Dr Peter Lodermeyer2020 Slava Seidel Magic Spaces, Text mit Abbildungen
Text zur Ausstellung "Magic Spaces" Alp Galleries Frankfurt a.M. 2020
Text zur Ausstellung "Magic Spaces"
Alp Galleries
Frankfurt a.M.
2020
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Slava Seidels „Magic Spaces“. Die Erweiterung der Wirklichkeit
Peter Lodermeyer
Wir befinden uns in einer riesigen Höhle. In einiger Entfernung sieht man einen Radfahrer, der sich
auf einem schmalen Pfad
nach rechts hin dem
Höhlenausgang nähert.
Damit zieht er den Blick des
Betrachters zur rechten
Bildhälfte, wo sich, genau auf
der Schwelle zwischen
Höhlen- und Außenraum,
eine weitere Figur befindet,
die am Boden sitzt und auf
die Frühlingslandschaft
hinausschaut. Diese sitzende
und schauende Person wird
somit zur Identifikationsfigur
des vor dem Bild
verharrenden Betrachters.
Die Farben der Landschaft im
Sonnenschein, vor allem die
Springtime, 2018, Sepiatusche und Acryl auf Leinwand, 90 x 110 cm
sattgrüne Wiese, ziehen den
Blick auf sich – und so dauert es eine Weile, bis man geradezu schockhaft das ganz und gar
rätselhafte Hauptmotiv des Bildes bemerkt. Die Bildanlage – Blick aus dem Höhleninneren hin zum
gleißenden Licht draußen – folgt einem wohlbekannten Bildschema der europäischen
Landschaftsmalerei, für das sich vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, von dem Flamen Joos de Momper
über den Schweizer Caspar Wolf bis hin zu dem französischen Landschaftsmaler Théodore Rousseau
(um nur ein paar Namen zu nennen), zahlreiche Bildbeispiele finden lassen. Slava Seidel nimmt
dieses Schema auf, verwandelt es dabei aber in eine ganz und gar mysteriöse Szenerie. Auf den
zweiten Blick nämlich fällt auf, dass die Höhle, in der sich der Bildbetrachter in recht großer Höhe zu
befinden scheint, keineswegs natürlichen Ursprungs ist, schaut man doch geradewegs in eine zur
Seite gekippte, riesige Gewölbekuppel hinein, die einem barocken Kirchen- oder Palastgebäude
entstammen könnte. Man sieht Gewölberippen, Ornamentkassetten und wohl auch die Andeutung
einer Deckenmalerei. Wie ist das möglich? Haben Menschen diese Architekturformen aus den
Höhlenwänden herausgehauen? Aber wer sollte eine solche Titanenarbeit vollbringen – und warum?
Oder ist die Kuppel eine Ruine, ein Überrest aus längst vergangener Zeit, der nach Äonen Bestandteil
der natürlichen Umgebung geworden ist? Eins wie das andere erscheint vollkommen irreal und
phantastisch, beide Vorstellungen reißen unvorstellbare Zeiträume auf, die Szenerie scheint einem
Traum oder einem Fantasy-Film zu entstammen. Zu diesem Eindruck tragen dann auch die
übergroßen Kristalle bei, die am Höhlenboden verteilt liegen.
Das mit Sepiatusche und Acrylfarbe gemalte Bild „Springtime“ von 2019 ist ein gutes Beispiel für die
Fähigkeit von Slava Seidel, in ihren Arbeiten Zeit-, Raum- und Realitätsebenen
durcheinanderzuwirbeln und dem Betrachter die Orientierung zu rauben. Beim Beschauen von
Seidels Bildern kann man sich selbst immer wieder dabei beobachten, wie einem der Boden unter den
Füßen weggezogen wird, indem sich die Grenzen zwischen Natur und Kultur, zwischen Fantasie und
Wirklichkeit, Gegenwart und Vergangenheit auflösen und die eigene Vorstellungskraft aufs Äußerste
herausgefordert wird. Angesichts der traumartigen Bilderfindungen, die so typisch sind für das Werk
von Slava Seidel, wurde gelegentlich der aus der Kunst des 20. Jahrhunderts vertraute Begriff des
Surrealismus herangezogen. Jedoch taugt dieser – trotz seiner Nähe zu Traum und Phantastik –
meines Erachtens nicht, um die Kunst von Slava Seidel angemessen zu beschreiben. Denn der
Surrealismus setzte auf ein Aushebeln der Verstandeskontrolle und das Anzapfen unbewusster Kräfte
in einem automatischen Bildentstehungsprozess. Doch davon kann bei Slava Seidel keine Rede sein;
ihre Bilder sind wohlüberlegte, äußerst kunstvolle Konstruktionen einer aus den Fugen geratenen
Wirklichkeit. Für viele ihrer Arbeiten passt, so meine ich, ein älterer Begriff aus der Kunstgeschichte
viel besser: das Capriccio. Mit diesem Terminus, der in sich das Geistreiche, Groteske, Exzentrische
und Scherzhafte vereint, bezeichnet man eine Kunstform des kalkulierten Regelverstoßes gegen
künstlerische Normen, für die Namen wie Jacques Callot, Giovanni Battista Tiepolo oder Francisco de
Goya stehen. Der Kunsthistoriker Werner Busch hat das Capriccio in einem wichtigen Aufsatz
charakterisiert: „Es setzt ein Fragezeichen hinter allen Gewißheiten. Das Capriccio lebt vom Aufbau
der Illusion und seiner folgenden Zerstörung, es lebt vom Umschlag.“ In ihm zeigt sich „Ungeordnetes,
Unproportioniertes, Ver-rücktes, Mystisches, Okkultes, Undurchschaubares, Ängstigendes,
Höhnisches (...)“. Busch spricht mit Blick auf die Grundstruktur des Capriccio von einer „Erweiterung
der Wirklichkeit.“ Im Werk von Slava Seidel sind cappriccioartige Wirklichkeitserweiterungen, wie sie
der Kunsthistoriker beschreibt, in
großer Zahl zu finden – und
tatsächlich nennt die Künstlerin eine
ihrer 2019 entstandenen Arbeiten
„Architectural Capriccio“.
Dort sieht man in starker Untersicht
einen barocken Gebäudeteil,
möglicherweise die Ecke eines
Palazzos, aus deren leeren Nischen
palmenartige
Bäume
herauswachsen. Zunächst denkt
man an Ruinen, die von der
Vegetation zurückerobert wurden;
stutzig macht jedoch, dass die
Palmen mehr oder minder horizontal
Architectural Capriccio, 2019, Sepiatusche auf Leinwand, 130 x 150cm
aus der Architektur herausragen. Wenn man dann oberhalb des Gebäudes Wurzeln tragende
Baumstämme durch die Luft fliegen sieht, scheint es eher, als ob die Palmen rätselhafte Parasiten
wären, die sich an dem Gebäude festkrallen – wiederum eine ganz und gar phantastische oder (alp-
)traumhafte Vorstellung.
Höchst kapriziös ist auch die Zeichnung „Architectural“
von 2018, wo der Blick schräg von oben wie aus
Drohnenperspektive auf einen hochragenden Turm
fällt. An den Seiten klammern sich unbegreiflicherweise
zwei gigantisch große, auf den Hinterbeinen stehende
Leoparden an die Architektur und „umarmen“ sie so
heftig, dass die Kuppel samt Laterne ins Schwanken
gerät, als wären es nur Bauklötze.
Typisch für das historische Capriccio und jede neuere
„capriccioartige“ Kunst ist für Werner Busch das
„Antiklassische“, der bewusste „Verstoß gegen die
Regeln im Namen freier Phantasie- und
Kunstentfaltung“. Das lässt sich auch auf Seidels
künstlerische Haltung übertragen, denn schließlich gibt
es auch heute noch ungeschriebene, aus der Moderne
Architectural, 2018, Sepiatusche auf Papier, 100 x 70cm abgeleitete Regeln oder besser: Behauptungen
darüber, wie man heute – angeblich – nicht mehr
malen könne oder dürfe: figurativ, narrativ, illusionistisch, symbolisch, allegorisch... Gegen all diese
„Verbote“ verstößt Slava Seidel mit großer Souveränität. Ganz bewusst setzt sie nicht auf
Avantgardeattitüden, sondern wendet den Blick zurück auf die Kunstgeschichte, um sie sich in ihren
capriccioartigen Kompositionen ganz neu anzueignen. Nicht zufällig lässt sie eine besondere Vorliebe
für das Barock erkennen, jene Epoche der Kunst also, die durch kühnen Raumillusionismus und
theatralische Bildinszenierungen gekennzeichnet war.
Seidels Spiel mit Raum- und
Wirklichkeitsebenen lässt sich sehr schön am
Beispiel ihres Gemäldes „Komposition 01“ von
2019 nachvollziehen. Sitzt der Pianist
tatsächlich in einer Hochgebirgslandschaft, in
der wundersamerweise eine riesige Palme
gedeiht? Oder ist das Ganze doch nur
Bühnenbildzauber, worauf die mit einem roten
Vorhang verhängte Tür und der Bretterboden
im Vordergrund hindeuten?
Komposition 01, 2019, Sepiatusche und Acryl auf Leinwand 100 x 120cm
Barocke oder pseudo-barocke Architekturen spielen in Seidels Arbeiten immer wieder eine Hauptrolle,
eine Vorliebe hat sie vor allem für Kuppelbauten.
Gleich vier davon hat sie in dem Bild „Kupol“ von 2019
als Aufrisse übereinandergetürmt. Als eine Künstlerin,
die während ihres Studiums der Innenarchitektur in
Sankt Petersburg eine grundsolide handwerkliche
Ausbildung in Architekturzeichnung erhalten hat und
danach zeitweise als Bühnenbildnerin arbeitete, ist
Slava Seidel mit allen Wassern illusionistischer
Darstellungskunst gewaschen. Ein bemerkenswertes
zeichnerisches Können in der Handhabung des
schwierigen, da kaum Korrekturen erlaubenden
Malmittels Sepiatusche kommt noch hinzu.
Kupol, 2019, Sepiatusche und Acryl auf LW, 150 x 130 cm
Geradezu atemberaubend ist die Raumkonstruktion in einem Bild wie „Cupola“ von 2020,
wo eine Gebäudekuppel auf ein
riesiges liegendes Viereck
projiziert wurde. Mitten in dieser
Fläche aber schäumt Wasser auf
wie auf hoher See, dort navigiert
ein Segelschiff aus vergangenen
Zeiten. Das Ganze ist
absurderweise in einem
Gletschertal situiert, das von
schroffen
hochalpinen
Berggipfeln umstellt ist – eine
Weltlandschaft der besonderen
Art.
Cupola, 2020, Sepiatusche auf Leinwand, 130 x 150 cm
Nicht minder abenteuerlich sind die verschiedenen Raumebenen in der Komposition „Raum mit
Aussicht“ von 2019 ineinandergeblendet.
Am unteren Bildrand
sieht man ein Segelboot
am Meeresstrand liegen,
ein leerer Sessel wartet,
dem
Betrachter
zugewandt, in den Dünen.
Dahinter steht eine
Rückenfigur und
betrachtet
eine
phantastische Szenerie:
Ein Gebirgsbach stürzt
zwischen fernen Fichten
hindurch jäh herab ins
Tal, während sich an den
Seiten steile Felswände
auftun, die wiederum,
Raum mit Aussicht, 2019, Sepiatusche auf Leinwand 130 x 150 cm
wenn man genau hinschaut, an den äußeren Enden in Architekturformen übergehen. Strand und
Gebirge, Naturraum und architektonischer Innenraum – alles ist zu einer grandiosen, irrealen
Raumvision zusammengefügt. Nachgetragen sei noch, dass der bildinterne Betrachter, wie alle
menschlichen Figuren in Slava Seidels Bilderkosmos, männlichen Geschlechts ist – damit entzieht sie
simplen biographischen Interpretationsversuchen ihrer Bilder von vornherein jede Grundlage.
Barock muten nicht nur die
kühnen Raumerweiterungen
in Seidels Bildern an,
sondern auch ihr Hang zu
allegorischen Szenen. Ein
Totenkopf und ein
Schmetterling – die
Hauptmotive ihres Bildes
„Allegorische Stimmung“
von 2016 sind aus
zahllosen Vanitasgemälden
des 17. Jahrhunderts
bekannt.
Der Totenschädel erinnert
als Memento mori an die
Allegorische Stimmung, 2016, Sepiatusche auf Leinwand, 90 x 100 cm
Vergänglichkeit aller Dinge, des menschlichen Lebens zumal, Schmetterlinge stehen für die Seele des
Menschen und nicht zuletzt für die Hoffnung auf ewiges Leben. Indem Slava Seidel die
Größenverhältnisse der beiden Motive verkehrt und den Schmetterling so groß darstellt, dass er mit
dem menschlichen Schädel zu spielen scheint, kommt diese Symbolik ins Kippen: Der Falter wirkt
erschreckender als das längst zum Klischee verkommene Schädelmotiv.
Ein noch größerer
Schmetterling berührt in
der kleinformatigen
Zeichnung „Touch“ einen
am Boden sitzenden
Anzugträger an der
rechten Schulter. Er ist
etwa so groß wie der Mann
selbst,
dessen
ausgebreitete Rockschöße
den Insektenflügeln
ähneln. Die beiden Wesen
scheinen eng aufeinander
bezogen zu sein wie ein
ungleiches
Touch, 2019, Sepiatusche auf Papier, 30 x 40 cm
Zwillingspaar, oder eher noch so, als ob der Falter ein groteskes Alter Ego des Mannes, sein
kafkaeskes Spiegelbild sei. Damit erinnert die Figur an Gregor Samsa aus Kafkas berühmter
Erzählung „Die Verwandlung“, der sich, als er „eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, (...)
in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ fand. Unruhigen Träumen scheinen
auch viele Bildmotive Slava Seidels entsprungen zu sein, faszinierenden und schrecklich-schönen.