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Das Smartphone in der Hand sind wir stets erreichbar, auf dass die uns Aufmerksamkeit schenkende Tinder-,

Twitter-, Instagram- und Facebook-Welt permanent um uns kreise und uns mit Likes beglücke. Hier ein Selfie mit

einem Promi, mit dem eigenen Essen oder der Nachbarskatze. Dort ein Tweet oder Post für oder gegen Merkel,

Trump und Erdogan, zu Klimaapokalypse und Coronapandemie. Hauptsache schrill und schräg, laut und

Aufmerksamkeit generierend. Ob ein Politiker, eine Youtube-Köchin, ein verhinderter Wohnzimmer-Fußballtrainer

oder eine 16-jährige Schmink- und Schmuckexpertin etwas zu sagen hat, offenbart sich in der Zahl ihrer/seiner

Youtube-Abonnenten. Ob eine schön, hübsch oder nur „loser“ ist, sehen wir an den Grimassen der Casting-Jury.

„Wer differenzieren will, ist verdächtig.

Wer anderer Meinung ist, ist dumm oder böse“

Niemand fragt, welche konkreten Vorschläge, innovativen Ideen oder singulären Einsichten Fräulein Greta denn

hätte, um den Klimawandel zu bremsen. Es geht nur um Begeisterung oder Ablehnung, blinde Gefolgschaft oder

erbitterte Häme. Nicht nur beim Klima werden politische und ökonomische Sachfragen tabuisiert, die politisch

korrekten Antworten wie Dogmen definiert und inquisitorisch abgefragt. Wer differenzieren will, ist verdächtig. Wer

anderer Meinung ist, ist dumm oder böse. Wer eine dissidente Meinung äußert, wird niedergeschrieen – dafür von

der Gegenseite heroisiert. Empörung erstickt den Diskurs.

Das Problem daran ist nicht die Leidenschaft, die den großen Fragen der Zeit ja gebührt, nicht einmal die starke

Personalisierung von Sachfragen. Das Problem ist die Unfähigkeit und Unwilligkeit, sich komplexen Sachfragen in

der angemessenen sachlichen Differenziertheit zuzuwenden. Gerade weil die Probleme unserer Zeit multikausal

und vielschichtig sind, weil die weltweiten wechselseitigen Abhängigkeiten und Beeinflussungen zugenommen

haben, weil ein in China umfallender Sack Reis direkte Folgen an den Börsen in New York und Frankfurt hat, weil

neben den nationalen eine globale Öffentlichkeit entstanden ist, braucht es heute Kompetenzen, die völlig

unzeitgemäß scheinen: Erfahrung, Wissen, Lernbereitschaft, Teamgeist, Sachlichkeit und sogar Selbstlosigkeit, ja

Demut. Also das Gegenteil dessen, was die hysterische Persönlichkeit kennzeichnet!

Objektive Krisen und subjektive Panikstimmung sind vielleicht der beste Hintergrund für hysterische, eitle und

oberflächliche Personen, sich in den Mittelpunkt zu stellen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, mit Theatralik und

impressionistischer Sprache zu manipulieren, die eigene Sucht nach Aufregung und Anerkennung zu befriedigen.

Gelöst wird durch solche Gestalten keine Krise, denn es geht ihnen letztlich nur um ihr Ego, nicht um die Sache.

Lassen wir also das eigene Ego-Gehabe und auch die Aufmerksamkeits-Junkies links liegen, und wenden wir uns

den tatsächlichen, meist komplexen und komplizierten Problemen unseres Lebens, unserer Gesellschaft und

unserer Zeit zu. Verzicht auf Egozentrik kann ein heilsames Fasten sein.

Kurz gefasst

Die wissenschaftlichen Beschreibungen der Hysterie beziehungsweise der „histrionischen Persönlichkeitsstörung“,

wie Psychiater und Psychotherapeuten heute lieber sagen, diagnostizieren ziemlich präzise das Krankheitsbild

unserer Gesellschaft: Oberflächlichkeit, Eitelkeit, Jagd nach Aufmerksamkeit und Bewunderung, Manipulation und

Beeinflussbarkeit, Egoismus und Selbstbezogenheit, Unfähigkeit zur Stille und Verlangen nach Aktivismus. Auf

diesem Boden gedeihen Angst, Panikmache und Polarisierungen.

Artikel: https://www.die-tagespost.de/gesellschaft/feuilleton/Die-hysterische-Gesellschaft;art310,206054

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