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Capitol Magazin Nov 20 – Jan 21

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Interview mit Karla Spagerer und Die Zwei von der Klangstelle

„Mutter Courage vom Waldhof“ trifft auf politische Bildung durch Kunst

Es ist ein sonniger Frühherbsttag im Oktober.

Vier Menschen treffen sich in einem

schönen Siedlungshaus im Waldhof. Die

Straßennamen der Siedlung verweisen auf

die Arbeitervergangenheit der damaligen

Häuslebauer. Die Menschen dort haben

Adressen wie Zäher Wille, Frohe Arbeit und

Große Ausdauer. Und es wird sich herausstellen,

dass das kein Zufall sein kann, dass

die Gastgeberin genau hier schon ihr ganzes

Leben zuhause ist. Es gibt Kaffee, Tee

und selbstgebackenen Kuchen. Wir treffen

uns mit Karla Spagerer. Viele Mannheimer

kennen sie als eine der letzten Zeitzeuginnen

und eine der letzten noch verbliebenen

Personen, die im Lechleiter-Kreis

verkehrten. Georg Lechleiter, einer der

führenden Köpfe der Nordbadener Widerstandsbewegung

gegen die Nationalsozialisten,

war ein Freund der Familie. Karla

Spagerer ist eine Frau, die bei Erscheinen

des Interviews gerade ihren 91. Geburtstag

gefeiert hat. Das Alter sieht man ihr nicht

an. Ein glasklarer Geist trifft auf spitzen Humor

und eine Menge Lebensfreude. Eine

sehr gute Mischung. Der Anlass des Treffens

ist ein Konzert, das am 09. November 2020

im Capitol stattfinden wird. Am 82. Jahrestag

der Reichspogromnacht wird im Capitol

„Die Zwei von der Klangstelle“ gespielt.

Spagerer hat diesen Tag in erschreckender

Klarheit noch im Gedächtnis, darüber hinaus

ist sie bekennender Fan dieses Konzerts

und seiner Protagonisten Dr. Markus

Weber und Dieter Scheithe. Julia Wütscher

hat die Drei zur Zeit des Nationalsozialismus

und zum Konzertabend interviewt.

Spagerer hat viel zu erzählen aus der Zeit

des Krieges und deshalb ist der erste Teil

des Interviews ihrer Kindheit gewidmet.

Der Zeit, in der auch das Programm von

„Die Zwei von der Klangstelle“ seine Lieder

fand. Wie das zusammen gehört, erfahren

Sie im Laufe des Interviews.

Julia Wütscher: Sie wuchsen in einer

kommunistischen Familie auf. Das Umfeld

wurde ebenfalls verfolgt. Ihre Großmutter

musste gar 1 ½ ins Zuchthaus. Haben Sie als

Kind mit ihren Freunden über die Inhaftierung

der Großmutter oder den Judenhass

gesprochen?

Karla Spagerer: Nein, das fand nicht statt.

Ich habe auch bald jeden Tag zu hören bekommen:

„Erzähl nie das, was Du hier im

Haus erfährst“. Der Waldhof war ja nicht

so groß, da hat ja jeder gewusst, wer ein

Kommunist ist, oder so. Aber das hat uns

als Kinder nicht gestört. Da haben wir nicht

drüber gesprochen.

Wütscher: Und nach der Reichspogromnacht?

Spagerer: Nein, auch da kann ich mich

nicht erinnern, dass das Thema war. Die rassistische

Einordnung Jude kam ja nicht bei

uns an. Bei uns waren das Mannheimer.

Wütscher: War Mannheim anders nach der

Reichspogromnacht?

Spagerer: Mein Vater arbeitete in F3 in

einem Geschäft von zwei jüdischen Schwestern.

Die waren weg nach dem 9. November.

Danach hatte mein Vater da ja keine

Arbeit mehr und wir sind nicht mehr in die

Stadt gegangen.

Markus Weber: Standen die Geschäfte

dann leer?

Spagerer: Nein, das wurde weitergeführt.

Ich vermute, dass das Deutsche einfach

übernommen haben. Den Schwestern war

das auch nicht klar, dass sie im Fokus waren.

Mein Vater hat sie noch gewarnt, aber die

haben nur gesagt: ‚Ludwig, wir sind doch

Mannheimer Bürger‘.

Weber: Genau, da sieht man wieder, das

rassistische wurde oben drauf gesetzt. Ich

sage immer: Deutsche jüdischen Glaubens.

Spagerer: Das ist eine gute Formulierung,

die ich in ihrem Programm gehört habe, die

ich jetzt auch immer benutze.

Wütscher: Mannheim wurde zu 80% zerstört

im Krieg. Das nimmt man als Kind ja

wahr. Die Zerstörung war allgegenwärtig.

Was war denn ihre größte Angst zu Kriegszeiten?

Spagerer: Wir haben einen Bunker zugeteilt

bekommen, der etwas entfernt von unserem

Zuhause lag. Wir haben weite Wege

dorthin gehabt. So 20-25 Minuten mussten

wir laufen, um im Bunker zu schlafen.

Es muss nach 1942 gewesen sein, als ich

mich mit einer Freundin in der Dämmerung

auf den Weg zum zugewiesenen Bunker

machte. Es war dunkel und plötzlich hat

meine Freundin gesagt: ‚Es müsste doch

dunkler werden, wieso wird es denn immer

heller?‘ Dann haben wir uns umgedreht

und da waren Christbäume am Himmel. Da

kam die erste Fliegerstaffel und hat Leuchtmunition

abgeworfen. Das sah aus wie ein

Christbaum. Da wussten wir, 8 Minuten später

kommen die mit den Bomben, da sind

wir gerannt. Da ging es ums Überleben.

Kommen wir noch in den Bunker?

Wütscher: Was wusste die Mannheimer

Bevölkerung früher? KZs, Rückschläge an

der Front… War es wirklich so, dass man

von der systematischen Vernichtung nichts

wusste?

Karla Spagerer, Dr. Markus

Spagerer: Man wusste schon, dass es außer

den Zuchthäusern noch etwas gibt.

Weber: Aber das waren Internierungslager.

Spagerer: Ja, Internierungslager. Also meine

Großmutter wusste das schon - oder

Straflager. Es gab ja auch Strafkompanien,

die Nazis haben ja Widerstandskämpfer

– denkt an die Moorsoldaten – gezielt in

Kompanien untergebracht. Aber in dem

Ausmaß wusste man das nicht. Wiederum

kann ich mir nicht vorstellen, dass die, die

neben einem KZ gewohnt haben, das nicht

mitbekommen haben, wenn der Rauch aufstieg.

Wir haben das in diesem Ausmaß erst

nach dem Krieg erfahren.

Wütscher: Wann war ihnen und der Mannheimer

Bevölkerung denn klar, dass der

Krieg bald vorbei sein wird?

Spagerer: Oh, das hat man schon die letzten

Wochen gewusst. Es hat viele Leute gegeben,

also wir nicht, die schwarz Radio gehört

haben. Wir haben von anderen Leuten

viel erfahren und wussten dann schon, wo

die Amerikaner sind.

Weber: Mein Großvater hat auch schwarz

Radio gehört, BBC. Wenn man sich einen

Radio gekauft hat, war immer verboten

BBC zu hören. Mein Onkel war mit Rommel

in Afrika und mein Opa wollte immer

wissen, wie sieht es in Afrika aus. Da gab es

keine Verbindung und da haben sie immer

nachts die Fenster abgedunkelt und sind in

den Keller gegangen. Die Nazis sind ja mit

Sendern durch die Straßen gefahren und

haben geprüft wer Radio hört.

Spagerer: Ich sage den Schülern immer:

Kriege und Diktaturen wecken die

schlimmsten Instinkte im Menschen. Ich

bin überzeugt, mancher hat sich danach

geschämt, aber dann war es zu spät. Und

dann erinnere ich bei der Gelegenheit auch

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