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DIENSTAG
19.MAI 2020
FEUILLETON ||||||||||||||||||||| 7
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KULTUR & GESELLSCHAFT
SÄCHSISCHE ZEITUNG
„In die Kapelle warich vomerstenTag an verliebt“
Maestro HerbertBlomstedt freut sich: Legendäre Beethoven-Aufnahmen ausDresden sindwiederda–und noch schöner.
E
ndlich wieder da: Die legendäre Gesamtaufnahme
aller neun Beethoven-
Sinfonien der Staatskapelle Dresden aus
den 70er-Jahren ist wieder und noch schöner
zu haben. Das Label Berlin Classics hat
jetzt die unter Leitung von Chefdirigent
Herbert Blomstedt entstandenen Originalbänder
restauriert unddigitalisiert: Ein Genuss.
Esfehlt der damals übliche romantischschwere
Ausdruck ebenso wiedie aufkommende
abgeklärt-analyt
ische Rationalität.
Blomstedt legte Wert auf Durchhörbarkeit,
erfü
llte jede Sinfonie mit dem ihr
eigenen Gestus –von erhaben bis zerklüftet,
von zupackendbis sehnsüchtig. Ein Gespräch
mit dem 92-Jährigen über das Ton-
Dokument, die Kapelle als widerspenstige
Kuhund leckerenHaferbrei.
Herr Blomstedt,wi wegehtesIhnen, was
machenSie daheim in der Schweiz?
Mirgehtesausgezeichnet, geradezu unverschämt
gu
t. Ichgeberegelmäßig per Videokonferenz
Meisterklassen fü
rDirigierstudenten
in Wien, Zürich und Helsinki. Ansonstennutze
ich dieZeit, mich ganztief in
Partituren zu vertiefen.
Aber Siedürften doch jedesStück schon
x-fachmusiziert haben.Was versuchen
Sie, da nochzuentdecken?
Das Studium und das Suchen nach Neuem
sind meine Leidenschaft
.Sonehme ich das
Partiturstudium als eine Art Frühsport. In
jedem Konzert gibt esStellen, die ich im
Rückblick anders machen wü
rde –auch
wenn ich insgesamt zufrieden war. Änderungsbedarf
notiere ich mir. Musizieren ist
fü
r mich ein Work in Progress – man
kommt bei den größten klassischen Werken
nie an einen endgü
ltigen Punkt.
Experten glauben aber genau dasinIhrer
Einspielung allerBeethoven-Sinfonienmit
der Staatskapelle von 1975 bis
1980 zu hören.Was sagen Sie?
Dass dieAufnahmenjetzt wieder repräsentativ
neu aufgelegt werden, ist eine gute
Idee. Sie waren natürlich nie verschwu
n-
den auf dem Markt. Das lag sicher an der
Qualitätder Kapelle als auch am gü
nstigen
DDR-Preis.Ich merke dasvor allem bei den
Autogramm-Momenten nach den Konzerten.
Viele kommen dann genau mit diesen
Aufnahmen. Natürlich, mein Beethoven-
Zyklus mit dem Gewandhausorchester vor
wenigen Jahren war interpretatorisch reifer
und fü
rmeine heutigen Begriff
eschöner.
Aber ich begrüße diese Dresdner Neuaufl
age sehr, weil sie die einmaligeQualität
der Kapelle dokumentiert. Dieser Anspruch
derMusikerandas perfekte Zusammenspiel
fü
reinen ganz besonderen, unverw
echselbaren Klang hatte mich ja damals
bewegt, ein Orchester in der DDR, einem
Land, dasmir politisch höchst unsym
-
pathisch war, überhaupt zu übernehmen.
Es soll skurrile Geschichtengeben, wi
e
dieDresdner Siebearbeitethaben.
Ja, die haben nicht lockergelassen, obwohl
die erste Begrüßung 1969 in Ostberlin
nicht einladend war: kalt, dunkel und unhöfl
iches Personal. Aber dann kam ich in
Dresden an. Al
le lächelten und spielten so
schön. Und das, obwohl ich mit der Fünften
von Carl Nielsen ein Stück ausgewählt
hatte, dasfü
rdie Kapelle neu war. Nachder
ersten Probe war sie dennoch nahezu perfekt.Mir
hatdiese technischewie musikalische
Meisterschaft
imponiert. Und dann
kamendie Musiker,zeigten mirdie Sächsische
Schweiz und die herrlichen Silbermann-Orgeln
inFreiberg. Einmal sind wir
zu einem Augenarzt nach Döbeln gefahren,
der mir nicht nur half, sondern als
Selbstmusizierender neue Einsichten auf
Herbert Blomstedt
bei den Beethoven-
Aufnahmen in den
1970er-Jahren in der
Dresdner Lukaskirche:
„Es ist perfekte
Musik, jede Note ein
psychologisches Drama.“
Gerade deswegen
besitzt Blomstedts
Interpretation
stets menschliche,
empfindsame bis
freundliche Züge.
Foto: Hansjoachim Mirschel
Engelbert Humperdinck schenkte. Nach
zweieinhalbJahrensagteich zu,habedann
bis zum Amtsantritt quasi schon wie ein
Chefgearbeitet. Ja, ich warvom ersten Tag
an verliebt. Diese Qualität und das Selbstbewu
sstsein der Kapelle habe ichsoeigentlich
nie wieder erlebt.
Dennoch zitieren Siegern den ehemaligen
ChefdirigentenFritz Busch,die Kapelle
sei „wi
eeine wi
derspenstigeKuh“.
Ja, das geht! Fritz Busch war wie ich nach
den ersten Begegnungen überw
ältigt von
der Kapelle und davon, welche Entdeckungen
mitihr möglichwaren. Busch erschlossen
sich klangliche Dimensionen, die er
nicht fü
rmöglich gehalten hatte. Mir ging
es so bei der Kapelle etw
a mit Richard
Strauss, den ich fü
roberfl
ächlich gehalten
habe, und dann entdeckte, wie raff
finiert
undschön er instrumentierenkonnte. Was
Busch mit der Kuh meinte, ist Folgendes:
Wenn die Kapelle ihrer Tradition, ihren
Klangidealen folgt, dann tut sie das konsequent.
Wer versucht, daetw
as zu ändern,
hatesschwer.
Von1998 bis2005 haben Siedas Leipziger
Gewandhausorchester gefü
hrt. Was
unterscheidet diebeiden sächsischen
Spitzenklangkörper?
Sie unterscheiden sich klanglich, und das
bekommt auch das Publikum unmittelbar
mit. Entscheidend ist die Psychologie. Beide
sind stolze Orchester, aber die Staatskapelle
lässteinen dasstärker spüren. DieKapelle
ist dasältereOrchester,gegrür ndetam
kurfü
rstlichen Hof. Das Gewandhausorchester
pfl
egt einen pragmatischeren Umgang
mit seiner Tradition als ältestes bürgerliches
Orchester.Die Dresdner sind zielbewu
sst und konsequent. Die Leipziger
Musiker sindoff
ener undfl fexibler.
Wenn Siesoglücklich in Dresden waren,warur
mhaben Siedann 1985 diese
Af
färezugu
nstendes Sinfonieorchesters
von SanFranciscobeendet?
Nach zehn als Chef und zuvor fünf Jahren
als Quasi-Chef war eine Zeit gekommen,
Neues zu probieren. Sonst wird es zu viel
Routine. Künstlerisch und menschlich war
ich mit den Musikern der Kapelle, war ich
mit dem Dresdner Publikum wirklich
glücklich. Aber es gab die politische Dimension,
dass das DDR-Kulturministerium
und die Künstleragentur die Kapelle regelrecht
missbrauchten. UmDevi
sen einzufahren,
wurde dasOrchester immerwieder
in Gruppen und Ensembles aufgeteilt und
in den Westen geschickt. Es kam zu Situationen,
dass uns bei Projekten oder Gastspielen
wichtige Leute fehlten. Diese
Kämpfe kosteten viel Kraft
. Der andere
Grund fürs Abschiednehmen lag an der
Wiedereröff
nung der Semperoper 1985.
Dadurch konnte und sollte die Kapelle
mehr Oper spielen als imGroßen Haus.
Doch ich bin, obwohl ich in Dresden auch
Opern geleitet habe, ein ausgesprochener
Konzertdirigent.
WasreizteSie an SanFrancisco?
In Amerika traf ich auf ein sehr vi
rtuoses
Orchester, eine Art technische Leistungsmaschine.
Damit waren diese Musiker denen
von der Kapelle in mancher Hinsicht
ebenbürtig, aber ihnen fehlte die große
Tradition. Deshalb hatte man mich angesprochen.
Man wollte jemanden, der vi
el
von der europäischen Musiktradition in
dieses ty
pisch amerikanische Orchester
einbringt. Diesen stetigen Wechsel im berufl
ichen Leben habe ich immer als Geschenk
betrachtet. Ebenso war esein Geschenk,
dass ich nach der Chefzeit immer
wieder zur Kapelle zurückkehren konnte
und mittlerw
eile Ehrendirigent bin. Gut
400 Konzerte haben wirbislang gemacht.
Im Juli,umIhren 93. Geburtstagheru
m, war mit Ihneninder Semperoper
einSinfoniekonzert geplant –mit Beethoven.
Daswi wrd nunwohl nichts, oder?
So sieht esaus. Ich hatte mich sehr darauf
gefreut, auch weil das Beethoven-Klaviv erkonzert
eine der wenigen Kompositionen
gewesen wäre, die ich im Jubiläumsjahr
von einem meiner Lieblingskomponisten
musiziert hätte. Beethoven ist nun mal
Chefsache, und der binich nichtmehr, was
in meinem Al
ter gu
tist. Er machteine Musik,
die nach Innen führt. Das Revolutionäre,
das man gern seinem Werk zuschreibt,
ist fü
rmich, was sie mit uns macht und
welche neuenSichten sie uns beschert.
Siesind höchst vital.Woran liegt das?
Ich lebe gesund, mache leichten Sport,
schlafevi vel und werde durchdie Musik immerwieder
neu belebt.Und da ist natürlich
die tägliche Portion Hafergrütze. In den
nordischen Ländern wächst Hafer,wokein
Weizen mehr gedeiht. Deshalb ist er dort
sehr verbreitet. Im Hoteldenkenimmeralle,
wenn ich Hafergrütze bestelle, ich sei
magenkrank. Daheim koche ich sie mir jeden
Tag–natürlich verfeinertmit Köstlichkeiten
wie Datteln und Nüssen. Das ist ein
einfaches, aber gu
tes und sehr nahrhaft
es
Essen. Dasgibtmir biszum AbendEnergie.
DasGesprächführte BerndKlempnow.
K
CORONA-DEUTSCH
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Virenschleuder
Von Karin Großmann
inder reagieren aggressiv, wenn sie
etw
as vermissen, wie zum Beispiel
Schokolade. Sie reagieren weniger aggressiv,
wenn sie etw
as bekommen, wie zum
Beispiel Schokolade oder das Coronavi
rus.
Es macht sich bei ihnen nicht breit. Vielleicht
sind kindliche Zellen nicht wohnlich
genug, oder das Immunsystem ist
noch nicht soabgenutzt wie bei Erw
achsenen.
Fakt ist, dass Kinder selten Corona-
Sym
ptome zeigen. Trotzdem können sie
andere anstecken, wenn alle zusammen
um den abgesperrten Spielplatz herumtoben,
und nun ohne Flatterband sowieso.
Deshalb werden die lieben Kleinen oft
Virenschleudern
geschimpft
.Das ist eine
Diskriminierung. Denn die Erfi
ndung der
Schleuder war eine zivi
lisatorische Großtat.
Äl
tere Großmütter werden das bestätigen
können. Tagelang mussten sie nach
dem Waschen klatschnasse Bettlaken auswringen.
Das machte Muskelkater in den
Handgelenken, spritzte die Beine nass
und war mangels Drehzahl nicht mal
sonderlich eff fektiv. Erst mit dem Wirtschaft
swu
nder kam die Wäscheschleuder
im Westen an. Im Osten dauerte es etw
as
länger. Nur ein Teil der Waschmaschinen
aus Schwarzenberger Produktion konnte
schleudern. Manche Haushalte leisteten
sich eine Tischschleuder mit Gummikissen.
Heute kostet ein Exemplar aus Edelstahl
über 150 Euro. Preiswerter ist es,
Kinder zum Trocknen auf die Leine zu
hängen.
Frankreichs
Schauspiellegende
Michel Piccoliist tot
M
ichel Piccoli gehörte
zu Frankreichs
bedeutendsten Charakterdarstellern.
In seiner
langen Karriere ist der
Schauspieler in so ziemlich
jede Rolle geschlüpft
. Nun ist er im
Al Ater von 94 Jahren an
den Folgen eines Schlaganfalls
gestorben.
Mehr als 60 Jahre
stand Michel Piccoli vor
der Kamera und auf der
Michel Piccoli 1976
Foto:dpa
Bühne. Er hat inmehr als 220 Filmen mitgewirkt,
darunter in Klassikern wie „Tagebuch
einer Kammerzofe“, „Der diskrete
Charme der Bourgeoisie“ und „Das große
Fressen“. Er hatmit allenGroßen des Weltkinos
gespielt und gedreht. Regisseure wie
Al
fredHitchcock, Luis Buñuel,Jean-LucGodard,
Claude Sautet und Costa-Gavras holten
ihn vor die Kamera. Zu seinen Partnerinnen
gehörten Leinwandstars wie Brigitte
Bardot, Catherine Deneuve, Sophia Loren,
JeanneMoreau und OrnellaMuti.
Häufi
gtrat erander Seite von Romy
Schneiderauf.Mit ihrzusammendrehteer
„TrioInfernal“, „Die Dingedes Lebens“ und
„Die Spaziergängerin von Sans-Souci“. Piccoli
warmehrmalsverheiratet, unter anderem
mit der französischen Chansonsängerin
Juliette Gréco.
Gespielt hat Piccoli fast alles: den leidenschaft
lichen Liebhaber, romantischen
Verfü
hrer, kalten Zyn
iker, den Mörder, der
Polizisten am Spieß brät („Themroc“), den
verzweifelten Künstler in „Die schöneQuerulantin“und
in einer seiner letzten Rollen
den Papst in „Habemus Papam“ von Nanni
Moretti. (dpa)
Machte gern Luftsprünge
und zerschlug
Gitarren auf
offener Bühne –
Pete Townshend.
Foto:ddp
V
Der kreative Kopf vonThe Whowird75
Al AsGitarrist und Songw
riter der
legendären Brit-Rockband wurde
Pete Townshend mit Hits wie
„My Generation“ und der
Rockoper „Tommy“ berühmt.
Von Philip Dethlefs
ermutlich macht Pete Townshend die
Isolation während der Corona-Krise
nicht allzu vi
el aus. Der Gitarrist, Songw
riter
und zweite Sänger vonThe Whotüft
elt
am liebsten zu Hause inLondon in seinem
Studio. Konzerte bedeuten ihm nach eigenen
Worten nichts. „Ich gehe nicht gern
auf Tournee, und ich stehe nicht wirklich
gern auf der Bühne“, gestand er einmal.
„Wenn ich die Musik nicht selbst komponiert
hätte, würde ich längst nicht mehr
auft
reten.“ Am Dienstag wird der außergewöhnlicheMusiker
75 Jahre alt.
Townshend wu
rde am 19. Mai 1945 im
Londoner Stadtteil Chiswick geboren. Beide
Eltern waren Berufsmusiker, sein Vater
Saxofonist ineiner Musikgru
ppe der Royal
Air Force, seine Mutter Sängerin im Orchester.
Dass der kleine Pete ständig Auftritte
seiner Eltern erlebte, ist wohl der
Grund fü
r seine fehlende Bühnenleidenschaft
.„Deshalb nehme ich das wohl alles
ein wenig fü
rselbstv
erständlich“, erklärte
Townshend imdpa-Interv
iew. „Es bereitet
mir keine Freude, ich bin nicht aufgeregt,
es ist mirimPrinzip egal.“
Al
sKind schenkte ihm seine Großmutter
zu Weihnachten seine erste Gitarre, das
Spielenbrachte sichKlein Pete selbstbei.In
der Schulzeit spielte er mit dem späteren
The Wh
o-Bassisten John Entw
istle ineiner
Jazzband. Entw
istle holte ihn später indie
Rock’n’Roll- und Skiff
fle-Band The Detours
(Die Umwege) von The Wh
o-Sänger Roger
Daltrey. Ein Grafi
kdesign-Studium brach
Townshend ab, um sich voll auf die Musik
zu konzentrieren. AusThe Detours wu
rden
The Wh
o. Schlagzeuger Keith Moon komplettierte
dieGruppe.
Mit dem von Pete geschriebenen Song
„I Can’tExplain“verbuchtenThe Whoers-
te Charterfolge. Mit „My Generation“,
„Substitute“ oder „I CanSee For Miles“ landete
das Quartett Hits. Al
s Gitarrist und
Komponist warTownshend bald derkreative
Kopf der Band, dietreibendeKraft
hinter
epischen Rocksongs wie „Behind Blue
Eyes“ der LP „Wh
o’s Next“ (1971) oder den
hochgelobten Konzeptalben „Tommy“
(1969)und „Quadrophenia“ (1973).
Auf der von ihm ungeliebten Bühne
entw
ickelte Townshend auch sein berühmtes
Markenzeichen, die „Windmühle“. Er
rotiert seinen rechten Arm und schlägt dabei
indie Gitarrensaiten. Erhabe sich das
von Gitarrist Keith Ri
chards „ausgeliehen“.
Zu jedem Konzert gehört auch, dass
Tonwshend am Ende seine Gitarre zerschmettert.
Neben derMusik ist er bisheute alsAutor
aktiv. Er schrieb Artikel fü
rnamhaft
e
Zeitungen und Magazine wie „Melody Maker“
oder „Rolling Stone“. Er verfasste
Drehbücher und Skripteund veröff
entlichte
Kurzgeschichten. VorKurzem brachte er
seinen Roman „The Age ofAnxiety
“heraus,
dem in diesem Jahr eine Oper und eine
Kunstinstallation folgensollten. (dpa)