, in welche Richtung
mein Leben gehen soll.“
Von einem offiziellen Rücktritt
will er trotz allem nichts wissen:
„Ich bin für alle Gelegenheiten
offen.“
ÜBERFLIEGER
IM ZWEITEN ANLAUF
Primož Roglič tauschte vor einigen Jahren die Skisprung-Bretter gegen den Drahtesel.
Seitdem steigt sein Stern unaufhaltsam. Das Porträt eines Ausnahmeathleten,
eines Champions auf dem zweiten Bildungsweg.
JAN ZESEWITZ
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Eigentlich sollte jetzt im Winter die
große Zeit des Primož Roglič sein.
Die Zeit, in der Berichte über seine
Flugkünste in Diensten des slowenischen
Skisprung-Teams hervorgehoben werden.
Stattdessen feierte er seinen bisher größten
sportlichen Erfolg im September in Spanien.
Während seine ehemaligen Kollegen noch auf
grünen Matten die Hänge hinuntersprangen,
fuhr er sie hinauf. Auf dem Fahrrad. Schneller
als alle anderen.
Roglič gewann die Spanien-Rundfahrt und damit
als erster Slowene überhaupt eine dreiwöchige
Rundfahrt. Der Erfolg kam nicht überraschend,
wenn man sich das Jahr 2019 ansieht.
Blickt man jedoch mehrere Jahre zurück, in die
Zeit, in der sich normalerweise große Karrieren
entwickeln, grenzt er an eine Sensation.
Wer im slowenischen Dörfchen Kisovec geboren
wird, wird Skispringer. So lautet die Regel und
der kleine Primož hielt sich daran. Bereits mit
acht Jahren startete er erste Versuche. Er war
schnell gut darin – eine Eigenschaft, die ihn auch
später auszeichnen sollte. Bei der Junioren-WM
2006 gewinnt er mit dem Team Silber, im Jahr
darauf Gold. Im zweitklassigen Continental-Cup
springt er vorne mit. Alles deutet auf eine
Karriere im Winter hin, Fahrrad gefahren ist der
17-Jährige bis dahin nur in seiner Freizeit.
Das beginnt sich 2007 sehr langsam zu ändern.
Ein Sturz auf der Skiflugschanze in Planica wirft
ihn zurück. Der Slowene beschreibt die Folgen
dieses Ereignisses allerdings weit weniger folgenreich.
„Nach meinem Sturz habe ich zwar weiter
trainiert. Aber ich wurde nicht mehr besser,
während viele um mich herum, denen ich vorher
überlegen war, nun weiter flogen als ich“, erzählte
er vor einigen Jahren in einem Interview.
Generell ist Roglič keiner, der große Worte
verliert. In Interviews hält er sich bedeckt,
antwortet oberflächlich und sehr ruhig. Selten
sieht man eine emotionale Regung von ihm,
kaum einmal hebt er seine Stimme. Sein
Wer im slowenischen
Dörfchen Kisovec geboren
wird, wird Skispringer. So
lautet die Regel und der
kleine Primož hielt sich daran.
auffälligstes Merkmal ist das riesige Kreuz,
das auf seinen rechten Unterarm tätowiert
ist. Sichtbar erst, seit er auf dem Rad meist
schneller als alle anderen ist.
Nachdem er feststellen musste, dass er nicht
der beste Skispringer aller Zeiten werden
würde, sattelte er um und wandte sich dem
Radsport zu. Er wechselte nicht von einem
Tag auf den anderen den Beruf, hängte aber
mit 20 Jahren im Jahr 2011 die Latten endgültig
an den Nagel.
Bei den ersten Wettkämpfen auf der Straße
lieh er sich ein Rad vom Nachbarn, das allerdings
von einem Rennrad weit entfernt war.
Irgendwann konnte er beim Fortbewegungsmittel
aufrüsten und bekam 2013 einen ersten
Profivertrag beim slowenischen Team Adria
Mobil. „Primož hat einfach den falschen Sport
gewählt“, sagte der Betreiber des Rennstalls,
Bogdan Fink, einmal über den Umweg über
die Schanze seines ehemaligen Schützlings.
Der Beginn einer Erfolgsgeschichte – mit 23
Jahren. Erfolg auf dem zweiten Bildungsweg.
Dass Roglič sechs Jahre später Sieger einer
mentalität
– 99 –
den Spätsommer seiner Karriere, als Roglič
noch Skier an den Füßen hatte. In Slowenien
wird insbesondere er nun wie ein Volksheld
verehrt. Er musste sich bereits selbstgemalte
Skizzen des slowenischen Ministerpräsidenten
als Geschenk überreichen lassen.
Nach der Vuelta gewinnt er noch zwei Ein-
Statt die Berge hinabzufliegen, fliegt Roglič sie nun auf höchstem Niveau hinauf. Giro 2016 und
Tour de France 2017 zeigen, dass er das Zeug zum Spitzenfahrer hat.
dreiwöchigen Landesrundfahrt sein würde,
kann zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen.
Und wie es im Radsport eben immer ist bei
unglaublichen Erfolgsgeschichten, wird die
Sauberkeit des Athleten in Frage gestellt. Der
Vuelta-Sieger ist keine Ausnahme.
Seit Bekanntwerden der „Operation Aderlass“
im Mai 2019 ist auch der slowenische Ausdauersport
in Verruf geraten. Slowenische Betreuer
hatten Kontakt zum Dopingarzt Mark Schmidt
in Erfurt, slowenische Radprofis wurden
gesperrt. Da Roglič zur Tatzeit bei einem Team
aus seinem Heimatland aktiv war, muss auch er
sich unbequeme Fragen gefallen lassen. Doch
Kontakte zwischen ihm und den Verdächtigen
verlaufen recht glaubwürdig im Sand.
Inzwischen fährt er für das niederländische
Team Jumbo-Visma. Doch auch dort reibt man
sich verwundert die Augen. „Das sind keine
normalen Schritte, das sind riesige Schritte“,
sagte Stef Clement, bis zum Vorjahr Teamkollege
des Slowenen und danach im Betreuerstab
tätig: „Ich denke schon, dass wenn dieser
Junge bei UAE, Katusha oder Astana fahren
würde, dass wir hier in den Niederlanden
andere Gedanken hätten.“ Die drei genannten
Teams haben in der Radsportszene nicht unbedingt
den besten Leumund.
Unterm Strich bleibt von diesen Aussagen wenig
Handfestes: Es bestehen keine konkreten Verdachtsmomente
gegen den Slowenen. Mit seinen
spektakulären Erfolgen trägt Roglič in jedem Fall
dazu bei, dass einige hinter seinem Rücken die
Nase rümpfen. Das könnte allerdings auch daran
liegen, dass die Konkurrenz meist nur seine
Rückansicht zu sehen bekommt.
Statt die Berge hinabzufliegen, fliegt Roglič
sie nun auf höchstem Niveau hinauf. Davon
durfte sich ein breiteres Publikum bei seinem
Sieg im Zeitfahren des Giro 2016 ein Bild
machen und auch im Jahr darauf, als er als
Ausreißer eine Etappe der Tour de France
über den legendären Col du Galibier gewann.
Diese zwei Ereignisse zeigen, dass er das Zeug
zum Spitzenfahrer hat.
Davon konnte sich bereits zu Beginn seiner
Radsportkarriere der slowenische Sportwissenschaftler
Radoje Milić überzeugen. Er stellte bei
einer Untersuchung des damals 22-Jährigen
bemerkenswerte Anlagen fest: eine Sauerstoffaufnahme-Kapazität
von 80 Milliliter pro Minute
und Kilogramm Körpergewicht. Übersetzt:
Er befand sich damit auf dem gleichen Niveau
wie der viermalige Tour-Sieger Chris Froome
zu Beginn seiner Karriere. „Bereite dich darauf
vor, in der Spitzengruppe bei der Pro Tour
mitzufahren!“, sagte er Roglič.
Bereits wenige Jahre später liefert sich der Slowene
2018 mit ebenjenem Froome ein Kopfan-Kopf-Rennen
um den letzten Podestplatz
bei der Tour – und scheitert am Ende knapp.
Trotz eines waghalsigen Angriffs auf der
letzten Pyrenäen-Etappe – in einer Abfahrt.
Gelernt ist eben gelernt.
Ohnehin behaupten einige, dass ihm das
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Skispringen geholfen habe, ein
großartiger Radsportler zu werden.
Trotz der offensichtlichen Gegensätze. „Rogla“
betrieb als Skispringer auch Krafttraining, diese
explosiven Muskelfasern kommen ihm nun in
steilen Anstiegen zugute. „Es ist schön, wenn du
schneller fahren kannst, wenn du ein bisschen
weniger leidest. Aber es ist nie genug. Es ist nie
schnell genug. Du willst immer besser werden“,
sagte er Ende 2019 in einem Interview. Den
Umstieg hat er nie bereut. Warum auch?
2019, in seinem vierten Jahr auf World-
Tour-Niveau, kommt der endgültige Durchbruch.
Er gewinnt im Frühjahr die Tour durch
die Vereinigten Arabischen Emirate, dann
Tirreno-Adriatico und die Tour de Romandie in
der Schweiz. Drei einwöchige Rundfahrten, drei
Siege und es ist noch nicht mal Mai. Als Favorit
tritt er beim Giro an, gewinnt zwei Zeitfahren
und sieht erneut wie der Dominator aus – und
wird Dritter. Das liegt am Pech und an seiner
Rivalität mit Vincenzo Nibali, durch die beide
den Kolumbianer Richard Carapaz übersehen.
Ein Platz auf dem Podium bei einer Grand Tour
als Rückschlag, das fasst das Jahr des Primož
Roglič gut zusammen.
Und diese Saison ist noch lange nicht zu
Ende. Nach drei Monaten Rennpause geht
es zur Vuelta a España. Diesmal passt
alles zusammen. Er gewinnt das Zeitfahren
und lässt in den Bergen gegen den
alten Hasen Alejandro Valverde nichts
anbrennen. Der Spanier erreichte schon
tagesrennen in Italien derart dominant, dass
der Konkurrenz vor dem Jahr 2020 bereits
bange werden kann. Der 30-Jährige träumt
natürlich vom Tour-Erfolg und wird eine
zentrale Rolle bei dem Kampf zweier Teams
um die Vorherrschaft am Radsporthimmel
einnehmen. In der einen Ecke steht das Team
Ineos, das ein Abo auf Siege bei der Tour de
France hat. Mit Froome, Geraint Thomas und
dem amtierenden Tour-Sieger Egan Bernal
steht ein dreiköpfiges Monster bereit, das
noch durch Giro-Sieger Carapaz und den
Zeitfahrweltmeister Rohan Dennis verstärkt
wurde. Auf der anderen Seite: das Jumbo-
Roglič träumt vom Tour-Erfolg
und wird eine zentrale Rolle
bei dem Kampf zweier Teams
um die Vorherrschaft am
Radsporthimmel einnehmen.
Visma-Team von Roglič. Neben ihm steht der
Niederländer Steven Kruijswijk bereit, in diesem
Jahr immerhin Tour-Dritter. Außerdem
verstärkte sich das Team mit Tom Dumoulin.
Giro-Sieger, Tour-Zweiter 2018, Zeitfahrweltmeister.
All diese Häuptlinge müssen sich die
Radsportsaison nun irgendwie aufteilen.
Roglič allerdings hat gute Argumente auf
seiner Seite. Und daher ist anzunehmen, dass
er auch 2020 auf der größten Bühne jubeln
wird. Natürlich mit seinem Markenzeichen,
dem Telemark auf dem Podest.
DAS STREBEN NACH GLÜCK
Darko Miličić galt in NBA-Kreisen als einer der größten Flops aller Zeiten, sein Leben wurde von Wut,
Enttäuschungen und Depressionen geprägt. Über mehr als einen Umweg scheint der frühere Nr.2-Pick
später aber einen Sinn gefunden zu haben.
OLE FRERKS
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Da war er auf einmal wieder. Sieben
Jahre lang hatte man Darko Miličić
nicht mehr auf einem Basketball-Court
gesehen, in der Zwischenzeit nur
Geschichten über ihn gehört, die kurioser und
abwegiger kaum hätten sein können. Doch
im Oktober 2019 war der serbische Man of
Mystery auf einmal wieder im Einsatz, spielte
das Spiel, das ihn vor etwas mehr als 16
Jahren weltberühmt gemacht hatte. 2 Punkte
erzielte er beim Sieg seines Klubs KK I Came
to Play gegen Futog, bevor sein Auftritt wieder
beendet war, weil die Schulter Ärger machte.
Im Gegensatz zu früheren Zeiten hielt sich die
Enttäuschung darüber aber in Grenzen; bei
dem gemeinnützigen serbischen Viertligaverein
aus Novi Sad erwartete niemand Höchstleistungen
vom nun 34-Jährigen. Er sollte dort
ein Vorbild für jüngere Generationen sein,
junge Spieler anleiten, ihnen einen Weg weisen.
Ausgerechnet Darko.
Es wirkt auf den ersten Blick gar nicht so
besonders, wenn man feststellt, dass aus
Miličićs Draft-Jahrgang nur noch drei Spieler
in der NBA aktiv sind. Fügt man jedoch hinzu,
dass diese drei Spieler auf die Namen Kyle
Korver, Carmelo Anthony und LeBron James
hören und Miličić damals zwischen letzteren
beiden an Position 2 gepickt wurde, verschiebt
sich der Eindruck; 2003 brachte allein in
seiner Top 5 einen Anwärter auf den Titel des
Größten aller Zeiten und drei weitere sichere
Hall-of-Famer hervor (Anthony, Chris Bosh,
Dwyane Wade), gilt als einer der besten Jahrgänge
der NBA-Geschichte. Und brachte eben
auch Darko. Einen Jungen aus Novi Sad, der
auf eine ganz andere Art und Weise ebenfalls
in die Geschichte eingehen sollte.
Eine kurze Zeitreise ins Jahr 2003. Die NBA
war damals überwiegend stilistisch noch im
Eins-gegen-eins-Basketball aus den 1990ern
gefangen. Defensiv ausgerichtete Teams wie
die San Antonio Spurs oder auch die Detroit
Pistons bestimmten das Geschehen, während
sich die Ära von Shaquille O’Neal und Kobe
Bryant bei den Los Angeles Lakers langsam
2003 brachte allein in seiner
Top 5 einen Anwärter auf den
Titel des Größten aller Zeiten
und drei weitere sichere Hallof-Famer
hervor, gilt als einer
der besten Jahrgänge der
NBA-Geschichte. Und brachte
eben auch Darko.
dem Ende zuneigte. Neuerungen gab es
allerdings auch, und das war unter anderem
dem Einfluss aus Europa zuzuschreiben. Die
Spurs überließen die Zügel ihrer Offense nach
und nach einem Franzosen namens Tony
Parker, bei den Sacramento Kings begeisterten
Oldie Vlade Divac und Peja Stojaković
mit Spielintelligenz und Finesse. Und bei den
Dallas Mavericks etablierte sich ein gewisser
Dirk Nowitzki zunehmend als offensive Macht
und als Revolutionär, ermöglichte sein Wurf
als Big Man den Mavs doch eine ganz neue,
begeisternde Art zu spielen.
Die Mavs hatten noch 1998 viel Häme kassiert,
als sie sich im Draft für Nowitzki und
beispielsweise gegen den amerikanischen
College-Star Paul Pierce entschieden, der
noch zu haben gewesen wäre. Je mehr sich
Dirk jedoch etablierte und je mehr Teams sich
ärgerten, dass sie sich dieses Talent hatten
entgehen lassen, desto mehr wurde der Markt
überkorrigiert – auf einmal waren Euros der
letzte Schrei. Der nächste Tony, der nächste
Peja, allen voran der nächste Dirk. Und wer
groß war, werfen konnte und aus Europa kam,
hatte auf einen Schlag ziemlich gute Karten,
es in die NBA zu schaffen. „Jeder große, weiße
Shooter, der rüberkommt, wird früher oder
später mit mir verglichen“, sagte Nowitzki
2006 mal bei ESPN. So faul – und falsch –
dieser Vergleich zumeist auch war.
Das galt ganz besonders bei Miličić, von dem
unter anderem zu lesen war, er sei „wie Dirk
mit guter Defense“; anderswo wurde er mit
Kevin Garnett verglichen. Dabei hatte er
– 102 – mentalität
mentalität – 103 –
keinen sonderlich guten Wurf (Miličić nahm in
468 NBA-Spielen sechs Dreier und traf keinen)
und hatte bei weitem nicht den Motor eines KG,
wie sich schnell herausstellen sollte. Später gab
Miličić mal zu, dass er KG selbst immer als Idol
genannt hatte, weil er dachte, dass die Leute
dies wahrscheinlich von ihm hören wollten.
In Europa hatte der damals 18-Jährige einige
Galavorstellungen gezeigt, durchaus auch gegen
gute Konkurrenz, sein Weg war jedoch bei weitem
nicht mit dem von etwa Luka Dončić später
zu vergleichen – bei Hemofarm Vršac wurde
er weder in jedem Spiel viel eingesetzt noch
wurde er, nach heutigen Standards, professionell
gescoutet. „Bei Darko hatten wir zwei Quellen an
Information. Wir haben vielleicht mit ein paar
Leuten in Europa über ihn gesprochen. Das war
alles“, sagte Joe Dumars, der langjährige General
Manager der Detroit Pistons, Jahre später über
die geschichtsträchtige Draft-Entscheidung.
Darkos Hype machte ihn zum Nr.2-Pick vor
beispielsweise Melo, der als amtierender College-Champion
in die Liga kam. Die Pistons
rechtfertigten die Wahl von Anfang an mit
der Tatsache, dass sie bereits einen Top-Kader
hatten und ein Talent daher in Ruhe
entwickeln konnten, dass sie Miličić
Zeit geben wollten. Detroit
hatte den Pick aus einem
alten Trade mit den Vancouver
Grizzlies bekommen
und konnte es sich quasi
leisten, auf Potenzial anstelle
sofortiger Hilfe zu
gehen, so das Credo.
Es war von Anfang
an ein Desaster. Die
Pistons hatten ein
Projekt gedraftet, hatten
aber nicht die
Infrastruktur, um
dieses zu entwickeln,
Head Coach Larry
Brown hatte mit
jungen Spielern traditionell
nicht die größte
Miličić hatte sich Basketball
nicht ausgesucht, es war nicht
seine Liebe – es war etwas,
worin er früh großes Talent
gezeigt hatte und womit er
Geld verdienen konnte, sehr
viel sogar.
Geduld. Miličić erlebte auf und neben dem Court
einen heftigen Kulturschock und fand nie einen
Weg in die Rotation eines Teams, das dabei war,
sich auf einen Titel-Run vorzubereiten. Tatsächlich
gewannen die Pistons in Darkos Rookie-Jahr
die Meisterschaft, der Nr.2-Pick bekam in den
gesamten Playoffs allerdings nur ganze 14 Einsatzminuten
(1 Punkt) und wurde als „Menschliche
Siegeszigarre“ bekannt – und verhöhnt.
Nicht, dass er nicht selbst seinen Anteil an dieser
miesen Situation gehabt hätte. „Ich war das Problem“,
sagte Miličić 2017 in einem Gespräch
mit dem serbischen Medium
B92. „Ich würde heute vieles anders
machen. Ja, ich war in einem
Team, das einen Ring holen wollte,
was einem Nr.2-Pick selten passiert,
aber am Ende suchen wir alle nach
Entschuldigungen. (…) Als Nr.2-Pick
aus Europa dachte ich, ich sei
ein Geschenk Gottes, also
prügelte ich mich, betrank
mich vor Trainingseinheiten
und legte mich mit jedem
an, aber eigentlich legte ich
mich mit mir selbst an.“
Diese Form von Selbstreflexion
ließ Miličić ab
einem gewissen Punkt
öfter durchblicken, seine
NBA-Karriere war
da allerdings bereits
vorbei, obwohl er
sich immerhin
neun Jahre lang
in der Liga hielt.
Nach zweieinhalb
Jahren
ging es von Detroit nach Orlando weiter, es
folgten weitere Stopps in Memphis, New York,
Minnesota und am Ende in Boston. Immer mal
wieder blitzte sein Talent kurzzeitig auf und verschaffte
ihm neue Chancen (und rund 53 Millionen
Dollar an Gehältern), Konstanz bekam
er jedoch nie in sein Spiel und Disziplin blieb
bis zum Ende ein massives Problem, sowohl in
der NBA als auch in der Nationalmannschaft
Serbiens. Im November 2012 wurde er von
den Celtics nach genau einem Spiel entlassen,
worum er aus „persönlichen Gründen“ gebeten
hatte, und so war seine Laufbahn im Alter von
nur 27 Jahren schon wieder beendet.
Darko ging als einer der größten Draft-Busts
überhaupt in die Geschichte ein, seine eigene
Geschichte war da aber noch nicht zu Ende
erzählt – noch lange nicht. Schon in NBA-Zeiten
hatte er immer mal wieder zweideutige
Sprüche zum Besten gegeben, die entweder
auf mentale Probleme oder einen ziemlich
düsteren Humor hindeuten ließen. Später gab
er unumwunden zu, dass er unter Depressionen
gelitten, Alkohol missbraucht und, vor
allem in seiner größten Krisenzeit in Memphis,
regelmäßig nach Einsätzen (oder Nicht-Einsätzen)
Löcher in die Wand geboxt hatte. „Ich war
so verloren“, sagte Miličić 2017 zu ESPN. „Ich
habe Basketball irgendwann wirklich gehasst,
verstehen Sie? Ich wollte nur noch nach Hause
kommen und ein anderes Leben führen.“
Miličić hatte sich Basketball nicht ausgesucht,
es war nicht seine Liebe – es war etwas, worin
er früh großes Talent gezeigt hatte und womit
er Geld verdienen konnte, sehr viel sogar. Das
NBA-Leben lag ihm aber nie, die USA ohnehin
nicht. Die Suche nach dem Sinn, dem eigenen
Traum begann für Miličić erst, nachdem er den
von etlichen anderen gelebt hatte und nicht
mehr aushielt.
Diese Suche nahm mehr als einmal kuriose
Formen an. Miličić begann eine Karriere als
professioneller Kickboxer, die er nach einem
Kampf (einer Niederlage) auf Bitten seiner
Familie wieder beendete. Er nahm 2013 an der
Weltmeisterschaft im Karpfenfischen teil. Er
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feierte, teils ziemlich wild und ohne Shirt (ein
Bild davon ging um die Welt und löste Kontroversen
aus, weil auf seinem entblößten Bauch
ein Tattoo zweier angeblicher Chetnik-Kriegsverbrecher
aus dem Zweiten Weltkrieg
prangte), nahm zu und wuchs auf teilweise
weit über 140 Kilo an. Das ein ums andere Mal
befasste er sich auch mit einem Comeback im
Basketball, allerdings in Europa. Im Mai 2015
einigte er sich sogar mal kurzzeitig mit Metalac
Farmakom in der serbischen Liga, trat jedoch
von dem Engagement zurück, bevor er ein
Spiel absolvieren konnte.
Seine Erfüllung fand er auch noch, und diese
hatte letztlich nichts mit Sport zu tun – Miličić
investierte Teile seines NBA-Gehalts in
Land und wurde Farmer, im großen Stil. Mit
dem Anbau und Vertrieb von Äpfeln wurde er
erfolgreich, exportierte sie unter anderem nach
Russland und Dubai. Seine größte Leidenschaft
„Als Nr.2-Pick aus Europa
dachte ich, ich sei ein
Geschenk Gottes, also prügelte
ich mich, betrank mich vor
Trainingseinheiten und legte
mich mit jedem an, aber
eigentlich legte ich mich mit
mir selbst an.“ Darko Miličić
wiederum waren Kirschen, auch diesen Markt
wollte er sich erschließen. Diese zweite oder
vielleicht auch eher dritte Karriere verfolgte er
mit größerem Ehrgeiz, als er in der NBA je dauerhaft
an den Tag legen konnte – weil er endlich
seinen eigenen Weg beschreiten konnte.
Das hat ihn auch seinen Frieden mit Basketball
finden lassen. „Er hat ein großes Herz. Er ist jetzt
eine erwachsene Person, ein Familienmensch,
und jemand, der etwas zurückgeben will und Teil
von etwas sein will, das größer ist als wir alle,
in der Zusammenarbeit mit künftigen Generationen“,
sagte Mihajlo Delić, der Gründer von I
Came to Play, zu SOCRATES. Miličić trainiert
dort mit, engagiert sich dadurch vor allem auch
in der Gemeinde von Novi Sad. Basketball ist
jedoch nicht mehr sein wichtigster Lebensinhalt,
auch wenn Delić schwört, er sei noch immer eine
„Naturgewalt“. Die Arbeit gegen Korruption im
serbischen Jugendbasketball und die Förderung
sozial schwächer gestellter Kinder sind die
Missionen des Vereins, der auch von anderen
Ex-Stars wie Vlade Divac oder Rašo Nesterovič
unterstützt wird.
Miličić gilt in NBA-Kreisen als Bust, als
Versager. Die Geschichte seines (noch immer
jungen) Lebens kann man jedoch auch völlig
anders sehen; er hat vielleicht einfach nur
nicht den Erfolg gefunden, den andere für ihn
vorgesehen hatten.
Der Centre Court reicht oft nicht aus, um die unzähligen Geschichten des Sports zu erzählen. In Also Starring
dokumentieren wir weitere Momente, die unsere Sportgeschichte und unsere Centre-Court-Themen berührt haben.
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DIE PERFEKTIONISTIN
Mit nur 14 Jahren gelang Nadia Comăneci 1976 bei den Olympischen
Spielen in Montreal eine mentale Meisterleistung. Zum ersten Mal in der
Geschichte erturnte eine Sportlerin bei Olympischen Spielen die perfekte
Note Zehn. Der Rumänin gelang dies in Montreal gleich siebenmal. Zur
Belohnung gab es drei Goldmedaillen.
IMMER BEREIT ZU GEWINNEN
Peyton Manning galt lange Zeit als der vielleicht beste
Quarterback der NFL, allerdings war er keineswegs der
erfolgreichste. Manning brauchte acht Jahre, bis er 2006 mit
den Indianapolis Colts seinen ersten Super Bowl erreichte
und auch gewann. Zuvor hatte er zwar schon den Touchdown-
Rekord von Miami-Dolphins-Legende Dan Marino gebrochen,
doch kreidete man ihm immer die fehlende Nervenstärke in
den Playoffs an. 2016 holte er im letzten Jahr seiner Karriere
und bereits weit über seinen Zenit hinaus als Außenseiter mit
den Denver Broncos erneut den Titel.
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EIN LEBEN FÜR DAS STREBEN NACH GLEICHBERECHTIGUNG
Noch heute gilt Billie Jean King, die trotz zwölf Erfolgen bei Grand-Slam-
Turnieren nie die Nummer eins der Welt wurde, als Vorreiterin im Kampf um
Gleichberechtigung im Profi-Sport. Bei den US Open erstritt sie weit vor den
derzeitigen Forderungen die Angleichung des Preisgelds für Frauen und Männer.
Auch heute noch setzt sich die inzwischen 76-Jährige für die Rechte der Frauen
im Profi-Sport ein.
MR. TRIANGLE OFFENSE
Phil Jackson muss verrückt gewesen sein. Mit Scottie Pippen und Michael
Jordan hatte der Trainer der Chicago Bulls zwei Superstars im Kader, denen
er beibringen musste, den Ball zu teilen. Seine Lösung, die mittlerweile
berüchtigte Triangle-Offense, war nicht einfach zu lernen und wurde anfangs
belächelt, vor allem weil die Bulls drei Jahre in Serie gegen die Detroit Pistons
in den Playoffs ausschieden. Jackson passte sein System an – der Rest ist mit
sechs Meisterschaften zwischen 1991 und 1998 Geschichte.
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KÖNIG OTTO
In Bremen als König Otto bekannt, griff Otto Rehhagel 2004, sechs Jahre nach
seiner unglaublichen Meisterschaft mit Aufsteiger Kaiserslautern, noch mal
tief in die Trickkiste und führte Griechenland bei der Europameisterschaft zum
Titel. Es ist vielleicht die größte Überraschung in der Geschichte von Welt- und
Europameisterschaften, zumal das griechische Nationalteam im Anschluss
bereits an der Qualifikation zur WM 2006 scheiterte. Den Griechen ist das egal,
dort ist er bis heute ein Volksheld.
„ DAS WAR NUR NOCH EIN
ÜBERLEBENSKAMPF“
Der Düsseldorfer Philip Gogulla hat fast seine ganze Karriere im Rheinland verbracht.
Im Sommer wechselte der amtierende DEL-Stürmer des Jahres nach München,
um seinen großen Eishockey-Traum zu verwirklichen: den Gewinn der Deutschen Meisterschaft.
Im Interview spricht er über besondere Tore, „komplett veränderte“ Zeiten und Uli Hoeneß.
CHRISTIAN BERNHARD
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Herr Gogulla, wie lebt es sich als
Rheinländer in Bayern?
Sehr gut, gar keine Frage. Die Lebensqualität
ist hier wirklich sehr hoch. Im Rheinland ist sie
auch nicht so verkehrt, zu Hause bleibt zu Hause.
Aber München ist wirklich sehr toll. Du hast
die Seen, die Berge und die Isar, die im Vergleich
zum Rhein schon noch einmal eine andere
Hausnummer ist.
Sie haben als gebürtiger Düsseldorfer 13
Jahre lang für Köln gespielt und dabei
die letzten vier Jahre in Köln gelebt. Wie
„überlebt“ man das?
Am Anfang war es schon ein Thema, da
haben mich gerade die Freunde auf den Arm
genommen.
Düsseldorf und Köln verbindet
eine besondere Rivalität, Stichwort:
verbotene Stadt…
Das hat sich über die Jahrzehnte hochgeschaukelt.
Beide Städte liegen ja ganz eng beieinander
und in den 1990er Jahren standen beide regelmäßig
im Finale. Im Sport ist die Rivalität deshalb
besonders groß. Für beide Vereine ist es extrem
wichtig, die Derbys zu gewinnen.
Für die Münchener Eishockey-Fans gibt es
auch eine verbotene Stadt.
Augsburg? Klar, das habe ich schon mitbekom-
men. Mir war schon vor dem ersten Spieltag klar,
um wie viel es in diesem Derby geht.
Sie haben in Ihrer Karriere schon einiges
erreicht, eine Sache fehlt Ihnen aber trotz
dreier Final-Teilnahmen noch: die Deutsche
Meisterschaft. Auf einer Skala von
eins bis zehn: Wie groß ist Ihre Sehnsucht
danach?
Zehn. Ich weiß, dass viele denken, bei meiner
Unterschrift in München sei es nur ums Finanzielle
gegangen. Dem war aber nicht so. Mir geht es
darum, Deutscher Meister zu werden und da sah
ich die Möglichkeiten in München besser.
Münchens Ex-Kapitän Michael Wolf, der
im April seine Karriere beendet hat, hatte
eine ähnliche Idee, als er nach vielen Jahren
in Iserlohn zum EHC wechselte und
dort seinen Meister-Traum verwirklichte.
Zu Michi Wolf möchte ich etwas sagen.
Bitte schön.
„Ich weiß, dass viele denken,
bei meiner Unterschrift in
München sei es nur ums Finanzielle
gegangen. Dem war aber
nicht so. Mir geht es darum,
Deutscher Meister zu werden.“
Mir wurde von außen oft zugetragen, ich sei ja
für ihn geholt worden. Ich halte das für Quatsch.
Wolf hat eine unglaubliche Karriere hingelegt,
ich möchte mich gar nicht mit ihm vergleichen.
Ich finde, das gehört sich nicht, das hat mit Respekt
zu tun.
Haben Sie sich Meister-Tipps bei
ihm geholt?
Ich kenne Wolfi schon seit Ewigkeiten, habe lange
mit ihm in der Nationalmannschaft in einer
Angriffsreihe zusammengespielt. Er hat mir zu
diesem Schritt geraten. Aber er hat auch gesagt:
„Du musst Geduld haben, es wird seine Zeit brauchen.“
Die nehme ich mir auch. Ich möchte am
Ende des Jahres ganz oben stehen. Damit würde
ein Traum in Erfüllung gehen.
Ist Geduld auch wegen des speziellen
Münchener Spielsystems gefragt?
Absolut. Da sind Laufwege dabei, die ich jahrelang
anders gemacht habe. Man muss sich immer wieder
ermahnen und bewusst machen, was einem
dieses System abverlangt. Ich hoffe, dass ich es
spätestens in den Playoffs perfekt beherrsche –
hoffentlich auch schon sehr viel früher.
Typisch für Don Jacksons Spielweise ist,
dass sich die Verteidiger permanent in das
Offensivspiel mit einschalten.
Ich habe mich am Anfang gefragt: ‚Was macht
– 112 – tape tape – 113 –
der Verteidiger so weit vorne?‘ Aber das System
gibt es her. Die Abwehrspieler wissen, dass sie
mitgehen können oder sogar müssen. Ich habe
jahrelang dagegen gespielt, ich weiß, wie schwer
das ist. Jetzt selbst Teil davon zu sein, macht
riesigen Spaß, weil man immer wieder ins Rollen
kommt und Zeit in der Offensivzone bekommt.
Und: Umso mehr Spieler die Tore schießen, umso
besser ist es für die Mannschaft.
Viele Profis, die unter Trainer
Jackson spielen oder gespielt haben,
erzählen, er habe eine besondere Aura.
Wie erleben Sie ihn?
Don ist eine große Persönlichkeit, ich könnte ihn
stundenlang loben. Man muss sich nur seine Vita
angucken, die spricht für sich. Er schafft es, Jahr
für Jahr eine Mannschaft aufs Eis zustellen, die
um den Titel mitspielt. Das ist eine ganz besondere
Gabe. Als Mensch ist er sehr höflich, hört sich
die Meinung anderer an und diskutiert sie aus. Er
schreit dich nicht an, wie ich es auch schon oft in
meiner Karriere erlebt habe, sondern er erklärt
dir die Sachen ruhig und sachlich. Das ist meines
Erachtens nach genau der richtige Weg. Was er
sagt, hat Hand und Fuß.
Sie sind für Ihre Tore bekannt. In der vergangenen
Saison haben Sie für Düsseldorf
26 erzielt und wurden zum DEL-Stürmer
des Jahres gewählt. Sie sind aber nicht nur
der Mann der vielen Tore, sondern auch
der besonderen. Welches war bisher Ihr
speziellstes?
Ganz klar das im Viertelfinale 2008 gegen Mannheim,
im längsten DEL-Spiel der Geschichte. Wir
haben da drei komplette Spiele in einem gespielt.
So ein Spiel zu gewinnen und dabei auch noch
das entscheidende Tor zu erzielen, war ein ganz
besonderer Moment meiner Karriere.
Was sagt einem der Körper, wenn man
mehr als 169 Minuten auf dem Eis steht?
„Wolfi hat mir gesagt: ‚Du musst Geduld haben, es wird seine
Zeit brauchen.‘ Die nehme ich mir auch. Ich möchte am Ende
des Jahres ganz oben stehen.“
Das war natürlich so eine Sache. Gott sei Dank
war ich da noch Anfang 20. (lächelt) Das war nur
noch ein Überlebenskampf, jeder wollte irgendwie
dieses Tor machen. Schön, dass ich in der sechsten
Verlängerung dieses Glück hatte.
Vielen deutschen Eishockey-Fans ist auch
Ihr Treffer gegen die Schweiz bei der
Heim-WM 2010 in Erinnerung geblieben.
Das war auch ein spezieller Moment, ganz klar.
Dieses Tor, das uns ins Halbfinale katapultiert
hat, ist eine meiner tollsten Nationalmannschafts-Erinnerungen,
keine Frage.
In jener Saison haben Sie in Nord-
amerika gespielt, der Sprung in die NHL
glückte Ihnen aber nicht. Denken Sie
manchmal darüber nach, warum es nicht
geklappt hat?
Mit Sicherheit habe ich mal darüber nachgedacht,
keine Frage. Ich glaube, dass das Thema
Nordamerika für uns europäische Spieler generell
nicht so einfach ist. Rückblickend hätte
ich vielleicht ein Jahr länger bleiben können,
aber „was wäre, wenn“ ist im Nachhinein immer
leicht zu sagen. Ich würde niemals behaupten,
dass ich es auf jeden Fall in die NHL geschafft
hätte, wenn ich noch ein Jahr geblieben wäre.
Da spielen so viele Faktoren eine Rolle, du musst
auch Glück haben. Es soll keine Ausrede sein,
aber als ich drüben war, spielten die Buffalo Sabres
eine erfolgreiche Saison. Sie waren Zweite in
ihrer Division und hatten kaum Verletzte – warum
soll ein Cheftrainer da was ändern?
Mir Ihren 32 Jahren sind Sie mittlerweile
einer der erfahrenen Spieler, Sie bestreiten
bereits ihre 16. Profi-Saison. Hat sich
die Eishockey-Branche in diesen Jahren
gewandelt?
Wenn ich mir anschaue, wie es war, als ich jung
war und den Vergleich zu heute ziehe, muss ich
sagen: Die Zeiten haben sich komplett verändert.
Die Härte etwa, die ich als junger Spieler noch
mitbekommen habe…
Meinen Sie damit den Umgang innerhalb
der Kabine?
Allerdings, da ging es deutlich autoritärer zu.
Heutzutage musst du aufpassen, wie du die Leute
Fotocredit Getty Images, Imago
ansprichst, damit sie – übertrieben gesagt – nicht
direkt zusammenbrechen. Früher war es gang
und gäbe, dass du einen Anschiss bekommen
hast. Es hieß: Du machst jetzt das und wenn du
das nicht gemacht hast, gab es eins auf den Deckel.
Das hat sich im Laufe der Zeit gewandelt –
was nicht negativ ist.
Ihr erster Profitrainer war gleich ein
spezieller: Hans Zach.
Genau, ich war damals noch 16 Jahre jung.
Damals habe es an Kritik und „manch
langer Trainingseinheit“ nicht gemangelt,
erzählten Sie. Wie war diese Zeit?
Hans Zach hat junge Spieler gefördert, wenn
er etwas in ihnen gesehen hat. Bloß die Sache
war die: Wenn du dich zu sicher gefühlt hast,
war er schneller in deinem Nacken, als du dich
umdrehen konntest. Das war eine sehr harte
Zeit, speziell für uns junge Spieler. Wir durften
uns einige Geschichten anhören, es wurde
auch das ein oder andere Mal ein bisschen lauter.
(lacht) Das können sich die jungen Spieler
heute gar nicht mehr vorstellen, die Zeiten
haben sich echt brutal verändert. Ich habe
noch diese alte Schule mitgemacht, das tat mir
aber sehr, sehr gut.
Der Spitzname Alpenvulkan kam bei Zach
also nicht von ungefähr?
Nein, absolut nicht. Ich könnte Geschichten über
ihn erzählen, aber das würde den Rahmen sprengen.
Sagen wir es so: Das ein oder andere Meeting
war ein bisschen intensiver. (grinst)
Zu Beginn Ihrer Karriere galten Sie auch
als Heißsporn. Das kann man sich nur
noch schwer vorstellen, wenn man Sie
jetzt erlebt.
Ich bin in den letzten Jahren schon um einiges
ruhiger geworden. Gott sei Dank. Ich habe einfach
gemerkt, dass es nichts bringt, immer nur
volle Attacke zu fahren. Man muss sich auch
mal selbst hinterfragen: Das habe ich getan und
deshalb für mich entschieden, auf dem Eis etwas
ruhiger zu sein.
Was für Sachen haben Sie sich denn früher
geleistet?
Dumme Fouls, den Schiedsrichter angebrüllt,
Stockschläge – einfach blöde Strafen. Heute sage
ich mir: ‚Es bringt ja nichts, bleib ruhig.‘ Glücklicherweise
habe ich das jetzt einigermaßen drauf.
„Hans Zach hat junge Spieler
gefördert, wenn er etwas in
ihnen gesehen hat. Bloß die
Sache war die: Wenn du dich
zu sicher gefühlt hast, war er
schneller in deinem Nacken,
als du dich umdrehen
konntest.“
Schon vor Jahren haben Sie erzählt,
dass Uli Hoeneß für Sie eine beeindruckende
Persönlichkeit ist. Was fasziniert
Sie an ihm?
Natürlich gibt es viele Menschen,
die ihn nicht so leiden können, aber
ich glaube, dass er nicht nur Großes
für den FC Bayern geleistet hat,
sondern auch im Background
immer für seine Spieler da war
und sehr viele Geschichten zu
erzählen hätte.
Philip Gogulla und
Hans Zach (2005)
Da hätte ich auf jeden Fall ein paar Fragen.
Jetzt sind Sie einem Treffen zumindest
räumlich ja schon mal sehr viel nähergekommen.
Gibt es schon einen Termin?
Nein, nein. (lacht)
So wie Hoeneß engagieren auch Sie sich
im sozialen Bereich, in Ihrem Fall für die
Palliativstation im Uniklinikum Düsseldorf.
Wie kam es dazu?
Die Schwester eines guten Freundes war dort.
Er kam dann zu mir und hat mich gefragt, ob
ich etwas machen könne und seitdem bleiben
wir dran. Ich finde es sehr bewundernswert,
was dort geleistet wird. Man kann vor diesen
Ärzten, Schwestern und Pflegern gar nicht genug
den Hut ziehen. Es zeigt, dass es im Leben
wichtigere Dinge gibt als die, über die man sich
im Alltag oft aufregt. Sie haben meinen allergrößten
Respekt.
Nimm
das Heft
in die
Hand!
ABSCHIED VON BIRGIT MENZ
Sie war die vielleicht beste Verteidigerin, die der
deutsche Basketball je hatte, und als „Balldiebin“
gefürchtet. Die gebürtige Berlinerin absolvierte
über 100 Länderspiele (DDR und BRD), gewann
Bronze bei der EM 1997 und wurde Ü45-
Weltmeisterin 2013. Sie hinterlässt drei Töchter –
mit den beiden älteren spielte sie noch gemeinsam
in Jena in der 2. Liga – und ihren Ehemann, den
früheren Herren-Bundestrainer Frank Menz. Am
22. November 2019 verstarb Birgit Menz im Alter
von nur 52 Jahren nach schwerer Krankheit.
SOCRATES #41 03/2020 erscheint
am 20. Februar 2020.
Fotocredit Imago
Testabo. 3 Ausgaben
für 10 Euro.
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