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Einäugig & blausilbig

Eine Frau. Dunkle Dokumente. Ein schaumweinschlürfender Zyklop. Und als ein Anruf die Zündschnur der Ereignisse entflammt, ist eines bereits besiegelt: Dieser Tag wird von Zwölf AutorInnen fortgeschrieben werden. Wie werden sie ihr Schicksal ausmalen? Welche Bilder werden die Kuppel ihres Schädels schmücken? Welche Gefühle werden sie ihr auf den Hals hetzen? Und wird es am Ende Sinn machen, sich so entschieden zu haben? Ein Textperiment von Susanne Altmann, Nina Buschendorf, Peter Frankenbach, Hinnerk Henze, Kira Horžak, Cem Karci, Lana Kesselring, Sabrina Leich, Jonathan Mürmann, Annika Rauscher, Anna-Lina Weiß und Justin Ziemba – unter der Leitung von Stephan Ganser im Fachkurs Texthandwerk, Fakultät Kunst und Gestaltung, Sommersemester 2020 an der Bauhaus-Universität Weimar.

Eine Frau. Dunkle Dokumente. Ein schaumweinschlürfender Zyklop. Und als ein Anruf die Zündschnur der Ereignisse entflammt, ist eines bereits besiegelt: Dieser Tag wird von Zwölf AutorInnen fortgeschrieben werden. Wie werden sie ihr Schicksal ausmalen? Welche Bilder werden die Kuppel ihres Schädels schmücken? Welche Gefühle werden sie ihr auf den Hals hetzen? Und wird es am Ende Sinn machen, sich so entschieden zu haben?
Ein Textperiment von Susanne Altmann, Nina Buschendorf, Peter Frankenbach, Hinnerk Henze, Kira Horžak, Cem Karci, Lana Kesselring, Sabrina Leich, Jonathan Mürmann, Annika Rauscher, Anna-Lina Weiß und Justin Ziemba – unter der Leitung von Stephan Ganser im Fachkurs Texthandwerk, Fakultät Kunst und Gestaltung, Sommersemester 2020
an der Bauhaus-Universität Weimar.

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EINÄUGIG &

BLAUSILBIG

Eine Kurzgeschichte von Susanne Altmann, Nina Buschendorf,

Peter Frankenbach, Hinnerk Henze, Kira Horžak, Cem Karci,

Lana Kesselring, Sabrina Leich, Jonathan Mürmann, Annika

Rauscher, Anna-Lina Weiß und Justin Ziemba. – unter der

Leitung von Stephan Ganser im Fachkurs Texthandwerk,

Fakultät Kunst und Gestaltung, Sommersemester 2020

an der Bauhaus-Universität Weimar.


Das Brummen krabbelt aus meiner linken Hosentasche über mein

Rückenmark zum Nacken. Am Übergang z3um Hinterkopf

verkantet es sich. Bleibt stecken. Drückt.

Jeder kann sehen, wie sich der Schweiß durch mein T-Shirt und

meinen Hoodie frisst. Wegen eines lächerlichen Anrufs. Die

Flecken unter meinen Armen und am Rücken kreischen es in die

Außenwelt: Weichei.

Das Brummen gewinnt. Meine Hand zuckt zur linken

Hosentasche. Drangehen oder nicht? Bestimmt schließen sie

Wetten über mich ab. Welche Seite lasse ich gewinnen?

„Ja.“ Kein ‚Ja?‘. Ich muss nicht fragen, was sie wollen.

„Sind Sie auf dem Weg?“

„Ja.“

„Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird gut laufen. Wir warten

diesmal in Raum 307 auf Sie. Die Anmeldung zeigt Ihnen den

Weg.“

Ich will den Weg aber gar nicht wissen. Ich will mich verlaufen

und verloren gehen.

Stattdessen nehme ich die Treppe.

Meine Füße arbeiten gegen mich. Ich habe Mühe, nicht mit der

Zehenspitze an den viel zu hohen Stufen hängen zu bleiben. Ich

weiß, dass ich 53 Mal die Chance habe, es nicht zu schaffen. 53 Mal

habe ich die Wahl, ob ich die Stufe über oder die unter mir nehme.

Ich könnte mich hinsetzen und nichts tun. Ich zwinge meine Füße,

mich weiter nach oben zu tragen.

Verblichenes Weiß im grauen Treppenhaus. 48 Entscheidungen

später stehe ich in einem schlecht ausgeleuchteten Flur.

Flackerndes kaltes Neonröhrenlicht, das mich in meiner ganzen

Pracht erstrahlen lässt. Durchgeschwitzt, kreidebleich, mit einem


nervös zuckenden Augenlid. Meine Füße tragen mich zur 307. Ich

halte inne, versuche meine hektische Atmung und meinen

trommelnden Puls zu beruhigen. Mache mich auf die Suche nach

meiner inneren Mitte. Ich scheitere katastrophal, denn als ich

glaube, meine innere Mitte, einen kleinen hoffnungslosen

blassgelben Punkt, weit entfernt erspäht zu haben, wird die Tür

aufgerissen und ich stehe einem Giganten gegenüber, der mit dem

Charme eines Zyklopen gesegnet ist. Es ist dunkel in seinem

Schatten.

Eine Sandpapierstimme dringt heraus, sickert an der massigen

Gestalt vorbei. „Ist sie das? Lass sie rein, Polyphem.“ Grollend gibt

der bärtige Fels den Weg frei. Sonnenlicht blendet mich, sticht in

den Augen und macht mich einige Herzschläge lang blind.

Drinnen sieht es aus wie früher. Nein, das ist falsch, es sieht so aus

wie in der Zeit, in der ich kein Geld hatte. Zwischen kahlen

unverputzten Wänden steht ein glänzender Metalltisch. Dahinter

sitzt ein langer dürrer Mann. Er ist so wie in meiner Erinnerung.

Vielleicht sind ein paar Falten hinzugekommen. Das Gesicht ist

härter, aber genau kann ich ihn im Gegenlicht nicht erkennen.

Hinter mir schließt Polyphem die Tür. Er nimmt neben dem

Mann vor einer schmalen Mappe Platz.

„Wir dachten schon, wir müssen Sie suchen“, sagt Frank und

erhebt sich mit der Eleganz eines Raubtiers. Seine Stimme ist kalt

wie Stahl, der sich an meine Kehle schmiegt. „Haben Sie die

Dokumente?“ Mein Gehirn verweigert die Zugehörigkeit zu

meinem Körper, seilt sich ab. Eine dicke Fliege summt durch den

Raum, dreht unsichtbare Ringe, bevor sie mit Wucht gegen die

Fensterscheibe fliegt und auf den Zementboden trudelt,

benommen im Kreis krabbelnd.


Die Drohung in Franks Blick - nur ich habe sie gesehen. Damals

hatte er mich beiseite genommen und sich zu mir hinab gebeugt;

mir ins Ohr geflüstert: „Eine Drohung dauert eine Sekunde. Merk

dir das.“ Der Schweiß tropft von meinen Händen auf den

Betonboden. Polyphem hat sich in seinem Stuhl zurückgelehnt

und starrt mich unverwandt an, die Mappe vor ihm ist geschlossen.

Franks Augen brennen sich durch mich hindurch.

„Haben Sie die Dokumente?“

Plötzlich sehe ich Illja, wie er vor mir steht, seine schlanke Gestalt

vor den Felsen, die sich dem tosenden Meer entgegenwerfen. Die

Hände hat er entspannt in die Hosentaschen geschoben. Seine

grünen Augen blicken auf das Meer hinaus. Dann dreht er sich mir

halb zu. „Niemals, verstehst du? Niemals. Ist egal, worum’s geht,

wofür. Verstehst du?“

Meine Hand zittert, als ich sie langsam hebe und Frank eine

graublaue Mappe hinhalte. Abschätzend, na klar, wie denn auch

sonst, blättert er durch die Seiten. Er schaut auf, schaut mich an

und trinkt, ohne mich auch nur einen Moment aus den Augen zu

verlieren, aus seiner Tasse.

Blickkontakt halten. Und wieder die Mappe betrachten. Ich

betrachte wieder den Raum. 307. Nicht nennenswert anders als

211. Der gleiche Bürokalender aus dem Jahr 2012. Der Computer

mit seinem Windows-Vista-Charme.

Er weiß ja ganz genau, was in der Mappe steht, er hat alles ja

schon viel zu oft in viel zu unfertigen Versionen gelesen.

„Wir publizieren.“, sagt Frank. „Danke“, sage ich. „Anonym?“, frage

ich.

„So wolltest du es.“

Die Sekretärin hatte also doch recht.


„Das wird Ärger geben.“, setzt Polyphem an. Ich weiß mit

Sicherheit, dass das nicht das erste Mal ist, dass er diesen Einwand

einbringt. Ich hätte es genauso gemacht, wenn ich da stünde wo er

steht - es ist voraussehend, vernünftig.

„Das hatten wir schon.“, Franks Blick verbietet wieder

Widerworte.

Kaffee wird aufgetischt. Wir wollen trinken und stoßen mit Sekt

an. Trocken. Rotkäppchen. „Auf einen vollen Erfolg.“, sage ich

voller Schultütennaivität und Zuversicht. Die Sekretärin wird

hereingebeten. Instantkaffee zum Sekt, aus kleinen Plastiktassen.

Ob er Angst hat, dass es rauskommt, bevor der Artikel

rauskommt?

Der zweite Sekt. Rosē. Mumm.

Polyphem bemerkt, dass Instantkaffee immer leicht sauer sei. Ich

habe wieder das Gefühl, dass meine Aufregung von vorhin

unbegründet war. Mein Verstand sagt mir aber, sie war es nicht.

Der dritte Sekt. Halbtrocken. Freixenet.

„Was für eine Plörre.“, schimpft Polyphem.

„Tu doch nicht so, als hättest du Ahnung von Alkohol.“

Ich muss auf die Toilette und als ich das sage, merke ich erst, wie

dringend ich tatsächlich auf die Toilette muss.

Beckenbodentraining wird maßlos unterschätzt.

Wieder wird die Sekretärin gerufen, mir den Weg zu weisen. Ich

weiß, sie wollen mich nicht aus den Augen lassen. Draußen

Dämmerung - in den langen Gängen weiter notaufnahmehelle

Leuchtröhren.

Zwei Feuerlöscher. „Sind wir allein im Gebäude?“

Zumindest auf dieser Etage. Morgen ist ja Feiertag und die

meisten Kollegen haben sich heute schon Urlaub genommen.

Schultoilettencharme. Giftig pinke Seife.


Der Himmel mittlerweile genauso pink. Im Spiegel bin ich und im

offenen Türrahmen steht die Sekretärin. Die gibt sich noch nicht

einmal Mühe, unauffällig zu sein.

Die Seife riecht unangenehm künstlich nach Pfirsich. Trotzdem

wasche ich mir viel zu lange die Hände. Die Sekretärin lässt sich

nicht beirren und folgt jeder meiner Bewegungen wie ein

Schatten. Ein neonlichthell erleuchteter Schatten. Hypnotisiert

lausche ich dem Rauschen des Wassers.

Auf dem Weg zurück in Raum 307 geht mein Schatten mir voraus.

Wortlos schreite ich an ihr vorbei durch die Tür, die sie mir

demonstrativ aufhält. Polyphem kippt gerade den letzten Schluck

Plörre hinunter. Draußen ist es inzwischen dunkel. Die Fenster

spiegeln ein verzerrtes Bild in den Raum. Seltsam, denke ich, dass

Fenster nachts ihre Blickrichtung ändern.

„So”, sagt Frank und reißt mich damit aus meinem grübelnden

Starren, „dann ist es nun wohl an uns, den Tausch komplett zu

machen.” Polyphem reicht Frank die Mappe, die – inzwischen fast

vergessen – die ganze Zeit vor ihm auf dem Tisch gelegen hat.

Ohne hinzusehen, greift Frank nach ihr und hält sie mir entgegen.

Geben, nehmen. Geben, nehmen. Was für eine unnötige Kette,

denke ich.

Ich verstaue die Mappe in meiner Tasche und setzte zum

Sprechen an „Gut, dann…“

Frank unterbricht mich: „Ich begleite Sie noch mit nach draußen.“

Sie wollen mich wirklich nicht aus den Augen lassen.

Sein Stuhl kratzt unangenehm auf dem Boden, als Frank sich

erhebt. Die Sekretärin hält noch immer die Tür auf. Vermutlich,

weil sie zu neugierig war, um wieder zu gehen. Als Frank sich dem

Raumausgang nähert, bemerke ich, dass, obwohl seine

Bewegungen sonst eine raubtierhafte Eleganz besitzen, die


Geschwindigkeit seines Ganges eher der eines zielstrebigen

Faultiers gleicht. Trotzdem bleibe ich lieber einen Schritt hinter

ihm. Ich verlasse 307 so wortlos, wie ich gekommen bin und

schleiche mit Frank die 53 Stufen hinunter. Dieses Mal liegt keine

der 53 Entscheidungen bei mir.

Frank trägt ein ledernes Schuhpaar mit unterschiedlich farbigen

Schnürsenkeln. Rechts tiefseeblau, links kirschholzbraun.

Wir passieren zwei Etagen, bis wir im Erdgeschoss ankommen. In

keiner der Stockwerke brennt noch Licht und Frank macht sich

auch nicht die Mühe, es einzuschalten. Diese Angewohnheit liegt

wohl in der Familie, denke ich und bin nun doch ganz froh über

seinen bedächtigen Schritt.

Wieder sehe ich Ilja vor mir. Dunkle Haare, ein dunkler Bart. Nie

schaltet er das Licht in seiner Wohnung ein. Vielleicht will er mit

dem Schwarz verschmelzen. „Wissen ist Nacht”, lachte er immer,

wenn ich ihn darauf ansprach, und entschuldigte sich dann für die

unsichtbare Unordnung in seiner Wohnung.

Die Brandschutztür im Erdgeschoss schwingt auf. Ich gehe hinter

Frank ins Freie. Die Bäume, die den Parkplatz säumen, rauschen

wie Gischt-schlagend im nächtlichen Wind.

Ansonsten nur Atemgeräusche und Stille. Frank schaut mich an.

„Eine Sekunde”, sagt er nur und dreht, kaum ausgesprochen,

sogleich wieder um. Die Brandschutztür schwingt hinter ihm zu.

Und ich, ich lasse das unmoralische Faultier weiterschreiten.


Ich stehe vor dem Gebäude und warte darauf, dass Frank

zurückkommt. Die eine Sekunde, nach welcher er ursprünglich

wieder da sein wollte, ist mittlerweile verstrichen. Das ist schon

eine kleine Ewigkeit her, wie ich gerade überlege. Zumindest

kommt es mir so vor.

Will Frank mir vielleicht noch etwas übergeben? Schließlich habe

ich ihm die für die Publikation notwendigen Dokumente gegeben

und er hat mir ebenfalls eine Mappe anvertraut. Damit ist unser

Geschäft, von der Publikation einmal abgesehen, schon so gut wie

beendet.

Im Gegensatz zu vorhin ist meine Angst jetzt einer Welle der

Erleichterung gewichen. Erleichterung darüber, dass ich nicht

mehr ständig diese Dokumente mit mir herumtragen muss, deren

Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Damit hatte ich bisher

immer Angst, dass ich verfolgt oder angegriffen werden könnte.

Dass irgendjemand versucht, mir die Dokumente wieder

abzunehmen.

Ich schaue mich um. Der Nachthimmel über mir ist wolkenlos und

sternenklar. Straßenlaternen beleuchten mit ihrem gelblichen

Licht die Straßen. Aus manchen der Häuser in der Nähe dringt

Lärm, den ich leise wahrnehmen kann. Vermutlich Familien, die

sich streiten, wie mir durch den Kopf geht. Ehepartner, die sich

untereinander streiten, etwa. Oder Eltern mit ihren Kindern und

umgekehrt. Auf dem Bürgersteig sind noch einige Menschen

unterwegs. Ein älteres Ehepaar beispielsweise. Ein verliebtes

junges Pärchen, das gerade in einiger Entfernung an mir

vorbeigeht. Dort wieder ein junger Mann, der einen späten

Einkauf getätigt hat und nun eilig, obwohl er schwer bepackt ist,

versucht, seine Wohnung zu erreichen.

Als ich ihn so sehe, fällt mir ein, dass ich ja eigentlich auch bereits

zu Hause sein wollte. Doch Frank lässt auf sich warten. „Vielleicht

will er mir ein Honorar für meine gute Arbeit geben. Oder er muss


auch noch die Toilette aufsuchen, was bei dem vielen Sekt keine

Überraschung wäre”, sage ich zu mir selbst.

Trotz meiner Erleichterung bleiben Zweifel. Was wird nach der

Publikation passieren? Bin ich dann tatsächlich in Sicherheit?

Oder in größerer Gefahr? Von dem Inhalt der Dokumente wissen

nur ich selbst, Frank und Polyphem.

Und die Person, der sie ursprünglich gehört haben.

Und weil die besagte Person das Fehlen der Dokumente, die sich

nun in Franks Besitz befinden, inzwischen sicherlich schon

bemerkt hat, ist die Gefahr nun auch noch nicht vollständig

beendet. Denn dass sie die Publikation einfach so abwarten wird,

kann ich mir so gut wie nicht vorstellen. Dass sie genau dies zu

verhindern versucht, hingegen durchaus.

„Und weiß sie von meiner Rolle in der ganzen Geschichte?”, frage

ich mich mit leiser Stimme, da ich verhindern möchte, dass mich

jemand hört. “Wird sie mich nicht zur Rechenschaft ziehen und

sich an mir rächen wollen? Und wenn das so ist, wie will sie sich an

mir rächen?”

Auf einen Schlag ist meine Sicherheit wie verflogen und die

Anspannung kehrt stattdessen zurück. Und mit der Anspannung

auch die Angst, die ich bereits zu überwinden gehofft hatte. Sie

fühlt sich an, wie eine mächtige Hand, durch die sich mein

Innerstes zusammenzieht.

Eine weitere Frage beschäftigt mich.

“Frank”, murmele ich. “Wo bleibst du denn nur? Oder was machst

du so lange auf der Toilette?”

Doch da er ja offensichtlich nicht antworten kann, bleibe ich mit

meinen Gedanken alleine. Und um ehrlich zu sein, wäre ich jetzt

lieber wieder bei Frank, statt meinen eigenen Gedanken

ausgeliefert zu sein.


Der Gedanke daran, dass eventuell jemand wissen könnte, dass ich

die Dokumente entwendet habe, lässt die Panik wieder

hochkochen. Es fängt in den Füßen an, die plötzlich kribbeln, als

wären sie eingeschlafen und würden mit dem Gefühl von

Fernsehrauschen wieder aufwachen. Nervös trete ich unbewusst

von einem Fuß auf den anderen, doch als die Angst meine Knie

erreicht, wird das schwierig. Sie fangen an zu schlottern, drohen

jeden Moment nachzugeben. Am liebsten würde ich mich jetzt

hinsetzen, doch hier draußen ist keine Bank und nochmal rein

möchte ich auf keinen Fall. Stattdessen lehne ich mich an die

schmutzige Wand des grauen Betonblocks. Ich lehne mich so fest

daran, dass sich die kleinen Steinchen durch meine Kleidung in

den Rücken bohren.

Für Außenstehende muss es lustig aussehen. So als ob vor mir ein

riesiger Abgrund wäre, den nur ich sehen kann. Und genau so

fühlt es sich gerade an, als wäre der Kontakt mit der Wand hinter

mir das einzige bisschen Sicherheit, das mich vor einem Sturz ins

Grauen bewahrt.

Aber leider ist die Wand nicht Sicherheit genug, um die Panik

daran zu hindern, weiter zu wandern. Nein, die Panik verschlingt

mich. Sie kocht und schäumt und führt dazu, dass der Schweiß

wieder ausbricht und mein Hoodie wieder eine Nuance dunkler

als vorher ist. In meinem Bauch legt sie sich nieder wie ein Stein,

sie erstickt das leichte, angenehme Blubbern vom Sekt und ersetzt

es durch ein drückendes Gefühl. So als hätte ich ein paar

Cheeseburger zu viel gegessen, aber nicht die leckeren

selbstgemachten, sondern die pappigen Dinger von McDonalds.

In meiner Brust macht sich ein Engegefühl breit, als ob es sich ein

Elefant darauf bequem gemacht hätte. Meine Atemzüge werden

flacher, dafür aber um ein Vielfaches schneller. Auch mein Herz

zieht an und ich höre meinen Puls in den Ohren rasen. Damit hätte

die Panik auch meinen Kopf erreicht. Mir wird schwindelig und


meine Sicht leicht unklar. Ich presse mich noch enger an die

Wand, möchte am liebsten mit ihr verschmelzen. Mich in ihr

verstecken.

Ich versuche mich an die Meditations- und Atemübungen zu

erinnern, die ich für solche Fälle gelernt habe, aber mein Kopf ist

leer. Nein, das stimmt nicht. Er ist zu voll. In meinem Kopf ist ein

Alarm losgegangen. Er schrillt und pocht im Rhythmus meines viel

zu schnellen Herzens. Die Gedanken rasen hin und her, versuchen

die Situation zu ergründen. Alles ist voller Fragen. „Was ist, wenn

sie wissen, dass ich die Dokumente entwendet habe?” „Werden sie

mich finden?” Eine kleine, sanfte Stimme flüstert Worte der

Beruhigung, versucht irgendwas zu sagen, doch sie wird von

lauten, panischen Schreien übertönt. „Und selbst wenn nicht -

sobald die Sache publiziert wird, würde es unmöglich sein, meine

Identität geheim zu halten.” Nun ist auch die Stimme des

Widerspruchs still.

Plötzlich knallt es, ein ohrenbetäubendes Geräusch, das es schafft,

mich aus dem Gedankenwirbel in meinem Kopf zu reißen. Als ich

mich umblicke, sehe ich Frank. Das Geräusch muss wohl das

Zufallen der Brandschutztür gewesen sein. Und das erste Mal in

meinem Leben bin ich tatsächlich froh, ihn zu sehen.

„Hier. Nimm das. Für alle Fälle.”

Mit diesen Worten überreicht er mir einen kleinen Beutel und

verschwindet ohne eine weitere Erklärung wieder im Gebäude.

Ich gehe einige Meter und setze mich auf einen Bordstein. Als

müsste ich mich vor einer Briefbombe schützen, öffne ich den

Beutel so pathetisch, als wolle ich einen Filmregisseur

beeindrucken. Der Einzige, der zusehen kann, ist ein Mülleimer.

Alles was der geboten bekommt, ist ein Häufchen Abfall, das einen

Beutel öffnet.


Als ich bei der Hälfte bin, sticht mir die Farbe Lila entgegen. Ich

greife rein und halte ein Milka Schokoladenherz in der Hand.

„I love Moni“. Das muss dann wohl die schräge Sekretärin sein.

Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendeine andere

Person aus diesem Laden so viel Nettigkeit vortäuschen kann, um

mit Vollmilchschokolade beschenkt zu werden.

Sollte das hier eine Entschuldigung dafür sein, dass er mich

betrunken belästigt hat und mir das Leben seit Monaten zur Hölle

macht, so hat sie nicht funktioniert. Ich bin nur noch wütender

darüber, dass er mich zu all dem gedrängt hat. Sein schwerer Atem

liegt nach wie vor auf meiner Haut. Genau wie seine selbstgefällige

Arroganz, die sich in Räumen absetzt wie kalter Zigarettenrauch.

Vielleicht ist es mein Vaterkomplex, der ihn trotzdem zufrieden

stellen will.

Ich muss an Illja denken. Daran, was er gesagt hatte, als wir

zusammen am Meer waren. Ich höre ihn immer wieder reden.

„Niemals, verstehst du? Niemals. Ist egal worum’s geht, wofür.

Verstehst du?“

Er konnte seine Familie nicht verraten. Die Loyalität zu Menschen

die er liebt, stand ihm immer ins Gesicht geschrieben. Das Grün in

seinen Augen vermittelte mir das beruhigende Gefühl von Freiheit.

Von jetzt an müssen es nur noch wenige Stunden sein, bis er

erfährt, dass ich ihn bestohlen habe. Um die Unterlagen. Um sein

Vertrauen. In meiner Brust macht sich wieder dieses Gefühl von

Enge breit. Ich atme, aber es fühlt sich so an, als würde mich

jemand zusammendrücken; als würde jemand versuchen, den

letzten Rest aus einer Caprisonne zu quetschen. Es ist wie

Klaustrophobie. Als wäre meine Lunge eingesperrt in einem

Fahrstuhl aus den Sechzigern, umgeben von schweren

Persönlichkeiten, die sich gegen mich lehnen, um genug Platz zu


haben, um ihre Koffer zu öffnen. Die Akten, die sie greifen wollen,

gleiten aus ihren verschwitzten Händen und verteilen sich überall

dort, wo ohnehin schon kein Platz ist. Meine Brust bleibt viele

Sekunden unbewegt, bis sie sich ruckartig wölbt, um Luft zu

atmen. Ich muss kurz weg gewesen sein. Vermutlich bin ich

unterzuckert. Kein Wunder, essen kann ich schon lange nicht

mehr. Meine zittrigen Hände greifen nach dem Milka Herz. So

muss sich meine kranke Großmutter gefühlt haben, als sie mir die

Hand gab wie ein zittriger Lachs. „Dattrich“ hat sie dazu immer

gesagt.

Ich nehme den Deckel ab. Während ich die mit Milchcreme

gefüllten Herzen in meinen Mund stopfe und sich mein Zustand

langsam verschlimmbessert, fällt eine Kreditkarte aus dem billigen

Plastik auf den Boden. Darauf ein Klebezettel. „Du wirst es

brauchen.“ Etwas weiter unten steht eine Nummer. „Es gibt eine

sichere Wohnung. Ruf an. Polyphem fährt dich.“ Dass Frank

offenbar erst nach weiteren 53 Treppen nach unten bemerkte, dass

es hier offensichtlich nicht nur um seinen Arsch geht, beweist

erneut, was für ein kaltschnäuziger Narziss er ist. Der Not

gehorchend wähle ich die Ziffern auf meinem Handy und stecke

mir mit jedem Tuten ein weiteres Herz in den Mund. Jemand

nimmt ab. „Das hat ja länger gedauert als der scheiß Artikel.“ Es ist

Polyphem, der sich kurz zu Wort meldet und sofort auflegt. Es

hupt. Ein schwarzer Cadillac. Polyphem am Steuer, als würde er

Mähdrescher fahren. Ich schaue mich ein letztes Mal um, während

ich ins Auto steige. Ich blinzel dem Mülleimer nickend zu, als wäre

es die letzte Gelegenheit mich zu verabschieden.

Ja, Illja, jetzt verstehe ich.


Worauf habe ich mich da bloß eingelassen? Hätte ich die Dinge

nicht einfach dabei belassen können? Aber nein, ich muss ja mal

wieder die Heldin spielen.

Gehemmt und angespannt vor Sorge vor dem, was jetzt auf mich

zukommt, setze ich mich auf den Beifahrersitz. „Werthers?”, fragt

Polyphem. „Nein danke, mir ist nicht so nach Süßkram.”, entgegne

ich ihm. Ich konnte diesen pappsüßen Bonbons noch nie was

abgewinnen. Höchsten Zahnschmerzen und einen klebrigen

Mund. Das brauche ich jetzt wirklich nicht. Schon komisch, dass

so ein ernster Riese wie Polyphem auf so komischen Oma-

Süßkram abfährt. Polyphem fährt los. „Wo bringst du mich hin?”,

frage ich mit zittriger Stimme. „Das weiß ich selber nicht.”,

antwortet er und zeigt auf das Navi zwischen uns. Das Ziel bewegt

sich. „Weißt du, wie lange wir in etwa fahren werden?”, frage ich

und fühle mich fast schon wie ein kleines Kind, das seine Eltern die

ganze Zeit mit der Frage Wie lange dauert‘s noch?” nervt. „Nein”,

antwortet er.

Es kommt mir so vor, als hätte jemand in Sachen Zeitrechnung das

Dezimalsystem eingeführt. Immer wieder verliere ich kurz den

Bezug zum Hier und Jetzt.

Die Realität zieht an meinem Bewusstsein vorbei wie ein D-Zug,

der an keiner Haltestelle Stopp macht und ich fahre genau in die

andere Richtung.

Im Delirium steuere ich eine alte Dampflokomotive. Es gelingt mir

gerade so, obwohl ich gar nicht weiß, wie man so ein Ding fährt.

Mein dumpf pochender Herzschlag wird eins mit dem monotonen

Stampfen der Lok. Die Situation wächst mir über den Kopf. Ich

wäre jetzt gerne bei Ilija, aber das geht nicht. Nie wieder. Das

Stampfen wird lauter. Der Raum wird enger. Wie der Kapitän

eines U-Boots, das gerade aufgelaufen ist, sitze ich da und lasse

das Unkontrollierbare geschehen. Ich kann nur hoffen, dass sich

die Umstände zu meinen Gunsten entwickeln werden. Ich kann


nichts tun außer zu lernen, mit diesem Druck und dem Stampfen

klarzukommen. Vielleicht ist das meine persönliche Irrfahrt.. und

ich sitze neben einem großen Mann, der Polyphem heißt. Was für

eine Ironie. Da muss ich schon fast schmunzeln.

Das Auto wird langsamer und aus dem Radio ertönt “All Out Of

Love” von Air Supply. „Was ist jetzt los?” frage ich. „Das Signal ist

weg, jetzt müssen wir warten.” antwortet er.

Wir verlassen die Straße und biegen in einen McDrive ab. Das

grelle McDonalds Schild brennt sich in mein Sichtfeld ein. Fast

schon angenehm. Ein Moment der Klarheit.

„Hast du Hunger?” fragt Polyphem freundlich und wirkt dabei wie

ein anderer Mensch. Als wäre aus dem ernsten Riesen plötzlich ein

netter, hungriger Teddybär geworden.

„Eigentlich nicht, aber ich würde eine Apfeltasche nehmen.”

antworte ich.

Nachdem wir bestellt und unsere Bestellung entgegengenommen

haben, fahren wir auf den anliegenden, leeren Parkplatz und stellen

uns genau in die Mitte. Das Auto riecht nach Pommes. Wie früher,

wenn man mit den Eltern spät abends auf der Autobahn kurz bei

McDonalds Halt gemacht hat, weil sie keine Lust mehr hatten zu

kochen. Voller Vorfreude packt Polyphem seinen Burger aus. Man

sieht förmlich, wie der Speichel seinen Mundraum

überschwemmt. Plötzlich ertönt ein schrilles Signal. „Und was ist

das jetzt?” frage ich erschrocken. „Es geht weiter...” sagt er und

schmeißt sichtlich genervt und vielleicht auch ein bisschen traurig

seinen Big Mac zurück in die Papiertüte.

Schade, für einen kurzen Moment konnte ich vergessen, in was für

einer prekären Situation ich stecke.


Das Motorengeräusch schwillt wieder an und Polyphems rauhe

Hände packen das Lenkrad. Mit leisem Surren verlassen wir den

öden Steinboden und gleiten wieder auf dem dunklen Asphalt

entlang. Zwischen uns die mayoverklebte Tüte. Ich schaue auf das

Navi; die Zeitanzeige lässt 41 Minuten bis zum Ziel verlauten.

Mein Magen gibt mir einen kleinen Schubser. Mein Blick wandert

nach rechts aus dem Fenster, ich beobachte die Büsche und

Bäume, die vorbeifliegen, und knabber an meiner Apfeltasche.

Mein Fahrer beobachtet mich. Sein Blick verpasst mir ein ungutes

Gefühl der Überwachung. Ich drehe den Kopf und Polypehms

Augen zucken zurück auf die Straße. Ich tue so, als hätte ich seinen

Blick nicht bemerkt und richte auch meinen nach vorne.

Gelbweiße Laternen beleuchten die leeren Straßen und blauen

Autobahnschilder. Wir passieren eine Bergspitze und haben nun

einen Überblick über die leicht gewölbte Landschaft. Nur wenige

Autos beleben mit ihren feinen Scheinwerfern die sauber gebauten

Straßen, die sich durch die Landschaft ziehen wie betonierte

Flüsschen.

Als würden sich Polyphems Gedanken in meine einreihen, sagt er:

„Wir hätten lieber eher fahren sollen. Im Tagesgeschehen

verschwinden solche Geschäfte wie unsere. Die Nacht ist viel zu

ruhig.” „Wissen ist Nacht.”, rezitiere ich Ilja. Bei dem Gedanken an

ihn bekomme ich wieder Schuldgefühle. Ein Lächeln bezieht den

rechten Mundwinkel meines Fahrers. Wieder ein kurzer Blick zu

mir. Stirnrunzeln. Blick nach vorne. „Frank hat mir von ihm

erzählt.”, wendet er sich mir zu. „Und auch, dass ihr euch sehr nahe

steht.” Nahe standen, flüstert mein Kopf. Als hätte er diese

Gedanken durch das Motorengeräusch hören können, antwortet

er mir: „Ich denke, er wird dir verzeihen. Es wird seine Zeit

brauchen, aber Frank war sich da seiner Sache sicher.” Wieder ein


Blick in den Rückspiegel. Wieder dieses Stirnrunzeln. Ich folge

seinem Blick.

In der Reflexion erkenne ich einen silbernen Renault. Er scheint

nur wenige Meter hinter uns zu sein. Skeptisch schaue ich wieder

nach vorne und dann nach links. Das Gesicht der fahrenden

Person ist aus dem Seitenspiegel heraus nicht erkennbar.

„Der folgt uns schon seit unserer kleinen Pause.”, brummt

Polyphem und gibt Gas. Der Renault fällt zurück und

verschwindet in der Nacht. „Kein Bock auf Probleme.”, kommt es

von der Steuerseite. Doch hinter uns tauchen erneut die

Scheinwerfer auf. „Scheiße.”, höre ich nur. Der Motor heult auf

und unser Wagen prescht nach vorne. Das plötzliche

Beschleunigen drückt mich in den weichen Sitz und die

Apfeltasche in meinem Bauch fühlt sich ungut an. Ich wage nichts

zu sagen, sondern beobachte im Rückspiegel nur die kleinen

Lichter des Renault, der sich durch die wenigen Autos schlängelt,

um uns zu erreichen. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit

manövriert uns Polyphem in die nächste Ausfahrt und rast durch

die schmalen Straßen einer kleinen Stadt. Das Navigationsgerät in

unserer Mitte gibt laut seinen Unmut kund. „Was passiert, wenn

wir es nicht schaffen, ihn abzuschütteln?”, frage ich mit einem

flauen Gefühl im Magen. „Niemand sollte wissen, wer und wo du

bist, wenn diese Informationen veröffentlicht werden. Du weißt zu

viel, als dass du als Informationsquelle in die falschen Hände fällst.

Dass das nicht möglich ist, dafür haben wir gesorgt. Oder werden

wir sorgen.”, sagt Polyphem grimmig und wie um seine Worte zu

unterstreichen, fasst er in die rechte Jackentasche. Seine Hände

umfassen den Griff einer Pistole.

Ich kneife die Augen zusammen und beiße mir auf die

schokoladige Unterlippe mit Apfeltaschen-Geschmack. Vor

meinem inneren Auge sehe ich zwei kleine Jungs in einem


muschelförmigen Gartensandkasten auf einem Balkon im 11. Stock

eines Betonklotzes der Nordweststadt, Ortsbezirk 8, spielen. Da

ist kein Sand drin. Banknoten. Kleine Jungs in einer kleinen

Wohnung mit kleinen Bündeln Banknoten. Sie haben sich lieb.

Doch was beide noch mehr lieben, ist das Spiel mit dem Geld.

Einer der Burschen streicht sich seine langen, zuckerklebrigen,

schwarzen Haare aus dem Gesicht und schreibt mit einem

angekauten Buntstift etwas in sein Notizheft. Der andere Junge

fächert die Scheinchen in seiner Hand auf, grinst so breit, dass

seine katzenartigen Reißzähne kein Entkommen aus dem Spiel

zulassen und sagt „Zieh eine!“

So stelle ich sie mir vor. Als wären sie als Bankräuber geboren

worden; als hätte man ihnen die Kriminalität in die Wiege gelegt;

als wären sie schon immer ein gefährliches Duo gewesen. Nein.

Letzteres stimmt nicht. Nicht mehr. Ilja und Frank sind zwar noch

blutsverwandte Brüder, aber sie waren ein unschlagbares Team.

Präteritum. Jedes lustige Spiel unter Kindern kann irgendwann in

Zankerei enden. Bis einer heult. Ich frage mich, ob sie irgendwann

noch einmal unschlagbar hätten werden können, wenn ich nicht

zwischen sie gekommen wäre. Ich habe es mir nicht ausgesucht,

Frank hat mich schließlich beauftragt, aber ich hätte Nein sagen

können… sogar sagen müssen, nachdem ich Iljas klugen Kopf

kennengelernt und sein weiches Herz meines berührt hatte. Er ist

ein besonnener Mensch, wenn man das überhaupt über einen

Verbrecher sagen darf. Er ist ruhig, clever und zielstrebig. Jeden

Raub hat er von vorne bis hinten allein geplant und skizziert.

Frank hat sie ausgeführt und für dieses höhere Risiko später auch

eine höhere Summe des Gewinns verlangt. Ich glaubte vor Jahren

schon nicht seinen Worten, Ilja hätte nicht teilen wollen, wäre zu

geizig gewesen, um seinem Bruder mehr Kohle zu überlassen. Ich

wusste, noch bevor Ilja es mir im Urlaub am Meer selbst erzählte,


dass er damals einfach nur aussteigen wollte. Raus aus der

gemeinsamen Schein-Wohnung in dem Betonklotz in der

Nordweststadt, Ortsbezirk 8. Raus aus dem kindischen

Versteckspiel. Raus aus dem geschwisterlichen Druck. Es ging

nicht um Geld. Er geizte nie. Auch nicht mit seinen Gefühlen mir

gegenüber. Und obwohl ich nur so tun wollte als ob – auch ich

hatte irgendwann ehrliche Gefühle für diesen besonderen

Menschen entwickelt. Wie sehr ich mir nun wünsche, in der

Mappe an Frank einfach nur die Liebesbriefe von Ilja abgegeben

zu haben. Sein Rat an mich, der mir die letzten Stunden in den

Ohren hallte, niemals etwas nur deswegen zu tun, weil man

jemandem irgendwann einmal sein Wort gegeben hatte, macht

mich jetzt wahnsinnig. Ich hatte es Frank versprochen, aber

damals kannte ich Ilja noch nicht.

„Scheiße!“ Polyphem reißt mich aus meinen Schuldgefühlen. „Bleib

sitzen!” Er hält.

Mein Rücken prallt unsanft gegen die Lehne des Sitzes.

Gleichzeitig erkenne ich den Grund für die Vollbremsung - ein

anderes Auto, in einem dreckigen Beige und mit

eingeschmettertem Vorderlicht, kommt rasend schnell näher.

Genau auf uns zu. Polyphem flucht noch einmal laut.

„Das ist doch ein verdammter schlechter Scherz,“ stößt er wütend

hervor und ich werfe ihm einen ungläubigen Blick zu.

„Jetzt ist der Punkt, an dem du auch mal nervös wirst, ja?“

Polyphem geht nicht auf mich ein. Über den Seitenspiegel

beobachtet er den Renault, der scharf hinter uns parkt. Murmelt

etwas Unverständliches und dreht sich mir zu. „Erkennst du auch

nur einen der Wagen?“

Ich schüttle mit dem Kopf. Mein Körper fühlt sich mittlerweile

ruhig an, fast taub. Die Panik bleibt aus. Vielleicht, weil das hier


trotz allem keine Überraschung ist. Ich wusste ja von Anfang an,

worauf ich mich einlasse. Nicht unbedingt emotional; und mit der

Sache zwischen Ilja und mir hat ja auch niemand gerechnet - ich

zuallerletzt. Aber grundlegend. Den Auftrag anzunehmen und heil

aus der Sache wieder herauszukommen, wäre damals schon eine

lachhafte Vorstellung gewesen.

Jetzt also unausweichlich – was immer kommt, kommt.

Das Fahrzeug vor uns hält in gut zehn Metern Entfernung. Kurz

scheint alles still. Niemand anderes in Sicht und die Autotüren

bewegen sich nicht. Es ist, als würden alle drei Parteien auf etwas

warten. Mein Mund wird jetzt doch trocken.

„Der Renault war keine Überraschung. Das Teil da,“ zischt

Polyphem und weist mit dem Kinn auf das beige Auto, „das gehört

Frank.“

„Frank?“

„Frank.“

Pause. Ich fühle mich, als würden mir mehrere Puzzleteile fehlen.

Mit Blick auf Polyphems Pistole schnalle ich mich ab.

„Du kannst mir nicht erzählen, dass Frank sich mit so einer

Schrottkarre sehen lässt.“

„Na, ich sag mal, sein offizielles Auto ist es nicht.“

„Und was macht Frank hier?“

„Die Frage ist vielmehr, wer in Franks Auto sitzt.“ Er schaut mich

an und hebt die Mundwinkel, die unangenehme Nachahmung

eines Lächelns. „Soweit ich weiß, haben nur zwei Menschen den

Schlüssel zu diesem Wagen. Und Frank überreicht in der

Redaktion gerade deine Arbeit. Persönlich.“

Ich spüre, wie sich ein Fragezeichen langsam über meinem Kopf

aufbläht, während ich Polyphem anstarre. „Dieser Dreckskerl“,

zischt es zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Dieses verdammte Schwein. Wie hat er uns gefunden?“, fährt er


mit beunruhigend ruhiger Stimme fort. Ein Geräusch hinter uns

erregt meine Aufmerksamkeit und als ich über meine linke

Schulter schaue, stelle ich fest, dass der Verfolger uns nun

eingeholt hat und hinter uns stehen bleibt. Geblendet vom Licht

wende ich mich mit zusammengekniffenen Augen wieder zu

Polyphem, der immer noch das Auto anstarrt und tue es ihm

gleich. Das Fragezeichen über meinem Kopf ist inzwischen so

groß, dass es für Polyphem und mich ziemlich eng im Auto und

schwer zu atmen wird. Ich fühle mich so hilflos wie ein Vogelbaby,

das von seinen Eltern aus dem Nest geschmissen wird.

Plötzlich öffnet sich die Tür des hinteren Autos und ich zucke

zusammen. „Pass auf, wirklich niemand sollte von dir erfahren. Das

könnte dich dein Leben kosten.“ Ich schlucke und beiße die Zähne

zusammen, um das Klappern zu unterdrücken und meine

Aufregung zu verbergen. Polyphem wendet sich zu mir und schaut

mir direkt in die Augen. Er wirkt gefasst. „Sobald die da

aussteigen, haben die dich. Deshalb musst du hier raus. Und zwar

vor denen.“ Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass mein Gehirn vor

Überforderung seine Worte nicht verarbeiten kann, oder dass es

vielleicht tatsächlich ein genialer Einfall ist, aber ich nicke ihm zu.

„Du wirst die Tür aufreißen und einfach in den Wald durch die

Nacht rennen. Um die hier kümmer‘ ich mich.“

Ein Blick in den Seitenspiegel. Jemand steigt aus dem hinteren

Auto. Ich öffne den Mund und noch bevor ich antworten kann,

erstickt ein Knall alle Worte in meinem Hals und Gedanken in

meinem Kopf. Das spitze Geräusch der zersplitternden

Autoscheiben nehme ich kaum wahr, als ich meinen Oberkörper

instinktiv nach unten reiße. Das vor einigen Momenten noch

riesige Fragezeichen im Auto hat jetzt ein Loch und saust

unkontrolliert wie ein Luftballon im Auto herum, während es all

seine Luft verliert. „Renn!“, brüllt mich Polyphem mit


aufgerissenen Augen an. Ohne zu blinzeln reiße ich die Tür auf

und renne geradeaus, um in der Dunkelheit zu verschwinden.

Doch genau in diesem Augenblick höre ich eine Stimme, die

meinen Namen ruft. Als ich mich in ihre Richtung drehe, schaue

ich direkt in die Scheinwerfer des beigefarbenen Autos und nehme

eine vertraute Silhouette wahr, die aus dem Auto steigt. Zu

undeutlich, um eine Person zu erkennen, allerdings deutlich

genug, um mein rasendes Herz für einen Moment stolpern zu

lassen. Plötzlich fühle ich einen Widerstand an meinem Fuß,

welcher mir jegliches Gleichgewicht entzieht, meinen Körper nach

vorne schmeißt und mich der Dunkelheit übergibt. Anstatt hart

auf dem Boden aufzuschlagen, überschlägt sich mein Körper

immer wieder und erneut peitscht ein kurzer Knall aus kurzer

Entfernung durch die Nacht. Ich spüre, wie sich stumpfe Dinge

widerstandslos wahllos in meinen Körper drücken. Zwei weitere

Knalle. Dicht gefolgt von einem weiteren, etwas dumpferen, der

allerdings daherkommt, dass mein Oberkörper auf einen großen,

unbeugsamen Widerstand trifft, der mich zwar augenblicklich

stoppt, mir jedoch ebenfalls die Luft aus der Lunge presst.

Vielleicht hat der Stein den Sauerstoff aber auch von meiner

Lunge durch die Blutbahn direkt ins Gehirn katapultiert,

jedenfalls ist der Nebel verschwunden und der erste klare Gedanke

hebt sich ab.

Ilja. Wer sonst sollte es so eilig haben, mich zu sehen.

Zurückgehen oder weiterlaufen? Dieses Mal wird keiner Wetten

über mich abschließen.

Zwei oder drei Stimmen krabbeln durchs Gestrüpp. Darunter

Iljas, die wie eine Flipperkugel von seinen Emotionen abprallt und

umher geschleudert wird. Als ich mich auf den Rücken drehe,


knacken die Zweige unter mir mindestens so laut wie die Schüsse

eben.

Die Schüsse...

Wusste Polyphem, dass Waffen zum Einsatz kommen würden?

Oder Frank? Warum sonst hätte der Hüne eine dabeihaben sollen?

Mein Herzschlag pocht in den Ohren. Dudummm. Dudummm.

Als wüsste der Muskel in meiner Brust, dass es um ein Haar

Nacht um mich geworden wäre und als wollte er versichern, dass

er weiterarbeitet.

Jemand hat den Ton wieder angestellt. Meine Gedanken

schweifen zur Straße zurück. Das Murmeln schwillt zu Geschrei

an.

Wie lange wird es dauern, bis sie mir nachlaufen? Wie lange habe

ich noch, bis ich eine Entscheidung treffen muss?


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