Zuversicht und Verantwortung - Überlegungen zum Ende des "Lock Down"
Prof. Dr. Harald Seubert, Professor und Fachbereichsleiter für Philosophie, Religions- und Missionswissenschaft STH Basel, äussert sich mit weitergehenden Gedanken zum Ende des Lock Downs.
Prof. Dr. Harald Seubert, Professor und Fachbereichsleiter für Philosophie, Religions- und Missionswissenschaft STH Basel, äussert sich mit weitergehenden Gedanken zum Ende des Lock Downs.
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28. April 2020
Zuversicht und Verantwortung
Überlegungen zum Ende des „Lock Down“
Prof. Dr. Harald Seubert
Professor und Fachbereichsleiter für Philosophie, Religions- und Missionswissenschaft STH Basel
0.
In ihrem Papier 1 vom 13. 4. 2020 hat die Nationale Akademie der Naturwissenschaften,
Leopoldina, mit Sitz in Halle/Saale in einem interdisziplinären Setting, das in inter- und
transdisziplinärer Kompetenz virologische und epidemiologische Aspekte mit
gesellschaftlichen und sozialen Überlegungen verbindet, umsichtige Empfehlungen für eine
„nachhaltige Überwindung“ der Corona-Pandemie gegeben. Die Interdisziplinarität in
Verbindung mit ethischer Klarheit zeichnet das Dokument in herausragender Weise aus.
Deshalb ist es naheliegend, weitere Überlegungen daran anzuschließen.
Die derzeitige Situation ist unübersichtlich: Obwohl die Entwicklung des Virus und der
Pandemie nach wie vor durch viele Unbekannte gekennzeichnet sind, stimmen die Prognosen
darin überein, dass das Virus über Monate oder sogar einen Zeitraum bis zu zwei Jahren
auftreten wird. Bis eine Medikation (vermutlich vor dem Impfstoff zu erwarten!) oder ein
Impfstoff zur Verfügung stehen, kann das öffentliche Leben aber nicht im gegenwärtigen Lock
Down-Zustand bleiben. Die einschlägig ausgewiesenen Virologen warnen übereinstimmend,
dass es hoch riskant wäre, auf eine „Herdenimmunität“ zu setzen. Es ist denkbar, dass die
Infektionsraten in Wellen auftreten. Mutationen des Virus sind nicht auszuschließen. Ob und
wie eine Immunisierung bereits Erkrankter gelingt, wie die Folgeschäden aussehen: überall
diese Faktoren ist ein Lernprozess der Experten und der Gesellschaft von Tag zu Tag im Gange.
Gesellschaftliche Folgeprobleme kommen dazu: Ein Ende des „Lock Down“ wird von
verschiedenen Seiten mit guten und verständlichen Gründen gefordert. Die zu erwartenden
„Kollateralschäden“ der Wirtschaft, vor allem des Mittelstandes sind massiv. Kredite und
1
https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2020_04_13_Coronavirus-Pandemie-
Die_Krise_nachhaltig_%C3%BCberwinden_final.pdf
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Bürgschaften, wie sie vor allem in der Bundesrepublik in großem Umfang aufgewendet
werden, überdehnen den Haushalt.
Ein längerfristiger Lock Down wird voraussichtlich zu physischen und psychischen
Nebenfolgen führen: Depressionen durch Isolation. Vor allem ältere Menschen, die
„Risikogruppe“, werden davon betroffen sein. Schwere Traumatisierungen können auftreten,
wenn ein würdiger Abschied von den Verstorbenen nicht möglich ist.
Schule, Bildung und Ausbildung können nicht ohne tiefgreifende Schäden langfristig brach
liegen. Durch E-Learning (das vielerorts mangels entsprechend schneller W-Lan-Verbindungen
und Computer nicht gesichert ist) können zwar die kognitiven Defizite ausgeglichen werden.
Die Sozialkontakte sind aber nicht zu kompensieren.
Daran zeigt sich: Was die moderne Gesellschaft verdrängt hat und für überholt erklärte, dass
es tragische Konflikte geben kann, wird in neuer Weise Realität. Solche Konflikte lassen sich
durch umsichtige Abwägungen abmildern. Dieser Aufgabe kommt daher hohe Priorität zu.
Man muss aber auch wissen, dass sich die Tragik nicht gänzlich vermeiden lässt.
Weil es aber um so tiefgreifende Fragen geht, darf nicht nur „auf Sicht“ gefahren werden. Es
bedarf eines langfristigen Kompasses, an dem sich die Handlungen ausrichten sollten. Gerade
hier kommt Theologie (und Philosophie) eine wichtige Rolle zu.
I.
Das Papier der Leopoldina fokussiert seine Überlegungen auf drei Prinzipien, die auch in
theologischer Sicht und im Blick auf die menschliche Würde hohe Aufmerksamkeit
verdienen:
1. „Der Schutz jedes einzelnen Menschen und die Ermöglichung eines menschenwürdigen
Lebens stehen im Mittelpunkt allen staatlichen Handelns“. Daraus ergibt sich, dass
mittelfristigen Schutzmaßnahmen, auch wenn sie aus hygienisch prophylaktischen Gründen
eine erhöhte Sicherheit versprechen, nicht dauerhaft der Vorzug zu geben ist, wenn sie die
Menschenwürde an anderer Stelle gefährden oder sie zu zerstören drohen.
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Tragisch wäre in jedem Fall ein Konflikt zwischen dem Leben und einem „menschenwürdigen
Leben“. 2 Aus theologisch-ethischer Sicht ist alles zu tun, damit er nicht eintritt oder gar
eskaliert.
Zu diesem menschenwürdigen Leben gehört die Gestaltung eines Lebenssinns: durch Religion,
Bildung, Kultur und soziale Beteiligung. Deshalb sollten Schulen v.a. in den Abschlussklassen,
wo es um Berufs- und Lebenschancen aber auch Kirchen und kulturelle Einrichtungen und
Begegnungsstätten unter Wahrung aller erforderlichen Hygienemaßnahmen vorrangig
wiedereröffnet werden (Letzteres in Abweichung vom Rat der Leopoldina). Ebenso ist die
Wirtschaft behutsam wieder hochzufahren, weil ohne ökonomische Prosperität dieses
menschenwürdige Leben nicht zu sichern ist.
Nach weitgehend übereinstimmender Expertenmeinung sind zu einer verantwortlichen
Beendigung des Lock Downs vor allem drei Instrumente erforderlich. Die finanziellen und
technologischen Instrumente staatlichen/öffentlichen Handelns im Allgemeinen und des
Gesundheitssystems sollten m.E. deshalb auf diese Bereiche konzentriert werden, bis
Impfstoff oder Medikation zur Verfügung stehen:
(1). Eine massive Ausweitung der Covid-19- Testmöglichkeiten; (2). Ein smart distancing, das
den unterschiedlich verteilten Risiken in Regionen und Bevölkerungsgruppen Rechnung trägt,
aber auch den Angehörigen der ausdrücklichen Risikogruppe, den Älteren und Vorerkrankten,
nach Möglichkeit wieder einen angemessenen Anschluss an das öffentliche und private Leben
und den Umgang mit ihren Freunden und Familien en eröffnet. Einiges kann dabei auf
digitalem Weg geschehen, aber längst nicht alles. (3). Die zur-Verfügung-Stellung von
Schutzkleidung, wo erforderlich, und effizienten medizinischen Masken für die Bevölkerung.
Es versteht sich, dass dies möglich sein muss, ohne die Schutzmittel dem medizinischen
Personal zu entziehen. Wie der Präsident des Weltärztebundes Montgomery zu Recht
feststellt, ist es problematisch eine Maskenpflicht zu verordnen, wenn die wirksamen Masken
nicht ausreichend zur Verfügung stehen.
2. Als zweites Prinzip formuliert die Leopoldina, dass neben dem Schutz von Gesundheit und
Leben möglichst zeitnah die „gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und kulturelle
Handlungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger“ wiederhergestellt werden soll (S. 4). Denn
2
Bundestagspräsident W. Schäuble, Corona Krise. Moralischer Konflikt FAZ 28. 4. 20, S. 1
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Gesundheitsschutz und gesellschaftliches, ökonomisches und kulturelles Leben bedingen
einander.
Einzelschritte einer Auflockerung des Shut Down können daraus nicht unmittelbar abgeleitet
werden. Wohl aber folgt daraus, dass alles zu tun ist, damit keine unauflösbare Spannung
zwischen dem physischen Leben und dem menschenwürdigen Leben auftritt. Der Philosoph
Giorgio Agamben formulierte die Befürchtung, dass eine „Hygiene-Diktatur“ einem Verlust an
Sittlichkeit und einen Rückfall in die Barbarei mit sich bringen könnte. 3 Ebenso wird von
namhaften Staatsrechtlern darauf hingewiesen, dass die Einschränkung von bürgerlichen
Grundrechten, wie sie in der derzeitigen Pandemie vorgenommen wurde, auf jedem Schritt in
ihrer Verhältnismäßigkeit begründungspflichtig ist. 4 Abwägungen müssen transparent sein,
eine umfassende, eben im Sinn der Leopoldina interdisziplinäre Beratung ist unerlässlich.
Entscheidend ist aus theologischer Sicht, dass der Staat seine „Verantwortung vor Gott und
den Menschen bestmöglich wahrnimmt, wobei der Handlungsdruck in einer solchen Krise
auch ein Verständnis mit den Verantwortlichen erfordert, wo sie Fehler begehen. So erbat der
deutsche Gesundheitsminister Spahn, „Vergebung“ für die Handelnden, wenn die Krise vorbei
ist.
Zur Einlösung dieses zweiten Prinzips der Leopoldina kann Politik vor allem durch eine
möglichst klare, kompetente Kommunikation ihrer Schritte beitragen. Diese sollte sie nicht
den Virologen und auch nicht im Gegenteil den Populisten überlassen. Es geht, wie das
Leopoldina-Papier zutreffend betont, darum, die Bürgerinnen und Bürger als mündiges
Gegenüber zu betrachten, nicht als Klientel und nicht als Unmündige.
Politisches Handeln sollte dabei zunächst, gemäß der Würde des Menschen, an den
Gemeinsinn, an Einsicht und individuelle Verantwortung, einen Geist der Freiheit appellieren.
„Nudgings“ und strafrechtliche Eingriffe sind eine „ultima ratio“, zu der man nur greifen darf,
wenn die Einsicht nicht greift.
Diese Kommunikation sollte die Gemeinde Gottes im Blick auf die Geschöpflichkeit und die
Würde des Menschen, der von Anfang bis Ende der Heilsgeschichte Bundespartner Gottes ist,
kritisch, doch grundsätzlich zustimmend begleiten. Einer christlichen Grundhaltung entspricht
3
G. Agamben, in NZZ 18.3. 2020 und 7. 4. 2020 zur Corona-Krise.
4
Z.B. O. Lepsius, Vom Untergang grundrechtlicher Denkkategorien, in: www.verfassungsblog.de, 6.- 4. 2020
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es, sich weder von Leichtsinn noch von Hysterie, sondern von Verantwortung leiten zu lassen
in Sorge für den Anderen, Schwächeren, aber wissend, dass das menschliche Leben in Gottes
Hand steht.
3. Die Leopoldina empfiehlt, dass die zu ergreifenden Maßnahmen „entlang der Leitkonzepte
von Nachhaltigkeit und Resilienz“ entwickelt werden sollten. Beides sind Konzepte in der
säkularen Welt, die aber einem christlichen Ethos entsprechen und letztlich aus christlicher
Ethik entsprungen sind: Nachhaltigkeit bedeutet einen verantwortlichen Umgang mit allen
Ressourcen der Schöpfung, auch den menschlichen; ein kluges Planen in der demütigen
Einsicht in die Grenzen der Planbarkeit, im Wissen, dass wir nur Haushalter auf Zeit sind und
nicht alle Folgen und Risiken abschätzen können. Resilienz ist die Fähigkeit, Krisen und
Unwägbarkeiten auszuhalten und zu ertragen. Sie droht in einer Wohlstandsgesellschaft und
in postmodernen Multioptionsgesellschaften in Vergessenheit zu geraten. Gerade hier sind
Christen in unserer Gesellschaft gefordert: Das Vertrauen auf Gottes Treue, die Hoffnung und
die Bindekraft eines Lebens vor Gott, gemäß seinen Geboten und nach seiner Verheißung ist
eine starke Quelle von Resilienz, die, wo sie gelebt und bezeugt wird, auch die säkulare Welt
überzeugen dürfte.
Im konkreten Management des Shut Down bedeutet dies, dass im Zweifelsfall zunächst solche
Institutionen und Bereiche aktiviert werden müssen, die den nachhaltigen Zwecken dienen:
Bildung, Erziehung, einschließlich der Gemeinden, soziales Leben und Mittelstand haben hier
einen eindeutigen Vorrang vor dem Spaß- Freizeit- und Luxusbereich. Wenn die Krise dazu
beiträgt, dass nachhaltigere Lebensformen, etwa im Bereich des Reisens und Wohnens wieder
an Attraktivität gewinnen, ist dies theologisch zu begrüßen.
Theologisch ist es auch zu begrüßen, wenn die (post-)moderne Gesellschaft wieder lernt
Tugenden auszuprägen, Prioritäten zu setzen und Wesentliches von Unwesentlichem zu
unterscheiden. Dabei darf die Spaßgesellschaft deutlich eingeschränkt werden. Nicht aber die
Freiheitsräume einer verantwortlichen Demokratie.
Insgesamt zeigt sich, dass Theologie und Gemeinde in der Gewinnung von Resilienz Kräften
eine wichtige Rolle spielen können. Sie können ihre gute und wichtige Botschaft in das
gesamte private und öffentliche Leben des Menschen adressieren. Die Krise macht deutlich,
dass der Verlust von Ethos und Wurzeln dem individuellen und gemeinschaftlichen Leben
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schadet. Deshalb erfordert die Krise nicht nur nachhaltige medizinische Forschung und
längerfristige Planung, sondern auch ein vorausgreifendes ethisches Krisenmanagement.
II.
Bei der schrittweisen Beendigung des Shut Downs wird heute in den deutschsprachigen
Ländern, Deutschland, Österreich und der Schweiz, soweit ich es sehe, vieles richtig gemacht.
Politiker sollten sich von interdisziplinär arbeitenden Expertengremien, wie sie in der
Leopoldina versammelt sind und nicht einzelnen Virologen beraten lassen. Wichtig ist eine
vernetzte, die Komplexität der Situation berücksichtigende Kompetenz. Sie muss medizinischnaturwissenschaftlich,
gesellschaftspolitisch, ökonomisch usw. sein. Dem Gemeinwohl kann
man nur in politischer und ethischer Klugheit annähernd gerecht zu werden versuche.
Ethische Aufgabe ist es, wie Robert Spaemann betonte, 5 die anderen Gesichtspunkte in die
richtige Reihenfolge zu bringen.
In einem solchen Rahmen müssen die Eindämmungsmaßnahmen sehr behutsam, aber stetig
gelockert werden. Empirische Überprüfung, etwa durch Tests, und langfristige Wertigkeiten
sollten dabei ineinandergreifen. Man sollte nach Möglichkeit im Lock down keine vorschnellen
Schritte tun, die man wieder zurücknehmen muss. Diversifikationen sind nötig (je nach
unterschiedlicher Betroffenheit von Regionen oder Altersgruppen). Sie dürfen aber nicht
überdecken, dass alle im selben Boot sitzen.
Auch dabei hat die Theologie ein wichtiges Mandat: Die Perspektive auf das vor Gott gute, uns
geschenkte und aufgegebene Leben im Chor der Experten zur Geltung zu bringen. Die
Verpflichtung auf best mögliches Wissen und das Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit.
III
Die Krise nötigt langfristig zu der Frage, wie wir künftig leben wollen und gut leben können.
Ideologien tragen dazu wenig bei. Auch Maßlosigkeit und Selbstüberschätzung sind schädlich.
Die Globalisierung wird man nicht rückgängig machen können, aber theologisch hängt viel
daran, dass sie dem Menschen dient, nicht umgekehrt.
In der Krise und weit über sie hinaus braucht es demütige Zuversicht.
5
R. Spaemann, Moralische Grundbegriffe. München 1981, S. 7 f.
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