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Sonnenglanz und Sternenschimmer über der Heideinsel

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Unserer Umwelt zuliebe!<br />

Barbara Kochem<br />

<strong>Sonnenglanz</strong> <strong>und</strong> <strong>Sternenschimmer</strong> <strong>über</strong> <strong>der</strong> <strong>Heideinsel</strong><br />

ISBN 3­931123­40­3<br />

© Copyright bei Barbara Kochem, Mannheim 2001<br />

© Copyright <strong>der</strong> Zeichnungen sowie alle Rechte <strong>der</strong> vorliegenden Ausgabe<br />

bei Zwiebelzwerg Verlag, Gregor Christian Schell, Willebadessen 2001<br />

Umschlaggestaltung & Layout: Heike Laufenburg<br />

Illustrationen von Heike Laufenburg nach <strong>der</strong> Vorlage von<br />

Fotos von Barbara Kochem<br />

Druck: Zwiebelzwerg Verlag, Verlagsdruckerei<br />

Gesamtherstellung: Zwiebelzwerg Verlag<br />

Klosterstr. 23, 34439 Willebadessen, Tel&Fax 05646/1261<br />

verlag@zwiebelzwerg.de; www.zwiebelzwerg.de


Barbara Kochem<br />

<strong>Sonnenglanz</strong><br />

<strong>und</strong><br />

<strong>Sternenschimmer</strong><br />

<strong>über</strong> <strong>der</strong> <strong>Heideinsel</strong><br />

illustriert von<br />

Heike Laufenburg<br />

Zwiebelzwerg Verlag<br />

Willebadessen


Gewidmet DEM, <strong>der</strong> mir<br />

die Sehnsucht<br />

nach Schönheit <strong>und</strong> Liebe<br />

in die Seele gelegt hat ...


Inhaltsverzeichnis<br />

1. Bild Prinzessin Aurora 9<br />

2. Bild Prinz Aquarius 13<br />

3. Bild Nereide 17<br />

4. Bild Prinzessin Estella 21<br />

5. Bild Die Heidekin<strong>der</strong> 25<br />

6. Bild Farnlinde, die Waldfee 28<br />

7. Bild Fips, <strong>der</strong> Pfeifer 32<br />

8. Bild Effken­Lene 37<br />

9. Bild Hedeheidi 46<br />

10. Bild Martje 51<br />

11. Bild Kadabra 56<br />

12. Bild Puck­Muck 60<br />

13. Bild Fürst Aeromir <strong>und</strong> die Wolkenbräute 62<br />

14. Bild Die Wurzelgnome 65<br />

15. Bild Der Sturm 70<br />

16. Bild Pamina, die Tänzerin 71<br />

17. Bild Das Unheil 75<br />

18. Bild Ozeanos 80<br />

19. Bild Die Genesung 82<br />

20. Bild Die Erlösung 85<br />

21. Bild Hochzeit auf <strong>der</strong> Heide 88<br />

22. Bild Prinzessinnenglück 90<br />

5


Prolog<br />

Kennt ihr einen verzauberten Ort, <strong>der</strong> eure Seelen mit seinem<br />

geheimnisvollen Glanz durchstrahlt?<br />

Nein?<br />

Ihr glaubt nicht daran, dass es einen solchen Ort geben könnte?<br />

Nun, ich will euch nicht dar<strong>über</strong> belehren, will eure Betrachtung <strong>der</strong><br />

Dinge nicht in Frage stellen.<br />

Aber lächeln darf ich doch, o<strong>der</strong>?<br />

Nun glaubt ihr vielleicht, ich sei nicht recht bei Sinnen.<br />

Aber eine Erinnerung zieht vor meinem nach innen gewandten Blick<br />

herauf wie ein Schneesturm im Winter. Und ein Wort schiebt sich wie<br />

ein heller Lichtstrahl <strong>über</strong> Belangloses.<br />

Murma, Murma, Murma!<br />

Geheimnisvolle Insel inmitten im weiten, stürmischen Meer.<br />

Wer aus dem schwankenden Kahn steigt <strong>und</strong> den festen Boden unter<br />

seinen Füßen spürt, fühlt die weiche Ruhe bereits wie einen Hauch,<br />

selbst wenn er sich noch inmitten des Trubels des Seehafens befindet.<br />

Murma ist groß. Langgestreckte Wäl<strong>der</strong> bedecken das Eiland, riesige<br />

Heideflächen schmücken die weite Dünenlandschaft, im Osten dehnen<br />

sich Wiesen <strong>und</strong> Weiden; heimelige Dörfer schmiegen sich in sie<br />

hinein wie eine Katze in ihren Korb. Vor den Dünen liegt <strong>der</strong> weiße<br />

Strand, <strong>der</strong> kein Ende zu nehmen scheint, <strong>und</strong> er selbst wird<br />

umschlossen von <strong>der</strong> ewig wogenden See, die unaufhörlich gegen die<br />

Insel brandet.<br />

Geheimnisvolle Laute dringen aus dem dichten Unterholz, als würden<br />

dort Geschöpfe hausen, die im Schutz <strong>der</strong> Dunkelheit leben.<br />

Und in den Erlengründen erklingt bisweilen ein zartes Raunen, von<br />

dem man annehmen könnte, es wäre das leise Säuseln des sanften<br />

Windes.<br />

Am Ende eines Tages, wenn die Abendwolken ihre golden <strong>über</strong>hauchten<br />

Gewän<strong>der</strong> tragen, sieht man in den Häusern <strong>und</strong> Hütten<br />

einen milden Schein aufleuchten, denn in den Stuben erwacht das<br />

Leben, wenn draußen <strong>der</strong> Wind kräftiger umherstreicht <strong>und</strong> die Fensterläden<br />

leicht erzittern lässt.<br />

Wenn dann spät in <strong>der</strong> Nacht sich die Wolkendecke auflöst <strong>und</strong><br />

triumphierend den Blick auf die <strong>über</strong> <strong>der</strong> Insel erstrahlenden Sterne<br />

freigibt, träumen die Menschen oft von unerklärlichen, w<strong>und</strong>ersamen<br />

Dingen, die sie vage spüren, die sie jedoch nicht recht zu erfühlen,<br />

7


geschweige denn zu beschreiben wüssten, solange das Tageslicht ihre<br />

Tätigkeiten bestimmt.<br />

Und doch erwachte einst ein Mägdelein, das sich an seinen Traum<br />

ganz genau zu erinnern vermochte, <strong>und</strong> was es darin gesehen hatte,<br />

erstaunte es <strong>und</strong> hat es selig beglückt.<br />

Schnell verbreitete sich sein Inhalt von M<strong>und</strong> zu M<strong>und</strong>. Manch einer<br />

setzte eine zweifelnde Miene auf, wenn er ihn gehört hatte. Die Kin<strong>der</strong><br />

aber freuten sich <strong>und</strong> zweifelten nicht einen Augenblick daran,<br />

dass das ihnen Geschil<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Wahrheit entsprach. Und so will ich<br />

es dehalb wagen, euch diesen Traum zu erzählen, wenn euch dies<br />

genehm ist.<br />

Es ist die Geschichte vom <strong>Sonnenglanz</strong> <strong>und</strong> <strong>Sternenschimmer</strong><br />

<strong>über</strong> <strong>der</strong> <strong>Heideinsel</strong>........<br />

8


Aurora<br />

Morgenglanz, <strong>der</strong> lieblich­klar den jungen Tag erhellt<br />

Rosenzarte Perle, von Hoffnung kündest du aller Kreatur<br />

wenn golden­weiches Licht deinen Händen entströmt,<br />

<strong>über</strong> Wiesen, Dörfer, Dünenhügel <strong>und</strong> Baumwipfel gleitet,<br />

als Ruf des Lebens<br />

<strong>und</strong> süß deines Atem‘s Hauch den Himmel füllt<br />

<strong>und</strong> Wärme sich ausbreitet in den Lüften<br />

dein mädchenhaftes Lächeln sich in die Herzen<br />

<strong>der</strong> Geschöpfe senkt,<br />

ihnen Kraft, Freude <strong>und</strong> Zuversicht schenkt<br />

doch kein Mensch dich je erschauet,<br />

schwebst dahin in einem Augenblick<br />

wenn die Sonne gewinnt an Stärke<br />

zurück bleibt nur das Angedenken deines Zaubers<br />

bis ein neuer Morgen erwacht.....<br />

9


10<br />

Oh, du strahlen<strong>der</strong> Morgenglanz, <strong>der</strong> die Finsternis<br />

<strong>der</strong> Nacht vertreibt,<br />

du Liebliche, verströmst deinen Atem<br />

in segnendem Wohlgefallen<br />

<strong>und</strong> die Kuppen <strong>der</strong> Dünen <strong>über</strong>zieht<br />

ein rosiger Hauch <strong>der</strong> Frische,<br />

wandelst du <strong>über</strong> die Wolken,<br />

dein leuchtendes Gewand berührt die Luft<br />

<strong>und</strong> erfüllt sie mit Wärme.....<br />

Prinzessin Aurora<br />

Der Morgenhimmel lag in pastellfarbenen Schattierungen <strong>über</strong> dem<br />

östlichen Horizont <strong>der</strong> Insel. Zartes Blau, helles Beige <strong>und</strong> ein kräftiges<br />

Rosa flossen ineinan<strong>der</strong> hinein. Nur die unterste Schicht, direkt<br />

<strong>über</strong> <strong>der</strong> horizontalen Linie, bestand aus dunklem Violett. Stille drang<br />

durch die Dämmerung. Die Luft war frisch <strong>und</strong> kühl, wie immer zu<br />

dieser St<strong>und</strong>e.<br />

Plötzlich jedoch zeigte sich ein schwacher Schimmer....<strong>und</strong> langsam<br />

wurden die ersten Spuren <strong>der</strong> aufgehenden Sonne sichtbar. Wie eine<br />

zarte, rosenrote Perle stand sie bald <strong>über</strong> dem Osthorizont, klar <strong>und</strong><br />

taufrisch, hineingeboren in einen neuen Tag. Keine Verheißung<br />

konnte mehr ausdrücken als jene Botschaft, die ihrer vollendeten<br />

Schönheit innewohnte.<br />

Ein Hahn krähte dreimal. Pferde, Kühe <strong>und</strong> Schafe regten sich, aus<br />

ihrem Schlafe erwachend. Schwärme von auffliegenden Vögeln erhoben<br />

sich munter in die Lüfte.<br />

Höher <strong>und</strong> höher stieg <strong>der</strong> Sonnenball <strong>und</strong> gewann zusehends an<br />

Leuchtkraft. Orangegoldene Strahlen fluteten <strong>über</strong> die gräserbewachsene<br />

Ostseite <strong>der</strong> Insel Murma.<br />

Diese St<strong>und</strong>e gehörte Prinzessin Aurora, <strong>der</strong> w<strong>und</strong>erschönen Tochter<br />

des Sonnenkönigs Helios. Sie, die Herrin <strong>der</strong> Morgenröte, pflegte um<br />

diese Zeit auf einem goldenen Sonnenstrahl zur Insel hinunterzugleiten.<br />

Gewöhnlich bereitete es ihr sehr viel Freude, die sanfte Morgenröte<br />

<strong>über</strong> <strong>der</strong> Insel auszubreiten, <strong>und</strong> sie liebte es, von einer rosafarbenen<br />

Wolke auf die nächste zu springen, um so <strong>über</strong> das ganze<br />

Eiland zu wandeln. Auroras lieblicher Atem erfüllte stets die Luft mit<br />

frischer Süße, <strong>und</strong> ihrem goldglänzenden Gewande entströmte Wärme,<br />

welche sich nach <strong>und</strong> nach <strong>über</strong> ganz Murma ausbreitete. Ihre<br />

feinen, leuchtenden Hände segneten alles Lebendige <strong>und</strong> selbst <strong>der</strong>


mitunter gestrenge Sonnenkönig fühlte sich innerlich seltsam bewegt,<br />

wenn er zusah, wie die geschwungenen Kuppen <strong>der</strong> Dünenhügel vom<br />

rosaroten weichen Morgenlicht <strong>über</strong>haucht wurden.<br />

Doch heute stand <strong>der</strong> Königstochter nicht <strong>der</strong> Sinn nach solchen<br />

Spielereien. Mit dem ersten breiten Sonnenstrahl, <strong>der</strong> den Weststrand<br />

<strong>der</strong> Insel berührte, ließ sie sich an ihr Ziel tragen, dorthin, wo das<br />

Meer donnernd gegen den Strand brandete <strong>und</strong> mächtige Schaumkronen<br />

sich fortwährend <strong>über</strong>schlugen. Als die rosigen Füße <strong>der</strong><br />

blondlockigen Prinzessin den noch kalten Sand berührten, seufzte sie<br />

leise auf.<br />

Nein, nicht etwa, dass sie fror, denn eine Sonnentochter fröstelt niemals,<br />

doch ein an<strong>der</strong>er Kummer nagte an ihrem Herzen. Mit sehnsuchtsvollem<br />

Blick betrachtete Aurora aufmerksam die auflaufende<br />

Flut. Sie hatte gehofft, Aquarius, den Prinzen <strong>der</strong> Brandung, zu finden.<br />

In ihn war sie nämlich verliebt, seit sie ihm einmal heimlich<br />

dabei zugesehen hatte, wie er zu früher Morgenst<strong>und</strong>e ein Bad im<br />

Meer genommen hatte. Seitdem konnte die Prinzessin kaum noch an<br />

etwas an<strong>der</strong>es denken als an ihn, dem ihr Herz so sehr zugetan war.<br />

Aurora seufzte erneut. Von dem Meeresjüngling war weit <strong>und</strong> breit<br />

nichts zu sehen. Das Herz wurde <strong>der</strong> Prinzessin schwer. Sie setzte<br />

sich in den Sand, nahm ihre goldene Sonnenlaute <strong>und</strong> begann eine<br />

melancholische Melodie zu spielen.<br />

Jedem, <strong>der</strong> das w<strong>und</strong>erschöne Mädchen dort am Strand hätte sitzen<br />

sehen, wäre das Herz vor Freude aufgegangen, so lieblich war ihr<br />

Anblick, so morgenschön wie <strong>der</strong> junge Tag. Das Sonnenlicht fing<br />

sich in ihrem langen, lockigen Haar, umflutete ihre anmutige Figur.<br />

In den hellblauen Augen wohnte <strong>der</strong> azurfarbene Himmel, <strong>und</strong> ihre<br />

langen, zartgliedrigen Finger zupften mit großem Geschick die funkelnden,<br />

spinnwebfeinen Saiten des Instruments. Helios, dem König<br />

im Sonnenpalast, blieben die Gedanken seiner Tochter nicht verborgen,<br />

<strong>und</strong> so nickte er, innerlich zufrieden, da er nichts gegen eine<br />

Verbindung zwischen Aurora <strong>und</strong> Aquarius, dem Sohn des mächtigen<br />

Meereskönigs Ozeanos, einzuwenden gehabt hätte.<br />

Jedoch stellte er stirnrunzelnd fest, dass sein Kind nun schon recht<br />

lange in das Lautenspiel vertieft war <strong>und</strong> dabei offensichtlich die Zeit<br />

vollkommen vergessen hatte. Besorgt blickte Helios aus einem <strong>der</strong><br />

fast bis zur Decke reichenden Bogenfenster des lichtdurchfluteten<br />

Palastes. Der lebensspendende Sonnenball stand bereits hoch am<br />

Himmel <strong>und</strong> mächtige Glut umstrahlte ihn. Für Prinzessin Aurora<br />

bedeutete dies, dass sie umgehend nach Hause zurückkehren musste.<br />

11


Leicht schmunzelnd verzog König Helios das Gesicht: „Töchter....!“,<br />

sprach er laut zu sich selbst. „Vergessen einfach alles um sich herum,<br />

wenn sie in ihren Träumereien versunken sind.“ Und er rief mit<br />

mächtig hallen<strong>der</strong> Stimme ihren Namen, so dass <strong>der</strong> ganze prunkvolle<br />

goldene Saal leicht in seinen Mauern erzitterte. Prinzessin<br />

Aurora zuckte erschrocken zusammen, als sie die geliebte <strong>und</strong><br />

manchmal auch etwas gefürchtete Stimme ihres Vaters hörte. Mit<br />

einem Schlag war sie wie<strong>der</strong> ganz im Hier <strong>und</strong> Jetzt. Helios schüttelte<br />

in gespieltem Verdruss sein breites Haupt <strong>und</strong> schickte <strong>der</strong> Prinzessin<br />

einen rettenden Sonnenstrahl, <strong>der</strong> sie auf sicherem Wege<br />

zurück in den goldglänzenden Sonnenpalast führen würde.<br />

12


Aquarius<br />

Die Fäuste geballt, die Augen Funken sprühn‘<br />

des Jünglings Blick versinkt in <strong>der</strong> weiten, blaugrauen See<br />

ein Königssohn, von den rauschenden Wogen umspült<br />

bereit zu kämpfen, das Kinn vorgeschoben, kühn<br />

die tosende Gischt sein unruhiges Gemüt sacht kühlt<br />

wie das donnernde, schäumend aufbegehrende Meer<br />

brennt seine Leidenschaft wie Glut,<br />

sein Herz, es leidet<br />

die Trennung, sie schmerzt so sehr<br />

seine Treue ist stark wie die auf den Strand zurollende Flut<br />

nein, ohne sein Lieb mag er nicht leben<br />

ach, gäb‘ <strong>der</strong> Vater doch endlich seinen Segen<br />

auf dass er könnte vereint sein mit seiner Nereide<br />

<strong>und</strong> sie miteinan<strong>der</strong> glücklich lebten,<br />

erlöst von ihrem Leide...<br />

13


14<br />

Ich bin das Tosen, Rauschen, Branden,<br />

die Kraft, die stets von Neuem entsteht,<br />

<strong>und</strong> so stark ist auch meine Liebe,<br />

die in großer Treue besteht ...<br />

Prinz Aquarius<br />

Die Sonne stand bereits hoch am hellblauen, wolkenlosen Himmel,<br />

als die gewaltige Brandung donnernd gegen den Weststrand <strong>der</strong> Insel<br />

schlug.<br />

Grünlich schimmerte das Meer, in diamantenem Glanze spiegelte<br />

sich das Licht, das <strong>der</strong> gleißenden Sonnenscheibe entströmte, im<br />

Wasser. Weiße Schaumkronen <strong>über</strong>rollten sich <strong>und</strong> zerstoben zu sprühen<strong>der</strong><br />

Gischt.<br />

Die Flut rückte vor. Zielstrebig <strong>über</strong>zog ein nasser Teppich Stück für<br />

Stück den feinen Sand, <strong>der</strong> da ausgebreitet lag wie ein schimmerndes<br />

Tuch aus ockerfarbener Seide.<br />

Der junge Mann, <strong>der</strong> inmitten <strong>der</strong> tosenden Brandung saß, die Hände<br />

hinten aufgestützt, die sich fest in den weichen Schlick gruben, verzog<br />

jedoch trotz dieser wilden, leidenschaftlichen Schönheit sein<br />

Gesicht zu einer düsteren Miene. Es handelte sich um keinen Geringeren,<br />

als um den Prinzen Aquarius, den Sohn des mächtigen Meereskönigs<br />

Ozeanos. Um eben genau den Jüngling, für den Prinzessin<br />

Aurora´s Herz so heftig schlug. Doch von <strong>der</strong> Sehnsucht <strong>der</strong> lieblichen<br />

Herrin <strong>der</strong> Morgenröte wusste <strong>der</strong> Brandungsprinz nichts. Seine<br />

Gedanken kreisten beständig um Nereide, die er <strong>über</strong> alles liebte, <strong>und</strong><br />

die sein Vater auf die Insel Murma, in einen kleinen Teich verbannt<br />

hatte, um ihre Liebe, die ihm ein Dorn im Auge war, zu zerstören.<br />

Mit einer wütenden Handbewegung warf <strong>der</strong> Prinz den kühlen<br />

Schlick, den seine geballte Rechte fasste, in die wogenden Wellen<br />

hinein, wo er mit einem klatschenden Protestschrei auf das Wasser<br />

aufschlug <strong>und</strong> zu Boden sank.<br />

Aquarius´ Augenbrauen zogen sich finster zusammen. Er dachte daran,<br />

wie oft er in <strong>der</strong> letzten Zeit wegen dieses Themas mit seinem<br />

Vater aneinan<strong>der</strong> geraten war.....Der alte Meereskönig zeigte sich stur<br />

<strong>und</strong> unerbittlich wie ein Maulesel.<br />

Er konnte einfach nicht verstehen, dass sein Sohn ohne die geliebte<br />

Nixe nicht leben wollte. „Lieber verzichte ich auf den Meeresthron,<br />

als auf meine Nereide!“, hatte Aquarius nach einer heftigen Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

seinem Vater an den Kopf geworfen, <strong>und</strong> die


Gesichtsfarbe des alten Herrn war mit einem Male so rotbraun<br />

geworden wie <strong>der</strong> Panzer des Hummers.<br />

Aquarius <strong>und</strong> Nereide kannten sich von Kindesbeinen an. Ihr Vater<br />

war ein geachteter Nix am Hofe von König Ozeanos gewesen.<br />

Er hatte dem Meeresreich zu hohem Ansehen <strong>und</strong> Ruhm verholfen,<br />

indem er zahlreiche kostbare Güter <strong>und</strong> Raritäten aus fremden Unterwasserwelten<br />

seiner Heimat zukommen ließ, die den prunkvollen<br />

Palast noch glanzvoller <strong>und</strong> reicher schmückten. Oft war er in unbekannten,<br />

fernen Gewässern unterwegs gewesen <strong>und</strong> seinen Berichten<br />

<strong>über</strong> erlebte Abenteuer <strong>und</strong> w<strong>und</strong>ersame Dinge hatte <strong>der</strong> ganze Hofstaat<br />

stets mit angehaltenem Atem gelauscht, denn er vermochte<br />

spannend zu erzählen. Doch eines Tages war <strong>der</strong> Nix nicht mehr von<br />

einer Reise zurückgekehrt <strong>und</strong> Nereide´s Mutter, die als Zofe den<br />

sechs Töchtern des Königspaares zur Hand ging, verging nach nicht<br />

langer Zeit zu Meerschaum auf den Wellen, hatte <strong>der</strong> Kummer <strong>über</strong><br />

den Verlust ihres geliebten Gemahls ihr schließlich das arme Herz<br />

gebrochen. Die halbwüchsige Nereide war von diesem Tage an allein<br />

auf sich gestellt gewesen <strong>und</strong> tapfer schickte sie sich an, die Aufgaben<br />

ihrer warmherzigen Mutter zu <strong>über</strong>nehmen.<br />

Die glücklichsten St<strong>und</strong>en hatte Nereide fortan mit Aquarius verbracht,<br />

dem einzigen Sohn des Meereskönigs, <strong>der</strong> oft in aller Heimlichkeit<br />

den großen Palast verließ, um seinen launenhaften Schwestern<br />

zu entwischen, die ständig Aufmerksamkeit von ihm for<strong>der</strong>ten.<br />

Jahre später verschwand die Meereskönigin plötzlich auf unerklärliche<br />

Weise <strong>und</strong> Ozeanos wurde daraufhin immer unleidlicher <strong>und</strong><br />

eigensinniger.......ein störrischer, verbohrter alter Mann, <strong>der</strong> des<br />

Regierens <strong>über</strong>drüssig wurde. Aquarius seufzte, während drei vorwitzige<br />

Möwen kreischend <strong>über</strong> seinen Kopf hinwegzogen.<br />

Wie w<strong>und</strong>ervoll waren doch diese Tage gewesen, die jetzt so weit<br />

zurücklagen...<br />

Tage, an denen er <strong>und</strong> Nereide, sich an den Händen haltend, lachend<br />

buntgestreiften Fischen nachgeschwommen waren, um sie zu streicheln,<br />

zu füttern....Tage, die sie in heimlichen, unentdeckten Verstecken<br />

in Korallenriffen verbracht hatten. Nächte, in denen sie<br />

gemeinsam die Wasseroberfläche durchstoßen hatten, um den vollen<br />

Mond <strong>und</strong> die funkelnden Silbersterne am Firmament zu bestaunen....<br />

Aquarius fuhr sich unglücklich mit beiden Händen durch sein dichtes,<br />

wi<strong>der</strong>spenstiges Haar. Und dann war <strong>der</strong> grausame Bann <strong>über</strong> ihr<br />

bei<strong>der</strong> Leben hereingebrochen! Ein wohlmeinen<strong>der</strong> Inselgeist hatte<br />

ihn zum Glück abwandeln können, so dass Aquarius seine Geliebte<br />

jeden Tag in <strong>der</strong> Abenddämmerung an ihrem Teich aufsuchen durfte,<br />

15


aber <strong>der</strong> plötzliche Abschied von seiner Nixe, wenn <strong>der</strong> kühle Abendnebel<br />

<strong>über</strong> dem Gewässer aufstieg, schnitt ihm jedes Mal tief ins<br />

Herz hinein.<br />

Wenn es nur einen Ausweg gäbe, dachte <strong>der</strong> Brandungsprinz verzweifelt.<br />

Es musste doch möglich sein, den Zauberbann zu brechen, <strong>der</strong> ihn<br />

von seiner Liebsten trennte. Doch als Antwort ertönte nur das schrille<br />

Lachen <strong>der</strong> Möwen, die Aquarius‘ Kummer nicht verstanden.<br />

16


Nereide<br />

Ein Nixlein im stillen Weiher lebt,<br />

fern von <strong>der</strong> Heimat, <strong>der</strong> wogenden See<br />

Ist niemand da, <strong>der</strong> den Bann aufhebt?<br />

Keine milde, mitfühlende Fee?<br />

Einsam, in tiefem Herzensleide<br />

wohnt am Ufer vom birkengesäumten See<br />

die treue, tapfere <strong>und</strong> schöne Nereide<br />

die weiten Fluten waren einst ihr Zuhause<br />

...... das große Meeresreich<br />

<strong>und</strong> in den Tagen langen Schweigens<br />

ist sie mit Erinnerungen allein<br />

an St<strong>und</strong>en, als sie mit dem Geliebten<br />

sich drehte zur Musik des mitternächtlichen Reigens<br />

Wann bricht endlich die Dämmerung herein?<br />

Denn dann wird er wie<strong>der</strong> bei ihr sein<br />

ein kurzes, seligtrunkenes Glück,<br />

das nicht lange währt<br />

<strong>und</strong> doch ihrer bei<strong>der</strong> Herzen<br />

mit <strong>der</strong> Flamme des Einsseins nährt.<br />

17


18<br />

Wer ist die Einsame dort, die Nymphe?<br />

Die tief im Schilf verborgen, im Schatten <strong>der</strong> Bäume haust,<br />

so fern vom brandenden Meeresschaum <strong>und</strong> sprühen<strong>der</strong> Gischt.<br />

Und die da treu lebet dahin für zeitlose St<strong>und</strong>en des Glücks,<br />

die die Liebe ihr schenkt.......<br />

Nereide<br />

Wenn die Abenddämmerung hereinbricht <strong>und</strong> die Insel Murma in ein<br />

geheimnisvolles Schattengewebe hüllt, ist dies die Zeit, in <strong>der</strong> w<strong>und</strong>ersame<br />

Dinge geschehen können. Manchmal ist es jemandem möglich,<br />

im Zwielicht geisterhafte Gestalten zu erblicken, die sich aus<br />

dem leichten Dunstschleier herausschälen, <strong>der</strong> wie ein Tuch <strong>über</strong><br />

Wald <strong>und</strong> Heide liegt.<br />

Es ist die St<strong>und</strong>e zwischen Tag <strong>und</strong> Nacht, eine magische Zeit, in <strong>der</strong><br />

sich die Pforte ins Reich des Unsichtbaren öffnet.<br />

Regungslos saß die zierliche Gestalt in <strong>der</strong> anbrechenden Dämmerung<br />

am Ufer des kleinen Teichs, <strong>der</strong> bereits in tiefem Schatten<br />

lag, <strong>und</strong> nur vereinzelt blinzelte noch ein goldener Sonnenstrahl<br />

durch eine Lücke im Blättergeflecht <strong>der</strong> Birken <strong>und</strong> berührte mit zarter,<br />

weicher Liebkosung den schwarzbraunen, mit einer dicken Laubschicht<br />

bedeckten Waldboden.<br />

Es war still am Teich. Nur einige grünblau schimmernde Libellen<br />

zogen schwirrend <strong>über</strong> das dunkle, klare Wasser hinweg.<br />

Die junge Frau seufzte, <strong>und</strong> dieser wehmütige Laut ließ die eleganten<br />

Insekten sek<strong>und</strong>enlang irritiert in <strong>der</strong> Luft verharren.<br />

Das einsame Geschöpf war sehr schön. Der zarte Teint in dem ovalen<br />

Gesicht wies einen hellen, rosigen Schimmer auf. Die feine, zierliche<br />

Nase hätte je<strong>der</strong> Königstochter zur Ehre gereicht. Die korallenfarbenen<br />

Lippen waren voll <strong>und</strong> formvollendet geschwungen. Am eindrucksvollsten<br />

aber waren die türkisfarbenen großen Augen, die voller<br />

Klarheit in die Welt blickten. Das zusammengesteckte, füllige,<br />

weissblonde Haar hatte sie apart aufgetürmt, <strong>und</strong> perlmuttschimmernde<br />

Muscheln <strong>und</strong> grünglänzende Tangbän<strong>der</strong> zierten es. Es handelte<br />

sich hierbei ­ wie man auf den ersten Blick sehen konnte ­ um<br />

Schmuck aus dem Meer, nicht um Zierrat aus dem kleinen Teich, den<br />

die einsame Schöne bewohnte.


Ihr Name war Nereide, <strong>und</strong> sie lebte hier, als sei sie eine gewöhnliche<br />

Waldnymphe, doch in Wirklichkeit handelte es sich um eine wahre<br />

Meeresnixe, die jedoch vor vielen Jahren vom mächtigen König<br />

Ozeanos aus dem Reich <strong>der</strong> weiten See verbannt worden war <strong>und</strong><br />

nach seinem Beschluss auf <strong>der</strong> Insel Murma ihr Dasein als Nymphe<br />

in diesem Waldteich fristen musste.<br />

Dies war geschehen, weil <strong>der</strong> Sohn des Meereskönigs, Aquarius, in<br />

heftiger Liebe zu <strong>der</strong> Nixe entbrannt war <strong>und</strong> nicht mehr von ihr lassen<br />

wollte.<br />

Auch Nereide liebte den schönen Meeresjüngling mit ganzer Seele,<br />

aus vollem Herzen <strong>und</strong> wollte nirgendwo an<strong>der</strong>s sein, als immer nur<br />

in seiner Nähe.<br />

Einzig Ozeanos, <strong>der</strong> seit dem mysteriösen Verschwinden seiner<br />

Gemahlin ein harter, unbeugsamer Herrscher geworden war, missbilligte<br />

diese Verbindung aufs Schärfste. Er wollte seinen einzigen Sohn<br />

<strong>und</strong> künftigen Nachfolger auf dem Meeresthron mit einer Braut aus<br />

hochangesehenem Hause vermählt wissen, mit einer Fürstentochter<br />

o<strong>der</strong> gar mit einer Prinzessin. Deshalb hatte er die schöne Nixe, <strong>der</strong>en<br />

Eltern dem Königshaus immer treu ergeben gewesen waren, an diesen<br />

einsamen Ort, fernab von ihrer geliebten Heimat, <strong>der</strong> wogenden<br />

See, verbannt. Doch sein Plan ging nicht auf.<br />

Die Liebe <strong>der</strong> beiden Geschöpfe zueinan<strong>der</strong> war so groß, dass nichts<br />

auf <strong>der</strong> Welt ihr wirklich etwas anhaben hätte können. Doch wie sehr<br />

die Liebenden unter <strong>der</strong> Trennung litten! Einem guten Inselgeist war<br />

es jedoch gelungen, den Bann insoweit abzumil<strong>der</strong>n, indem er<br />

Nereide <strong>und</strong> Aquarius die magische St<strong>und</strong>e <strong>der</strong> Dämmerung als Zeit<br />

ihres täglichen Zusammentreffens ermöglichte, <strong>und</strong> für diese St<strong>und</strong>en<br />

lebten sie beide.<br />

Viele Jahre schon verhielt es sich so, dass die treue, schöne Teichnymphe<br />

ihren Geliebten zur täglichen Dämmerst<strong>und</strong>e erwartete. Und<br />

so blickte sie auch heute ihrer Zusammenkunft mit Herzklopfen entgegen.<br />

Nereide spielte mit <strong>der</strong> silbernen, filigran gearbeiteten Kette, die um<br />

ihren hellen Hals hing <strong>und</strong> lauschte achtsam dem leisen, gedämpften<br />

Rauschen <strong>der</strong> Brandung, das auf <strong>der</strong> ganzen Insel zu hören war.<br />

Plötzlich schwoll das Geräusch an, wurde lauter <strong>und</strong> lauter. Nereide<br />

betastete mit ihren langen, zarten Fingern das wohlgeordnete Haar,<br />

<strong>und</strong> ein Ausdruck seliger Vorfreude belebte ihre feinen Gesichtszüge.<br />

19


Es wurde heller <strong>und</strong> heller am Teich, so als ob eine leuchtende Sonne<br />

in das stehende, schwarzbraune Wasser hineingefallen wäre.<br />

Dann war <strong>der</strong> Lichtspuk schlagartig vorbei <strong>und</strong> statt dessen stand die<br />

hochgewachsene, schöne Gestalt des Brandungsprinzen vor <strong>der</strong><br />

Nymphe.<br />

Sie sprang auf <strong>und</strong> warf sich mit einem erlösten Lachen in seine ausgebreiteten<br />

Arme: „Oh, Liebster, sag´, bist du es wirklich <strong>und</strong> wahrhaftig<br />

o<strong>der</strong> ist es nur dein Geist, um dessen an<strong>der</strong>en Teil ich weinen<br />

muss?“<br />

Wie Meeresrauschen erscholl die leidenschaftliche Stimme von<br />

Aquarius: „Meine Herzallerliebste, wahrhaftig <strong>und</strong> lebendig stehe ich<br />

vor dir, mit meinem ganzen beseelten Wesen!“ Und wie um seine<br />

Worte zu bekräftigen, verschloss <strong>der</strong> Meeresprinz die bebenden Lippen<br />

<strong>der</strong> Nixe mit einem festen, langen Kuss. Und so verweilten die<br />

Liebenden in inniger Umarmung, schweigend <strong>und</strong> stumm. Sie<br />

bedurften nicht <strong>der</strong> Worte, sie brauchten sich nur zu spüren, um ganz<br />

selig zu sein.<br />

So nahmen sie nicht die Nebelschwaden wahr, die dichter <strong>und</strong> dichter<br />

aufzogen, sie fühlten nicht die Kälte, die den Abend ankündigte.<br />

Zwei Herzen waren zu einem erblüht, zwei Seelen zu einer verschmolzen.<br />

Liebe floss in Liebe, <strong>und</strong> sie schöpften aus einem <strong>über</strong>strömenden<br />

Quell <strong>der</strong> Fülle, gaben sich ganz einan<strong>der</strong> hin.<br />

Ein Engel des Abends trat dezent lächelnd an Aquarius heran. Die<br />

St<strong>und</strong>e <strong>der</strong> Dämmerung war bald um, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Jüngling befand sich<br />

im Rausch seligtrunkenen Glücks, so dass er kein Gespür für etwas<br />

Banales wie Zeit hatte.<br />

Ein sanfter, kühler Hauch, <strong>der</strong> ihn mehrmals leicht an <strong>der</strong> Stirn<br />

berührte, brachte ihn behutsam wie<strong>der</strong> in die Gegenwart zurück.<br />

Leise seufzend blickte er zum graublauen Himmel hinauf. „Der<br />

Abendstern geht bereits auf. Ach, Liebste, nun wird mir das Herz gar<br />

schwer, da ich von dir scheiden muss.“<br />

Eine letzte Umarmung, ein klagen<strong>der</strong> Schrei Nereide´s, <strong>der</strong> von dem<br />

wispernden Säuseln <strong>der</strong> Birkenblätter untermalt wurde......dann funkelte<br />

ein helles Licht <strong>über</strong> dem Teich. Kurze Zeit später lag das<br />

Gewässer in tiefer Dunkelheit, in Stille <strong>und</strong> Trauer, da eine Nymphe<br />

den Abschied ihres Geliebten beweinte.<br />

20


Estella<br />

Rotgoldener Abendglanz<br />

senkt sich <strong>über</strong> den Horizont als Flammenbrand<br />

die Sonne geht unter, die Dämmerung bricht herein<br />

einsam <strong>und</strong> verlassen liegt <strong>der</strong> breite Strand<br />

hoch droben im Sternenturm,<br />

eine Prinzessin fühlt sich sehr allein<br />

ihr Herz sehnt sich nach Aquarius,<br />

nach seiner Umarmung, seinem Kuss<br />

all ihre Liebe würde sie ihm schenken,<br />

die Sternensilbrige, die Schöne <strong>der</strong> Nacht<br />

mit lieblichem Glockenspiel<br />

vermag sie die Träume <strong>der</strong> Menschen zu lenken<br />

doch welch ein Zauber ist größer, als jener,<br />

wenn die Liebe erwacht?<br />

Nur an den Meeresjüngling<br />

kann die Prinzessin noch denken<br />

ach, quälende Pein ­ oh, Abendstern, wäre er doch dein<br />

<strong>und</strong> die Mondkönigin, erfahren <strong>und</strong> weise<br />

erkennt, dass ihr kein Glück mit ihm wird beschieden sein<br />

in mütterlichem Mitgefühl seufzt sie auf, ganz leise......<br />

21


22<br />

Du Perle auf samtenem, nachtschwarzen Band,<br />

wenn Mondeszauber sich geheimnisvoll in den Wogen spiegelt,<br />

<strong>und</strong> die Kühle des Abends <strong>über</strong> Gräser streicht,<br />

erwacht die Anmutige des Sternenzeltes, die Sternensilbrige,<br />

<strong>und</strong> Magie liegt <strong>über</strong> <strong>der</strong> Welt des Schlafes,<br />

wenn zartes Glockenspiel die träumenden Herzen lenkt......<br />

Prinzessin Estella<br />

Die Sonne war bereits untergegangen, hatte goldorangene <strong>und</strong><br />

violette Wolkenstreifen am Himmel erstrahlen lassen, die nun wie<strong>der</strong>um<br />

dem dunklen Abendgrau weichen mussten. Gemächlich<br />

klatschten die Wellen gegen den Strand. Nur eine schwache Brise lag<br />

in <strong>der</strong> Luft, die See wogte still, so als sei sie des Schaukelns müde<br />

geworden.<br />

Ein einsamer Stern blinkte schwach hoch droben in Himmelsgefilden<br />

......<strong>der</strong> Abendstern! Eine Möwe kreiste <strong>über</strong> <strong>der</strong> abendlichen See, so<br />

hätte es zumindest ein aufmerksamer Beobachter beschrieben, <strong>der</strong> die<br />

Abendstimmung betrachtet hätte. Ihm wäre in <strong>der</strong> Dämmerung entgangen,<br />

dass die weiße Möwe sich ganz plötzlich in Luft aufgelöst<br />

hatte.....aber genauso verhielt es sich. Es handelte sich bei dem Seevogel<br />

nämlich um kein gewöhnliches Tier, son<strong>der</strong>n um eine junge<br />

Frau, welche die Gestalt einer Möwe angenommen hatte, um einen<br />

aufmerksamen Blick <strong>über</strong> das Meer werfen zu können. Estella war<br />

<strong>der</strong> Name dieser Himmelstochter. Von ihrer Mutter, <strong>der</strong> allseits hochgeachteten<br />

Mondkönigin Selene, wurde sie nur „Abendstern“<br />

genannt, weil ihre leuchtende Schönheit genausoviel Aufmerksamkeit<br />

auf sich zog wie <strong>der</strong> blinkende Himmelskörper.<br />

Sie war eine wahrhafte Prinzessin <strong>der</strong> Nacht, eine Begleiterin <strong>der</strong><br />

Sterne auf tiefschwarzem Gr<strong>und</strong>e. Warum kommt es einer Sternenprinzessin<br />

aber in den Sinn, <strong>über</strong> das Meer blicken zu wollen?<br />

Sie hielt nach jemandem ganz Bestimmten Ausschau.....nach dem<br />

Jüngling Aquarius, dessen Heimat die sich stets bewegende, unruhige<br />

See war.<br />

Zu dem Brandungsprinzen war ihr junges Herz in heftiger Liebe entbrannt,<br />

nachdem sie eines Nachts heimlich ihren silbernen Sternenturm<br />

verlassen hatte <strong>und</strong> als tiefstehen<strong>der</strong>, verzauberter Stern ihn<br />

dabei beobachtete, wie er ein mitternächtliches Bad in <strong>der</strong> kühlen<br />

Brandung genoss.


Ihr Herz hatte voller Entzücken wie ein junger Vogel geflattert, als sie<br />

seine stattliche, wohlgeformte Gestalt im kristallenen Glanz <strong>der</strong><br />

Myriaden von Sternen erblickt hatte.<br />

Ein zweites Mal war das Auge <strong>der</strong> Prinzessin auf den Meeresjüngling<br />

gefallen, als ein prächtiger Mondenball stattfand, den ihre Mutter<br />

ausrichtete. Viele durchlauchte Gäste aus dem weiten Sternenraum<br />

hatten <strong>der</strong> Einladung Folge geleistet.<br />

Estella war in den magischen Mondgarten getreten, von wo aus man<br />

jeden noch so kleinen Winkel <strong>der</strong> Erde in großer Klarheit betrachten<br />

konnte. Von dort aus hatte sie den Meeresprinzen im feierlichen Licht<br />

des Vollmondes am Strand singend entlang gehen sehen. Die Tochter<br />

<strong>der</strong> Mondkönigin hatte ergriffen seiner volltönenden Stimme<br />

gelauscht. Und ihr Herz war endgültig von den Flammen <strong>der</strong> Liebe<br />

verzehrt worden. Die kluge, in Liebesangelegenheiten erfahrene<br />

Selene, die um das Wohlergehen ihrer einzigen Tochter besorgt war,<br />

hatte sie behutsam in die Arme genommen <strong>und</strong> ihr erklärt, dass man<br />

die Liebe nicht erzwingen könne, da sie ein Kind <strong>der</strong> Schönheit <strong>und</strong><br />

Freiheit sei.<br />

Doch Estella, die Prinzessin <strong>der</strong> Nacht, konnte nicht aufhören, voller<br />

Sehnsucht an Aquarius zu denken, den sie oft in ihren Träumen sah,<br />

wie er sie strahlend anlachte <strong>und</strong> sie zu sich in sein saphirblaues<br />

Meeresreich hineinzog.<br />

Und so wurde Prinzessin Estella auch heute das Herz wie<strong>der</strong> schwer,<br />

als sie vergeblich nach dem Brandungsjüngling Ausschau hielt.<br />

Der Vorhang <strong>der</strong> Dunkelheit senkte sich mehr <strong>und</strong> mehr <strong>über</strong> die<br />

Insel Murma <strong>und</strong> Estella wusste, dass sie rasch in ihren Turm aus<br />

Sternensilber zurückkehren musste, bevor ihre königliche Mama sie<br />

in ihrem Gemach aufsuchen würde, um ihr liebevoll eine „Gute<br />

Nacht“ zu wünschen. Seufzend folgte die Prinzessin dem glänzend<br />

weißen Lichtstrahl, <strong>der</strong> ihrer Hand entströmte, <strong>und</strong> sie stieg höher<br />

<strong>und</strong> höher, bis das Meer als eine dunkle, im <strong>Sternenschimmer</strong> glitzernde<br />

Fläche unter ihr lag.<br />

In ihrem Turm wurde Estella bereits erwartet. Ihre treuen Zofen<br />

Ranja <strong>und</strong> Deirdre atmeten erleichtert auf, als ihre junge Herrin die<br />

große Flügeltür hinter sich schloss. Ranja reichte <strong>der</strong> Prinzessin einen<br />

großen, kunstvollen Spiegel mit Silberornamenten <strong>und</strong> Estella<br />

betrachtete in ihm ihr Gesicht, <strong>über</strong> dem nun ein leichter Ausdruck<br />

von stiller Melancholie lag.<br />

Sternensilbrige Mondblume.....so wurde sie von vielen ihrer Bew<strong>und</strong>erern<br />

genannt <strong>und</strong> das Spiegelbild gab ihnen recht. Ein zarter, heller<br />

23


Porzellanteint ließ das Gesicht <strong>der</strong> Prinzessin geheimnisvoll schimmern.<br />

Die vollen Lippen waren von dem tiefdunklen Rot <strong>der</strong> Rosen.<br />

Die großen ausdrucksvollen Augen glänzten wie zwei dunkelblaue,<br />

mit silbernen Sprenkeln durchzogene Lapislazulisteine. Manchmal<br />

lebte auch ein rätselhafter, violetter Ton in ihnen, <strong>der</strong> ihren Blick<br />

unergründlich wie die Tiefen des Alls aussehen ließ. Das Haar <strong>der</strong><br />

Prinzessin war blauschwarz <strong>und</strong> es schimmerte so seidig, als wäre<br />

das ganze Sternenzelt darin eingefangen.<br />

Es fiel Estella in weichen Wellen bis auf die weiblich ger<strong>und</strong>eten<br />

Hüften, wenn sie so wie jetzt in ihren Gemächern anzutreffen war.<br />

Ansonsten verstanden es die Zofen aufs Vortrefflichste, es mit<br />

geschickten Händen zu flechten, aufzustecken <strong>und</strong> königlich zu<br />

schmücken. Estella´s Gewand, das sie heute trug, war silbrig­weiß,<br />

aber sie konnte Roben in vielen an<strong>der</strong>en Farbtönen ihr eigen nennen,<br />

welche zahlreiche Kommoden füllten.<br />

Plötzlich lauschte Deirdre mit angehaltenem Atem <strong>und</strong> meinte leise<br />

flüsternd: „Die Königin kommt.....schnell, Euer Instrument!“<br />

Und Ranja reichte ihrer Herrin im gleichen Augenblick das silberne<br />

Glockenspiel <strong>und</strong> zwinkerte ihr verschwörerisch zu.<br />

Estella berührte die Glöcklein mit einem kristallenen Stab, <strong>und</strong> ihr<br />

Klang hallte weit in die Welt hinaus. Er ertönte so silbrig, klar <strong>und</strong><br />

hell, dass er die schlafenden Menschen auf <strong>der</strong> Insel Murma berührte<br />

<strong>und</strong> sich in ihre ruhenden Herzen ergoss, um schöne, süße Träume<br />

zum Erblühen zu bringen, die ihnen beim Erwachen Kraft schenken<br />

würden, den oftmals harten Lebenskampf besser zu bewältigen. Mit<br />

einem letzten zarten Ton verklang die Traumweise.<br />

Unbemerkt war Königin Selene in das Schlafgemach getreten.<br />

Lächelnd hatte sie dem lieblichen Spiel ihrer Tochter gelauscht.<br />

Behutsam nahmen ihre sanften Hände dem Mädchen das Instrument<br />

ab. Estella´s Li<strong>der</strong> waren schwer geworden.<br />

Mit einer fürsorglichen Geste berührte die Mondkönigin ihren<br />

Abendstern <strong>und</strong> trug den erschöpften Körper zu dem breiten, vierpfostigen<br />

Himmelbett, wo sie ihr Kind in die weichen Kissen hinein<br />

gleiten ließ.<br />

Noch bevor ihre Mutter die Tür des Gemachs hinter sich geschlossen<br />

hatte, war Estella nun selbst in das selige Reich <strong>der</strong> Träume entschwebt.<br />

24


Die Heidekin<strong>der</strong><br />

Ein köstliches Gelächter <strong>über</strong> <strong>der</strong> Insel erschallt<br />

in den Dörfern <strong>und</strong> Dünen es ein je<strong>der</strong> hört,<br />

selbst im kiefergrünen Wald<br />

es ist eine junge, frisch­fröhliche Schar<br />

Heidekin<strong>der</strong> ­ so werden sie genannt<br />

Kränze auf hellem Haar<br />

eifrig in ihr Spiel gebannt<br />

springen <strong>und</strong> tanzen sie,<br />

die kleinen Rangen<br />

<strong>der</strong> Sommerwind bräunt Gesicht <strong>und</strong> rötet Wangen<br />

auch die zarten Falterfeen lieben sie sehr<br />

zitronenduftig schweben sie immer wie<strong>der</strong> gern zu ihnen her<br />

gesegneter Ort, an dem Kin<strong>der</strong> glücklich sind wie hier<br />

da geht voll Wonne das Herz auf....dir <strong>und</strong> mir !<br />

25


26<br />

Fröhlich drehn´ wir uns im Kreise,<br />

wir die Jugend, lachend <strong>und</strong> frei.<br />

Heidekin<strong>der</strong> werden wir genannt;<br />

Unser Jauchzen erschallt<br />

<strong>über</strong> Dünen <strong>und</strong> Strand.....<br />

Die Heidekin<strong>der</strong><br />

Im hellen Sonnenlicht erklang fröhliches Lachen.<br />

Der junge Morgen zeigte sich heute von seiner schönsten Seite.<br />

Es war warm <strong>und</strong> eine sanfte Sommerbrise strich <strong>über</strong> die weiten<br />

Heideflächen. Ein süßer, lieblicher Duft breitete sich aus. Die glänzenden<br />

Zweige einzelner, in <strong>der</strong> Landschaft verstreuten Kieferbäumchen<br />

nickten aus einem Gefühl <strong>der</strong> Zufriedenheit heraus wohlwollend<br />

den langen, goldenen Grashalmen zu, die eine innige Nachbarschaft<br />

zu dem violetten Kraut pflegten <strong>und</strong> diese wertschätzten.<br />

Moin, Boje, Tepp, Swantje, Lil <strong>und</strong> Fenje hatten sich an den Händen<br />

gefasst <strong>und</strong> tanzten ausgelassen, so wie es nur Kin<strong>der</strong> tun, einen lustigen<br />

Ringelreihen.<br />

Ihre Wangen waren leicht gerötet <strong>und</strong> ihre Haut war von einem zarten<br />

Braunton <strong>über</strong>zogen. Die Heidekin<strong>der</strong> verbrachten viel Zeit im Spiel<br />

inmitten <strong>der</strong> Natur.<br />

An Sonnentagen wie diesem erscholl ihr unbeschwertes Gelächter<br />

<strong>über</strong> <strong>der</strong> ganzen Insel <strong>und</strong> ließ die Herzen <strong>der</strong> Dorfbewohner vor<br />

Freude schneller schlagen. Manche schmunzelten mit einem leichten<br />

Anflug von Wehmut, dachten sie dabei doch an ihre eigene Kindheit.<br />

An<strong>der</strong>e wurden ermutigt, Erinnerungen aus Jugendtagen neu in ihr<br />

tägliches Tun hineinzutragen, damit ihr Leben frische Fülle <strong>und</strong> ein<br />

sattes Glücksgefühl erführe.<br />

Swantje, Lil <strong>und</strong> Fenje hatten sich leuchtende Kränze aus Heidekraut<br />

gefertigt <strong>und</strong> auf das blonde Haar gesetzt. Die Jungen – Moin, Tepp<br />

<strong>und</strong> Boje – hatten sich robuste „Diademe“ aus den Halmen des<br />

Strandhafers geb<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> diese kunstvollen Werke zierten ihre<br />

goldglänzenden Schöpfe.<br />

Plötzlich flatterten zarte, kleine Geschöpfe herbei. Auf den ersten<br />

flüchtigen Blick hin hätte man meinen können, das es sich um<br />

Schmetterlinge handelte.<br />

Doch solche waren es nicht.


„Hurra, die Falterfeen statten uns einen Besuch ab!“, schrie die<br />

weißblonde Lil <strong>und</strong> tanzte vor Freude um die eigene Achse, bis ihr<br />

ganz schwindlig war <strong>und</strong> sie lachend in die grün­violette Heide hineinfiel.<br />

Falterfeen fühlen sich nämlich vom unbeschwerten, fröhlichen Kin<strong>der</strong>lachen<br />

sehr angezogen, <strong>und</strong> sie selbst sind den Kleinen stets willkommen,<br />

verbreiten sie doch einen köstlichen, zitronenartigen Duft,<br />

<strong>der</strong> manchmal auch wie <strong>der</strong> zarte Hauch einer frühblühenden Rose<br />

riecht. So gesellten sich die reizenden Feen <strong>der</strong> Lüfte zu den spielenden<br />

Kin<strong>der</strong>n. Genau genommen handelte es sich um ihre Lieblichkeiten,<br />

die Maid Belle, die Maid Ninette, die Maid Madde <strong>und</strong> die Maid<br />

Dinah. Ihre weißglänzenden Flügelchen nahm <strong>der</strong> Wind <strong>und</strong> hob sie<br />

sanft höher <strong>und</strong> höher. Und als sie hoch in <strong>der</strong> Luft schwebten, ließ er<br />

sie tiefer <strong>und</strong> tiefer fallen, bis sich die kleinen Feen auf dem violetten<br />

Heidekraut nie<strong>der</strong>ließen <strong>und</strong> sich ein wenig ausruhten. Dann begann<br />

das Spiel von Neuem, <strong>und</strong> die Feen liebten es, genau wie <strong>der</strong> Wind,<br />

<strong>der</strong> daran auch seine Freude hatte. Mitunter setzte sich auch eine <strong>der</strong><br />

Feen auf eine <strong>der</strong> Nasenspitzen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>. Ui, wie das kitzelte!<br />

Die Heideschar prustete lachend <strong>und</strong> hüpfte <strong>und</strong> sprang einher, die<br />

Arme <strong>über</strong>mütig ausgebreitet, als wollten sie die ganze Welt umarmen.<br />

Das lustige Treiben hatte mittlerweile weitere Geschöpfe angezogen.<br />

Allerlei Schmetterlinge, Bienen, Hummeln, dicke Brummelmücken,<br />

grünschillernde Käfer, muntere Grashüpfer <strong>und</strong> braunrote Heupferdchen<br />

waren von nah <strong>und</strong> fern gekommen, um an dem pulsierenden<br />

Leben teilzunehmen <strong>und</strong> gleichfalls den Tanz <strong>der</strong> Freude darzubringen.<br />

Nach einer Weile waren die Gesichter <strong>der</strong> Heidekin<strong>der</strong> ziemlich<br />

erhitzt, <strong>und</strong> sie hatten Durst bekommen. „Kommt, lasst uns zur Waldfee<br />

gehen; sie wird uns gewiss eine köstliche Erfrischung anbieten!“,<br />

wandte sich <strong>der</strong> sommersprossige Boje an seine Fre<strong>und</strong>e. „Oh, ja, das<br />

ist eine gute Idee“, meinte die honigblonde Fenje. „Bestimmt hat sie<br />

von dem w<strong>und</strong>erbaren Waldmeistersirup im Hause, den nur sie so<br />

einzigartig zuzubereiten versteht!“<br />

27


28<br />

Farnlinde<br />

Smaragden leuchtet das Herzstück <strong>der</strong> Insel......<strong>der</strong> Wald<br />

Sonnenlicht fängt sich in laubgrünen Kronen<br />

nachts <strong>der</strong> geheimnisvolle Ruf des Käuzchens hallt<br />

wer mag dort wohl wohnen?<br />

eine gar w<strong>und</strong>ersame Maid hütet dieses Zauberreich<br />

eichhörnchenflink huscht sie durch Gestrüpp,<br />

findet sich zurecht auf allen Wegen<br />

<strong>der</strong> Gesang <strong>der</strong> Vöglein.... ihre Lie<strong>der</strong> klingen süß <strong>und</strong> weich<br />

den Wald liebt die schöne Dame mit je<strong>der</strong> Faser ihres Seins,<br />

ihm schenkt sie Kraft <strong>und</strong> Segen<br />

mit klarem Blick sie die Kräutlein pflücket<br />

um zu heilen <strong>und</strong> Labsal zu bringen, zu lin<strong>der</strong>n Not,<br />

sie sich unermüdlich bücket<br />

lehnt sie stark <strong>und</strong> wild am Stamm aus Rinde<br />

die unergründliche Waldfee.......Farnlinde<br />

eilt <strong>der</strong> Fuchs aus seinem Bau<br />

das Reh springt ohne Scheu herbei<br />

im Sommer, wenn <strong>der</strong> Himmel blau, die Luft so lau<br />

zieht sie im Schatten schweigen<strong>der</strong> treuer Wächter<br />

lautlos, anmutig dahin....mit einem Lächeln auf den Lippen<br />

sich in Liebe verströmend......ganz frei


Die Waldfee huscht behände<br />

<strong>über</strong> Äste, Wurzelwerk <strong>und</strong> Steine;<br />

hoch in <strong>der</strong> Krone ist ihr bescheidenes Heim.<br />

So klug <strong>und</strong> voller Umsicht sie dort waltet;<br />

das Grün ist ihres Herzens Seligkeit......<br />

Farnlinde, die Waldfee<br />

Der Wald ist das Herzstück <strong>der</strong> Insel.<br />

Smaragdgrün leuchtet das Laub <strong>der</strong> Erlen, Birken <strong>und</strong> Eichen; in<br />

dunklem Grün glänzen die Nadeln von Fichten <strong>und</strong> Kiefern. Außerdem<br />

lassen sich dort helle, moosbewachsene Plätze <strong>und</strong> vielerlei<br />

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Buschwerk <strong>und</strong> Gestrüpp finden. Die zahlreichen Bäume spenden an<br />

warmen Tagen, so wie diesem, kühlenden Schatten.<br />

Insekten summten träge in <strong>der</strong> Mittagssonne. Die Heidekin<strong>der</strong><br />

kämpften sich durch das Dickicht hindurch. Nach einer Weile endlich<br />

deutete Moin triumphierend auf den hohen Wipfel einer stämmigen,<br />

alten Kiefer.<br />

„Da ist es!“, frohlockte <strong>der</strong> flachsblonde Junge. Mit „es“ meinte er<br />

die kunstvoll in die Kieferspitze hineingearbeitete Behausung aus<br />

dunklen Holzbrettern. Dort lebte Farnlinde, die Waldfee. Um es richtig<br />

zu stellen, muss hierzu gesagt werden, dass sie üblicherweise in<br />

<strong>der</strong> Nacht <strong>und</strong> in den wenigen St<strong>und</strong>en des Tages, in denen sie gerade<br />

nicht mit dem Pflücken von Beeren, dem Sammeln von Kräutern,<br />

Wurzeln, Pilzen <strong>und</strong> <strong>der</strong>gleichen beschäftigt war, in ihrem Heim aufgef<strong>und</strong>en<br />

werden konnte.<br />

Jemand, dem nicht bekannt war, dass dort oben zwischen den im<br />

Sonnenlicht glänzenden Kiefernadeln eine Waldfee wohnte, hätte das<br />

kleine Häuschen nicht entdeckt <strong>und</strong> wäre ahnungslos darunter vorbeigelaufen,<br />

ohne es wahrzunehmen. Gleichwohl bereitete es selbst den<br />

ortsk<strong>und</strong>igen Heidekin<strong>der</strong>n stets aufs Neue etwas Mühe, die Wohnstatt<br />

von Farnlinde zu finden, so sehr verschmolzen die Balken mit<br />

dem dunklen Nadelgeäst <strong>der</strong> mächtigen Kiefer. Im Schatten einer<br />

benachbarten Eiche lehnte eine hohe Sprossenleiter.<br />

Tepp <strong>und</strong> Boje trugen sie zu <strong>der</strong> dickstämmigen Kiefer hin<strong>über</strong> <strong>und</strong><br />

geschickt kletterten die Kin<strong>der</strong> nacheinan<strong>der</strong> nach oben. Das leichte<br />

Tapsen <strong>der</strong> kleinen Füße hatten die feinen Ohren <strong>der</strong> Waldfee<br />

offensichtlich deutlich vernommen, denn sie stand aufrecht <strong>und</strong> in<br />

erwartungsvoller Haltung, mit verschränkten Armen in <strong>der</strong> zweigeteilten<br />

Tür, <strong>der</strong>en oberer Bereich zurückgeklappt war, wie es Farnlinde<br />

üblicherweise tags<strong>über</strong> zu belassen pflegte.<br />

Die schlanke, wohlproportionierte Figur umhüllte ein smaragdgrün<br />

leuchtendes Gewand, welches kunstvoll aus zartem Moos geschnei<strong>der</strong>t<br />

worden war.<br />

Das lange, dichte Haar hatte die Farbe von Eichhörnchenschwänzen,<br />

<strong>und</strong> die tiefgrünen Augen strahlten so klar wie Juwelen. Mit einer<br />

angenehm weichen Stimme, die dem Klang des sanften Murmelns<br />

einer Bergquelle nicht unähnlich war, wandte sich Farnlinde an die<br />

Kin<strong>der</strong>: „Oh, meine Lieben....welch eine Freude, euch wie<strong>der</strong> einmal<br />

zu Gesicht zu bekommen!“<br />

Und im nächsten Augenblick kniff sie schelmisch zwinkernd ein<br />

Auge zu <strong>und</strong> fragte in leicht verschwörerischem Ton: „Ihr möchtet<br />

euch nicht vielleicht zufällig gerne an einer Erfrischung laben? Also<br />

30


anzubieten hätte ich unter an<strong>der</strong>em Brombeerbrause, Rosenquellwasser,<br />

Waldmeistersirup o<strong>der</strong>....“ „Waldmeistersirup!“, ertönte es einstimmig<br />

aus allen Kin<strong>der</strong>kehlen.<br />

Farnlinde lächelte, denn sie kannte die Vorliebe <strong>der</strong> Heidekin<strong>der</strong> für<br />

dieses Getränk. Flink huschte die Fee mit großer Anmut in <strong>der</strong><br />

kleinen Behausung umher, während die Kin<strong>der</strong> auf einer breiten<br />

Bank im Vorbau des Baumhauses Platz nahmen. Es dauerte nicht lange,<br />

bis alle Kleinen einen großen Becher mit <strong>der</strong> leuchtend grünen<br />

Flüssigkeit in den Händen hielten. Begierig löschten Moin, Boje,<br />

Tepp, Swantje, Lil <strong>und</strong> Fenje ihren Durst. Der Sirup schmeckte einfach<br />

köstlich....niemand vermochte ihn so w<strong>und</strong>erbar süß <strong>und</strong> lieblich<br />

zuzubereiten wie die Waldfee. Boje fuhr sich mit <strong>der</strong> Zunge <strong>über</strong> die<br />

Lippen, an denen noch ein letzter Rest <strong>der</strong> Flüssigkeit hing. Swantje<br />

bew<strong>und</strong>erte die schöne Aussicht, die den Blick auf glänzende Laubkronen<br />

freigab, in denen buntgefie<strong>der</strong>te Vögel auf Zweigen saßen<br />

<strong>und</strong> selbstvergessen ihre hellen Lie<strong>der</strong> sangen. Lil schnupperte <strong>und</strong><br />

drehte ihren Kopf. Aus dem kleinen Raum, <strong>der</strong> zugleich Wohnstube,<br />

Schlafbereich <strong>und</strong> Küche war, drang ein intensiver Duft von würziger<br />

Frische <strong>und</strong> Nadeln sowie ein leicht modriger Duft, <strong>der</strong> mit allerlei<br />

Kräutern vermischt zu sein schien. Fast war hier „mehr Wald“ zu riechen,<br />

als im Freien, denn Farnlinde war schließlich eine tüchtige Fee,<br />

<strong>und</strong> sie schaffte es daher mühelos, die reine Frische des Waldes in<br />

ihrem Wohnbereich so zu verdichten, dass sie sich dort vollkommen<br />

wohl <strong>und</strong> glücklich fühlen konnte, wenn sie einmal nicht draußen<br />

wieselflink von Strauch zu Strauch dahinhuschte, son<strong>der</strong>n statt dessen<br />

ruhte o<strong>der</strong> sonst irgendeiner stillen Beschäftigung da drinnen<br />

nachging. Die Heidekin<strong>der</strong> erhoben sich. Sie verkündeten mit glänzenden<br />

Augen, wie w<strong>und</strong>ervoll das Getränk ihnen wie<strong>der</strong> einmal<br />

gem<strong>und</strong>et hatte <strong>und</strong> bedankten sich bei <strong>der</strong> Waldfee. Diese strich<br />

einem Heidekind nach dem an<strong>der</strong>en <strong>über</strong> den hellen Schopf <strong>und</strong> gab<br />

allen ihren Segen mit auf den Weg. Nachdem die Kin<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> die<br />

Leiter hinuntergeklettert waren, stellten sie diese an ihren angestammten<br />

Platz zurück <strong>und</strong> winkten Farnlinde zum Abschied zu, bevor<br />

sie hinter den Schatten <strong>der</strong> Bäume verschwanden. Farnlinde schickte<br />

sich nun an, sich <strong>der</strong> Zubereitung von Kräuterelixieren <strong>und</strong> Pasten zu<br />

widmen, <strong>und</strong> in <strong>der</strong> Stille des Waldes wandte sie sich dieser Aufgabe<br />

zu.<br />

31


32<br />

Fips, <strong>der</strong> Pfeifer<br />

Ein zauberhaftes Flötenspiel<br />

erklingt voll zärtlicher Magie<br />

Fips, <strong>der</strong> Pfeifer, oft in den Dünen verweilt<br />

<strong>und</strong> entlockt seinem Instrument <strong>der</strong> Töne gar viel<br />

liebliche, leichte, bitter ­ süße Melodie, die sanft heilt<br />

so heftig klopft sein Herz im Leib,<br />

er möchte die Liebste für sich gewinnen, aber wie?<br />

Wird er einst berühren die Seele <strong>der</strong> scheuen Maid?<br />

Die er einmal nur sah, so verletzlich <strong>und</strong> klein<br />

er würde so gerne lin<strong>der</strong>n ihr Leid<br />

die Liebe eines Halbelfen ist edel, aufrichtig <strong>und</strong> rein<br />

so setzt er aufs Neu das Eichenholz an seinen M<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> seine unerfüllte Sehnsucht tut sich <strong>der</strong> ganzen Insel k<strong>und</strong>.....


Der Wind trägt eine wehmütige Melodie<br />

<strong>über</strong> die Dünentäler<br />

<strong>und</strong> Sehnsucht sucht ihre Erfüllung<br />

im flehenden Flötenspiel<br />

bitter­süßer Liebesträume......<br />

Fips, <strong>der</strong> Pfeifer<br />

Fips, <strong>der</strong> Pfeifer, saß in den Dünen, inmitten eines tiefgrünen Kriechweidengestrüpps.<br />

Die Sonne stand hoch am Himmel, <strong>und</strong> es war<br />

warm.<br />

Eine träge Mittagsruhe lag <strong>über</strong> <strong>der</strong> weiten, grasbewachsenen Landschaft.<br />

Grillen zirpten, Falter flatterten <strong>über</strong> das Heidekraut hinweg,<br />

<strong>und</strong> schwarze Mücken mit grünglänzenden Leibern genossen die<br />

wohltuende Wärme <strong>und</strong> sonnten sich voller Behagen.<br />

Fips, <strong>der</strong> Pfeifer, welcher eigentlich Fridolin hieß, verharrte schweigend<br />

auf seinem Platz; nur die grauen, hellen Augen schweiften forschend<br />

umher, so als hielten sie nach etwas ganz Bestimmten Ausschau.<br />

Der junge Bursche war ein umgänglicher Zeitgenosse, stets fre<strong>und</strong>lich<br />

zu je<strong>der</strong>mann <strong>und</strong> ohne Falsch. Bei den Bewohnern <strong>der</strong> Insel war<br />

er <strong>über</strong>aus beliebt, denn sein Herz war offen <strong>und</strong> mitfühlend, <strong>und</strong> er<br />

hatte noch nie jemandem seine Hilfe verwehrt, <strong>der</strong> ihn in einer Notlage<br />

darum gebeten hatte.<br />

Fips war ein Halbelf; seine Mutter war eine Menschenfrau <strong>der</strong> Insel<br />

gewesen <strong>und</strong> sein Vater ein Dünenelf. Die Mutter war in einem frostig­kalten,<br />

harten Winter nach einer kurzen, schweren Krankheit gestorben.<br />

Sein Vater, <strong>der</strong> seine Gemahlin sehr geliebt hatte, war <strong>der</strong><br />

Insel Murma entflohen, auf <strong>der</strong> ihn alles so sehr an seine Nesken<br />

erinnerte <strong>und</strong> hatte sich auf einer unbewohnten Hallig nie<strong>der</strong>gelassen,<br />

wo er stets im Verborgenen blieb <strong>und</strong> wirkte.<br />

Fips war also schon als junger Bursche ganz auf sich alleine gestellt,<br />

da er aber auf solch gewinnende Weise den Charme <strong>und</strong> die Anmut<br />

<strong>der</strong> Elfen mit <strong>der</strong> Wärme <strong>und</strong> Aufrichtigkeit seiner Menschenmutter<br />

vereinte, half ihm ein je<strong>der</strong> gern <strong>und</strong> stand ihm zur Seite, wann<br />

immer er des Rates <strong>und</strong> <strong>der</strong> Tat bedurfte.<br />

Oft sah man ihn in den Dünen sitzen, wo er mit ernsten, klugen<br />

Augen dem Wind lauschte, <strong>der</strong> sein dunkelblondes Haar zerzauste.<br />

Und einmal hörte man ihn plötzlich eine Melodie pfeifen, <strong>und</strong> das<br />

Lied hallte weit <strong>über</strong> die Insel, berührte die Herzen, liebkoste die<br />

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Ohren, ließ die Alten <strong>und</strong> Kranken ihre Gebrechlichkeit <strong>und</strong> ihren<br />

Schmerz für kurze Zeit vergessen.<br />

Fips übte sich beständig in <strong>der</strong> Kunst des Pfeifens, <strong>und</strong> seine Melodien<br />

ertönten in immer größerer Klarheit, Reinheit <strong>und</strong> Harmonie.<br />

„Es ist das musikalische Erbe des Vaters“, flüsterten sich die Inselbewohner<br />

zu, denn es war allgemein bekannt, dass Elfen sich auf das<br />

Erzeugen harmonischer Klänge aufs Vortrefflichste verstehen, mehr<br />

als dies gewöhnlich Sterblichen möglich war. Und so kam <strong>der</strong> junge<br />

Fre<strong>und</strong> zu seinem Namen, alle sprachen von ihm nur noch als von<br />

Fips, dem Pfeifer. Natürlich wollte ein je<strong>der</strong> gern wissen, wie er zu<br />

dem kleinen Flötchen gekommen war, mit dem er die w<strong>und</strong>ersamen<br />

Töne hervorbrachte, <strong>und</strong> um die Neugier seiner Mitgeschöpfe zu stillen,<br />

erzählte Fips ihnen folgende Geschichte:<br />

Eines Tages war eine vorwitzige junge Möwe dicht <strong>über</strong> den Wald<br />

hinweg geflogen, <strong>und</strong> ihre scharfen Augen hatten sich magisch von<br />

einem hellroten, leuchtenden Gegenstand angezogen gefühlt, <strong>der</strong> sich<br />

gar zu lustig im leichten Sommerwind hin­<strong>und</strong> herbewegte. Mit<br />

einem schrillen, aufgeregten Schrei hatte sich die Möwe auf das seltsame<br />

Ding gestürzt <strong>und</strong> es fest mit ihrem gelben Schnabel gepackt.<br />

Triumphierend <strong>und</strong> voller Stolz war sie dann zum Strand zurückgeflogen,<br />

um ihre Fre<strong>und</strong>e mit dem F<strong>und</strong> zu beeindrucken. Doch <strong>der</strong><br />

Mittagstisch war gerade üppig gedeckt, denn das Meer hatte sich<br />

zurückgezogen <strong>und</strong> allerlei leckere Happen feilgeboten, auf die sich<br />

die Möwen in großem Eifer stürzten. Da war das rote Ding mit einem<br />

Male lästig geworden, <strong>und</strong> die Möwe hatte es einfach fallenlassen.<br />

Was dem Seevogel jedoch aufgr<strong>und</strong> seiner jugendlichen Torheit nicht<br />

bewusst war, war die Tatsache, dass es sich bei dem erbeuteten<br />

Gegenstand um den Zwergenfürsten Zwonomir handelte, <strong>der</strong> mit<br />

seinem Hofstaat im Wald, nahe dem Eichengr<strong>und</strong> lebte. Der Ärmste<br />

war mit seinen kurzen Beinchen so tief im Sand eingesunken, dass er<br />

sich nicht mehr aus eigener Kraft befreien konnte, auch wenn er mit<br />

hochrotem Kopf mit seinen Ärmchen heftig um sich schlug. Der<br />

Treibsand, den <strong>der</strong> Wind <strong>über</strong> den Strand wehte, hatte ihn bereits bis<br />

zu den Schultern in den warmen Sand hineingebannt, <strong>und</strong> dem armen<br />

kleinen Zwerg ward es angst <strong>und</strong> bange. In diesem Augenblick lief<br />

Fips zufällig an dieser Stelle vorbei, entdeckte den im jämmerlichen<br />

Zustand befindlichen Wicht <strong>und</strong> befreite ihn unverzüglich aus seinem<br />

Gefängnis.<br />

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Der Zwergenkönig war natürlich <strong>über</strong>glücklich <strong>über</strong> seine Rettung<br />

<strong>und</strong> deshalb erteilte er seinem Volk den Auftrag, eine beson<strong>der</strong>s<br />

schöne Flöte anzufertigen.<br />

Und die fleißigen Wichtel verbrachten viele St<strong>und</strong>en damit, das Stück<br />

Eichenholz zu schleifen, zu glätten, zu polieren, kunstvolle, winzige<br />

Reliefs zu schnitzen, bevor Zwonomir das vollendete Werk feierlich<br />

segnete <strong>und</strong> es Fips <strong>über</strong>reichte.....<br />

Und so spielte <strong>der</strong> Halbelf auch jetzt, in dieser Mittagsst<strong>und</strong>e, eine<br />

wohltönende, liebliche Melodie. Doch wer aufmerksam lauschte,<br />

meinte einen Hauch Wehmut <strong>und</strong> bittersüße Sehnsucht zu erahnen,<br />

die dem Lied innewohnte. Und so verhielt es sich auch, denn Fips,<br />

<strong>der</strong> Pfeifer, hatte sich verliebt, sein Herz war in heller Liebe entflammt<br />

für die rätselhafte Dünenjungfrau, die er einmal flüchtig aus<br />

einiger Entfernung in den Dünen erblickt hatte.<br />

Fips hatte sie fre<strong>und</strong>lich angelächelt <strong>und</strong> ihr zugewunken, doch sie<br />

war nur erschrocken zusammengezuckt <strong>und</strong> hastig davongeeilt, bis<br />

das lange, im Wind flatternde, honigfarbene Haar nicht mehr zu<br />

sehen gewesen war. Seit dieser Begegnung hatte sich Fips immer<br />

wie<strong>der</strong> dieselben Fragen gestellt: Wer mochte sie wohl sein? War sie<br />

ein Menschengeschöpf? Woher kam sie?<br />

Fips kannte die Dorfmädchen flüchtig, doch die geheimnisvolle<br />

Dünenmaid war nicht von dieser Insel, das meinte er mit Bestimmtheit<br />

zu wissen. Wirklich schade, dass sie so scheu ist, dachte Fips.<br />

Wenn es ihm nur gelingen würde, ihr Vertrauen zu erringen....Doch<br />

vorläufig blieben ihm wohl nur seine sehnsuchtsvollen Weisen. Vielleicht<br />

würden sie irgendwann einmal ihr Herz erreichen. Das<br />

wünschte er sich aus tiefster Seele.<br />

Plötzlich zogen einige Wölkchen <strong>über</strong> den Himmel; <strong>der</strong> Südwind<br />

frischte ein wenig auf. Fips erkannte in den vermeintlichen Wolken<br />

nun die wehmütigen Gesichter <strong>der</strong> Windbräute, sah, wie sie ihre langen,<br />

üppig­gebauschten Roben in die rechte Form brachten, „Welch<br />

bittersüßes Spiel! “, seufzte die braunhaarige Ruth. „So voll innigem<br />

Verlangen <strong>und</strong> durchwebt von Zärtlichkeit....oh, könnte es doch<br />

Aeromir, den edlen Fürsten <strong>der</strong> Lüfte, für mich einnehmen!“<br />

Aber genau denselben Wunsch hegten die blonde Ida, die rothaarige<br />

Edda <strong>und</strong> die schwarzhaarige Thekla, jede für sich! Über die hübschen<br />

Züge des Pfeifers glitt ein schelmisches Lächeln. Mit einem<br />

Augenzwinkern meinte er: „Bis <strong>der</strong> freie Luftgeist Aeromir, <strong>der</strong> Herr<br />

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des Windes, eine von euch erhört, vergehen bestimmt noch Äonen<br />

von Zeiten.“<br />

Und mit einem tiefen, sehnsuchtsvollen Seufzen, das wie klirrendes<br />

Glas klang, zerstieben die Wolkenbräute in alle Himmelsrichtungen,<br />

<strong>und</strong> ließen eine klare, von einem hellen Blau <strong>über</strong>zogene Fläche<br />

zurück.<br />

36


Effken­Lene<br />

Im tiefsten Erlengr<strong>und</strong>e lebt in <strong>der</strong> Dunkelheit<br />

die unheimliche Alte, ein hexenhaftes Weib<br />

so raunt man sich es zu in den Dörfern von M<strong>und</strong>e zu M<strong>und</strong>e<br />

keine Menschenseele wagt sich dort hinein,<br />

doch niemand wirklich weiß,<br />

was erzählen würde ihr betagter Leib<br />

es ist doch ein altes Mütterchen nur<br />

war jung, als leuchtete Murmas Morgenrot<br />

tut wahrlich niemandem ein Leide in Wald <strong>und</strong> Flur<br />

früher...... ja, da besaß sie große Macht<br />

doch ihre Kraft entschwand, bald klopft an ihre Türe <strong>der</strong> Tod<br />

einst war sie die Beschwörerin <strong>der</strong> Nacht<br />

Weisheit ward ihr zueigen <strong>und</strong> Wissen<br />

viele suchten bei ihr Hilfe <strong>und</strong> Rat<br />

jetzt ist sie müde von des Schicksals Rissen<br />

alles nun an<strong>der</strong>s ist, in <strong>der</strong> Erde brach auf eine neue Saat<br />

so lebt sie abgeschieden <strong>und</strong> einsam am grüntrüben Teich<br />

die alte Effken­Lene im geisterumnebelten Erlenreich......<br />

37


38<br />

Dort, wo niemand mag gern sein,<br />

in dem schwarzen Erlengr<strong>und</strong>e,<br />

lebt die alte Effken­Lene ganz allein.<br />

Dort bei Hirsch <strong>und</strong> Reh, in den düsteren<br />

Gefilden, lebt sie, die Helfende,<br />

in tiefer Ruh´......<br />

Effken­Lene<br />

Sorgsam vermengte die Waldfee Farnlinde feingeriebene Kiefernrinde<br />

mit Fichtenharz, fügte etwas getrockneten Lavendel hinzu <strong>und</strong><br />

goss abgestandenes Wasser aus einem kleinen Teich in die Masse<br />

hinein. Dies würde eine wohlriechende, wirksame Salbe ergeben, die<br />

Entzündungen vortrefflich zum Abschwellen brachte. Zufrieden<br />

rührte Farnlinde die Mixtur mit einem dünnen Weidenstab, bis sich<br />

eine weiße Schicht auf <strong>der</strong> Oberfläche bildete. Schnell füllte die<br />

Kräuterk<strong>und</strong>ige die zähe Masse in ein tönernes Gefäß <strong>und</strong> stellte es<br />

auf einem Holzbrett ab. In diesem Augenblick nahmen Farnlinde´s<br />

feine Ohren ein leises Knacken von Zweigen wahr. Die Waldfee<br />

wischte sich rasch die Hände ab, dann trat sie auf das vorgebaute Plateau<br />

ihrer Behausung in umwipfelter Höhe. Der Morgen war noch<br />

jung, <strong>und</strong> die Gräser glänzten voller Tautropfen, in denen sich das<br />

Licht <strong>der</strong> Sonnenstrahlen brach, so dass sie aussahen wie funkelnde<br />

Diamanten.<br />

Eine <strong>der</strong> großen Kiefer gegen<strong>über</strong> stehende Birke neigte fre<strong>und</strong>lich<br />

ihr leise säuselndes Haupt, welches aus zartgrünen, herzförmigen<br />

Blättchen bestand.<br />

Farnlinde gab den Morgengruß des Baumes zurück, indem sie ihn mit<br />

einem smaragdgrünen Lächeln anstrahlte. Dann wurde sie <strong>der</strong> zierlichen<br />

Gestalt gewahr, die dort unten, am Waldboden, zwischen den<br />

Farnwedeln hervortrat.<br />

Das weißblonde Haar leuchtete im Glanz des Sonnenlichtes. Die<br />

Waldfee schaute in das bleiche, bekümmerte Antlitz mit den türkisfarbenen<br />

Augen, das bittend zu ihr hinaufblickte. „Warte, ich komme<br />

nach unten,“ rief Farnlinde, <strong>und</strong> behände wie ein Eichhörnchen kletterte<br />

sie scheinbar mühelos den Stamm <strong>der</strong> alten Kiefer hinunter. Die<br />

Waldfee sah den aufgeregten, gehetzten Blick <strong>der</strong> jungen Frau <strong>und</strong><br />

erkannte, dass sie in Schwierigkeiten war.<br />

Farnlinde wusste, dass es sich um Nereide, eine Inselnymphe, handelte,<br />

die schon seit einiger Zeit in einem dunklen, kleinen Weiher<br />

lebte. Daran war jedoch nichts Ungewöhnliches, lebten doch mehr


als ein Dutzend Nymphen in den verstreuten Teichen Murmas. Traurig<br />

war aber die Tatsache, dass es sich bei Nereide um eine aus dem<br />

Meer hierher verbannte Nixe handelte.<br />

Und so kam es zu dem Unglück:<br />

Nereide hatte sich vor vielen Jahren unsterblich in Aquarius, den<br />

Prinzen <strong>der</strong> Brandung, verliebt. Aquarius war jedoch <strong>der</strong> Sohn des<br />

mächtigen Meereskönigs Ozeanos, <strong>der</strong> mit seinem aufbrausenden<br />

Temperament dazu imstande war, die fürchterlichsten Stürme zu entfachen.<br />

Und es hatte zutiefst seinen Unwillen erregt, dass sein Thronfolger<br />

sich zu einer gewöhnlichen Nixe hingezogen fühlte. Ihm<br />

schwebte eine Prinzessin für seinen Sohn vor, eine, die aus einem<br />

großen Meeresreich stammte, reichliche Güter mit sich brachte <strong>und</strong><br />

zudem natürlich noch von außerordentlicher Schönheit sein musste.<br />

Auf Nereide traf nur die letzte Eigenschaft zu, denn sie war in <strong>der</strong> Tat<br />

w<strong>und</strong>erschön <strong>und</strong> stand darin keiner Prinzessin nach. Sie entstammte<br />

jedoch einer einfachen Familie <strong>und</strong> Reichtümer besaß sie schon gar<br />

nicht.<br />

Aquarius aber wollte nicht von seiner großen Liebe lassen, <strong>und</strong> so<br />

verbannte sie König Ozeanos nach einem gewaltigen Zornesausbruch,<br />

dem ein Dutzend Schiffe zum Opfer gefallen waren, auf die<br />

kleine Insel Murma, wo sie bis ans Ende ihrer Tage einsam <strong>und</strong> verlassen<br />

in einem schattigen Weiher leben sollte. Doch die Liebe des<br />

Paares erwies sich als so unerschütterlich, dass sich die Nymphenfürstin<br />

Dryade erbarmte <strong>und</strong> es ihnen ermöglichte, jeden Abend im<br />

Licht <strong>der</strong> Dämmerung am Teich zusammenzukommen.<br />

Jahre waren seither vergangen, doch die Zeit vermochte den beiden<br />

Liebenden nichts anzuhaben. Alle Geschöpfe <strong>der</strong> Insel bew<strong>und</strong>erten<br />

die Kraft <strong>und</strong> Stärke, die Nereide <strong>und</strong> Aquarius aufbrachten, um ihre<br />

Liebe auch unter schwierigen Umständen zu erhalten.<br />

Doch nun nässten schimmernde Tränen die Wangen <strong>der</strong> Nymphe, als<br />

sie schluchzend hervorstieß: „Es muss etwas Schreckliches geschehen<br />

sein!<br />

Er war nicht bei mir....Aquarius, mein Geliebter, ist gestern nicht zu<br />

mir gekommen!“ Nereide´s Schultern bebten, <strong>und</strong> Farnlinde strich ihr<br />

tröstend <strong>über</strong> das helle Haar, das die Nymphe allen Umständen zum<br />

Trotz immer noch mit Muscheln <strong>und</strong> Bän<strong>der</strong>n geschmückt hatte.<br />

Farnlinde holte aus ihrem Baumhäuschen einen Krug <strong>und</strong> zwei kleine<br />

Becherlein. Wieselflink landete sie kurze Zeit später erneut auf dem<br />

39


moosigen Waldboden, dann setzten sich die beiden Frauen in das<br />

sonnenbeschienene Gras hinein <strong>und</strong> sie tranken schweigend das Elixier<br />

aus stärkenden Waldkräutern.<br />

Bald hatte sich die Nymphe Nereide so weit beruhigt, dass sie wie<strong>der</strong><br />

klar denken konnte: „Ich dachte, du könntest mir vielleicht helfen,<br />

Aquarius zu finden“, sagte die Nymphe mit einem flehenden Unterton<br />

in <strong>der</strong> Stimme.<br />

„Wie man mir sagte, besitzt du einen magischen Spiegel, in den du<br />

hineinschaust <strong>und</strong> darin Dinge erblickst, die an<strong>der</strong>en verborgen bleiben.“<br />

Farnlinde schüttelte bedauernd den Kopf: „Nein, solch einen Spiegel<br />

habe ich nicht. Aber wenn mich nicht alles täuscht, gibt es in meiner<br />

Familie ein solch kostbares Zauberstück....ja, die alte Effken­Lene<br />

dürfte einen solchen Spiegel ihr eigen nennen!“<br />

Effken­Lene war die Muhme von Farnlinde <strong>und</strong> ihre einzige noch<br />

lebende Verwandte. Sie galt als Hexe, die ihre Künste <strong>und</strong> Heilsprüche<br />

jedoch nur zum Guten benutzte. Effken­Lene hatte ihrer Nichte<br />

viele Dinge beigebracht, hatte sie Wissen gelehrt <strong>über</strong> Kräuter, Tiere,<br />

Wildblumen, <strong>über</strong> Sonne, Mond <strong>und</strong> Gestirne. Farnlinde verdankte<br />

ihr viel. Die alte Effken­Lene lebte allein <strong>und</strong> abgeschieden im düstersten<br />

Teil <strong>der</strong> Insel, dort, wo im geheimnisvollen Erlengr<strong>und</strong>e<br />

Hirsch <strong>und</strong> Reh umhersprangen <strong>und</strong> an manchen Tagen das leise<br />

Raunen <strong>der</strong> Geister zu hören war. Farnlinde besuchte die alte<br />

Muhme gelegentlich <strong>und</strong> brachte ihr dann stets ein Elixier mit, welches<br />

die Beschwerden zu lin<strong>der</strong>n vermochte, an denen Effken­Lene<br />

mehr <strong>und</strong> mehr litt, denn sie war bereits hochbetagt. Bei Kräuterwein<br />

saßen die beiden Frauen dann beieinan<strong>der</strong>, tauschten Geheimnisse<br />

<strong>und</strong> Rezepturen aus.<br />

Die Waldfee erhob sich nun, strich die Falten ihres moosgrünen<br />

Gewandes glatt <strong>und</strong> sprach zu Nereide: „Komm´, wir wollen zur<br />

alten Effken­Lene gehen. Ich wollte ihr schon seit längerem einmal<br />

wie<strong>der</strong> einen Besuch abstatten. Vielleicht kann die Muhme uns dabei<br />

helfen, zu erfahren, weshalb Aquarius dich nicht besuchen kam!“ Die<br />

Waldnymphe nickte dankbar. Ihre M<strong>und</strong>winkel verzogen sich zu<br />

einer schmerzlichen Linie: „Er liebt mich doch so sehr! Das hat er<br />

mir immer wie<strong>der</strong> neu zu verstehen gegeben. Da war nichts, woran<br />

ich hätte erkennen können, dass seine Liebe zu mir sich verloren hätte.“<br />

Nereide seufzte leise: „Sein Vater hat ihn bestimmt unter Druck<br />

gesetzt. Ich kenne Ozeanos doch. Er kann so unnachgiebig, so unerbittlich<br />

sein!“<br />

40


Die Waldfee <strong>und</strong> die Nymphe schritten schweigend nebeneinan<strong>der</strong><br />

einher durch den Wald, sorgsam darauf achtend, nicht <strong>über</strong> weitläufige<br />

Wurzeln zu stolpern o<strong>der</strong> im dornigen Gestrüpp hängenzubleiben.<br />

Farnlinde, die den Wald besser kannte, als sonst jemand auf <strong>der</strong><br />

Insel, machte die Nymphe immer wie<strong>der</strong> auf kritische Stellen aufmerksam,<br />

was die verstoßene Nixe dankbar annahm, denn ihre<br />

Gedanken zogen sie immer wie<strong>der</strong> zu dem Geliebten hin, <strong>und</strong> die<br />

Tücken <strong>der</strong> Gegenwart hatte sie dann aus ihrem Bewusstsein zurückgedrängt.<br />

Plötzlich wurde <strong>der</strong> Wald immer dunkler, <strong>der</strong> Lichteinfall<br />

spärlicher, obgleich die Sonne genau wie zuvor von einem wolkenlosen,<br />

blauen Himmel herab schien. Die Luft war modrig <strong>und</strong> feucht<br />

<strong>und</strong> nur vereinzelt erklang das Lied eines Vogels in den Zweigen.<br />

Ein Tümpel lag vor ihnen, dessen senffarbene, <strong>und</strong>urchdringliche<br />

Oberfläche gedämpft das Grün <strong>der</strong> zahlreichen Erlen wi<strong>der</strong>spiegelte,<br />

die das Ufer säumten.<br />

Quakend zogen Enten mit buntschillerndem o<strong>der</strong> aber auch schlicht<br />

braun­weißem Gefie<strong>der</strong> <strong>über</strong> das Wasser. Nereide <strong>und</strong> ihre Begleiterin<br />

gingen an den im Wind leise wipernden Erlen vorbei. Die Nymphe<br />

fröstelte, als sei ein Schatten auf sie gefallen, <strong>und</strong> sie meinte das<br />

schwache Raunen von Stimmen zu hören. Unwillkürlich<br />

beschleunigte Nereide ihre Schritte. Farnlinde zupfte sie beruhigend<br />

am Ärmel: „Hab´ keine Angst, was wir hören sind nur die Stimmen<br />

<strong>der</strong> Erlengeister, die neugierig unsere Anwesenheit zur Kenntnis<br />

genommen haben. Du brauchst dich nicht vor ihnen zu fürchten!"<br />

Nereide nickte unsicher.<br />

Wer immer es konnte, vermied es, sich diesem unheimlichen Ort zu<br />

nähern, das wusste sie. Und nun verstand sie auch, weshalb die Dorfbewohner<br />

sich so verhielten. Hier schien es in <strong>der</strong> Tat nicht ganz<br />

geheuer zuzugehen.<br />

Die knorrigen Erlen hatten ihre dicken Wurzeln, die den Beinen einer<br />

Spinne ähnlich sahen, fest im schwarzen Erdreich verankert. Die<br />

stark gekrümmten Äste wirkten bizarr <strong>und</strong> die Baumstämme sahen<br />

aus wie sich windende Schlangenleiber. Nur das im Sommerwind<br />

erzitternde, smaragdgrüne Laub wirkte beruhigend inmitten dieser<br />

Düsternis. Wie man hier nur wohnen kann? , fragte sich Nereide mit<br />

leichter Verw<strong>und</strong>erung. Als hätte die Waldfee ihre Gedanken erraten,<br />

meinte sie: „Effken­Lene braucht die Abgeschiedenheit, um sich in<br />

aller Ruhe, ohne jegliche Ablenkung, ihren Heil­<strong>und</strong> Zauberkünsten<br />

zu widmen. Schließlich ist sie nicht mehr die Jüngste, <strong>und</strong> es bedarf<br />

<strong>der</strong> rechten Konzentration, um eine Wirkung zu erzielen. Aber hab´<br />

keine Angst! Sie ist nämlich trotz ihres hohen Alters immer noch eine<br />

41


sehr umgängliche, patente Person.“ Endlich tauchte die windschiefe,<br />

kleine Hütte vor ihnen auf.<br />

Das Dach war von wildem Gras <strong>über</strong>wuchert <strong>und</strong> die zahlreichen<br />

Löcher mit faustgroßen Steinen abgedichtet. Die hölzerne Tür öffnete<br />

sich knarrend einen Spalt breit <strong>und</strong> ächzte quietschend in den rostigen<br />

Angeln.<br />

Dann stand das alte Mütterchen, welches die betagte Effken­Lene<br />

sein musste, vor ihnen, auf einen dicken, knorrigen Weidenstab gestützt,<br />

ein pflanzengefärbtes braunrotes Tuch <strong>über</strong> den Kopf geschlungen.<br />

Das grobe Gewand aus ockerfarbenem Sackleinen verhüllte<br />

ihren ausgemergelten Leib.<br />

Ein Gürtel aus Hirschle<strong>der</strong>, an dem allerhand Schnitzwerk,<br />

offensichtlich magische Figürchen, hingen, lag um ihre schlanke Taille.<br />

Die hellen, steingrauen Augen blickten wach, so als würde ihnen<br />

nichts entgehen.<br />

Überrascht zog die Alte die immer noch buschigen, dunklen Brauen<br />

nach oben.<br />

„Töchterchen, welch eine Freude, dich endlich einmal wie<strong>der</strong> zu<br />

Gesicht zu bekommen!“ Effken­Lene´s Stimme klang dunkel <strong>und</strong><br />

sanft, aber keineswegs kraftlos o<strong>der</strong> müde. Farnlinde eilte mit schnellen<br />

Schritten auf die Muhme zu <strong>und</strong> umarmte sie innig. Dann fiel Effken­Lene´s<br />

Blick auf die Nymphe, die ein wenig verloren dastand.<br />

Die Waldfee stellte ihrer Verwandten die Nixe vor <strong>und</strong> begann, ihr in<br />

kurzen Worten das Anliegen <strong>der</strong> jungen Frau zu schil<strong>der</strong>n. Doch Effken­Lene<br />

unterbrach bereits ein wenig später ihre Nichte, nachdem<br />

sie mit einem gütigen Lächeln Nereide´s bittenden Blick aufgefangen<br />

hatte.<br />

„Töchterchen, ich weiß, um was es geht, schließlich bin ich immer<br />

noch eine Hexe, wenn auch meine Macht geschrumpft ist, wie mein<br />

Leib. Aber meine Fähigkeiten sind mir immer noch geblieben.“ Effken­Lene<br />

liebte keine langen Reden, sie kam gerne direkt sofort zum<br />

Kern <strong>der</strong> Sache, denn sie dachte praktisch.....schließlich hatte sie<br />

reichlich Lebenserfahrung gesammelt.<br />

Und es lag ihr stets viel daran, jemandem rasch zu helfen. Ihr klarer<br />

Blick ruhte auf dem hübschen Antlitz <strong>der</strong> Nymphe, das von dem<br />

weißblonden Haar, in dem sich die Sonne versteckt zu haben schien,<br />

apart umrahmt wurde.<br />

„Du mein Kind möchtest einen Blick in den Zauberspiegel werfen,<br />

um zu erfahren, was mit deinem Liebsten geschehen ist, nicht wahr?“<br />

Nereide nickte. Ihre Wangen erröteten sanft, wie immer, wenn sie<br />

sehr aufgeregt war. Und gleichzeitig verspürte sie in ihrem Herzen<br />

42


einen eiskalten Stich, <strong>und</strong> sie empfand plötzlich große Angst vor<br />

dem, was sie nun vielleicht erfahren würde. Effken­Lene kratzte sich<br />

nachdenklich an <strong>der</strong> Nase <strong>und</strong> meinte dann: „Hm, ich müsste ihn aus<br />

<strong>der</strong> Kiste mit dem alten Gerümpel hervorholen <strong>und</strong> blankpolieren,<br />

damit er seine Funktion erfüllen kann. Es ist gar lange her, seit ich<br />

ihn zuletzt benutzt habe. Aber zuvor bringe ich euch eine kleine<br />

Erfrischung <strong>und</strong> einige stärkende Johanniskrautkekse, damit ihr<br />

gewappnet seid für das, was ihr als Botschaft erfahren werdet. Denn<br />

seid euch dessen sicher: Der Spiegel sagt immer die Wahrheit, er lügt<br />

nicht!“<br />

Während sich Nereide <strong>und</strong> Farnlinde an den Keksen labten <strong>und</strong> das<br />

frische Wasser tranken, bew<strong>und</strong>erte die Waldnymphe die zahlreichen<br />

geheimen Zeichen, welche in die hölzerne Bank hinein geschnitzt<br />

waren, auf <strong>der</strong> sie vor dem Häuschen saßen. Immer wie<strong>der</strong> zogen<br />

Enten in dichtem Fluge <strong>über</strong> das Dach hinweg. „Das sind alles Vögel,<br />

welche die Muhme ges<strong>und</strong> gepflegt <strong>und</strong> von Verletzungen geheilt<br />

hat“, erklärte die Waldfee Nereide. „Sie fühlen sich alle in dem Tümpel<br />

zuhause, den wir beim Herkommen gesehen haben.“<br />

Die Dorfbewohner fürchten sich zu Unrecht vor <strong>der</strong> alten Effken­<br />

Lene, dachte Nereide. Sie hat ein gütiges, mitfühlendes Herz <strong>und</strong> verrichtet<br />

kein übles Hexenwerk.....nein, sie versucht zu helfen <strong>und</strong> zu<br />

heilen; ein liebes, altes Mütterchen....Endlich hörten Farnlinde <strong>und</strong><br />

die Nymphe die Stimme <strong>der</strong> Effken­Lene im Innern <strong>der</strong> Hütte: „Es ist<br />

soweit, kommt herein! Der Spiegel ist bereit, zu euch zu sprechen!“<br />

Und Farnlinde schob die leicht zitternde Nereide durch die schmale<br />

Tür hindurch. Hier drinnen war es so finster, dass man kaum die<br />

Hand vor Augen sehen konnte. Nur ein grünliches Leuchten lag <strong>über</strong><br />

den tiefen, dunklen Schatten. Dann erblickten sie den Spiegel <strong>und</strong> sie<br />

hielten für einen Augenblick den Atem an, so herrlich war er anzuschauen.<br />

Silberverzierungen <strong>und</strong> gew<strong>und</strong>ene Schnörkel fassten das<br />

kristallene Oval formvollendet ein.<br />

Effken­Lene blieb das ehrfürchtige Staunen <strong>der</strong> beiden Frauen nicht<br />

verborgen.<br />

„Er ist ein Geschenk <strong>der</strong> Mondkönigin an eine meiner Urahninnen,“<br />

flüsterte sie leise. Der Meister, <strong>der</strong> dieses Werk geschaffen hatte,<br />

musste in <strong>der</strong> Tat aus einer höheren Welt stammen.<br />

Es war so still in <strong>der</strong> Hütte, dass man eine Stecknadel zu Boden hätte<br />

fallen hören können. Plötzlich entströmte dem w<strong>und</strong>ersamen Spiegel<br />

helles Licht, das sich bewegte <strong>und</strong> schneller <strong>und</strong> schneller aus dem<br />

Oval herausfloss, so dass das dunkle Heim Effken­Lene´s in einem<br />

eigentümlichen Glanz vibrierte. Dann trat erneut schlagartig Dunkel­<br />

43


heit ein, doch nun schälten sich unscharfe Konturen aus dem Spiegel<br />

heraus, die sich schließlich zu einem klaren, farbigen Bild verdichteten.<br />

Jetzt konnte man grünliches, fließendes Wasser erkennen, trüb<br />

<strong>und</strong> leicht milchig vom Salzgehalt des Meeres. Auf <strong>der</strong> rechten Seite<br />

des Spiegels wurde eine Person sichtbar, die eine prachtvolle blaugrüne<br />

Gewandung trug. In <strong>der</strong> fest zusammengeballten Faust hielt sie<br />

einen Dreizack, <strong>der</strong> dick mit Algen umwickelt war. „Ozeanos“, flüsterte<br />

Nereide mit schreckgeweiteten Augen.<br />

Da trat eine zweite Person von links in das Bild hinein.<br />

Es war ein schöner Jüngling mit goldblondem Haar <strong>und</strong> hübschen<br />

Gesichtszügen. Seine hellgrünen Augen blickten jedoch finster, <strong>und</strong><br />

in einer Geste <strong>der</strong> Verärgerung warf er den lockigen Kopf heftig in<br />

den Nacken.<br />

Farnlinde begriff, dass es sich bei dieser Szene wohl um eine Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

zwischen dem Meereskönig <strong>und</strong> seinem Sohn, dem<br />

Brandungsprinzen Aquarius, handeln musste, die in <strong>der</strong> Tiefe des<br />

Meeres, im königlichen Palast, ausgetragen wurde. Plötzlich ertönte<br />

wie dumpfes Donnergrollen die Stimme von Ozeanos, dessen grau<br />

gewelltes Haar ihm auf die Schultern fiel, was ihm ein wildes Aussehen<br />

verlieh. Der lange Bart bewegte sich fortwährend von einer Seite<br />

auf die an<strong>der</strong>e, was wohl die eigentümlichen Meeresströmungen an<br />

dieser Stelle bewirkten. „Und dies ist nun wirklich mein allerletztes<br />

Wort in dieser Angelegenheit! Binnen eines Vollmondes bist du entwe<strong>der</strong><br />

mit Aurora, <strong>der</strong> Tochter des Sonnenkönigs Helios o<strong>der</strong> mit<br />

Estella, <strong>der</strong> Tochter <strong>der</strong> Mondkönigin Selene, vermählt. Entscheide<br />

dich zwischen diesen beiden Schönheiten, die als Bräute <strong>und</strong> künftige<br />

Meeresköniginnen durchaus würdig erscheinen. Und schlage dir<br />

diese unleidliche Geschichte mit <strong>der</strong> kleinen, unbedeutenden Nixe<br />

ein für allemal aus dem Kopf! Denke daran, dass <strong>der</strong> Bann, den ich<br />

nun <strong>über</strong> dich verhänge, stark genug ist, um dich bis zu deiner Vermählung<br />

von <strong>der</strong> Nymphe fernzuhalten!“ Aquarius´ Augen funkelten<br />

dunkelgrün vor Zorn. Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich<br />

zusammen, wandte sich abrupt um <strong>und</strong> stürzte aus dem Bild. Ein kurzes,<br />

silbriges Flimmern huschte <strong>über</strong> den Spiegel, dann erlosch es<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Raum lag wie<strong>der</strong> in tiefer Dunkelheit. „Er steht also unter<br />

einem Bann, dein Aquarius, deshalb konnte er gestern nicht zu dir<br />

kommen“, stellte Farnlinde fest.<br />

„Noch nicht einmal meinen Namen spricht Ozeanos mehr aus, dabei<br />

standen meine Eltern früher immer in einer guten Beziehung zur<br />

Königsfamilie.“<br />

Nereide´s Ton war bitter; ihre Stimme klang bedrückt <strong>und</strong> müde.<br />

44


Zumindest wusste sie nun, dass ihr Geliebter durch eine fremde<br />

Macht dazu gezwungen wurde, ihr fernzubleiben. Effken­Lene riet<br />

<strong>der</strong> leidenden Nymphe: „Geh´ zu <strong>der</strong> Magierin Kadabra, <strong>der</strong> heiligen<br />

Priesterin <strong>der</strong> Insel! Nur sie ist wohl in <strong>der</strong> Lage, dir zu helfen.“<br />

Nereide dankte dem alten Mütterchen <strong>und</strong> Farnlinde drückte ihre<br />

Muhme herzlich an sich, bevor sie die leicht schwankende Nymphe<br />

aus dem Häuschen zog. Die Waldfee begleitete Nereide noch ein<br />

gutes Stück des Weges, dann gingen beide getrennte Pfade entlang.<br />

Farnlinde suchte ihre Baumbehausung auf, <strong>und</strong> die Nymphe zog sich<br />

an ihren birkengesäumten, dunklen Waldteich zurück, um sich dort in<br />

<strong>der</strong> Einsamkeit ihrem Schmerz hinzugeben.<br />

45


Hedeheidi<br />

Grauer Nebel hüllt mit klammen, feuchten Schwaden<br />

Wald, Wiesen <strong>und</strong> Dünen ein<br />

die Insel Murma schweigt<br />

ein je<strong>der</strong> fröstelt <strong>und</strong> fühlt sich ein wenig einsam <strong>und</strong> allein<br />

zu Grübelei, Einkehr <strong>und</strong> Melancholie führt sie,<br />

die Tochter <strong>der</strong> Weidenfee,<br />

die Hedeheidi,<br />

einzig die Magierin Kadabra sehnt die große Stille herbei<br />

Besinnung ist mitunter vonnöten,<br />

sie macht die Geschöpfe erst wirklich frei<br />

doch ihres Vaters heitere <strong>und</strong> warme Gabe<br />

verwandelt mit anmutiger Leichtigkeit die trübe Lage<br />

dann findet man sie fröhlich lachend im sonnigen Gr<strong>und</strong>e<br />

zur licht<strong>über</strong>fluteten Mittagsst<strong>und</strong>e<br />

dort, wo die Sträucher des Sanddorns orangerot reifen<br />

ihre Augen voll Dankbarkeit <strong>über</strong> den hellgrünen Hain schweifen<br />

es schwankt das Gemüt <strong>der</strong> Nebelfee<br />

doch das Leben ist ein stetiger Balanceakt zwischen Freude <strong>und</strong> Weh.<br />

46


Feuchtigkeit ist meine Gabe,<br />

verachte nicht die trüben Tage,<br />

die voller Stille <strong>und</strong> Einkehr sind,<br />

auf dass ein je<strong>der</strong> sich selber neu find....<br />

47


48<br />

Hedeheidi<br />

Dichter Nebel hatte sich wie ein <strong>und</strong>urchdringlicher Schleier <strong>über</strong> die<br />

Insel gelegt, umhüllte sie wie ein dickes Leinentuch. Die Dorfbewohner<br />

hatten ihre Kin<strong>der</strong>, die im Freien gespielt hatten, in die Häuser<br />

hineingerufen <strong>und</strong> wärmten sich nun in den Stuben vor den behaglich<br />

knisternden Flammen <strong>der</strong> Kamine auf.<br />

Während die rotgoldene Feuerglut prasselte, erzählten sie sich spannende<br />

<strong>und</strong> abenteuerliche Geschichten. Eine dampfende Tasse<br />

Punsch verbreitete ihr köstliches Aroma <strong>und</strong> trug dazu bei, dass in<br />

den Hütten eine entspannte, angenehme Atmosphäre spürbar war.<br />

Es schien eine Laune des Schicksals zu sein, dass die Insel Murma<br />

das ganze Jahr <strong>über</strong> immer wie<strong>der</strong> einmal von zähem Nebel <strong>über</strong>rascht<br />

wurde, denn sie galt weit <strong>und</strong> breit als „Insel des Sonnenscheins“,<br />

was die Insulaner nicht min<strong>der</strong> mit Stolz erfüllte. Doch das<br />

Dorfvolk hatte es sich angewöhnt, den Nebeltagen gelassen entgegenzusehen.<br />

Die Männer freuten sich, dass sie die Arbeit auf Hof <strong>und</strong><br />

Feld endlich einmal ruhen lassen konnten, <strong>und</strong> die Frauen waren<br />

erleichtert, dass sie einmal ihre ganze Familie um sich hatten. Den<br />

Kin<strong>der</strong>n hingegen gefielen diese Zeiten natürlich weniger, mussten<br />

sie dann doch mit den beengten Stuben vorlieb nehmen <strong>und</strong> konnten<br />

nicht draußen herumtollen, durch Wald <strong>und</strong> Heide streifen <strong>und</strong> den<br />

weiten Strand als Spielfläche nutzen.<br />

Auch die Falterfeen fanden keinen Gefallen am Nebel, ließ die<br />

Feuchtigkeit doch ihre zarten Flügelchen schwer <strong>und</strong> nass werden, so<br />

dass sie sich nicht mehr in die Lüfte erheben konnten. Einzig die<br />

Magierin Kadabra liebte den Nebel als ihrem Wesen zugeneigtes Element,<br />

hüllte er die Insel doch in seine eigentümliche, schweigende<br />

Stille, die es jedem einfach machte, in sich zu gehen, seiner inneren<br />

Stimme <strong>der</strong> Weisheit zu lauschen <strong>und</strong> dadurch <strong>der</strong> Wahrheit in sich<br />

Raum zu geben. Für Kadabra war diese Stille ein heiliger Tempel,<br />

den es zu betreten galt, wenn <strong>der</strong> Nebel seine milchig­weiße Pforte<br />

öffnete.<br />

Dies versuchte die Priesterin immer wie<strong>der</strong> aufs Neue den an<strong>der</strong>en<br />

klarzumachen, doch den meisten wollte es einfach nicht einleuchten,<br />

dass <strong>der</strong> feuchtklamme Nebel, <strong>der</strong> ihnen die Sicht <strong>der</strong> Schönheit<br />

raubte, zu irgend etwas Gutem nützlich sein sollte.


Der Nebel selbst war aber keineswegs <strong>der</strong> Ausdruck eines launischen<br />

Schicksals, son<strong>der</strong>n das Werk <strong>der</strong> Hedeheidi, <strong>der</strong> Nebelfee. Es handelte<br />

sich hierbei um die Tochter <strong>der</strong> Weidenfrau Winhild.<br />

In Winhild´s Jugendtagen geschah es, dass ein fescher, lebenshungriger<br />

Elf aus südlichen Gefilden von den Meereswinden ergriffen <strong>und</strong><br />

auf die Insel Murma verschlagen worden war. Dort hatte er – Raoul –<br />

sich auf den ersten Blick in die blutjunge, hübsche Weidenfee verliebt<br />

<strong>und</strong> Winhild sich genauso heftig in ihn. Sie beschlossen, zusammen<br />

als Paar auf <strong>der</strong> Insel zu leben, <strong>und</strong> es folgte eine unbeschwerte,<br />

glückliche Zeit. Ihre Seligkeit war vollkommen, als ihnen in einer<br />

Septembernacht ein Töchterchen geboren wurde, die kleine Hedeheidi.<br />

Mit den Jahren jedoch wurde <strong>der</strong> einst so lebenslustige, heitere,<br />

vor Elan strotzende Elf immer dünner <strong>und</strong> dunkle Schatten legten<br />

sich um seine stumpf gewordenen Augen. Winhild war sehr beunruhigt,<br />

<strong>und</strong> sie stellte ihn zur Rede. Da gestand Raoul ihr, dass er den<br />

Süden so sehr vermisste, das milde, warme Klima, das in seiner Heimat<br />

das ganze Jahr <strong>über</strong> gleich blieb. Er redete sich all seinen Kummer<br />

von <strong>der</strong> Seele, es sprudelte nur so aus ihm heraus..... dass ihm<br />

vor dem stürmischen Herbst <strong>und</strong> dem langen, kalten Winter graute,<br />

<strong>und</strong> dass sein Herz krank vor Heimweh geworden war, weil er so<br />

sehr die Dinge aus seinem Land vermisste.....die duftenden Olean<strong>der</strong>blüten,<br />

die saftigen Orangen­<strong>und</strong> Zitronenfrüchte, die in sonnigen<br />

Hainen reiften, die Leichtigkeit <strong>und</strong> Sorglosigkeit <strong>der</strong> Bewohner im<br />

Süden, den rubinrot funkelnden Wein, den Geruch wil<strong>der</strong> Orchideen....Da<br />

verlangte Winhild von dem Elfen, dass er in seine Heimat<br />

zurückkehren sollte, <strong>der</strong> er entstammte. Es wi<strong>der</strong>strebte Raoul, Weib<br />

<strong>und</strong> Kind zu verlassen, denn ein Bann hielt sie auf <strong>der</strong> Insel fest. Sie<br />

konnten nicht mit ihm gehen. Schließlich entschied sich <strong>der</strong> Elf<br />

schweren Herzens dafür, in sein Land zurückzukehren, denn nur dort<br />

konnte er wie<strong>der</strong> genesen. Auf <strong>der</strong> Insel Murma zu bleiben, hätte<br />

seinen sicheren Tod bedeutet.<br />

Winhild hatte ihrem Gefährten tapfer nachgewinkt, das Töchterchen<br />

an sich gedrückt, doch ihr Herz litt still <strong>und</strong> trauerte um den Geliebten.<br />

Als die kleine Hedeheidi sieben Jahre alt war, vermochte die Weidenfee<br />

ihren Kummer nicht länger zu tragen, <strong>und</strong> sie verzauberte sich<br />

selbst in eine große, alte Trauerweide, <strong>der</strong>en Zweige wie Frauenhaar<br />

bis zum Boden hinabwallten. Nur in <strong>der</strong> Form <strong>der</strong> Erstarrung fand die<br />

Arme erlösenden Frieden.<br />

49


Ihrer Tochter hatte Winhild mancherlei Fertigkeiten beigebracht <strong>und</strong><br />

ihr Kenntnisse vermittelt, wie sie nur einer Baumfee zu eigen waren.<br />

So war die Hedeheidi nicht völlig hilflos, als sie ihre geliebte Mutter<br />

verlor. Natürlich betrauerte sie ihr Dahinscheiden aufs Schmerzlichste<br />

<strong>und</strong> oft kniete sie tränen<strong>über</strong>strömt am Fuß <strong>der</strong> alten Weide,<br />

während <strong>der</strong>en herabhängendes Laub ihr tröstend <strong>und</strong> sanft <strong>über</strong> das<br />

Haar strich.<br />

Das Mädchen wuchs heran <strong>und</strong> entdeckte, dass Winhild ihr die<br />

Fähigkeit geschenkt hatte, Nebel hervorzubringen <strong>und</strong> Feuchtigkeit<br />

aufsteigen zu lassen. Als dies das erste Mal geschah, völlig<br />

unbeabsichtigt, hatte sich die Hedeheidi sehr erschrocken. Bald<br />

stellte sie jedoch fest, dass sie sich dieser Gabe nicht mehr entziehen<br />

konnte <strong>und</strong> es sie von Zeit zu Zeit einfach dazu drängte, Nebel hervorzuzaubern.<br />

So nahm sie es schließlich hin, <strong>und</strong> um dem Ganzen<br />

einen tieferen Sinn zu geben, beschloss die Hedeheidi an solchen<br />

Nebeltagen stets des tragischen Schicksals ihrer Mutter zu gedenken,<br />

auf dass die Erinnerung an sie niemals verlorenginge.<br />

Mit <strong>der</strong> Zeit war die Hedeheidi zu einer jungen, hübschen Frau<br />

erblüht, <strong>der</strong>en väterliches, südländisches Erbe dadurch zutage trat,<br />

indem sie sich gern in sonnenbeschienenen Sanddornhainen aufhielt,<br />

dort, wo in kleinen strauch<strong>über</strong>wucherten Mulden das hellgrüne Gras<br />

satt leuchtete <strong>und</strong> die orangenen Früchte <strong>der</strong> Sanddornbüsche fröhlich<br />

<strong>und</strong> hoffnungsfroh strahlten.<br />

Doch nie sah man die Hedeheidi immer am gleichen Ort, denn ihr<br />

Blut war unruhig, wie das ihres Vaters, <strong>und</strong> sie liebte den Wechsel<br />

<strong>und</strong> das Neue.<br />

Und dennoch war sie auch eine zaubernde Fee, <strong>der</strong> man großen<br />

Respekt entgegenbrachte; ihr, <strong>der</strong> Tochter einer hoch angesehenen<br />

Frau. Denn die Hedeheidi war mit einer Gabe ausgestattet worden,<br />

die für an<strong>der</strong>e Geschöpfe leicht zum Fluch, zu einem tödlichen Verhängnis<br />

werden konnte.<br />

50


Martje<br />

Salzige Tränen ihre bleichen Wangen netzen<br />

<strong>der</strong> Blick ist stumpf <strong>und</strong> leer<br />

nur Wildkaninchen, die mitfühlsamen Wesen,<br />

sich mit wärmendem Fell zu ihr setzen<br />

<strong>der</strong> Geliebte ruht ewig schlafend im weiten, kalten Meer<br />

nun ist sie einsam <strong>und</strong> allein<br />

auf einer fremden Insel, weit entfernt von ihrem Zuhaus<br />

sieht keinen Sinn mehr in ihrem Sein<br />

möchte zu ihm,<br />

ihre Seele will aus dem schmerzerfüllten Körper hinaus....<br />

Oh, Martje!<br />

Armes, verwirrtes Menschenkind,<br />

Dunkelheit <strong>und</strong> Gram ließen werden dich müde <strong>und</strong> blind<br />

doch schau hinauf zum sternen<strong>über</strong>säten Firmament<br />

die Weisheit des Himmels auch dein Schicksal kennt<br />

<strong>und</strong> wird dich führen zu neuem Glück<br />

kommt die Vergangenheit auch nicht zurück<br />

....... bald wird für dich ein W<strong>und</strong>er geschehen<br />

mit leuchtenden Augen wirst du die Liebe sehen.......<br />

51


52<br />

Schweigsam <strong>und</strong> stumm,<br />

die Liebe betrauernd,<br />

die sich verloren hat<br />

in den Fluten,<br />

ach, du tiefer Schmerz,<br />

<strong>der</strong> das Herz zerreisst,<br />

mit brennenden, salzigen<br />

Tränen<br />

Martje<br />

Das Mädchen saß fröstelnd im feuchten Sand inmitten <strong>der</strong> Dünen,<br />

welche von milchigweißem Nebel eingehüllt wurden, so dass sich<br />

nur ihre schemenhaften Konturen geisterhaft vom hellen Himmel<br />

abzeichneten. Bot die <strong>und</strong>urchdringliche graue Schleierwand auch<br />

Schutz vor neugierigen Blicken, so verstärkte sie doch in gleichem<br />

Maße die Einsamkeit, welche die Dünenjungfrau Martje nun in ihrer<br />

Trost ­ <strong>und</strong> Hoffnungslosigkeit empfand.<br />

Der Nebel erstickte alle Geräusche; selbst die lauten <strong>und</strong> schrillen<br />

Schreie <strong>der</strong> Möwen waren nicht mehr zu hören. Martje hatte ein<br />

kleines Feuer entfacht, vor dem sie sich nie<strong>der</strong>gelassen hatte <strong>und</strong> sich<br />

die klammen Hände rieb. Einzig die zutraulichen Dünenkaninchen,<br />

die wild in dieser ursprünglichen Landschaft lebten, leisteten dem<br />

Mädchen Gesellschaft. Einige hatten sich mit aufmerksam lauschenden<br />

Löffeln dicht an Martje gedrängt <strong>und</strong> wärmten mit ihrem Haarkleid<br />

die kalten Füße <strong>der</strong> Dünenjungfrau. Drei weitere Häschen ruhten<br />

zufrieden in Martje´s Schoß. Mit glänzenden, dunklen Knopfaugen<br />

genossen sie es, von dem honigblonden Mädchen gestreichelt zu<br />

werden. Die Dünenjungfrau barg ihr feuchtes, kühles Gesicht in dem<br />

seidig­flauschigen Fell eines Kaninchens <strong>und</strong> ihre Gedanken wan<strong>der</strong>ten<br />

in die Vergangenheit zurück.<br />

Wie lange schien es her zu sein, als sie mit ihrem Verlobten Sören das<br />

Deck des Schiffes betreten hatte, welches sie beide in ein fremdes<br />

Land bringen sollte, wo sie sich ein neues Leben aufbauen <strong>und</strong> eine<br />

Familie gründen wollten.<br />

Doch ein grausames Schicksal hatte ihnen an<strong>der</strong>es zugedacht, <strong>und</strong> so<br />

war das große Schiff am siebten Tag, nachdem es in See gestochen<br />

war, gesunken.


Ein schwerer Sturm hatte es zu Fall gebracht. Die Passagiere, die<br />

Besatzung, die an Bord geladene Fracht.....alles war den Fluten des<br />

Meeres zum Opfer gefallen. Mit Mann <strong>und</strong> Maus war das einstmals<br />

stolze Schiff untergegangen. Martje erinnerte sich noch voller Schau<strong>der</strong>n<br />

an die Schreie <strong>der</strong> Menschen, das wütende Heulen <strong>der</strong> Sturmböen<br />

klang noch in ihren Ohren, als sie den Halt auf den nassen Planken<br />

verlor.....dann war sie von den schwarzen Brechern erfasst <strong>und</strong> in<br />

die brodelnde See hinausgezogen worden. Sie spürte, wie sie tiefer<br />

<strong>und</strong> tiefer sank <strong>und</strong> wie sie dann plötzlich wie<strong>der</strong> hochgeworfen<br />

wurde <strong>und</strong> mit letzter Kraft die Meeresoberfläche durchstieß. Dann<br />

tanzten bunte Sterne vor ihren Augen <strong>und</strong> eine gnädige Bewusstlosigkeit<br />

umfing sie.<br />

Irgendwann erwachte sie in ihrer nassen Kleidung. Voller Erstaunen<br />

begriff sie, dass das Meer sie auf eine Sandbank geworfen hatte, was<br />

ihr letztlich das Leben rettete. Im Hintergr<strong>und</strong> erblickte Martje verw<strong>und</strong>ert<br />

die Silhouette einer Insel.<br />

Mit letzter Kraft warf sich das erschöpfte Mädchen in die Fluten <strong>und</strong><br />

schwamm mit weitausholenden Zügen auf den hell schimmernden<br />

Strand zu.<br />

Nach einigen Tagen, in denen sie vor Erschöpfung ununterbrochen<br />

geschlafen hatte, waren ihre Klei<strong>der</strong> getrocknet, <strong>und</strong> Martje hatte<br />

begonnen, die unbekannte Insel, auf <strong>der</strong> sie gestrandet war, vorsichtig<br />

etwas näher zu erforschen. Weite Dünenflächen mit tiefen Mulden<br />

<strong>und</strong> grasbewachsenen Kuppen zogen sich bis an den Rand <strong>der</strong> grünen<br />

Heide, die zu dieser Jahreszeit jedoch nicht in Blüte stand. Dahinter<br />

erstreckte sich ein schmaler, dunkler Waldstreifen. Eines Tages<br />

schlich sich Martje an die bewohnten Dörfer auf <strong>der</strong> Ostseite <strong>der</strong><br />

Insel heran. Des Nachts begab sie sich mit einem kleinen, schwarzen<br />

Eimerchen, das sie unter angeschwemmtem Strandgut gef<strong>und</strong>en hatte,<br />

zu einem <strong>der</strong> Dorfbrunnen <strong>und</strong> schöpfte stillheimlich etwas Trinkwasser,<br />

um ihren Durst zu stillen. Ansonsten hielt sie sich jedoch von<br />

den Bewohnern <strong>der</strong> Insel fern, begnügte sich mit früh gereiften Beeren,<br />

die sie im Wald fand o<strong>der</strong> mit zarten Wurzelknollen, die sie mit<br />

einem Holzstöckchen zerstampfte <strong>und</strong> mit etwas Wasser zu einem<br />

herben, aber sättigenden Brei verrührte.<br />

Ihr Lager hatte sich Martje in einem <strong>der</strong> zahlreichen Dünentäler<br />

bereitet.<br />

53


Um den von <strong>der</strong> See her wehenden Wind abzuhalten, hatte die<br />

Dünenjungfrau ein Reisigbündel, welches das Meer angespült hatte,<br />

Schicht um Schicht zu einem Stapel aufgehäuft.<br />

Dahinter schlief sie, ihren Rücken gegen die beige Sandwand<br />

gelehnt, während ihr ermüdeter Körper sich in die weiche Mulde hineinschmiegte.<br />

Und sie blickte in den klaren Nächten oft mit hämmerndem Herzen<br />

zum samtschwarzen Himmel empor, an dem unzählige Sterne leuchteten.<br />

Dann dachte Martje mit tränennassen Augen an ihren Verlobten<br />

<strong>und</strong> an den unglückseligen Tag, als das Meer Stücke seiner Kleidung<br />

angespült hatte. Martje war angesichts des schrecklichen F<strong>und</strong>es<br />

erbleicht <strong>und</strong> ihr Herz hatte einen so scharfen Schnitt verspürt, als<br />

würde es mit einem Schwert aus Eis durchbohrt werden.<br />

In diesem Augenblick begriff die Dünenjungfrau endgültig, dass ihr<br />

geliebter Sören auf dem Meeresgr<strong>und</strong>e sein feuchtes Grab gef<strong>und</strong>en<br />

hatte <strong>und</strong> nie zu ihr zurückkehren würde. Von dieser St<strong>und</strong>e an war<br />

eine tiefe Trauer in Martje´s Seele eingezogen, <strong>und</strong> es hatte den<br />

Anschein, als wollte sie nie wie<strong>der</strong> daraus entweichen.<br />

Wie ein Schatten bewegte sich die Dünenjungfrau in <strong>der</strong> Welt des<br />

Lebendigen. Das Leben war für sie sinnlos <strong>und</strong> leer geworden. Oftmals<br />

fragte sie sich sogar, ob es nicht besser sei, ebenfalls tot zu sein<br />

<strong>und</strong> neben ihrem Geliebten auf dem Meeresgr<strong>und</strong>e zu ruhen, wenn<br />

die Verzweiflung Martje mit harter Hand ergriff. Doch schließlich<br />

besann sie sich des warmen, liebevollen Gefühls, das sie verspürte,<br />

wenn sie die Wildkaninchen zärtlich streichelte <strong>und</strong> die pelzigen<br />

Geschöpfe sie mit einem glänzend­klaren Blick <strong>der</strong> Dankbarkeit<br />

bedachten.<br />

Es war Frühling gewesen, als das Schiff untergegangen war. Nun<br />

blühte bereits seit einiger Zeit das leuchtendviolette Heidekraut <strong>und</strong><br />

dies bedeutete, dass sich <strong>der</strong> Sommer langsam seinem Ende zuneigte.<br />

Aber was würde geschehen, wenn <strong>der</strong> Herbst <strong>und</strong> gar <strong>der</strong> strenge<br />

Winter kam? Wie sollte sie auf diesem Eiland <strong>über</strong>leben, wenn die<br />

Feuchtigkeit <strong>und</strong> eisige Kälte tr<strong>über</strong> Tage sie beständig beschlich <strong>und</strong><br />

ihr zusetzte? Wäre Martje´s Seele ges<strong>und</strong> gewesen, hätte sie längst an<br />

eine <strong>der</strong> Türen <strong>der</strong> Dörfer geklopft <strong>und</strong> um Hilfe gebeten. Sie wäre<br />

von den fre<strong>und</strong>lichen Einwohnern versorgt worden <strong>und</strong> man hätte<br />

sich mit großer Selbstverständlichkeit <strong>und</strong> voller Mitgefühl des<br />

armen Mädchens angenommen. Der Schock <strong>der</strong> Schiffbrüchigkeit<br />

jedoch <strong>und</strong> <strong>der</strong> Verlust des Verlobten hatten Martje aber tief in ihrem<br />

54


Inneren verstört. So war sie apathisch <strong>und</strong> scheu geworden. Einmal<br />

hatte sie in den Dünen von ferne einen jungen Mann gesehen <strong>und</strong> war<br />

erschrocken davongeeilt.<br />

Martje selbst konnte sich ihr Verhalten auch nicht erklären, aber die<br />

Traurigkeit entfremdete sie mehr <strong>und</strong> mehr ihrem eigentlichen,<br />

ursprünglichen Wesen. Doch so ganz ihrem Schicksal <strong>über</strong>lassen<br />

blieb die Dünenjungfrau dennoch nicht.<br />

Ohne dass sie es bemerkte, wurde ihr Hilfe zuteil, denn Kadabra, <strong>der</strong><br />

erhabenen Magierin <strong>der</strong> Insel Murma, war das Schicksal des Mädchens<br />

nicht verborgen geblieben, so wie ihr nichts verborgen blieb,<br />

was den Frieden <strong>der</strong> Insel <strong>und</strong> das Glück <strong>der</strong>er, die auf ihr lebten,<br />

bedrohte. Und Martje war in großer Gefahr, sich selbst zu verlieren.<br />

Da beschloss die weise Magierin, das Dasein des Mädchens zumindest<br />

in gewisser Hinsicht etwas zu erleichtern.<br />

Die Dünenjungfrau wie<strong>der</strong>um w<strong>und</strong>erte sich zwar ein wenig dar<strong>über</strong>,<br />

dass sie an unterschiedlichen Stellen immer wie<strong>der</strong> ein Eimerchen<br />

mit köstlichen Dingen, wie Äpfel, Früchtesirup, Milch, gezuckerte<br />

Blaubeeren, Haferkekse, Pflaumengelee o<strong>der</strong> Honigbrot fand, machte<br />

sich jedoch keine weiteren Gedanken dar<strong>über</strong>, son<strong>der</strong>n nahm die<br />

Gaben eines offensichtlich wohlmeinenden unsichtbaren Geistes mit<br />

stillem Dank an.<br />

55


56<br />

Kadabra<br />

Die Hüterin <strong>der</strong> heiligen Stille<br />

lenkt mit Weisheit Geist <strong>und</strong> Wille<br />

damit die Insel in Frieden lebt<br />

sie ein Band aus Schweigen <strong>und</strong> Vertrauen webt<br />

Kadabra, im violetten Gewand, nährt <strong>und</strong> bewacht die Flamme,<br />

die sie in ihrem Herzen fand<br />

<strong>und</strong> schenkt ihre heilende, liebende Kraft,<br />

die W<strong>und</strong>er um W<strong>und</strong>er schafft,<br />

Murma, <strong>der</strong> Insel im weiten Meer,<br />

hochgeachtet bist du Priesterin,<br />

alle Geschöpfe lieben dich sehr!<br />

solange auf deinem Altar die Flamme lo<strong>der</strong>t <strong>und</strong> glüht<br />

Frieden, Harmonie <strong>und</strong> Glück erblüht......


Breitet sich die Stille aus <strong>über</strong> meinem<br />

verschleierten Haupte, spüre ich ihn,<br />

den Herzschlag <strong>der</strong> Insel,<br />

meines Heiligtums,<br />

fühle die Freude, die Not <strong>und</strong> die Pein,<br />

<strong>und</strong> ein segensmildes Zauberwort<br />

belebt diesen geliebten, w<strong>und</strong>erschönen Ort......<br />

57


58<br />

Kadabra<br />

Die Magierin Kadabra ist eine hochgeachtete Person. Ein je<strong>der</strong><br />

erweist ihr Ehre <strong>und</strong> bringt ihr großen Respekt entgegen.<br />

Sie breitet ihren Zauber <strong>über</strong> <strong>der</strong> Insel aus....<strong>und</strong> eine heilige Stille<br />

entsteht, die Magie <strong>der</strong> Ruhe, <strong>der</strong> Schönheit <strong>und</strong> des Friedens. Und<br />

dieser Zauber bewirkt die Lösung von allem Kummer, jedem<br />

Schmerz, befreit von allen Problemen, die un<strong>über</strong>windlich zu sein<br />

scheinen. Wie eine unsichtbare Substanz aus hellem Licht schwebt er<br />

<strong>über</strong> <strong>der</strong> Insel, nur vom Schreien <strong>und</strong> Plärren <strong>der</strong> Möwen <strong>und</strong> vom<br />

sanften Klang des streichenden Windes mitunter belebt.<br />

Das Schweigen heilt. Deshalb ist die Stille auf <strong>der</strong> Insel Murma heilig.<br />

Und die Magierin Kadabra in ihrer Weisheit hütete diesen Zauber wie<br />

eine unbezahlbare Kostbarkeit. Niemand bekam die Magierin oft zu<br />

sehen, denn sie lebte in <strong>der</strong> Stille, an einem Ort, wo <strong>der</strong> Wald am tiefsten<br />

ist.<br />

Dort, in einer kleinen Felsenhöhle, hütete sie die Flamme <strong>der</strong> Stille,<br />

beständig nach innen lauschend, <strong>und</strong> die Stimme ihres Herzens<br />

erspürend.<br />

Der Nebel hatte sich aufgelöst. Nur ein schwacher Dunst lag noch<br />

<strong>über</strong> <strong>der</strong> Insel. Plötzlich raschelte es im Unterholz. Eine zierliche<br />

Gestalt sprang <strong>über</strong> einige am Boden liegende Äste hinweg. Es handelte<br />

sich hierbei um Nereide, die verstoßene Seejungfer.<br />

Ihre türkisblauen Augen versuchten die Dunkelheit des dichtbewachsenen<br />

Dickichts zu durchdringen. Hoffentlich war die Magierin<br />

zuhause. Nereide wollte die hohe Frau jedoch nicht bei irgendeinem<br />

wichtigen Ritual stören, <strong>und</strong> sie hoffte inständig, dass sie willkommen<br />

sein würde.<br />

Erleichtert erblickte die Nymphe den schwarz gähnenden Eingang<br />

zur Felsenhöhle. Unschlüssig blieb Nereide davor stehen. Da, wie<br />

von Zauberhand, stand die Magierin bereits vor dem Eingang ihrer<br />

Behausung, ohne auch nur das leiseste Geräusch verursacht zu haben.<br />

In ein weites, violettes Gewand gehüllt, so kräftig leuchtend wie die<br />

blühende Heide, sah sie wahrhaft beeindruckend aus. Ihr Haar blieb<br />

stets von einer Kapuze bedeckt, <strong>und</strong> es war auf <strong>der</strong> ganzen Insel ein<br />

Geheimnis, welche Farbe es hatte. Reglos verharrte Kadabra vor <strong>der</strong><br />

Höhle. Ehrfürchtig verneigte sich die Nymphe. Da <strong>über</strong>zogen sich<br />

die ernsten Gesichtszüge <strong>der</strong> Magierin mit einem sanften Lächeln<br />

<strong>und</strong> sie winkte Nereide näher zu sich heran. Die Nymphe lief mit


schnellen Schritten auf Kadabra zu, sank in die Knie <strong>und</strong> bedeckte ihr<br />

Gesicht mit beiden Händen. Dann weinte sie <strong>und</strong> ihr zarter Körper<br />

wurde geschüttelt von ihrem inneren Schmerz. „Oh, ehrwürdige Herrin<br />

<strong>der</strong> Stille....ich flehe zu Euch, mir zu helfen, damit mein Liebster<br />

<strong>und</strong> ich nicht auseinan<strong>der</strong> gerissen werden!“ Schluchzend barg<br />

Nereide ihren Kopf in den Händen. Kadabra berührte sanft wie ein<br />

Windhauch die bebenden Schultern <strong>der</strong> Nymphe, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Weinkrampf<br />

des Mädchens verebbte sogleich.<br />

Kadabra´s Stimme ertönte klar <strong>und</strong> tief wie <strong>der</strong> dumpfe Klang eines<br />

tosenden Wasserfalls: „Weine nicht, liebreiche Nixe, vertraue <strong>der</strong><br />

Weisheit <strong>der</strong> Zeit, vertraue <strong>der</strong> Kraft wahrer Liebe <strong>und</strong> verzage<br />

nicht.“<br />

Dann fuhr sie fort: „Ich werde deinen Kummer <strong>der</strong> heiligen Stille<br />

anheimgeben.Vertraue ihr, <strong>und</strong> sie wird gewiss eine Lösung finden.<br />

Habe Geduld <strong>und</strong> verliere nicht die Hoffnung! Überlasse deinen<br />

Schmerz <strong>der</strong> Insel Murma. Sie wird dich deinen Herzensfrieden wie<strong>der</strong>finden<br />

lassen!“<br />

59


60<br />

Wer ist das kleine Bürschlein?<br />

Vorwitzig <strong>und</strong> keck,<br />

den Kopf voller Schabernack <strong>und</strong> Streiche ,<br />

gib´ acht, Kobold klein.....<br />

so ist´s für an<strong>der</strong>e nicht fein!<br />

Puck­Muck<br />

Nachmittagsstille lag <strong>über</strong> <strong>der</strong> Heide <strong>und</strong> den Dünenkuppen. Die<br />

Sonne schien warm vom Himmel; nur vereinzelt zogen weiße,<br />

fedrige Wolken dar<strong>über</strong> hinweg. Die goldenen Gräser säuselten leise<br />

im rhythmischen Atem des Windes.<br />

„Aaaap, aaap.... <strong>der</strong> hohe aufgeregte Warnruf irritierte das Fasanenküken.<br />

Denn es hörte ihn aus zwei verschiedenen Richtungen, <strong>und</strong> so<br />

etwas war wohl einfach nicht möglich! Das Fasanenkind hatte zwar<br />

noch nicht allzu viele Erfahrungen gesammelt, seit es vor geraumer<br />

Zeit aus <strong>der</strong> harten Eischale geschlüpft war, doch wie ihm bekannt<br />

war, gab es nur eine Mutter, welche ihre Jungen mit diesem ganz bestimmten<br />

Ruf zu sich hinlockte, um sie vor einer echten o<strong>der</strong> vor<br />

einer vermeintlichen Gefahr zu bewahren. Unsicher lauschte die<br />

kleine Henne.<br />

„Aaaap, aaaap.....!“ Da war sie wie<strong>der</strong>, die vertraute Stimme <strong>der</strong><br />

Sicherheit ausstrahlenden Fasanenmutter. Das Junge tappte auf wackligen<br />

Beinen etwas nach links. Da ertönte erneut <strong>der</strong> Ruf.....“aaaap,<br />

aaaaap!“ Dreimal erscholl er aus <strong>der</strong> entgegengesetzten Richtung.<br />

Das Küken erstarrte <strong>und</strong> begann vor Angst <strong>und</strong> Beunruhigung am<br />

ganzen Leib zu zittern, so dass es sich kaum noch auf den Füßen halten<br />

konnte.<br />

Die kleine Baby­Henne vernahm nicht das schallende Gelächter, das<br />

wie perlen<strong>der</strong> Sprühnebel <strong>über</strong> die Heide zog. Es kam von Puck ­<br />

Muck, einem vorwitzigen Kobold mit smaragdgrünem Haar, das im<br />

Sonnenlicht glänzte <strong>und</strong> ihm in alle Richtungen struppig vom Kopf<br />

abstand. Der freche Bursche hatte das bedauernswerte Küken zum<br />

Narren gehalten, indem er den mütterlichen Ruf nachgeahmt hatte,<br />

was Kobolde ausgezeichnet beherrschen.<br />

Abgesehen davon sind sie oftmals eine Plage für an<strong>der</strong>e Geschöpfe,<br />

weil ihnen nichts heilig ist <strong>und</strong> sie einen Schabernack nach dem<br />

an<strong>der</strong>en treiben. Puck ­ Muck hielt sich den Bauch vor Lachen, <strong>und</strong>


es prustete nur so aus seinem breiten M<strong>und</strong> hervor: „Hahahah, oh,<br />

wie köstlich, hahahaha....“ Seine schmalen, dunklen Augen verengten<br />

sich zu Schlitzen, <strong>und</strong> hellgrüne Koboldstränen liefen ihm vor Übermut<br />

die braunen Wangen hinunter.<br />

Niemand weiß so recht, warum Kobolde selten etwas an<strong>der</strong>es als<br />

Unsinn im Kopf haben. Möglicherweise liegt es daran, dass ihre<br />

Eltern sie bereits nach kurzer Zeit, nachdem sie auf <strong>der</strong> Welt sind,<br />

sich selbst <strong>über</strong>lassen <strong>und</strong> sich dann einfach nicht mehr um sie kümmern.<br />

So müssen sich die Kleinen, ganz auf sich gestellt, beizeiten<br />

alleine durchs Leben schlagen <strong>und</strong> dabei steigen ihnen natürlich die<br />

unmöglichsten Gedanken in die Köpfe.<br />

Dann sind sie von niemandem mehr aufzuhalten in ihrem verwerflichen<br />

Treiben, <strong>und</strong> jedes Wesen macht deshalb verständlicherweise<br />

einen großen Bogen um die kleinen Plagegeister mit den spitzen,<br />

langen Ohren.<br />

61


62<br />

Aeromir<br />

Ich, <strong>der</strong> Fürst aller Winde,<br />

mich nicht gerne an nur eine binde<br />

denn meine bezaubernden Wolkenfeen<br />

sind allesamt gar reizend anzusehn‘<br />

deshalb fällt es mir nicht ein,<br />

nur einer dieser Schönheiten treu zu sein<br />

wechselhaft <strong>und</strong> schwankend ist mein Gemüt<br />

mein Herz mal für die eine,<br />

mal für die an<strong>der</strong>e Himmelsbraut erglüht<br />

so steht‘s um mich,<br />

den luftigen Freigeist Aeromir<br />

meine Gefährtinnen <strong>und</strong> ich<br />

hoch droben, <strong>über</strong> <strong>der</strong> Erde schweben wir!


Ich bin <strong>der</strong> Atem, bin so frei,<br />

mal sanftes Säuseln,<br />

dann ist es vorbei,<br />

<strong>und</strong> Leidenschaft durchströmt mein Wesen nun,<br />

wenn fegt <strong>der</strong> Wind von Nordwest<br />

<strong>und</strong> rüttelt, zerrt<br />

<strong>und</strong> wirbelt herum.......<br />

Fürst Aeromir <strong>und</strong> die Wolkenbräute<br />

„Ach, wenn Ihr Euch doch nur einmal wie<strong>der</strong> dazu durchringen<br />

könntet, mir einen Eurer feurigen Küsse zu schenken. Es ist viel zu<br />

lange her, seitdem Ihr mich damit erfreutet!“<br />

Die hübsche Wolkenbraut Ida senkte betrübt ihre ausdrucksvollen<br />

Augen mit den langen Wimpern. Fürst Aeromir´s Blick ruhte hingegen<br />

voller Wohlgefallen auf Thekla, die heute in ihrem perlenbesetzten<br />

Traum einer schneeweißen Robe einfach zauberhaft aussah. Der<br />

Fürst <strong>der</strong> Lüfte, Aeromir, lachte leise auf.<br />

Ohne die Augen von Thekla zu wenden, erklärte er: „Auch du, meine<br />

sanfte Schöne, darfst dir bald wie<strong>der</strong> meiner Gunst versichert<br />

sein....ist dir doch dieses herrliche Spiel wohl bekannt <strong>und</strong> weißt du<br />

doch, dass es immer wie<strong>der</strong> von Neuem beginnt!“ Ida kniff die Lippen<br />

zusammen. Sie seufzte leise. Niemand konnte dem Windfürsten<br />

wirklich böse sein. Seinem strahlenden Charme konnte sich einfach<br />

keine <strong>der</strong> vier Wolkenbräute entziehen. Thekla, Ida, Ruth <strong>und</strong> Edda<br />

begehrten ihn alle gleichermaßen <strong>und</strong> ersehnten sich nichts mehr, als<br />

ihn einzig für sich allein zum Gefährten zu haben.....ein hoffnungsloser<br />

Traum!<br />

Denn Aeromir war seiner Natur gemäß ein regelrechter Luftikus, wie<br />

es Luftgeistern eben nun einmal zu eigen ist: sprunghaft, unbeständig,<br />

immer von einem zum an<strong>der</strong>en Ort unterwegs. Der Fürst liebte<br />

die Abwechslung. Und er liebte natürlich alle seine Bräute. Doch lag<br />

ihm nichts ferner, als sich auf eine von ihnen zu beschränken. Nur ein<br />

Dummkopf würde das tun, so dachte er bei sich.<br />

Ihm bereitete es nun einmal Freude, sich im ständigen Wechsel mit<br />

einer <strong>der</strong> Schönen <strong>der</strong> Liebe hinzugeben, denn jede <strong>der</strong> Wolkendamen<br />

hatte ihre eigentümlichen, beson<strong>der</strong>en Reize. „Schließlich<br />

kommt ja jede irgendwann wie<strong>der</strong> einmal in den Genuss meiner Lie­<br />

63


e, was könnte denn schöner sein“, sagte er zu sich selbst, wenn er<br />

den Eindruck gewann, eine <strong>der</strong> Bräute fühlte sich vernachlässigt.<br />

Und so himmelten Edda, Ruth, Ida <strong>und</strong> Thekla ihren Fürsten unentwegt<br />

an. Kokettierte auch jede mit den ihr verliehenen Reizen, waren<br />

sie untereinan<strong>der</strong> dennoch niemals ernsthaft eifersüchtig aufeinan<strong>der</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n hielten einträchtig wie Schwestern zusammen. Die liebliche<br />

Ida, die Jüngste, trieb die zarten Lamm­Wölkchen von Süden mit<br />

sachtem Atem her. Edda brachte gern milden Wind <strong>und</strong> Nie<strong>der</strong>schlag<br />

aus dem Westen mit sich. Ruth´s Vorliebe galt dem beständigen Ostwind,<br />

<strong>der</strong> meist wolkenlosen Himmel verhieß. Da sie deshalb wenig<br />

zu tun hatte, half sie oftmals Ida gerne bei <strong>der</strong>en Arbeit. Die glutäugige<br />

Thekla hingegen beeindruckte mit schnell dahinjagenden Sturmwolken<br />

aus dem Norden, welche allerdings auch großen Schaden<br />

anzurichten vermochten.<br />

Um dem Gespräch eine neue Wendung zu geben, fragte Aeromir<br />

plötzlich: „Wer von euch Schönen würde jetzt gerade gerne mit mir<br />

zusammenwirken?“<br />

„Ich......!“, erklang es einstimmig aus vier Kehlen. In gespannter Vorfreude<br />

zupften die Windbräute ihre weißen Roben sorgsam zurecht.<br />

Er hat sich längst entschieden, dachte Edda mit einem inneren<br />

Lächeln. Der hünenhafte Aeromir wandte sich mit einer eindrucksvollen<br />

Verbeugung Ida zu: „Gestattet Ihr es, meine Holde, mir Eure<br />

Ehre zu erweisen? Mit mir an Eurer Seite wird es Euch ein Leichtes<br />

sein, dem Bürschlein eine Lektion zu erteilen!“<br />

Und Ida nickte nur, leicht errötend. Dann ergriff sie selig Aeromir´s<br />

große, warme Hand.<br />

Plötzlich kam völlig unerwartet ein starker Wind auf, wurde wil<strong>der</strong><br />

<strong>und</strong> zügelloser, bis er den verw<strong>und</strong>erten Kobold, ein Leichtgewicht,<br />

erfasste <strong>und</strong> ihn durch die Luft wirbelte, so dass ihm ganz schwindelig<br />

wurde.<br />

„Hilfe!“, japste er benommen, doch die Kraft <strong>der</strong> Windböe nahm ihm<br />

den Atem; er war nicht mehr Herr <strong>der</strong> Lage. Die bewegte Luft ergriff<br />

ihn <strong>und</strong> wehte ihn einfach davon. Mit einem Male stieß Puck­Muck<br />

hart auf etwas Festem auf <strong>und</strong> verlor das Bewusstsein.<br />

64


Die Wurzelgnome<br />

Im Wurzelwerk <strong>der</strong> Heide<br />

da steht ein großes Haus<br />

eine wahre Augenweide<br />

wohin sich verirrt manche Maus<br />

in dieser Höhle wohnen tüchtige, kleine Gesellen<br />

stets emsig beschäftigt, ihre Tugend ist <strong>der</strong> Fleiß,<br />

die mit sonnigem, bedächtigem Wesen<br />

in ihrem Tun die Landschaft erhellen<br />

auch dann bleiben sie stets in ruhiger wichtelhafter Gelassenheit,<br />

wenn <strong>der</strong> Sommer die Luft werden lässt gar heiß<br />

sie lockern, nähren <strong>und</strong> schicken sich an<br />

Vorräte anzulegen<br />

die Gänge ordentlich zu fegen<br />

zu nähen <strong>und</strong> zu schnei<strong>der</strong>n<br />

gern zeigen sie sich in ihren bunten Klei<strong>der</strong>n<br />

sie dichten auch aufs Vortrefflichste ab den weitläufigen Bau<br />

nach getaner Arbeit im weichgoldenen Nachmittagslicht dann<br />

endlich sie ruhn‘ aus <strong>und</strong> atmen tief ein<br />

den würzigen Duft unter dem Himmelsblau<br />

die Wurzelgnome sind alt <strong>und</strong> weise,<br />

aber auch kindlich im Herzen, gütig, von einfachem Gemüt<br />

verrichten ihre Aufgaben schweigend <strong>und</strong> leise<br />

freuen sich wie Könige an <strong>der</strong> violetten, üppigen Pracht ringsumher,<br />

die erblüht.....<br />

65


66<br />

In behaglichen Höhlen leben wir,<br />

wir sind zufrieden, kennen keine Gier,<br />

die Heide gibt uns ein Dach von oben,<br />

wenn Regen hernie<strong>der</strong> fällt,<br />

wir werden nicht müde, den Schöpfer zu loben,<br />

die Wühlmäuse genügen,<br />

dies ist unsere Welt......


Die Wurzelgnome<br />

Unerwartet aufgekommener Nebel hatte den bewusstlosen Kobold<br />

eingesponnen wie ein Kokon den Schmetterling.<br />

Und so lag er reglos an <strong>der</strong> gleichen Stelle, ein Häufchen Elend mit<br />

einer unnatürlichen Blässe im sonst doch immer frischen, braunen<br />

Gesicht.<br />

Hay, Bertchen, Lukka, Girko <strong>und</strong> Jans hatten sich die Zeit nicht lang<br />

werden lassen, während die Feuchtigkeit <strong>der</strong> Nebelschwaden sie dazu<br />

gezwungen hatte, in <strong>der</strong> geschützten Erdhöhle zu verweilen. Nicht,<br />

dass es dort nichts zu tun gab ­ oh, nein! Eine stattliche Anzahl von<br />

Tätigkeiten wartete auf sie, <strong>und</strong> die fleißigen Wurzelgnome scheuten<br />

die Arbeit nicht. So hatten die ruhigen Gesellen Kleidung ausgebessert,<br />

<strong>und</strong>ichte Stellen ihrer Behausung abgedichtet, Vorräte <strong>über</strong>prüft,<br />

Speisen zubereitet, Gänge gefegt......<strong>und</strong> natürlich auch miteinan<strong>der</strong><br />

geplau<strong>der</strong>t, gesungen <strong>und</strong> getanzt.<br />

Doch nun trat Bertchen vorsichtig hinaus, <strong>und</strong> bald darauf kehrte er<br />

mit seinem leicht trippelnden Schritt zu seinen Brü<strong>der</strong>n in die Wohnstube<br />

zurück <strong>und</strong> verkündete mit freudestrahlen<strong>der</strong> Miene: „Hurra,<br />

hurra....die Sonne scheint! Die Hedeheidi nun nicht mehr weint. Jetzt<br />

gibt´s keine Stubenhockerei mehr; die violette Heide, sie leuchtet zu<br />

sehr. Raus mit euch Wichteln, hinaus in die Luft, <strong>und</strong> atmet den<br />

süßen, den sonnig­warmen Duft!“<br />

Bertchen liebte es, in Reim <strong>und</strong> Vers zu sprechen, <strong>und</strong> seine Brü<strong>der</strong><br />

bew<strong>und</strong>erten ihn dafür. So stürmten die winzigen Gesellen also hinaus<br />

ins Freie, wo in <strong>der</strong> Tat <strong>der</strong> blaue Sommerhimmel wie<strong>der</strong> strahlte<br />

<strong>und</strong> Wärme die Luft erfüllte. Kreischend zogen ein paar Möwen ihre<br />

Kreise am fast wolkenlosen Himmel. Mit sichtlichem Stolz betrachteten<br />

die Gnome ihr Zuhause.<br />

Vor ihren Augen erhob sich die gewaltige Erdscholle inmitten <strong>der</strong><br />

weiten Dünen­<strong>und</strong> Heidelandschaft. Ein spannenbreiter Vorbau spendete<br />

wohltuenden Schatten, wenn es sehr warm war. Wurzelfasern<br />

hingen in feinen Bündeln wie ein unterbrochener Vorhang von seiner<br />

Decke herab.<br />

Ein Dutzend Eingänge führten durch ein Labyrinth von Gängen,<br />

große <strong>und</strong> kleine; ja, es gab sogar eine Kammer mit eigens ausgesuchtem<br />

Wurzelwerk <strong>und</strong> kleinen Insekten, welche den Fre<strong>und</strong>en<br />

<strong>der</strong> Gnome, den Wühlmäusen, zugedacht war. Die Wichtel besorgten<br />

ihnen schmackhaftes Futter, schenkten ihnen Streicheleinheiten <strong>und</strong><br />

67


pflegten <strong>der</strong>en seidiges Fell, so dass es immer ordentlich glänzte von<br />

den vielen Bürstenstrichen. Im Gegenzug verpflichteten sich die<br />

Mäuse, sich von den zarten Würzelchen des Heidekrauts <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Dünengräser fernzuhalten, damit diese Pflanzen gut gedeihen konnten.<br />

Die Gnome sorgten mit ihren fachk<strong>und</strong>igen, liebevollen Händen<br />

nämlich dafür, dass die ihnen anvertrauten Pflanzen sich nach ihren<br />

besten Möglichkeiten entfalten konnten, versorgten sie mit Heil­ <strong>und</strong><br />

Wurzelkräften.<br />

Die zutraulichen Wühlmäuse bedankten sich für die Fürsorge <strong>der</strong><br />

Gnome, indem sie sich als schnelle Reittiere zur Verfügung stellten,<br />

mit denen die Wichtel von einem Ort zum an<strong>der</strong>en gelangten, um<br />

dort <strong>über</strong> das Wachstum <strong>der</strong> Pflänzchen zu wachen.<br />

Der eindrucksvollste Teil <strong>der</strong> Wichtelbehausung war jedoch das leicht<br />

hügelige Dach aus üppig bewachsenem Heidekraut. Wie das köstlich<br />

duftete, wenn an warmen Sommertagen <strong>der</strong> würzig­süße Geruch zu<br />

ihnen auf die Terrasse hinunter schwebte, wenn sie in gemütlicher<br />

R<strong>und</strong>e unter dem schattigen Vorbau beieinan<strong>der</strong>saßen!<br />

Plötzlich riss ein erschrockener Ausruf die Brü<strong>der</strong> aus ihren stillen<br />

Gedanken.<br />

Aufgeregt schrie Hay: „Brü<strong>der</strong>, kommt bitte schnell! Dort drüben in<br />

<strong>der</strong> kleinen Sandkuhle liegt etwas.....Merkwürdiges.“ Mit eiligen<br />

Trippelschritten rannten Bertchen, Lukka, Girko <strong>und</strong> Jans an die<br />

F<strong>und</strong>stelle. Lukka blickte voll Erstaunen auf die Gestalt mit dem gräsergrünen<br />

Haarschopf. „Ein Elf?“, meinte er fragend. Girko runzelte<br />

leicht die Stirn: “So ein seltsames Geschöpf habe ich nie zuvor gesehen.<br />

Vielleicht ist es ein Fremdling?“<br />

Jans, <strong>der</strong> älteste <strong>und</strong> erfahrenste <strong>der</strong> Wurzelgnome strich kopfschüttelnd<br />

<strong>über</strong> sein weißes Barthaar: „Das ist ein Kobold, ein ziemlich<br />

junger, vorwitziger Geselle, <strong>der</strong> wohl aus purem Übermut vom Wald<br />

in die Heide hineingewan<strong>der</strong>t ist.“ Alle Wichtel blickten ehrfürchtig<br />

auf Jans, denn er lebte schon sehr, sehr lange auf <strong>der</strong> Insel Murma.<br />

„Kobolde sind schlimme Burschen; sie haben nur Schabernack im<br />

Kopf <strong>und</strong> bringen kaum etwas Nützliches zustande“, setzte <strong>der</strong> Wurzelgnom<br />

mit Nachdruck hinzu. Der gutmütige Girko gab zu bedenken:<br />

„Aber helfen müssen wir ihm, denn er ist ohne Bewusstsein.<br />

Möglicherweise ist er auch verletzt. Ich hole für ihn erst mal etwas<br />

Wasser, das ich ihm einzuflößen versuche!“<br />

Und so betteten die Wurzelgnome den grünschopfigen Kobold auf<br />

ein weiches Lager aus gewebtem Heidekraut, wischten mit einem<br />

sauberen Tuch vorsichtig die verschmutzte Kruste aus dem Gesicht,<br />

68


die sich gebildet hatte <strong>und</strong> flößten dem Bewusstlosen Wasser ein.<br />

Plötzlich hustete <strong>der</strong> Kobold <strong>und</strong> spuckte in weitem Bogen das<br />

Getränk aus.<br />

Es dauerte nicht lange, da öffnete sich ein Auge, ein wenig später das<br />

an<strong>der</strong>e. „Hurra, <strong>der</strong> kleine Herr ist aufgewacht; nun dauert es nicht<br />

lange, bis er wie<strong>der</strong> lacht!“, kommentierte Bertchen die Auferweckung<br />

des Kobolds aus dem Zustand <strong>der</strong> Ohnmacht.<br />

Erstaunt betrachtete <strong>der</strong>weil Puck­Muck den Ort, an dem er sich<br />

befand. Und mit einem Male erinnerte er sich an den plötzlich aufgekommenen<br />

Wind, <strong>der</strong> ihn einfach davongetragen hatte. Ob er hier<br />

gelandet war? Wie lange er wohl sein Bewusstsein verloren hatte?<br />

Egal.....die Hauptsache war doch, dass er noch lebte, so dachte <strong>der</strong><br />

Kobold bei sich.<br />

Am Abend, als es draußen kühl wurde <strong>und</strong> eine frische Brise <strong>über</strong><br />

Dünen <strong>und</strong> Heide strich, erzählte Puck­Muck in <strong>der</strong> behaglich warmen<br />

Wohnstube im Innern des Wichtelhauses den Brü<strong>der</strong>n die<br />

Geschichte von <strong>der</strong> jungen Fasanenhenne, arglos, so wie Kobolde es<br />

zu tun pflegen. Hay hielt mit leisem Entsetzen den Atem an: “Du hast<br />

das Kleine mit voller Absicht in Angst <strong>und</strong> Schrecken versetzt? Nun,<br />

dann darfst du dich nicht w<strong>und</strong>ern, wenn Fürst Aeromir <strong>und</strong> seine<br />

Wolkenbräute dir einen Denkzettel verpassen wollten. Der Herr <strong>der</strong><br />

Lüfte hat nämlich stets ein wachsames Auge auf seine Schützlinge,<br />

denn er liebt die frei umherstreifenden Fasane beson<strong>der</strong>s.“<br />

Nun wirkte Puck­Muck doch etwas zerknirscht, denn er erkannte,<br />

dass sein Treiben wohl doch zu bunt gewesen war. Er hatte wirklich<br />

niemandem wehtun wollen. Unglücklich sagte er: „Manchmal frage<br />

ich mich selbst, warum ich immer Streiche aushecken <strong>und</strong> mir<br />

Kurzweil suchen muss. Mir ist sehr oft die Zeit zu lang. Wie bew<strong>und</strong>ere<br />

ich da euch Gnome, die ihr die Hände niemals müßig in den<br />

Schoß legt, weil ihr ständig mit Nützlichem beschäftigt seid!“<br />

Da sprach Jans zu dem jungen Kobold: “Weißt du was, Puck­Muck,<br />

ich glaube, du bist im Gr<strong>und</strong>e genommen ein ganz ordentlicher, liebenswerter<br />

Kerl!<br />

Wenn du möchtest, bleibe doch einfach eine Weile bei uns Wichteln.<br />

Unser Haus ist groß <strong>und</strong> Arbeit gibt es genug, so dass dir keine Zeit<br />

für irgendwelche spitzbübische Dummheiten bleiben wird.“<br />

Da strahlte <strong>der</strong> grünschopfige Kobold <strong>und</strong> seine Augen verengten<br />

sich in einem Glücksgefühl zu dunklen Schlitzen. Ausgelassen hüpfte<br />

er von einem Bein aufs an<strong>der</strong>e <strong>und</strong> versprach: „Oh, ja, ihr Gnome.....das<br />

will ich gerne tun! Gebt mir eine Chance, <strong>und</strong> ich will mein<br />

Bestes geben, um euch zufriedenzustellen.<br />

69


70<br />

Sie seufzen verzückt <strong>und</strong> mit klagenden Tönen;<br />

den Fürsten lieben sie sehr,<br />

ihm zu dienen ist höchste Lust ihnen;<br />

die Berührung seines Atems ein wahrer Wonneschauer;<br />

doch er sich doch an keine bindet,<br />

nein, wie ein glatter Aal er sich windet,<br />

die Freiheit ist kein Vogelbauer.......<br />

Der Sturm<br />

Edda zupfte ein wenig an dem tiefen Ausschnitt ihrer Robe herum,<br />

welche das enganliegende, perlenbesetzte Mie<strong>der</strong> gut zur Geltung<br />

brachte.<br />

In ihrem wallenden, feuerroten Haar hatte sie weiße Bän<strong>der</strong> aus zartem<br />

Wolkenflaum befestigt <strong>und</strong> ihre leuchtendgrünen Augen sprühten<br />

vor Lebendigkeit. Mit schmeicheln<strong>der</strong> Stimme hauchte sie dem Luftfürsten<br />

Aeromir bedeutungsvolle Worte ins Ohr, als sie sich zu ihm<br />

setzte: „Mein Lieber.....die Farbe deiner Augen heute erinnert mich<br />

an einen w<strong>und</strong>ervollen Tag, <strong>der</strong> lei<strong>der</strong> schon allzu lange zurückliegt!“<br />

Aeromir´s bew<strong>und</strong>ern<strong>der</strong> Blick wich einem erstaunten, etwas gedankenlosen<br />

Stirnrunzeln. „Ach, ja? “, meinte er <strong>und</strong> rutschte ein wenig<br />

von Edda ab, um <strong>der</strong> weichen Fülle <strong>der</strong> Wolkenbraut auszuweichen.<br />

Nicht, dass er gegen ihre Reize etwas einzuwenden gehabt hätte, oh,<br />

nein.....doch schien ihm dies im Moment ein eher ungünstiger Zeitpunkt<br />

zu sein, ihren Verführungskünsten zu erliegen, denn er hatte<br />

ein unaufschiebbares Versprechen einzulösen.<br />

Der Herr <strong>der</strong> Lüfte seufzte leise. Manchmal hatte er ein gar nicht so<br />

einfaches Los zu ertragen mit seinen vier sich nach Aufmerksamkeiten<br />

sehnenden Schönen. Edda missverstand die Äußerung Aeromir´s,<br />

<strong>und</strong> ein hoffnungsvolles Aufleuchten ihrer Smaragdaugen verklärte<br />

ihren Blick: „Weißt du noch.....es war diese lange, dunkle Nacht, als<br />

wir beide gemeinsam die schweren Wolken aus Nordwest auf die<br />

Insel zuschoben. Wie <strong>der</strong> Sturm da um die Dächer heulte <strong>und</strong> an den<br />

Fensterläden rüttelte! Den Bewohner Murma´s ward angst <strong>und</strong> bange.<br />

Aber wir.....wir liebten uns so leidenschaftlich inmitten des prasselnden<br />

Regens, dass wir die Nässe gar nicht spürten......“<br />

Thekla, Ruth <strong>und</strong> Ida blickten bereits, leise miteinan<strong>der</strong> tuschelnd,<br />

mit argwöhnischen Blicken zu ihnen her<strong>über</strong>.


„Ja, Edda, meine Wasserlilie......ich erinnere mich noch sehr genau an<br />

diese Sturmnacht. Sie war wirklich w<strong>und</strong>ervoll.“ Aeromir fiel Edda<br />

lächelnd ins Wort, um zu verhin<strong>der</strong>n, dass sie sich noch in weiteren<br />

Einzelheiten verlor.<br />

Er umarmte die rothaarige Wolkenbraut <strong>und</strong> hauchte ihr einen sanften<br />

Kuss auf die Nase.<br />

Im nächsten Augenblick allerdings sprang er plötzlich hastig auf,<br />

wandte sich von ihr ab <strong>und</strong> eilte mit seinem typischen, fließendgeschmeidigen<br />

Gang zu Thekla hin<strong>über</strong>, vor <strong>der</strong> er sich mit einer eleganten<br />

Verbeugung verneigte. Tief erklang seine wohltönende Stimme:<br />

„Doch dir, Holde, sei mein Herz heute zu Füßen gelegt. Ich versprach<br />

dir meine Gunst schon vor geraumer Zeit <strong>und</strong> stehe nun in<br />

deiner Schuld, Feuerblume....“<br />

Thekla warf ihre glänzenden, schwarzen Locken triumphierend in<br />

den Nacken, <strong>und</strong> ihre schokoladenbraunen Augen labten sich voller<br />

Vorfreude an <strong>der</strong> süßen Verheißung. Sie fasste nach <strong>der</strong> kräftigen<br />

Hand des Luftfürsten, <strong>und</strong> er zog sie, ohne zu zögern, mit sich fort.<br />

Lachend schob sich Aeromir eine Haarsträhne aus <strong>der</strong> hohen Stirn:<br />

„Wir beide wollen nun einmal wie<strong>der</strong> gemeinsam einen ordentlichen<br />

Sturm entfachen, nicht wahr, meine Glutäugige?“<br />

„Oh, ja....das wollen wir! Wir bringen den Atem <strong>der</strong> Natur zum<br />

Kochen, damit die Insel erzitternd unsere große Leidenschaft spürt“,<br />

flüsterte Thekla mit einem heißglühenden Blick, <strong>der</strong> keine Zweifel<br />

offen ließ.<br />

71


72<br />

Pamina<br />

Im Sturm sich hin <strong>und</strong> her die Gräser wiegen<br />

mit Freude erhebt sich die Tänzerin<br />

anmutig sich ihre kristallenen Beinchen biegen<br />

glücksbeseelt gibt sie sich ganz <strong>und</strong> gar<br />

dem bewegten Elemente hin<br />

selbst die höheren Luftgeister halten bew<strong>und</strong>ernd inne<br />

<strong>und</strong> prusten, <strong>und</strong> fegen <strong>und</strong> pusten<br />

dann mit noch kühnerem Sinne<br />

ihren wilden Atem hinaus<br />

Pamina, schwerelos <strong>und</strong> leicht<br />

unbeeindruckt vom entfesselten Gebraus<br />

die gläserne Fee, ein Püppchen, ein Kind<br />

die Herzen aller Zuschauer erreicht<br />

zauberhafte Ballerina ­<br />

geliebt vom <strong>über</strong> das Land ziehenden Wind......


Wie aus funkelndem Kristall<br />

dreht sich die Maid im Kreise,<br />

zierlich wippen kleine Füßchen<br />

in <strong>der</strong> bewegten Luft hin <strong>und</strong> her.<br />

Gläsernes Püppchen,<br />

biegsam <strong>und</strong> grazil,<br />

die langen Gräserhalme<br />

lieben <strong>der</strong> Windgeister Spiel.....<br />

Pamina, die Tänzerin<br />

Ein stärkerer Wind war aufgekommen, <strong>der</strong> salzige Seeluft mit sich<br />

brachte.<br />

Von Nordwesten schoben sich große, dunkelgraue Wolken vor die<br />

Sonne, <strong>und</strong> die besorgten Dorfbewohner <strong>über</strong>prüften hastig schadhafte<br />

Stellen ihrer Behausungen. Falls <strong>der</strong> Sturm an Kraft noch<br />

zunehmen würde, müssten sie sogar die Kühe, Pferde <strong>und</strong> Schafe in<br />

die sicheren Ställe bringen.<br />

Doch noch bestand kein Anlass für <strong>der</strong>artige Maßnahmen.<br />

Unterdessen saß Fips, <strong>der</strong> Pfeifer, mit seiner Flöte inmitten des<br />

wogenden Gräsermeeres. Aufmerksam lauschte er <strong>der</strong> leisen, wehmütigen<br />

Melodie, die <strong>der</strong> Wind spielte, während er <strong>über</strong> die grünbraunen,<br />

raschelnden Halme strich.<br />

Das gedämpfte Wehklagen des stärker werdenden Sturms erscholl<br />

wie eine begleitende Hintergr<strong>und</strong>melodie.<br />

Fips liebte diese Musik, <strong>und</strong> wie um dies zu bestätigen, pfiff er<br />

gleichsam auf seinem Instrument eine Weise, die sehr gut mit dem<br />

Klagen des Windes <strong>und</strong> dem Rauschen <strong>der</strong> Gräser harmonierte. Während<br />

sich <strong>der</strong> Himmel immer mehr zu einer grauen Wolkenwand verdichtete<br />

<strong>und</strong> verdüsterte, erregte plötzlich ein helles, flimmerndes<br />

Licht die Aufmerksamkeit des Halbelfen.<br />

Es lag <strong>über</strong> den Gräsern wie eine leuchtende Kugel, darin entstand<br />

ein sich im Kreise drehen<strong>der</strong> Wirbel, so als spielte <strong>der</strong> Wind nun auch<br />

mit dem Licht.<br />

Fips, <strong>der</strong> Pfeifer, hatte aufgehört zu flöten <strong>und</strong> hielt gespannt den<br />

Atem an.<br />

Da drang ein feines Klingeln, wie das Geläut vieler zarter Glöckchen,<br />

in sein Ohr. Und mit einem Male schälte sich eine anmutige Gestalt<br />

aus dem Wirbel heraus, die mit größter Grazie die zierlichen Glie<strong>der</strong><br />

bewegte.<br />

73


„Pamina.....du bist es!“, entfuhr es dem Pfeifer, als er das durchscheinende<br />

Geschöpf entdeckte, dessen Leib schimmerte <strong>und</strong> glänzte<br />

wie Tausende von funkelnden Diamantentropfen im Sonnenlicht, <strong>und</strong><br />

begrüßte das Mägdlein.<br />

Wie ein winziges Püppchen aus kostbarem Kristall sprang <strong>der</strong> Luftgeist<br />

vergnügt herum, leise lachend, <strong>und</strong> es war ihr anzusehen, wie<br />

sehr sie den aufkommenden Sturm genoss. Fasziniert beobachtete<br />

Fips die tänzerische Darbietung Pamina´s, die ihm mit ihren hellen,<br />

durchsichtigen Armen zuwinkte. Der Wind frischte erneut auf <strong>und</strong> die<br />

langen Grashalme bogen sich nun noch tiefer nach allen Seiten,<br />

rauschten lauter, so als ob eine stille Erregung sie erfasst hätte:<br />

„Tanzt, Brü<strong>der</strong>lein, wiegt euch im Winde, Schwesterlein!“<br />

Pamina schien die Gräser aufzufor<strong>der</strong>n, es ihren Bewegungen gleichzutun,<br />

denn sie sprang schwungvoll hoch in die Luft, drehte sich voll<br />

Anmut, schlug Purzelbäume <strong>und</strong> wirbelte um ihre eigene Achse. Und<br />

obgleich heftige Windböen Sandschlieren <strong>über</strong> das Gräsermeer hinweg<br />

wehten, kam sie nicht einmal aus <strong>der</strong> Puste. Die langen Halme<br />

neigten sich voller Bew<strong>und</strong>erung im Sturm, so als dankten sie <strong>der</strong><br />

zierlichen Ballerina <strong>der</strong> Lüfte dafür, dass sie solch eine Kraft in ihnen<br />

zu wecken vermochte. Der starke Wind war mittlerweile in einen heftigen<br />

Sturm <strong>über</strong>gegangen, so dass er Fips, dem Pfeifer, den Atem<br />

raubte <strong>und</strong> auf seine Wangen eine frische Röte zauberte.<br />

Das Flötchen hielt er sorgsam unter seiner Kleidung verborgen, damit<br />

<strong>der</strong> Sturm es nicht ergreifen konnte <strong>und</strong> mit sich fort trug.<br />

„Ho........, Pfeifer Fips, möchtest du nicht auch mit uns tanzen? Die<br />

Gräser tun es schon, <strong>und</strong> dir würde ich es auch gerne noch beibringen!“<br />

Fips musste sich anstrengen, um die Worte des Luftgeistes zu verstehen,<br />

denn das wütende Heulen des Sturms <strong>über</strong>lagerte bereits alle<br />

an<strong>der</strong>en Geräusche.<br />

„Nein, ich sehe lieber zu, dass ich ein geschütztes Plätzchen finde, an<br />

dem ich die Entfesselung <strong>der</strong> Naturkräfte abwarten kann“, schrie er<br />

keuchend.<br />

Dann nahm er seine Beine <strong>und</strong> trieb sie zur Eile an, darauf bedacht,<br />

möglichst schnell einen Zufluchtsort zu finden.<br />

74


Das Unheil<br />

Bedrohlich segelten schwarze Wolkenfetzen vom Horizont her <strong>über</strong><br />

die Insel hinweg. Orkanartige Böen rüttelten in wil<strong>der</strong> Wut an den<br />

langen Gräsern, die sich in hilfloser Verzweiflung bis zum Boden<br />

neigten, um danach sofort durch einen neuen Stoß des heulenden<br />

Sturms wie<strong>der</strong> emporgerissen zu werden.<br />

Als ein Zeichen des Schicksals hatte Martje, die Dünenjungfrau, es<br />

gesehen, den alten, morschen Kahn am Strand entdeckt zu haben.<br />

Innerlich erschöpft <strong>und</strong> müde war sie auf das Boot, das aus dunklen<br />

Holzbalken zusammengebaut worden war, gestoßen. Wie lange es<br />

dort wohl schon liegen mochte? Seltsam, dass sie es nie zuvor auf<br />

einem ihrer einsamen Spaziergänge erblickt hatte. Das Mädchen<br />

spürte Hoffnungslosigkeit in sich aufsteigen.<br />

Dies schien wohl einer <strong>der</strong> ersten Herbststürme zu sein, die in den<br />

nächsten Monaten noch zahlreicher die Insel heimsuchen würden.<br />

Leere..... Schmerzen.... Trostlosigkeit inmitten von peitschen<strong>der</strong><br />

Gischt <strong>und</strong> kalten Stürmen...... Martje schlug gequält die Hände vor<br />

ihr Gesicht. Hast du mir dieses Boot geschickt, mein Liebster? Möchtest<br />

du, dass ich bei dir bin, wo immer dieser Ort sein mag? Ach,<br />

Sören.....lass mich dich finden! Mein Leben, es hat ohne dich keinen<br />

Sinn mehr!<br />

Mit <strong>der</strong> Kraft <strong>der</strong> Verzweiflung zog Martje den Kahn <strong>über</strong> den Sand.<br />

Sprühende Gischt schlug ihr ins Gesicht, an ihren Röcken riss <strong>der</strong><br />

Sturm. Die Dünenjungfrau schob das morsche Boot mit einem heftigen<br />

Ruck in die Brandung hinein.<br />

Ihr Atem ging keuchend. Salzige Tränen rannen <strong>über</strong> ihre eiskalten<br />

Wangen.<br />

Der Kahn schwankte wie eine Nussschale auf den hohen Wellen.<br />

Schnell sprang Martje hinein, Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer<br />

Stirn <strong>und</strong> ihr Herz hämmerte in wildem Stakkato. Der Sturm fegte<br />

<strong>über</strong> den Kahn <strong>und</strong> trieb ihn ein Stück weit auf das kochende Meer<br />

hinaus. Das kleine Boot schaukelte bedrohlich auf den rollenden<br />

Wogen auf­<strong>und</strong> ab. Von unten schoss schwarz­grünliches Seewasser<br />

plötzlich an einer leckgeschlagenen Stelle in den Kahn.<br />

Er füllte sich schnell mit klatschenden Wassermassen, die unaufhörlich<br />

hineinschwappten. „Bald, Liebster....nicht mehr lange“, flüsterte<br />

Martje totenbleich, mit blutleeren Lippen. Mit einem erneuten wütenden<br />

Aufheulen des Sturmes erfasste eine hohe Woge das Boot <strong>und</strong><br />

75


achte es zum Kentern. Die Dünenjungfrau spürte noch die kalte<br />

Nässe des sie verschlingenden Meeres, dann breitete sich ein dunkles<br />

Tuch aus schwarzer Nacht <strong>über</strong> ihr aus, <strong>und</strong> sie verlor das<br />

Bewusstsein.<br />

Tief in Gedanken versunken schlen<strong>der</strong>te die einsame Gestalt am<br />

Strand entlang. Nereide liebte solche Stürme, vielleicht weil sie<br />

selbst ein Kind des Meeres war <strong>und</strong> die Wildheit <strong>der</strong> brodelnden See<br />

sie in ihren Bann zog <strong>und</strong> ihr ein unbeschreibliches Gefühl von<br />

Lebendigkeit vermittelte.<br />

Doch sie schätzte solche Naturgewalten auch, weil <strong>der</strong> an ihrem Haar<br />

zerrende Sturm ihren Kopf von düsteren Gedanken frei machte, ihre<br />

Sorgen, ihren Kummer einfach davontrug, zumindest für eine Weile.<br />

Wenn <strong>der</strong> Sturm ihre Wangen mit salziger Luft berührte, so dass ihr<br />

erhobenes Gesicht gerötet <strong>und</strong> kalt wurde, anschließend heiß brannte,<br />

als hätten Tausende von Nadeln sie gestochen, dann glänzten die<br />

Augen <strong>der</strong> Nymphe wie Türkise im Sonnenlicht. Dann nahm sie das<br />

rauhe Donnern <strong>der</strong> gischtsprühenden Brandung tief in ihr Nixenherz<br />

hinein <strong>und</strong> fühlte sich für einen kurzen Augenblick wie<strong>der</strong> so, wie sie<br />

einst gewesen war, als sie bei ihrem Volk auf dem Meeresgr<strong>und</strong> lebte.<br />

Je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e, <strong>der</strong> es gewagt hätte, bei diesem Unwetter den Strand<br />

aufzusuchen, hätte sich in gebückter Haltung <strong>und</strong> keuchend gegen die<br />

Urgewalt <strong>der</strong> Naturkräfte stemmen müssen, um nicht umgeworfen zu<br />

werden, doch Nereide schritt mit anmutigem Gange den Meeressaum<br />

entlang, als hätten die zerstörerischen Kräfte <strong>der</strong> See keine Macht<br />

<strong>über</strong> sie. Plötzlich jedoch richtete sich <strong>der</strong> Blick ihrer blaugrünen<br />

Augen auf eine kleine, dunkle Nussschale, <strong>der</strong>en Rumpf auf den Wellen<br />

tanzte. Ein Boot... dachte sie voller Entsetzen. Jemand war tatsächlich<br />

bei diesem Sturm auf das Meer hinausgefahren! Und dann<br />

sah sie eine heftig zappelnde Bewegung einige Meter neben dem<br />

Kahn. Die Nymphe erblickte eine bleiche Hand, die aus den Wogen<br />

herausragte <strong>und</strong> dabei drohte, mit <strong>der</strong> nächsten heranrollenden Woge<br />

in den Abgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> See gezogen zu werden. „Ein Mensch ... es muss<br />

ein Mensch sein, vielleicht einer <strong>der</strong> Dorfbewohner“, rief die Nymphe<br />

voller Schreck aus. Und sie erinnerte sich genau daran, dass<br />

Menschen in den Fluten des Meeres nicht atmen konnten <strong>und</strong> deshalb<br />

einen schrecklichen Tod, genannt Ertrinken, erlitten.<br />

Mit schnellen Schritten lief Nereide durch die aufspritzenden Wassermassen,<br />

warf sich in die vor ihr auftürmenden Wellen hinein <strong>und</strong><br />

schwamm mit kraftvollen Zügen, viel schneller als ein Mensch dies<br />

hätte schaffen können, auf den gekenterten Kahn zu. Im Nu war<br />

76


Nereide bei <strong>der</strong> bewusstlosen Martje angelangt, <strong>der</strong>en Körper in die<br />

Fluten hinabgetaucht war.<br />

Mit geschicktem Griff umfasste die Nymphe die Schultern <strong>der</strong><br />

leblosen Dünenjungfrau <strong>und</strong> zog sie blitzartig empor, bis sich ihr<br />

totenbleiches Gesicht wie<strong>der</strong> <strong>über</strong> <strong>der</strong> Meeresoberfläche befand. Mitleidig<br />

betrachtete Nereide die hübschen, aber von Kummer <strong>und</strong><br />

Schmerz geprägten Gesichtszüge <strong>der</strong> jungen Frau: „Du armes, unglückseliges<br />

Menschengeschöpf“, sprach Nereide mit leiser Stimme<br />

<strong>und</strong> fragte sich, welches Schicksal die Bewusstlose wohl zu tragen<br />

hatte.<br />

Rasch bog die Nymphe den Kopf des Mädchens behutsam zurück,<br />

legte ihre salzigen Lippen auf die bleichen <strong>der</strong> jungen Frau <strong>und</strong><br />

hauchte ihr ihren Lebensatem ein, in <strong>der</strong> Hoffnung, <strong>der</strong> Lebensfunke<br />

<strong>der</strong> Unglücklichen möge wie<strong>der</strong> erwachen <strong>und</strong> ihre Seele <strong>und</strong> ihren<br />

Körper aufs Neue mit seiner Kraft erfüllen. Dann schwamm Nereide<br />

mit ihrem Schützling, dessen Kopf sie in den Händen hielt, zügig<br />

durch die bewegte, Schaum sprühende See ans rettende Ufer zurück.<br />

Dort bettete die Nymphe die junge Frau vorsichtig auf den nassen<br />

Sand, <strong>über</strong> den Gischtfetzen jagten. Erneut bemühte sich Nereide, <strong>der</strong><br />

Leblosen Atemluft einzuhauchen. Eine Schar neugieriger Möwen zog<br />

schreiend <strong>über</strong> den Sturmhimmel hinweg. Nereide blickte zu ihnen<br />

hinauf <strong>und</strong> schrie, so laut sie konnte, ihnen zu, dass sie Hilfe herbeiholen<br />

sollten. Möwen haben zum Glück vor Nixen ziemlichen<br />

Respekt, deshalb beherzigten die weißen Küstenvögel die Bitte <strong>der</strong><br />

Nymphe <strong>und</strong> nahmen sich vor, dem Geschöpf, das ihnen als Nächstes<br />

<strong>über</strong> den Weg lief, diese Botschaft auszurichten. Nun erweist es sich<br />

jedoch in <strong>der</strong> Tat als schwierig, an einem Sturmtag wie diesem einer<br />

Menschenseele zu begegnen, wo sich doch alle Dorfbewohner innerhalb<br />

<strong>der</strong> schützenden Mauern ihrer Häuser aufhielten. Glücklicherweise<br />

war <strong>der</strong> Höhepunkt des Sturms bereits erreicht <strong>und</strong> er ebbte<br />

nun langsam wie<strong>der</strong> ab, da sich seine Kräfte erschöpft hatten. Und<br />

dieser Umstand war den aufmerksamen Heidekin<strong>der</strong>n nicht verborgen<br />

geblieben, die nun am Strand entlangliefen, um zu bestaunen,<br />

was <strong>der</strong> Sturm ans Land gespült hatte. Oh, es war doch so spannend,<br />

meinten Boje, Fenje, Moin, Tepp, Swantje <strong>und</strong> Lil, das Strandgut in<br />

Augenschein zu nehmen, welches das Meer feilbot. Oftmals waren<br />

faszinierende Dinge zu finden, die mit ein wenig Geschick <strong>und</strong> Phantasie<br />

für bestimmte Zwecke verarbeitet werden konnten: Leere<br />

77


Apfelsinenkisten, Flaschen aus buntem Glas, faustdicke Taue von<br />

Schiffen, algenbesetzte Holzbalken <strong>und</strong> <strong>der</strong>gleichen mehr.<br />

Doch nun bemerkte die weißblonde Lil als erste die sich <strong>über</strong> ihnen<br />

wie wild gebärdenden Möwen: „Schaut nur, die Vögel sind so unruhig,<br />

als wollten sie uns etwas zeigen!“ Und getrieben von Neugier<br />

folgten die Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> eilig voranschwebenden Möwenschar. Sie<br />

rannten den zerrupften <strong>und</strong> zerfled<strong>der</strong>ten Strand entlang <strong>und</strong> mussten<br />

zahlreiche Hin<strong>der</strong>nisse <strong>über</strong>springen, die ihnen im Weg lagen. Es<br />

handelte sich hierbei um Reisig, <strong>der</strong> vom Meer angeschwemmt worden<br />

war. So reichlich verstreute er sich <strong>über</strong> den Strand, dass man ein<br />

hübsches, geräumiges Baumhaus daraus hätte bauen können!<br />

Doch daran dachte die kleine Heideschar in diesem Augenblick nicht.<br />

„Seht, dort hinten, da ist jemand!“, schrie <strong>der</strong> flachsblonde Moin aufgeregt,<br />

als er die Gestalt <strong>der</strong> neben irgendetwas knienden Nereide<br />

erkannte.<br />

Die Kin<strong>der</strong> beschleunigten ihre Schritte. Plötzlich stieß Tepp beinahe<br />

mit jemandem zusammen, <strong>der</strong> von den Dünen kommend, keuchend<br />

heraneilte, weil auch er offenbar gesehen hatte, dass am Strand Hilfe<br />

benötigt wurde.<br />

Es war kein an<strong>der</strong>er, als Fips, <strong>der</strong> Pfeifer. „Kommt schnell, da vorne<br />

ist etwas passiert“, schrie er gegen die Mauer aus Wind an.<br />

Nereide blickte erleichtert auf die Ankömmlinge. Alle schauten wie<br />

gebannt auf das Mädchen auf dem feuchten Sand, dessen Kopf die<br />

Nymphe mit beiden Händen umfasst hielt. Es sah aus, als ob es<br />

schliefe <strong>und</strong> in seinem nassen, zerzausten Haar hingen salzige Wassertropfen<br />

wie Diamanten. Fips, <strong>der</strong> Pfeifer, atmete erleichtert auf, als<br />

er feststellte, dass sich <strong>der</strong> Brustkorb <strong>der</strong> Bewusstlosen hob <strong>und</strong> senkte....also<br />

lebte sie!<br />

Fips war es schließlich, <strong>der</strong> meinte: „Wir müssen sie zu Kadabra, <strong>der</strong><br />

Zauberin, bringen. Sie ist die größte Heilerin <strong>und</strong> Magierin <strong>der</strong> Insel.<br />

Sie wird wissen, wie dem Mädchen auf bestmögliche Art geholfen<br />

werden kann!“<br />

Und er selbst nahm die immer noch Bewusstlose auf seine Arme <strong>und</strong><br />

trug sie mit sicheren Schritten durch die schwer begehbaren Dünen<br />

<strong>und</strong> die violette Heidelandschaft hindurch. Immer wie<strong>der</strong> warf er<br />

besorgte Blicke auf das Mädchen, das so leicht wie eine Fe<strong>der</strong>, an<br />

seine Brust gelehnt, ruhte.<br />

78


Wie schön sie ist, auch in ihrem Elende, dachte er mit stiller Trauer<br />

<strong>über</strong> das Unglück, das sie ereilt hatte. Schließlich erreichten sie den<br />

dichten Inselwald.<br />

Immer tiefer schritt Fips, <strong>der</strong> Pfeifer in das grüne Herzstück des<br />

Eilandes hinein, <strong>und</strong> Nereide, die ihn begleitete, folgte ihm atemlos,<br />

da sie Mühe hatte, mit seinen weit ausholenden Schritten mitzuhalten.<br />

Endlich erreichten sie die große, graue Steinhöhle, in <strong>der</strong> Kadabra,<br />

die Magierin, lebte. Behutsam legte <strong>der</strong> Halbelf das Mädchen<br />

vor dem Eingang <strong>der</strong> Höhle auf dem weichen, samtgrünen Moosteppich<br />

ab.<br />

Kadabra, die bereits in ihrem magischen Spiegel gesehen hatte, was<br />

geschehen würde, hatte sich auf die Situation eingestellt <strong>und</strong> eilte<br />

rasch nach draußen.<br />

Sie begrüßte mit einem kurzen Kopfnicken die beiden Ankommenden,<br />

dann wandte sie sich dem Mädchen zu <strong>und</strong> trug es auf ihren<br />

Armen in die Behausung aus Felsengestein. Dort entkleidete sie das<br />

durchnässte Menschenkind, rieb es trocken <strong>und</strong> wickelte es in warme,<br />

weiche Tücher. Dann bettete die Violettgekleidete die junge Frau<br />

in die Polster des breiten Vierpfostenbettes <strong>und</strong> deckte sie mit einem<br />

Überwurf aus himbeerfarbener Seide zu.<br />

Die Kammer, in die Kadabra Martje gebracht hatte, war voll von<br />

grün schimmernden Smaragden <strong>und</strong> violett leuchtenden Amethysten<br />

in den verschiedensten Größen. Zwei fre<strong>und</strong>liche Fenster mit hellen<br />

Holzrahmen waren in die Felsenwand eingelassen; sie waren weit<br />

geöffnet, <strong>und</strong> milde, frische Luft wehte in den Raum wie eine frische<br />

Frühlingsbrise. Zuletzt flößte die Magierin <strong>der</strong> Schläferin einige<br />

Tropfen eines dunklen, bitteren Heilkräuterelixiers ein.<br />

Fips, den Pfeifer, <strong>und</strong> die Nymphe Nereide for<strong>der</strong>te Kadabra auf, sich<br />

an das warme Feuer in <strong>der</strong> Wohnstube zu setzen <strong>und</strong> einen stärkenden<br />

Zimtrindentrank zu sich zu nehmen. „Alles, was wir nun tun<br />

können, ist zu warten <strong>und</strong> zu hoffen, darauf zu vertrauen, dass alles<br />

gut wird“, meinte sie leise zu den beiden, als sie sich neben sie, dicht<br />

neben die prasselnden Flammen setzte.<br />

79


80<br />

Ozeanos<br />

Und Ihr seid Euch wirklich sicher, dass sich die Angelegenheit so<br />

verhält?<br />

Nachdenklich <strong>und</strong> mit leicht gerunzelter Stirn strich Ozeanos, <strong>der</strong><br />

mächtige Meeresherrscher, <strong>über</strong> seinen grauen Bart, forschend den<br />

Blick auf seinen Botschafter gerichtet. „Oh, ja, Herr. Es besteht kein<br />

Zweifel daran, dass sie es ist, die Inselnymphe Nereide, die das Mädchen<br />

vor dem sicheren Tod gerettet hat.“ Ozeanos stützte sich mit<br />

schweren Schritten auf seinen algenumschlungenen Dreizack <strong>und</strong><br />

begann unruhig in dem großen Saal mit den glatten, perlmuttschimmernden<br />

Wänden auf ­ <strong>und</strong> abzugehen.<br />

„Das erstaunt mich, das <strong>über</strong>rascht mich außerordentlich“, murmelte<br />

<strong>der</strong> Meereskönig mit gedämpfter Stimme vor sich hin.<br />

Ein treuer, alter Ratgeber von Ozeanos trat neben ihn <strong>und</strong> sprach:<br />

„Herr, Ihr wisst, dass dies eine des Ruhmes würdige Tat ist, welche<br />

die Nymphe Nereide vollbracht hat. Wir, das Meeresvolk, können es<br />

uns in diesen Tagen nicht mehr leisten, die Menschen weiter gegen<br />

uns aufzubringen. Sie haben uns den Kampf angesagt <strong>und</strong> uns fast<br />

völlig aus ihrem Bewusstsein getilgt. Damit die Welten nicht noch<br />

weiter auseinan<strong>der</strong> driften, die Fronten sich nicht noch mehr verhärten,<br />

haben wir alles in unserer Macht Stehende zu tun, um die Menschen<br />

versöhnlich zu stimmen. Deshalb ist je<strong>der</strong> aus dem Meeresvolk,<br />

<strong>der</strong> einen Menschen vor dem Ertrinken bewahrt, ein Held <strong>und</strong><br />

muss gebührend gewürdigt werden.“<br />

„Nereide eine Heldin?“, schnaubte <strong>der</strong> alte König ungehalten. Er<br />

blieb stehen <strong>und</strong> seufzte schwer: „In <strong>der</strong> guten alten Zeit, als die Seefahrenden<br />

noch vor den Meeresherrschern erzitterten <strong>und</strong> ihnen voller<br />

Furcht kostbare Gaben darbrachten, um sie gewogen zu stimmen.....was<br />

waren dies für herrliche Tage!<br />

Und um die Menschlein, die auf dem Meeresgr<strong>und</strong> ihre Ruhe gef<strong>und</strong>en<br />

haben, war es wohl auch nicht schade!“<br />

Der Botschafter räusperte sich <strong>und</strong> erklärte: „Der Verlobte des geretteten<br />

Mädchens ist vor einigen Monaten <strong>der</strong> See zum Opfer gefallen,<br />

neben den vielen an<strong>der</strong>en, die mit dem Schiff gefahren sind, nur weil<br />

Ihr, Hoheit, einmal wie<strong>der</strong> die Beherrschung verloren habt! Mit Verlaub,<br />

Herr, Ihr schuldet dem Menschenvolk eine versöhnliche Geste!“<br />

Ozeanos griff sich mit zitternden Händen an sein polterndes, aus dem<br />

Takt geratenes Herz. Die heftigen Meinungsverschiedenheiten, die er<br />

mit seinem Sohn in <strong>der</strong> letzten Zeit ausgetragen hatte, setzten seinem<br />

Körper mehr <strong>und</strong> mehr zu.


Er wäre wirklich froh, wenn er endlich eine Lösung finden könnte,<br />

die den Streitereien ein für allemal ein Ende bereiten würde. Müde<br />

schloss <strong>der</strong> alte Meereskönig seine Augen <strong>und</strong> sah plötzlich den hellen,<br />

gütigen Blick <strong>der</strong> verschw<strong>und</strong>enen Gemahlin vor sich, die mit<br />

einem sanften Lächeln zu ihm aufschaute. Wie oft er sie doch vernachlässigt<br />

hatte in all den Jahren......<br />

Ozeanos seufzte erneut. Er konnte die Vergangenheit nicht ungeschehen<br />

machen, aber vielleicht konnte er seine Schuld an seinem Sohn<br />

wie<strong>der</strong> gutmachen. Er konnte Aquarius glücklich machen......durch<br />

ein Leben, das er zusammen mit Nereide führen konnte. Der alte, des<br />

Herrschens <strong>über</strong>drüssige Regent des Meeres, gab sich einen Ruck,<br />

dann wandte er sich seinem treuen Ratgeber zu <strong>und</strong> sprach mit kraftvoller<br />

Stimme: „Möge die Nymphe Nereide durch ihre ehrbare Tat<br />

erhöht werden, da sie bewiesen hat, dass sie inneren Adel in sich<br />

trägt! Ich hebe den Bann, welcher sie als Nymphe an den Inselteich<br />

Murma´s bindet, auf......doch damit nicht genug!<br />

Ich selbst, Ozeanos, <strong>der</strong> Herrscher des Meeres, werde sie zur Prinzessin<br />

<strong>der</strong> See ernennen. Sie soll in ihre Heimat zurückkehren <strong>und</strong> dort<br />

mit meinem Sohn Aquarius glücklich sein. Beide sollen sie als künftiges<br />

Königspaar <strong>über</strong> das Meervolk regieren. So soll es geschehen.<br />

Mein Wille sei lebendiges Gesetz!“<br />

Und wie um seine Worte zu unterstreichen, stützte sich Ozeanos auf<br />

seinen Dreizack <strong>und</strong> verließ mit durch den Saal dröhnenden Schritten<br />

die Ratsversammlung.<br />

Der weise Ratgeber des Königs aber lächelte still in sich hinein. Ein<br />

W<strong>und</strong>er war soeben geschehen! Er eilte so schnell er konnte zu den<br />

Gemächern des Brandungsprinzen, um ihm die freudige Nachricht zu<br />

unterbreiten.<br />

81


82<br />

Die Genesung<br />

Das Sturmtief war vor<strong>über</strong>gezogen <strong>und</strong> die Insel Murma erstrahlte in<br />

neugeborener Frische <strong>und</strong> Klarheit.<br />

Die Sonne warf ihren hellen Glanz <strong>über</strong> den tiefgrünen Wald, so als<br />

sei nichts geschehen, <strong>und</strong> auch die Wogen des blauen Meeres liefen<br />

sanft auf dem ockerfarbenen Sand auf.<br />

Die Magierin Kadabra war rührend um ihren Schützling besorgt. Drei<br />

Tage lag die Dünenjungfrau bereits in <strong>der</strong> Höhlenkammer, doch war<br />

Martje nicht aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht. Nachdenklich<br />

betrachtete Kadabra die Gesichtszüge <strong>der</strong> Schlafenden, erkannte das<br />

Leid des Mädchens, welches feine Linien um M<strong>und</strong> <strong>und</strong> Augen des<br />

hübschen Antlitzes gezeichnet hatte. Das Schicksal hatte ihr übel mitgespielt.<br />

Die Magierin kannte seinen Ablauf, <strong>und</strong> sie ahnte, dass die Seele <strong>der</strong><br />

jungen Frau eine Heilung nicht zuließ, weil die Arme nicht mehr ins<br />

Leben zurückkehren wollte. Kadabra seufzte leise, während sie ihren<br />

violetten Schleier glättete. Die beste Medizin vermochte es nicht,<br />

Genesung zu bewirken, wenn sich das tiefste, innerste Wesen <strong>der</strong><br />

Dünenjungfrau dagegen sträubte.<br />

Doch Kadabra vertraute weiterhin auf ein W<strong>und</strong>er <strong>und</strong> flößte Martje<br />

mehrere Male am Tag die bitteren Tropfen ein. Geduld war eine<br />

Tugend, die sich stets aufs Neue bewähren musste.<br />

Jeden Tag statteten Nereide, Fips, <strong>der</strong> Pfeifer <strong>und</strong> die Heidekin<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Kranken einen stillen Besuch ab, schwiegen bestürzt, als sie die Mädchengestalt<br />

so leblos danie<strong>der</strong>liegen sahen.<br />

Am vierten Tag kam Fips, <strong>der</strong> Pfeifer, allein. Und er ließ es sich nicht<br />

nehmen, lange Zeit auf einem Schemel neben <strong>der</strong> Bewusstlosen zu<br />

sitzen <strong>und</strong> ihr schönes Angesicht zu betrachten. Sein Herz wollte vor<br />

Kummer zerspringen, als er das Mädchen anblickte, wie es bereits im<br />

Reich <strong>der</strong> Schatten zu wandeln schien.<br />

Vorsichtig ergriff er ihre kalten, kraftlosen Hände <strong>und</strong> wärmte sie.<br />

Mit sanfter Stimme sprach er beruhigend auf sie ein: „Liebste<br />

Maid......kehre um, lass mich dir das Land <strong>der</strong> Lebenden zeigen, das<br />

so nah vor uns liegt. Meine Liebe wird dich ges<strong>und</strong> machen, wenn du<br />

es nur willst!“ Und er hauchte einen Kuss auf ihre kühle Stirn, bevor<br />

er, als die Abenddämmerung einsetzte, die Höhle <strong>der</strong> Magierin verließ.


Am fünften Tag begrüßte ihn Kadabra mit einem feinen Lächeln:<br />

„Schau dir das Mädchen an; <strong>über</strong> Nacht ist die Kälte aus ihrem Körper<br />

gewichen, <strong>und</strong> jetzt schläft sie ihrer Heilung entgegen!“ Und<br />

Fips, <strong>der</strong> Pfeifer, war ganz außer sich vor Freude, als er die leicht<br />

rosig <strong>über</strong>hauchten Wangen <strong>der</strong> Dünenjungfrau sah.<br />

Ihre Haut fühlte sich warm an <strong>und</strong> ihr Herz schlug in weichem,<br />

rhythmischen Takt. Da setzte sich <strong>der</strong> Pfeifer auf das Schemelchen,<br />

zog sein Flötchen hervor <strong>und</strong> begann eine zarte, leise Melodie zu<br />

spielen.<br />

Immer wie<strong>der</strong> legte er eine Pause ein, in <strong>der</strong> er die Schläferin liebevoll<br />

betrachtete <strong>und</strong> ihre Hände mit großer Zärtlichkeit streichelte.<br />

Am Abend verließ Fips die Kammer <strong>und</strong> pfiff ein zuversichtliches<br />

Lied vor sich hin.<br />

Am siebten Tag geschah das große W<strong>und</strong>er. Fips, <strong>der</strong> Pfeifer, spielte<br />

gerade eine gefühlvolle Weise, in die er all sein Können, seine Sehnsucht<br />

<strong>und</strong> Liebe hineinlegte; er ging ganz auf in seiner zu Herzen<br />

gehenden Komposition.<br />

Da zuckten plötzlich Martje´s Li<strong>der</strong>. Sie bewegte leicht den Kopf <strong>und</strong><br />

die Schultern, dann öffnete sie ihre Augen.<br />

Grau <strong>und</strong> klar ruhte ihr Blick auf dem des jungen Musikanten, <strong>der</strong><br />

vor ihr saß.<br />

Ein schwaches Lächeln huschte <strong>über</strong> das Gesicht des Mädchens, als<br />

es den freudigen Ausdruck wahrnahm, <strong>der</strong> seine Züge aufleuchten<br />

ließ.<br />

Mit einem Male stockte Martje´s Atem, <strong>und</strong> sie erinnerte sich: Todesgedanken<br />

– Sturmböen ­ <strong>der</strong> schwankende Kahn inmitten <strong>der</strong> tobenden<br />

See......<br />

„Du....du hast mir das Leben gerettet, nicht wahr?“, wandte sich die<br />

Dünenjungfrau an den Halbelfen. „Nein, vor dem Ertrinken hat dich<br />

die Nymphe Nereide bewahrt“, erwi<strong>der</strong>te Fips ehrlich.<br />

Martje lächelte erneut. „Aber du bist jetzt für mich da, nicht wahr?“<br />

Bevor Fips, <strong>der</strong> Pfeifer, dies bestätigen konnte, war Martje´s Kopf<br />

bereits wie<strong>der</strong> auf ihr Kissen gesackt <strong>und</strong> ihre Augen hatten sich<br />

geschlossen.<br />

Friedlich entspannt sah sie nun aus, wie eine Fee, dachte <strong>der</strong> Halbelf<br />

glücklich.<br />

„Schlafe nur, schlafe dich ges<strong>und</strong>, Liebliche <strong>der</strong> Dünen“, gab er ihr<br />

das Geleit.<br />

83


Von nun an ging es Martje von Tag zu Tag besser.<br />

Viele Besucher kamen <strong>und</strong> brachten ihr kleine Gaben dar. So hatten<br />

die Heidekin<strong>der</strong> ihr einen hübschen Strauß aus Heidekraut geflochten<br />

<strong>und</strong> ihr versprochen, ihr diese Kunst beizubringen, wenn sie erst einmal<br />

wie<strong>der</strong> völlig genesen sei. Nereide besuchte die Dünenjungfrau<br />

<strong>und</strong> schenkte ihr eine silberne, lange Kette. Martje umarmte die<br />

Nymphe gerührt <strong>und</strong> sprach: „Ich sollte dir etwas schenken, nicht du<br />

mir, hast du doch mein Leben gerettet!“<br />

Doch Nereide lächelte nur <strong>und</strong> entgegnete leise: „Dich vor dem Tod<br />

retten zu dürfen, ist mir Freude genug!“<br />

Farnlinde schaute nach <strong>der</strong> jungen Frau, brachte ihr stärkenden Flie<strong>der</strong>beersaft<br />

<strong>und</strong> duftende Kräutersäcklein, die sie in <strong>der</strong> Höhlenkammer<br />

verteilte, um noch mehr Frische <strong>und</strong> Kraft in den Raum zu bringen.<br />

Selbst die Hedeheidi hatte sich aufgemacht, die Genesende zu besuchen<br />

<strong>und</strong> ihr ein Glas Sanddornfruchtgelee mitgebracht: „Das macht<br />

fröhlich, das schenkt Lebensfreude!“, hatte sie aufmunternd gemeint.<br />

Am häufigsten weilte jedoch Fips, <strong>der</strong> Pfeifer, bei Martje, die ihn als<br />

treuen Fre<strong>und</strong> liebgewonnen hatte <strong>und</strong> sich bald gar nicht mehr vorstellen<br />

konnte, ohne ihn <strong>und</strong> sein zauberhaftes Flötenspiel zu sein.<br />

Da die Tage noch warm <strong>und</strong> sonnig waren, konnte die Dünenjungfrau<br />

bald immer mehr <strong>der</strong> Krankenstube den Rücken zukehren, <strong>und</strong> sie<br />

verbrachte mit Fips viele St<strong>und</strong>en im Wald, in <strong>der</strong> Heide <strong>und</strong> in den<br />

Dünen.<br />

Martje bekam von ihrem Aufenthalt in <strong>der</strong> frischen Luft eine ges<strong>und</strong>e<br />

Gesichtsfarbe. In ihren Augen schimmerte ein neuer Glanz, <strong>und</strong> sie<br />

war kaum wie<strong>der</strong>zuerkennen, wenn ihr helles Lachen erscholl, während<br />

ihr Fips, <strong>der</strong> Pfeifer, eine lustige Geschichte erzählte.<br />

Manchmal dachte die Dünenjungfrau noch an Sören, doch es tat<br />

immer weniger weh, <strong>und</strong> Martje lernte die Gegenwart zu lieben <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Zukunft entgegenzusehen......denn dort stand Fip´s Name......<br />

84


Die Erlösung<br />

Goldene Sonnenstrahlen lagen <strong>über</strong> dem jungen Morgen <strong>und</strong> hüllten<br />

die Insel in ein fre<strong>und</strong>liches Licht, das einen guten Tag versprach.<br />

Im Wald zwitscherten die Vöglein bereits eifrig, die Zweige <strong>der</strong><br />

Laubbäume schüttelten mit einem verschlafenen Gähnen die smaragdgrün<br />

erstrahlenden Blätter, <strong>und</strong> <strong>der</strong> zarte Klang ihres Wisperns<br />

verkündete es den Tieren: Das Leben ist neu erwacht!<br />

Der kleine Teich mit <strong>der</strong> braunschwarzen, glatten Wasseroberfläche<br />

lag noch im Schatten. Die Nymphe Nereide saß, mit dem Rücken<br />

gegen den Stamm einer jungen Birke gelehnt, an ihrem einsamen Ort<br />

<strong>der</strong> Verbannung. Ein kühner Sonnenstrahl verfing sich in ihrem Haar<br />

<strong>und</strong> ließ es wie Gold aufleuchten......verschwen<strong>der</strong>ische Pracht an<br />

einem düsteren, dunklen Ort.<br />

Ihr trauriger Blick fiel auf eine zartgelbe Seerosenblüte, die ihre<br />

eigene Trostlosigkeit inmitten <strong>der</strong> Finsternis wi<strong>der</strong>spiegelte.<br />

Das aufgeregte Geschrei von Möwen schreckte die Nymphe aus ihrer<br />

Melancholie. Ruckartig drehte sie den Kopf, als sie ein Geräusch<br />

wahrnahm.<br />

Es klang, als würde jemand leichtfüßig durch das Gras laufen. Wer<br />

konnte das zu solch früher St<strong>und</strong>e wohl sein?<br />

Noch ehe Nereide sich entscheiden konnte, kopf<strong>über</strong> in den dunklen<br />

See zu flüchten, um sich dort zu verbergen, teilte sich die Mauer aus<br />

Schilf, welches am Teichrand stand, <strong>und</strong> was sie dann sah, raubte <strong>der</strong><br />

Nymphe den Atem. Dort am Ufer bewegte sich..... ein Geist .......es<br />

konnte nur ein Geist sein, <strong>der</strong> aussah wie ..... „Aquarius“, hauchte<br />

Nereide, doch ihre Stimme klang erstickt wie trockenes Laub. Sie<br />

rieb sich <strong>über</strong> die Augen. War sie wahnsinnig geworden?<br />

Hatte die Sehnsucht nach ihrem Liebsten ihr die Sinne verwirrt?<br />

Aber da hörte Nereide die Worte des Brandungsprinzen, <strong>der</strong> stehengeblieben<br />

war, weil er ihren erschrockenen, ungläubigen<br />

Gesichtsausdruck gesehen hatte.<br />

„Hab´ keine Angst, Liebste. Ich bin es wahrhaftig. Schau, es ist Morgen,<br />

<strong>und</strong> ich bin bei dir....es ist kein Traum!“<br />

Prächtig war <strong>der</strong> Meeresprinz anzusehen, in edle Stoffe gehüllt.<br />

85


Ein goldener Gürtel, mit Meeresperlen bestickt, hielt die tiefblaue<br />

Tunika zusammen.<br />

Ein schneeweißer Umhang, wie aus Meerschaum gewebt, bauschte<br />

sich in <strong>der</strong> sanften Morgenbrise. Die Stiefel glänzten golden, wie die<br />

Krone, die auf seinen leuchtenden Locken saß. Nereide schluckte. Ihr<br />

Geliebter sah aus, als ob er sich für ein Fest angekleidet hätte.<br />

Aquarius hielt es nicht länger auf <strong>der</strong> Stelle. Er sprang mit großen<br />

Schritten auf Nereide zu, die mit einem leichten Taumeln in seine<br />

ausgebreiteten Arme fiel. Sie klammerte sich mit zitternden Händen<br />

an den kühlen Stoff seiner Tunika.<br />

„Du....du...bist es wirklich, mein Liebster. Ich fühle dich, erspüre<br />

dich wie in unseren geheimen St<strong>und</strong>en. Doch wie ist´s möglich?“<br />

Die Sonne war höher gestiegen <strong>und</strong> einige ihrer Strahlen fielen in den<br />

dunklen Teich hinein, dessen Wasser eine leicht grünliche Farbe<br />

angenommen hatte.<br />

Eine Libelle schwirrte tänzerisch <strong>über</strong> die Oberfläche hinweg.<br />

Aquarius legte lächelnd eine Hand auf die Brust seiner Geliebten.<br />

Er spürte das dumpfe, schnelle Poltern <strong>und</strong> wartete stumm, bis sich<br />

<strong>der</strong> Herzschlag seiner Liebsten unter <strong>der</strong> Wärme seiner Berührung<br />

wie<strong>der</strong> beruhigt hatte. Dann erzählte er ihr, was geschehen war: „Du<br />

hast diese Menschenfrau vor dem Ertrinken bewahrt. Diese Tatsache<br />

hat meinen Vater nun endlich dazu bewogen, dir inneren Adel zuzugestehen.<br />

Er hat den Bann aufgehoben, so dass unserer Liebe von<br />

nun an kein Hin<strong>der</strong>nis mehr im Wege steht."<br />

Nereide blickte ihn aus großen Augen an, wie einer <strong>der</strong> großen, buntgescheckten<br />

Fische in den südlichen Meerestiefen. Aquarius fuhr<br />

zärtlich mit seinem Finger <strong>über</strong> Nase, Stirn, Wangen <strong>und</strong> Kinn <strong>der</strong><br />

Nymphe.<br />

„Aber das ist noch nicht alles......so rätselhaft auch seine geän<strong>der</strong>te<br />

Gesinnung sein mag, er hat in seinem Ratsschluss k<strong>und</strong>getan, dass er<br />

dich zur Prinzessin <strong>der</strong> See ernennen will, denn er erwartet, dass wir<br />

als künftiges Königspaar auf dem Meeresgr<strong>und</strong> leben werden!“<br />

Nereide hatte schweigend zugehört. Sie barg ihren Kopf an Aquarius´<br />

Brust.<br />

„Ein W<strong>und</strong>er....Kadabra hat es mir gesagt. Die heilige Stille fand eine<br />

Lösung.Die Insel Murma ist mir zur Seite gestanden......“<br />

86


Aquarius verstand nichts von den Worten, die seine Liebste leise vor<br />

sich hinmurmelte, aber er befand dies auch nicht für notwendig.<br />

Er nahm ihr Gesicht in seine Hände <strong>und</strong> verschloss ihren vollen<br />

Rosenm<strong>und</strong> mit einem leidenschaftlichen Kuss. Die älteste <strong>der</strong> Birken<br />

neigte neugierig ihre Zweige mit den herzförmigen Blättern nach<br />

vorn, wollte sie doch nicht versäumen, was hier Bedeutungsvolles<br />

geschah.<br />

Lauschend hörte sie den Brandungsprinzen sagen: „Willkommen an<br />

meiner Seite, meine Braut.....geliebte Nixe Nereide!“<br />

87


88<br />

Hochzeit auf <strong>der</strong> Heide<br />

Die Sonne breitete ihre warmen, goldenen Strahlen <strong>über</strong> <strong>der</strong> Heide<br />

aus; dies war ihr Hochzeitsgeschenk.<br />

Der Herr <strong>der</strong> Lüfte, Fürst Aeromir, war natürlich mit seinen Wolkenbräuten<br />

anwesend <strong>und</strong> hatte dafür gesorgt, dass <strong>der</strong> Himmel heute<br />

leuchtend blau <strong>und</strong> wolkenlos bleiben würde.<br />

Alle hatten sie sich eingef<strong>und</strong>en, um das Versprechen des Paares zu<br />

bezeugen.<br />

Die alte Effken­Lene hatte sich am Arm ihrer Nichte Farnlinde eingehakt,<br />

<strong>und</strong> ihr Blick ruhte wohlwollend auf dem Brandungsprinzen<br />

<strong>und</strong> seiner Braut.<br />

Die Heidekin<strong>der</strong> mit ihren Kränzen im Haar umringten Nereide <strong>und</strong><br />

Aquarius, die einan<strong>der</strong> glückselig anstrahlten.<br />

Der Brandungsprinz war in silberblauen Stoff aus Brokat gehüllt;<br />

eine silberne Krone, mit Aquamarinen besetzt, saß auf dem blondgelockten<br />

Haar; seine blankgeputzten Stiefel waren aus buntschillerndem<br />

Seeopal gefertigt worden <strong>und</strong> schimmerten im Sonnenlicht wie<br />

die Farben des Regenbogens.<br />

Nereide sah atemberaubend aus in ihrer seidenen Robe, die in sieben<br />

verschiedenen Blautönen glänzte. In ihrem aufgesteckten Haar blitzten<br />

Perlmuttmuscheln <strong>und</strong> ein Diadem, das mit Meeresperlen besetzt<br />

war.<br />

Leuchtende, violette Heidesträußchen zierten die Ärmel <strong>und</strong> den<br />

Saum ihres Gewandes. „Hurra, es lebe das Heidebrautpaar!“, erscholl<br />

es da aus den Kehlen <strong>der</strong> Heidekin<strong>der</strong>, <strong>und</strong> die zierlichen Falterfeen<br />

flatterten vor Freude ganz ausgelassen hin <strong>und</strong> her.<br />

Selbst Ozeanos, <strong>der</strong> mächtige Meereskönig, hatte es sich nicht nehmen<br />

lassen, <strong>der</strong> Zeremonie beizuwohnen, obgleich er nicht gerne den<br />

festen Boden einer Insel unter sich spürte. Majestätisch stützte er sich<br />

in seiner samtenen, dunkelgrünen Festtagsrobe auf den tangumwickelten<br />

Dreizack, während er mit väterlichem Stolz zu seinem<br />

Sohn hin<strong>über</strong>sah.<br />

Die Hedeheidi stand neben Kadabra <strong>und</strong> beide bew<strong>und</strong>erten in stillem<br />

Schweigen das schöne Paar.<br />

Pamina, die Tänzerin, schwebte <strong>über</strong> den Köpfen von Aquarius <strong>und</strong><br />

Nereide, <strong>über</strong>aus froh, wie<strong>der</strong> einmal anlässlich eines Festes ihre tänzerischen<br />

Darbietungen vorführen zu dürfen.


Martje, die Dünenjungfrau, stand ein Stück weiter weg <strong>und</strong> drückte<br />

in einer zärtlichen Geste die Hand von Fips, dem Pfeifer, <strong>der</strong> dicht<br />

neben ihr war.<br />

Auf dem Rücken von Freda, einer treuen Wühlmaus, waren die Wurzelgnome<br />

Hay, Bertchen, Lukka, Girko <strong>und</strong> Jans hierher gekommen.<br />

Puck­ Muck, <strong>der</strong> grünschopfige Kobold, war bei ihnen. Sein Gesicht<br />

wies glückliche, ausgeglichene Züge auf.<br />

Nachdem Aquarius <strong>und</strong> Nereide ihre Liebe vor aller Augen mit einem<br />

langen, leidenschaftlichen Kuss besiegelt hatten, jubelten die Anwesenden<br />

laut auf.<br />

Ozeanos schlurfte mit vorsichtigen Schritten <strong>über</strong> die seinem Empfinden<br />

nach „unbegehbare“ Heide auf das Paar zu, umarmte seinen<br />

Sohn <strong>und</strong> auch Nereide.<br />

Dann sprach er mit einer Stimme wie Meeresrauschen: „Seid willkommen<br />

geheißen, Kin<strong>der</strong>, in eurem neuen Zuhause. Lasst uns nun in<br />

das Meer zurückkehren; das Volk <strong>der</strong> Nixen <strong>und</strong> Wassermänner sieht<br />

eurer Ankunft bereits mit großer Erwartung entgegen.“<br />

Nereide verneigte sich lächelnd vor dem Meereskönig, <strong>der</strong> sie mit<br />

seinem Dreizack an <strong>der</strong> Schulter berührte.....<strong>und</strong> somit war sie „die<br />

Königliche Meeresprinzessin“ geworden. „Aber von Zeit zu Zeit<br />

werden wir heimlich auf die Insel zurückkehren <strong>und</strong> unsere Fre<strong>und</strong>e<br />

besuchen, nicht wahr?“, flüsterte sie fragend ihrem Geliebten zu.<br />

Dieser zwinkerte verschmitzt. „Oh, ja, das werden wir tun.....<strong>und</strong><br />

noch viel mehr!“<br />

Als die Sonne unterging, führte <strong>der</strong> betagte Meereskönig das künftige<br />

Königspaar in die donnernde Brandung hinein <strong>und</strong> <strong>der</strong> eine <strong>und</strong><br />

an<strong>der</strong>e Inselbewohner, <strong>der</strong> den Abschied von einer <strong>der</strong> hohen Dünenkuppen<br />

aus verfolgte, wischte sich verstohlen eine Träne <strong>der</strong> Rührung<br />

aus dem Auge.<br />

89


90<br />

Prinzessinnenglück<br />

Man hätte meinen können, dass nun alles ein glückliches Ende gef<strong>und</strong>en<br />

hatte.<br />

Nereide <strong>und</strong> Aquarius kehrten als Paar zusammen in das Meer<br />

zurück.<br />

Und die an<strong>der</strong>en Geschöpfe <strong>der</strong> Insel gingen wie<strong>der</strong> ihren gewohnten<br />

Angelegenheiten nach, waren zufrieden <strong>und</strong> lebten in Harmonie miteinan<strong>der</strong>.<br />

Allein die Magierin Kadabra sah, dass <strong>über</strong> <strong>der</strong> Insel Murma noch ein<br />

Schatten lag. Mit ihren feinen Sinnen fühlte sie, dass ein Hauch von<br />

Schmerz das Eiland streifte, weil zwei unglückliche Prinzessinnen in<br />

den Höhen um ihre Liebe trauerten, <strong>der</strong>en Erfüllung ihnen versagt<br />

blieb.<br />

Aurora <strong>und</strong> Estella hatten erkennen müssen, dass Aquarius, <strong>der</strong><br />

Brandungsprinz, zu dem sie in sehnsuchtsvoller Liebe entbrannt<br />

waren, sich für eine an<strong>der</strong>e, die Nixe Nereide, entschieden hatte. Mit<br />

großer Bestürzung hatten sie diese Nachricht aufgenommen.<br />

Prinzessin Aurora, die liebliche junge Morgenröte, war schluchzend<br />

in den goldenen Garten, in dem die leuchtenden Apfelbäume standen,<br />

getaumelt.<br />

Für die Schönheit <strong>der</strong> glänzenden Äpfel waren ihre Augen nun blind.<br />

Sie hatte ihr Gesicht in dem weichen Gras vergraben, weinte goldene<br />

Tränen, <strong>und</strong> nichts schien sie trösten zu können.<br />

In den darauf folgenden Tagen hatte Helios, <strong>der</strong> Sonnenkönig, alle<br />

möglichen Geschenke vor seinem geliebten Kind ausbreiten lassen,<br />

um ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern......vergebens!<br />

Aurora zog sich bedrückt in ihre Gemächer zurück. Und ihre Traurigkeit<br />

legte sich wie ein grauer Schleier <strong>über</strong> die Insel Murma.<br />

Nun warteten die Bewohner vergebens darauf, dass <strong>der</strong> goldene<br />

Rosenglanz den jungen Morgen in sein verheißungsvolles Licht<br />

tauchte.<br />

Und selbst die Sonne hielt sich den ganzen Tag hinter einer dicken,<br />

grauen Wolkenwand verborgen. „Irgend etwas liegt im Argen mit<br />

unserer Insel“, flüsterten sich die Dorfbewohner hinter vorgehaltener<br />

Hand einan<strong>der</strong> zu.<br />

Ähnlich elend fühlte sich auch Prinzessin Estella.


Die Sternentochter war untröstlich gewesen, als sie die Hoffnungslosigkeit<br />

ihrer unerwi<strong>der</strong>ten Liebe gespürt hatte. Selene, die Mondkönigin,<br />

hatte sich fürsorglich <strong>und</strong> einfühlsam um ihre liebeskranke<br />

Tochter gekümmert, hatte sie mit weichen, mütterlich umfangenden<br />

Armen zärtlich hin­<strong>und</strong> hergewogen, so wie sie es getan hatte, als die<br />

Prinzessin noch ein kleines Mädchen gewesen war <strong>und</strong> sich das Knie<br />

aufgeschlagen hatte.<br />

Doch Estella wurde nicht mehr froh. Sie mochte nichts mehr essen,<br />

wurde bleich <strong>und</strong> dünn, <strong>und</strong> schwarze Schatten hatten sich um ihre<br />

Augen eingegraben.<br />

Sie schlief unruhig <strong>und</strong> wachte mitten in <strong>der</strong> Nacht oft tränen<strong>über</strong>strömt<br />

auf, weil sie schlecht geträumt hatte.<br />

Die Sternenprinzessin vermochte auch nicht mehr dem Glockenspiel<br />

liebliche Klänge zu entlocken, <strong>und</strong> da sie nur noch scheppernde, klirrende<br />

Töne hervorbrachte, unterließ sie es schließlich ganz, zu nächtlicher<br />

St<strong>und</strong>e, ihr Instrument in die Hand zu nehmen. Natürlich<br />

bewirkte dies, dass auch die auf Murma lebenden Menschen schlecht<br />

<strong>und</strong> unruhig schliefen. Sie sahen nur noch verworrene, hässliche Bil<strong>der</strong><br />

vor sich, wenn sie träumten. O<strong>der</strong> sie träumten <strong>über</strong>haupt nicht<br />

<strong>und</strong> fühlten sich des Morgens wie zerschlagen <strong>und</strong> gerä<strong>der</strong>t. Dadurch<br />

wurden sie reizbar untereinan<strong>der</strong>, gerieten wegen Kleinigkeiten in<br />

Streit.<br />

Besorgt bedeckte die Magierin Kadabra ihren großen Zauberspiegel<br />

mit einem violetten Tuch aus Samt. Das, was sie im Sonnenpalast<br />

<strong>und</strong> im Sternenturm gesehen hatte, gab Anlass zu großer Beunruhigung.<br />

Es musste etwas geschehen, damit die beiden Prinzessinnen<br />

<strong>und</strong> auch die Insel Murma wie<strong>der</strong> in Harmonie leben konnten.<br />

Lange saß die violettgewandete Zauberin vor dem blau­roten Feuer<br />

<strong>der</strong> Weisheit <strong>und</strong> sann in <strong>der</strong> Stille dar<strong>über</strong> nach, wie eine Lösung<br />

gef<strong>und</strong>en werden konnte.<br />

Dann entzündete ein Funke plötzlich ihren aufnahmebereiten Geist,<br />

<strong>und</strong> nun wusste sie, was zu tun war.<br />

Die Hedeheidi verließ einige Tage später mit einem fröhlich­heftigen<br />

Winken die Behausung <strong>der</strong> Magierin. Beide Frauen hatten sich<br />

zusammengesetzt <strong>und</strong> beschlossen, ihre Kräfte zu vereinen, um einer<br />

guten Sache zu dienen.<br />

91


Und Kadabra hatte festgestellt, dass sie sich aufs Vortrefflichste<br />

ergänzten, die Kräfte, die <strong>der</strong> Hedeheidi zu eigen waren <strong>und</strong> ihre<br />

Magie <strong>der</strong> Stille.<br />

Der Morgen graute bereits, als sich dichter, feuchter Nebel in einer<br />

spiralförmigen Bewegung in Richtung des Himmels empor hob.<br />

„Seht, welch son<strong>der</strong>barer Nebel“, tuschelten die Dorfbewohner, die<br />

schon auf den Beinen waren. „Er wird von einem blauvioletten<br />

Unterton durchdrungen. Was mag dies wohl bedeuten?“<br />

Doch wenig später verschwand <strong>der</strong> geheimnisvolle Schwadenwirbel,<br />

wie von Geisterhand aufgelöst.<br />

Erst nach Einbruch <strong>der</strong> Abenddämmerung entstand eine zweite<br />

Nebeltreppe, die bis zu den Sternen aufzusteigen schien. Auch sie<br />

verschwand wie<strong>der</strong>, lange bevor die Dorfglocken Mitternacht schlugen.<br />

Im großen Vierpfostenbett ruhte auf goldenen Wolkendunen die<br />

schöne Prinzessin <strong>der</strong> Morgenröte, Aurora. Sie schlief tief <strong>und</strong> fest,<br />

doch nur die Zauberin Kadabra <strong>und</strong> die Nebelfee Hedeheidi wussten,<br />

dass es sich um keinen gewöhnlichen Schlaf handelte. Der magische<br />

Nebel war in das Gemach durch ein Fenster eingedrungen <strong>und</strong> würde<br />

ihr tiefe Entspannung bringen. Sie würde träumen, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Schleier<br />

des Vergessens war in die Substanz des Traums hineingewoben worden.<br />

Aurora würde vergessen, was sie für Aquarius empf<strong>und</strong>en hatte.<br />

Ein neuer Same <strong>der</strong> Süße <strong>und</strong> Zärtlichkeit würde in ihrem Herzen<br />

keimen......<br />

Genauso entfaltete <strong>der</strong> Nebel, <strong>der</strong> am Abend weit hinauf zu Estella´s<br />

Sternenturm zog, seine Wirkung bei <strong>der</strong> Prinzessin. Zufrieden<br />

erblickte die Magierin Kadabra in ihrem großen Spiegel, wie die<br />

Prinzessin <strong>der</strong> Nacht mit entspanntem Gesichtsausdruck auf dem<br />

sichelmondförmigen, silbrig schimmernden Seidenkissen lag, ihre<br />

vollen roten Lippen zu einem leichten Lächeln erblüht, das glänzend<br />

schwarze Haar wie ein Fächer <strong>über</strong> das Laken ausgebreitet.<br />

Die St<strong>und</strong>en eurer Glückseligkeit.....sie liegen noch vor euch, <strong>und</strong> sie<br />

werden auch <strong>der</strong> Insel Murma neuen Segen <strong>und</strong> reichlich Schönheit<br />

bringen......<br />

Die Magierin Kadabra verhüllte den Spiegel mit violettem Samt,<br />

bevor sie sich zur Ruhe begab.<br />

92


Im Mai des darauffolgenden Jahres:<br />

Am östlichen Horizont stieg rosenrot <strong>der</strong> Sonnenball <strong>über</strong> dem Meer<br />

auf. Zarte, rosig <strong>über</strong>hauchte Wolken schwebten schläfrig <strong>über</strong> <strong>der</strong><br />

Insel Murma.<br />

Ein rotgoldener Sonnenstrahl bahnte sich seinen Weg. Auf ihm<br />

erschien ein junges Mädchen. Leichtfüßig sprang es auf eine <strong>der</strong><br />

Wolken <strong>und</strong> ließ sich darauf nie<strong>der</strong>. So segelte sie im leichten Morgenwind<br />

sanft <strong>über</strong> die Insel, blickte lächelnd auf die Kuppen <strong>der</strong><br />

Dünen, die grünen Heideflächen <strong>und</strong> auf den dunklen Wald hinab.<br />

Feingliedrigen, hellen Händen entströmte weiches, orangegoldenes<br />

Licht, welches <strong>über</strong> die Landschaft glitt. Aurora´s blaue Augen leuchteten<br />

<strong>und</strong> strahlten wie zwei Glockenblumenblüten.<br />

Ach, wie sie es liebte, die Insel unter sich zu segnen, ihr ihren Glanz<br />

zu schenken! Das Herz <strong>der</strong> Prinzessin schlug vor Freude schneller.<br />

Bald würde sich Wärme ausbreiten <strong>und</strong> mehr <strong>und</strong> mehr Blüten würden<br />

dann in ihrer Farbenpracht <strong>und</strong> Fülle erblühen, denn <strong>der</strong> Sommer<br />

stand bevor......ein langer Sommer, den bereits <strong>der</strong> Duft von grünem<br />

Laub <strong>und</strong> würziger Erde ankündigte.<br />

Aber das W<strong>und</strong>ervollste war, dass bald ein großer Sonnenball im<br />

Palast stattfinden würde. Dort durfte Aurora wie<strong>der</strong> den stattlichen<br />

Perlenprinzen sehen, in dessen Vaters Schloss sie vor einigen Wochen<br />

eingeladen gewesen war, um das Perlenreich kennenzulernen. Pelagius<br />

hatte ihr voller Stolz all die Truhen mit kostbaren milchweißen,<br />

hellblauen, zartgrünen <strong>und</strong> rosafarbenen Perlen gezeigt, <strong>und</strong> sie war<br />

entzückt gewesen von all <strong>der</strong> Pracht.<br />

Und auch Pelagius gefiel ihr. Er hatte ein fre<strong>und</strong>liches Wesen <strong>und</strong><br />

sein Lächeln war offen <strong>und</strong> voller Wärme.<br />

Aurora gestand sich ein, dass sie es kaum erwarten konnte, ihn wie<strong>der</strong>zusehen,<br />

den hübschen künftigen König des Perlenmeeres, das<br />

weit im Süden zu finden war. Aurora´s Wangen schimmerten pfirsichfarben,<br />

<strong>und</strong> ihr Herz klopfte stürmisch, als sie an den stattlichen<br />

Jüngling dachte.<br />

Der Tag brachte strahlende Frühlingswärme, <strong>und</strong> die Vögel feierten<br />

ihn mit hellem Gesang. Dann versank die Sonne als orangefarbener<br />

Ball hinter dem<br />

Westhorizont. Blau­violette Abendwolken verkündeten, dass sich die<br />

Nacht bald <strong>über</strong> die Insel senken würde. Blaugrau verfärbte sich <strong>der</strong><br />

Himmel.<br />

93


Der Abendstern stand blinkend am Firmament.<br />

„Bist du soweit, mein Kind?“, ertönte die Stimme <strong>der</strong> silbergewandeten<br />

Frau.<br />

„Ja, gleich, Mama“, klang es aufgeregt zurück.<br />

Prinzessin Estella <strong>über</strong>prüfte im silbernen Spiegel kritisch ihr Äußeres.<br />

Ranja, die treue Zofe, versicherte ihr, dass sie zauberhaft aussehe,<br />

wie es eine Prinzessin <strong>der</strong> Nacht niemals zuvor gewesen wäre.<br />

Lachend umarmte Estella die gute Ranja, dann raffte sie ihr Gewand,<br />

in dem Tausende von Sternen blitzten <strong>und</strong> eilte zu ihrer Mutter hinaus,<br />

die bereits vor <strong>der</strong> gläsernen Barke wartete.<br />

Ein Lakai hielt Königin <strong>und</strong> Prinzessin den Schlag auf <strong>und</strong> half<br />

ihnen, die langen Schleppen ihrer Roben in <strong>der</strong> Sternenbarke so<br />

zurechtzulegen, dass sie als ein Gespinst hellen Silberstaubs deutlich<br />

auf <strong>der</strong> Milchstraße zu sehen sein würden.<br />

„Bist du glücklich, mein Kind?“<br />

Selene´s forschen<strong>der</strong> Blick ruhte auf <strong>der</strong> Gestalt ihr gegen<strong>über</strong>.<br />

Doch Estella´s glänzende Augen, in denen silbrige Sternensplitter<br />

funkelten, waren ihr Antwort genug. Als wie klug es sich doch<br />

erwiesen hatte, <strong>der</strong> Prinzessin das Bildnis des Prinzen des Polarsterns<br />

zu zeigen!<br />

Mit großen Augen <strong>und</strong> weit geöffnetem M<strong>und</strong> hatte Estella das Porträt<br />

des hübschen Jünglings bew<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> war seitdem ihrer Mutter<br />

ständig in den Ohren gelegen, ihm einen Besuch abstatten zu dürfen.<br />

Und Selene´s diplomatische Verbindung zu dem König des Polarsterns<br />

hatte sich als erfolgreich verzeichnen lassen. Heute Abend fand<br />

ein großer Ball im Kristallpalast <strong>der</strong> Majestät statt. Endlich geschah<br />

es, dass Estella Arktur, dem Polarsternprinzen, vorgestellt werden<br />

würde, <strong>über</strong> den sie nur Gutes gehört hatte. Die Prinzessin kuschelte<br />

sich in ihren weichen, weißen Pelz, denn die Nacht war kühl, <strong>und</strong> im<br />

Reich des Polarsterns lag hoher Schnee <strong>und</strong> <strong>über</strong>all funkelten<br />

gefrorene Seen wie Eiskristalldiamanten. Aber es würden auch viele<br />

Eisfeuer im Palast lo<strong>der</strong>n, so dass sie nicht frieren musste, hatte man<br />

ihr versichert. Die Sternenprinzessin dachte lächelnd daran, dass ihr<br />

davor nicht bange war. Der Anblick Arkturs würde ihren Körper<br />

erwärmen <strong>und</strong> ihr Herz zum Schmelzen bringen. Und sie selbst<br />

würde mit ihrem Glockenspiel die Gäste <strong>der</strong> Nacht bezaubern, <strong>und</strong><br />

Estella war sich sicher, dass sie ihrem Instrument mit einer Anmut<br />

Töne entlocken würde wie niemals zuvor, weil sie sich unsterblich<br />

verliebt hatte <strong>und</strong> diese Liebe, so spürte sie, von dem Sternenprinzen<br />

erwi<strong>der</strong>t wurde.<br />

94


So hat sich denn also auch für die beiden Prinzessinnen in den Höhen<br />

letztlich alles noch zum Guten gewendet.<br />

Und auch auf <strong>der</strong> Insel Murma kehrte das Glück wie<strong>der</strong> ein, lebten<br />

die Menschen in den Dörfern <strong>und</strong> die Geschöpfe in Wald, Heide <strong>und</strong><br />

Dünen weiter in Harmonie <strong>und</strong> Frieden.<br />

Solltet ihr gerade dort weilen, fragt einfach die Bewohner <strong>der</strong> Inseldörfer<br />

Sössaarep <strong>und</strong> Noorsarep. Sie werden euch bekräftigen, dass<br />

all dies wirklich so geschah, aber am besten wissen es doch die<br />

Greise <strong>und</strong> die kleinen Kin<strong>der</strong>.<br />

Falls einige von euch allerdings den Wunsch verspüren, den<br />

Nixenteich zu betrachten, so werden sie vielleicht enttäuscht sein.<br />

Der Weiher, in dem die arme Nymphe Nereide so viele Jahre in Einsamkeit<br />

lebte, ist nämlich ausgetrocknet. Nur schwarzbrauner<br />

Schlamm bedeckt noch seinen Gr<strong>und</strong>. Hier <strong>und</strong> dort sprießt sogar<br />

zaghaftes Grün, will sich verwurzeln <strong>und</strong> festigen.<br />

In einigen Jahren wird <strong>der</strong> Boden mit einer dichten Pflanzendecke<br />

<strong>über</strong>wuchert sein <strong>und</strong> nichts wird mehr daran erinnern, dass dieser<br />

Ort einmal <strong>der</strong> Lebensraum einer verbannten Nixe war.<br />

Ihr aber kennt nun das Geheimnis Murmas, die Geschichte vom <strong>Sonnenglanz</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Sternenschimmer</strong> <strong>über</strong> <strong>der</strong> <strong>Heideinsel</strong>.<br />

Bewahrt es gut <strong>und</strong> sicher in euren Herzen auf <strong>und</strong> bedenkt, das<br />

wahrhaftige Leben ist voller Magie!<br />

95

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