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Würzburg
08. März 2020 08:30 Uhr |
Autor: Stephan Baier
Die hysterische
Gesellschaft
Ob Klimaapokalypse oder
Coronapandemie: Empörung
erstickt den Diskurs, die Jagd
nach Aufmerksamkeit
triumphiert über den
Faktencheck.
Das einzige, das sich noch
schneller ausbreitet als das
Coronavirus ist die
Coronahysterie. Wenn
Politiker einräumen, es gebe noch keine geeignete Behandlung, doch die Bevölkerung möge ruhig bleiben, werden
wir nervös. Wenn sie ergänzen, die Regierung habe alles unter Kontrolle, ahnen wir: Sie hat sie verloren. Wenn
Gesundheitsbehörden mahnen, im Verdachtsfall ja nicht zum Arzt zu gehen, sondern zuhause zu bleiben und die
Hotline anzurufen, wird uns ziemlich heiß. Und wenn vor Hamsterkäufen gewarnt wird, sind wir schon auf dem Weg
zum Supermarkt. Dass sich beim Hamsterkauf das Virus leichter ausbreitet als bei der Mundkommunion in der
Kirche, ist naheliegend.
Angst und Panik sind nicht nur individuelle Phänomene: Wohin werden sich Aktienkurse entwickeln, wenn
hartgesottene Wirtschaftsjournalisten ihren Lesern raten: „Take the money and run“? Wie wirkt es sich auf das
Konsumverhalten aus, wenn wir in den Nachrichten hören, dass die Lieferketten aus China im März
zusammenbrechen? Sicher, wer kühlen Kopf bewahrt und gründlich liest, kann Faktenwissen sammeln. Insgesamt
jedoch dominieren schrille Töne: die der Apokalyptiker, denen der Begriff „Pandemie“ zu klein scheint, und jene der
Hysterie-Kritiker, die jede Berichterstattung zur Panikmache erklären. Beide schaukeln sich gegenseitig auf und
schüren so, was für eine Gesellschaft stets gefährlich ist: irrationale Panik und Hysterie.
„Das Informationszeitalter war gestern;
das Aufmerksamkeitszeitalter hat begonnen“
Ähnlich in der Klimadebatte: Greta wird verehrt oder gehasst, zur „Prophetin“ entrückt oder für irre erklärt. Ob
Klimawandel oder Coronavirus: Die Tatsache, dass ein Thema dominiert, bedeutet nicht, dass es analysiert und
diskutiert wird, sondern dass es polarisiert und emotionalisiert. Fakten und nüchterne Analyse scheinen ins
Reservat von Wissenschaft und Forschung verbannt; in der breiten Öffentlichkeit fühlt sich jede(r) kompetent,
Meinung und „Haltung“ abzusondern. Freilich, ganz neu ist das Phänomen nicht: Auch bei Schweinegrippe, BSE-
Krise und Waldsterben wurde Panik geschürt und Hysterie entfacht.
Doch die Dynamik und Härte der Pauschalisierungen und Polarisierungen steigt bedrohlich. Die vielbeschworene
Wissensgesellschaft, die Bildung zum Schlüssel des sozialen Aufstiegs machte, starb im Kugelhagel der
Schlachten um Aufmerksamkeit. Das Informationszeitalter war gestern; das Aufmerksamkeitszeitalter hat
begonnen: Gefragt sind nicht mehr Wissen, Detailkenntnis, Differenzierung und Begründungen – gefordert ist
Lautstärke. Wer am lautesten schreit und am schrillsten agiert, generiert Wahrnehmung. Ob in Castingshows, auf
Tinder oder Facebook: Es gibt keine Grautöne, nur schwarz oder weiß, Daumen rauf oder runter, gut oder böse.
Immer umfassender, immer schneller wird – dank omnipräsentem Internet – die Polarisierung zum
gesamtgesellschaftlichen Phänomen. Das ist bereits ein Kennzeichen von Hysterie. Wenngleich die Psychiatrie
heute lieber von der „histrionischen Persönlichkeitsstörung“ spricht, weil Hysterie von Platon bis Freud als typische
Frauenkrankheit galt, was sie nicht ist.
Eine Diagnose unserer Gesellschaft
Sucht man im DSM-5, dem US-amerikanischen „diagnostischen und statistischen Leitfaden psychischer
Störungen“, oder in der von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegebenen Klassifikation ICD-10 nach
Kennzeichen der histrionischen Persönlichkeitsstörung, findet man eine Diagnose unserer Gesellschaft: Der
Hysteriker strebt nach Aufmerksamkeit und muss immer im Mittelpunkt stehen. (Ob Sie jetzt an Greta Thunberg
oder an Donald Trump denken, ist Ihre Sache.) Er ist oberflächlich und eitel. (Die Jüngeren haben da ihre Influenzer
vor Augen, die Älteren Heidi Klum und die Damenriege Hollywoods.) Er agitiert theatralisch, mit übertriebenem
Gefühlsausdruck und bedient sich einer impressionistischen Sprache. (Da sind nicht nur Schauspieler, sondern
auch viele Politiker unter Verdacht.) Zugleich – da sind wir jetzt bei uns angekommen – ist er leicht beeinflussbar
und manipulativ. (Wann haben Sie zuletzt im Internet Verschwörungstheorien gelesen oder gepostet?) Der
Hysteriker will bewundert werden. (Wie mittlerweile, völlig grundlos, die Mehrheit der Jugendlichen, Politiker und
Medienschaffenden.)
Anzeichen einer histrionischen Persönlichkeitsstörung sind Egozentrik, Selbstbezogenheit und dramatische
Selbstdarstellung, ein ständiges und unersättliches Verlangen nach Aufmerksamkeit, aber auch nach Aufregung
und Spannung, die Unfähigkeit zu Stille und Einkehr, der permanente und oberflächliche Aktivismus sowie ein
manipulatives Verhalten zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Gibt es eine bessere Beschreibung unserer
Gesellschaft?
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Das Smartphone in der Hand sind wir stets erreichbar, auf dass die uns Aufmerksamkeit schenkende Tinder-,
Twitter-, Instagram- und Facebook-Welt permanent um uns kreise und uns mit Likes beglücke. Hier ein Selfie mit
einem Promi, mit dem eigenen Essen oder der Nachbarskatze. Dort ein Tweet oder Post für oder gegen Merkel,
Trump und Erdogan, zu Klimaapokalypse und Coronapandemie. Hauptsache schrill und schräg, laut und
Aufmerksamkeit generierend. Ob ein Politiker, eine Youtube-Köchin, ein verhinderter Wohnzimmer-Fußballtrainer
oder eine 16-jährige Schmink- und Schmuckexpertin etwas zu sagen hat, offenbart sich in der Zahl ihrer/seiner
Youtube-Abonnenten. Ob eine schön, hübsch oder nur „loser“ ist, sehen wir an den Grimassen der Casting-Jury.
„Wer differenzieren will, ist verdächtig.
Wer anderer Meinung ist, ist dumm oder böse“
Niemand fragt, welche konkreten Vorschläge, innovativen Ideen oder singulären Einsichten Fräulein Greta denn
hätte, um den Klimawandel zu bremsen. Es geht nur um Begeisterung oder Ablehnung, blinde Gefolgschaft oder
erbitterte Häme. Nicht nur beim Klima werden politische und ökonomische Sachfragen tabuisiert, die politisch
korrekten Antworten wie Dogmen definiert und inquisitorisch abgefragt. Wer differenzieren will, ist verdächtig. Wer
anderer Meinung ist, ist dumm oder böse. Wer eine dissidente Meinung äußert, wird niedergeschrieen – dafür von
der Gegenseite heroisiert. Empörung erstickt den Diskurs.
Das Problem daran ist nicht die Leidenschaft, die den großen Fragen der Zeit ja gebührt, nicht einmal die starke
Personalisierung von Sachfragen. Das Problem ist die Unfähigkeit und Unwilligkeit, sich komplexen Sachfragen in
der angemessenen sachlichen Differenziertheit zuzuwenden. Gerade weil die Probleme unserer Zeit multikausal
und vielschichtig sind, weil die weltweiten wechselseitigen Abhängigkeiten und Beeinflussungen zugenommen
haben, weil ein in China umfallender Sack Reis direkte Folgen an den Börsen in New York und Frankfurt hat, weil
neben den nationalen eine globale Öffentlichkeit entstanden ist, braucht es heute Kompetenzen, die völlig
unzeitgemäß scheinen: Erfahrung, Wissen, Lernbereitschaft, Teamgeist, Sachlichkeit und sogar Selbstlosigkeit, ja
Demut. Also das Gegenteil dessen, was die hysterische Persönlichkeit kennzeichnet!
Objektive Krisen und subjektive Panikstimmung sind vielleicht der beste Hintergrund für hysterische, eitle und
oberflächliche Personen, sich in den Mittelpunkt zu stellen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, mit Theatralik und
impressionistischer Sprache zu manipulieren, die eigene Sucht nach Aufregung und Anerkennung zu befriedigen.
Gelöst wird durch solche Gestalten keine Krise, denn es geht ihnen letztlich nur um ihr Ego, nicht um die Sache.
Lassen wir also das eigene Ego-Gehabe und auch die Aufmerksamkeits-Junkies links liegen, und wenden wir uns
den tatsächlichen, meist komplexen und komplizierten Problemen unseres Lebens, unserer Gesellschaft und
unserer Zeit zu. Verzicht auf Egozentrik kann ein heilsames Fasten sein.
Kurz gefasst
Die wissenschaftlichen Beschreibungen der Hysterie beziehungsweise der „histrionischen Persönlichkeitsstörung“,
wie Psychiater und Psychotherapeuten heute lieber sagen, diagnostizieren ziemlich präzise das Krankheitsbild
unserer Gesellschaft: Oberflächlichkeit, Eitelkeit, Jagd nach Aufmerksamkeit und Bewunderung, Manipulation und
Beeinflussbarkeit, Egoismus und Selbstbezogenheit, Unfähigkeit zur Stille und Verlangen nach Aktivismus. Auf
diesem Boden gedeihen Angst, Panikmache und Polarisierungen.
Artikel: https://www.die-tagespost.de/gesellschaft/feuilleton/Die-hysterische-Gesellschaft;art310,206054
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