Angst frisst Zukunft - Roman Schmidt LESEPROBE
Warum wir wieder mehr Preis auf den Wert legen müssen und warum die Corona-Krise für die Landwirtschaft Fluch und Segen ist. Gleich bestellen unter www.markenagentur.at/buch
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ROMAN SCHMIDT
ANGST
FRISST
ZUKUNFT
STREITSCHRIFT
LANDWIRTSCHAFT
Inhaltsverzeichnis
ANGST FRISST ZUKUNFT
Wir müssen das Geschenk einer
zukunftsfähigen Landwirtschaft entwickeln .........11
Wenn die Wertschätzung stirbt,
ist auch die Wertschöpfung tot ...............................12
Auf der Suche nach der Schuld geht
oft die Lösungsfähigkeit verloren ...........................18
Die Ohnmacht kann zur
Triebfeder des Wandels werden ..............................24
Die Veränderung in uns
bringt die Veränderung um uns .............................26
Erkenne, dass die eigene Siutation immer
die schwierigste ist und werde Teil der Lösung ......31
Das heutige Denken bestimmt unsere Zukunft,
das bisherige unsere Gegenwart ................................34
Jeder ausgegebene Euro ist
eine politische Entscheidung ..................................40
Die Division von Euro durch Kilogramm
zeigt den Philosophieanteil eines Produktes ..........47
ZUKUNFT HINTERM HORIZONT
Demut und Offenheit sind
die Basis der Zukunftsfähigkeit ..............................57
Weltretter oder Sündenbock?
Es liegt in unserer Hand ..........................................64
Keine Angst vor Zweiflern, denn
hinterm Horizont geht´s weiter ..............................66
Gelingende Landwirtschaft lebt von
Sinn, Gestaltungskraft und Verständnis ................69
Der Bannister-Effekt straft alle
Zweifler und Pessimisten Lügen .............................75
Der sechste Kondratieff ist die
große Chance der Landwirtschaft ..........................77
Jede Gemeinschaft kann ihre Welt aus
eigener Kraft zu einer besseren machen ................81
Achtloses Handeln ist ursächlich mit
der Vernichtung unserer Welt verbunden .............84
Die Potenzialentfaltung
am Acker ist möglich................................................90
Wenn wir nicht bereit sind,
uns zu ändern, werden wir verändert ....................94
Über unser tägliches Essen
entscheiden nicht wir allein.....................................99
Wer eine Impfpflicht fordert, muss
auch den Fleischverzicht fordern .........................101
CORONA - CHANCE ODER AUSREDE
Eine willkommene Ausrede,
die Hausaufgaben nicht zu machen?....................116
Warum könnte die Krise die größte Chance
für die Landwirtschaft sein? ..................................118
Das Zeitalter nach Corona als
Wendepunkt in der Landwirtschaft .....................121
10 Landwirtschaft - Angst frisst Zukunft
Teil 1
ANGST
FRISST
ZUKUNFT
Landwirtschaft
auf zu neuen Bildern
Wir müssen das Geschenk einer
zukunftsfähigen Landwirtschaft entwickeln.
Angst ist kein guter Ratgeber. Sie verengt den
Blick und behindert die Entwicklungsfähigkeit.
In von Menschen gestalteten Systemen, in denen der
Druck steigt, nimmt auch die Angst zu. Die Landwirtschaft
ist ein solches System.
Verrückt. Steht sie doch nicht am Ende einer großen
Entwicklung, sondern am Anfang. Nun müssen wir
das Geschenk einer zukunftsfähigen Landwirtschaft
nur noch „entwickeln“, also auswickeln. Einiges
werden wir zurücklassen. Doch mit offenem Herzzen
und weitem Verstand werden wir Neues, noch
Vielversprechenderes entdecken, Bewirtschaftungsweisen,
die bäuerliche Familien, ihre Betriebe und
unsere Gesellschaft ein Stück weit glücklicher und
zukunftsfähiger machen. Davon bin ich überzeugt!
Landwirtschaft - Angst frisst Zukunft
11
Wenn die Wertschätzung stirbt,
ist auch die Wertschöpfung tot.
Als Regionalentwickler beobachte und begleite
ich die Landwirtschaft seit über zwei Jahrzehnten.
Meine Erkenntnis: Sie hat sich in unterschiedliche
Richtungen entwickelt und das in unterschiedlichen
Geschwindigkeiten. Ich möchte diese Aussage
anhand zweier Extreme untermauern, anhand zweier
Pole, an denen sichtbar wird: Der Preis frisst die Philosophie,
frisst die Ethik, die Moral, frisst die Wertschätzung,
damit die Wertschöpfung und schließlich
die Zukunft der Landwirtschaft.
Da gibt es auf der einen Seite den Weinbau, der in
den vergangenen Jahrzehnten, ausgelöst vom Glykolskandal
Mitte der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts,
eine enorme Entwicklung genommen hat -
insbesondere regional. Für das Steirische Vulkanland,
meine Heimat, ist die Inwertsetzung des Weines zum
Sinnbild gelungener Regionalentwicklung geworden.
Der Wein wurde Teil der regionalen Identität. Die
übliche landwirtschaftliche Preisdiskontierung hat
dem beständigen Wert(e)aufbau nicht standgehalten.
Beim Wein schlägt die Philosophie den Preis. Niemand
käme auf die Idee, den Gästen beim gepflegten
Abendessen am Tisch einen Diskont-Tetrapak internationalen
Rotweins zu servieren. Das gehört sich
12 Landwirtschaft - Angst frisst Zukunft
nicht. Das entspricht nicht der gehobenen Weinkultur.
Anders beim Fleisch. Da ist der Diskont-Flächenbrand
bei Weitem nicht eingedämmt. Abholmärkte
und Rabatt-Aktionen buhlen um Kunden. Und man
ist nicht darum verlegen, das ergatterte Schnäppchen
im Rahmen der Grillerei mit Freunden publik zu machen.
So steht der „konventionelle“ Schweinebauer dem
Winzer diametral gegenüber. Größer, schneller, weiter
sind die Schlagworte, die diese Branche beschreiben.
Die Ställe wurden in den vergangenen Jahrzehnten
größer und damit industrieller (was vermutlich
der Hygieneführung durchaus zuträglich war und
ist, der natürlichen und artgerechten Herdengröße
aber wohl eher nicht). Die Mast wurde schneller. Sie
nahm an Geschwindigkeit zu. Stichwort: Das 100-Tage-Schwein
- vom Mastbeginn bis zur Schlachtung
- ist normal. Und die Transportwege werden weiter.
Das ist insbesondere auch den Konsumenten geschuldet,
die am liebsten nur die Edelteile kaufen.
Damit wird die Vermarktung der restlichen Stücke
auf der Suche nach Renditen zum weltweiten Spießrutenlauf.
Und der Preis? 3,99 Euro fürs Karree? Darf´s a bis-
Landwirtschaft - Angst frisst Zukunft
13
serl weniger sein? Im Gastroabholmarkt ist das zu
schaffen. Was ist mit der Herkunft? Die ist plötzlich
gar nicht mehr so wichtig! Selbst wenn sich auf der
Tiroler Schihütte das „hausgemachte“ Riesen-Schnitzerl
der 20-Euro-Marke nähert oder gar darüber hinausschießt,
soll die Herkunftsdiskussion die sonnige
Hüttengaudi nicht trüben - wenn doch schon der
Preis (wohl mehr als das Schnitzerl selbst) schwer im
Magen liegt.
Doch wer ist schuld? Der Konsument, der Wirt, der
Landwirt, der Handel, die Politik? Grundsätzlich eines
vorweg: Schuld sind immer die anderen oder das
System, wer immer das sein mag. Die eigene Rolle
wird meist als die des Opfers wahrgenommen.
Und damit wären wir auch schon beim Warum! Warum
schreibe ich dieses Buch? Schon länger spielte ich
mit dem Gedanken, Erfahrungen und Erkenntnisse
festzuhalten, als Impuls und für neue Bilder im Kopf.
Schließlich wurde mir ein Schweinebauer zum Impulsgeber
für dieses Buch. „Pfeif deine Frau zurück!“
war sein an sich gut gemeinter Rat an mich. Er spielte
auf die Aktivitäten meiner Frau in den sozialen Medien
an. Für sie wurde die vegane Ernährung Teil des
Weges aus einer schweren Erkrankung. Die regelmäßige
Lektüre der veganen Rezepte, die meine Frau als
qualitätsvolle und tierleidvermeidende Lebensweise
14 Landwirtschaft - Angst frisst Zukunft
anpries, resonierte bei besagtem Landwirt.
Zurückpfeifen? Wie der Jäger seinen Hund? Nein.
Das geht gar nicht! Da schwingt eine gehörige Portion
Angst mit. Der natürliche Reflex: Eindämmen,
stillschweigen, zudecken, möglichst keine Diskussion
- weder über bestehende Herausforderungen noch
mögliche Zukünfte, die in allen Teilen des Landes
und der Welt am Horizont wie das Morgenrot langsam
und beständig den Tag erhellen.
Es gibt zwei Motivationen für Veränderung: Liebe
und Angst. Wo Angst ist, ist keine Liebe. Wo Liebe
ist, ist niemals Angst. Wickeln wir eine Handlung bis
zum Kern aus, sprich „entwickeln“ wir sie, bleiben
Liebe oder Angst als Motivation übrig. Und Angst ist
das Ergebnis von Informationsdefizit, Perspektivenlosigkeit,
vielleicht einer Portion Ignoranz oder Visionsunfähigkeit
- vielleicht auch Visionsunwilligkeit.
Manchmal keimt das eigene Empfinden, dass etwas
Grundsätzliches nicht passt, bereits. Doch fällt das
Eingeständnis schwer, schließlich ist damit auch eine
innere und äußere Anstrengung, eine Veränderung,
verbunden.
Ist das Aufzeigen von Alternativen bereits eine unsägliche
Kritik? Wie viel Diskussion verträgt die
Landwirtschaft? Dürfen Missstände Einzelner auf-
Landwirtschaft - Angst frisst Zukunft
15
gezeigt werden. Darf man ein System hinterfragen?
Ist Kritisieren schlichtweg gemein - angesichts der
Tatsache, dass statistisch gesehen alleine im Bezirk
Südoststeiermark wöchentlich zumindest ein Betrieb
zusperrt?
Ich denke, die Antwort steckt bereits in der Frage.
Wir brauchen die Diskussion wie das tägliche Brot.
Bestehende Systeme weiter auszureizen, effizienter zu
gestalten und damit weiter zu beschleunigen, erhöht
die Aufprallgeschwindigkeit. Denn am Ende des eingefahrenen
Weges steht eine massive Stahlbetonwand
- als Metapher eines überfälligen Paradigmenwechsels.
Je höher die Geschwindigkeit und je geringer
der Richtungswechsel, desto schmerzhafter oder gar
lebensbedrohlicher wird der Aufprall für die Landwirtschaft
und damit für viele Landwirte!
Wir - und damit meine ich alle, die mit Landwirtschaft
im engeren oder weiteren Sinne zu tun haben
- waren über Jahrzehnte zu wenig kritisch, zu verhalten,
zu konservierend, vielleicht auch zu höflich. Wir
nahmen der Landwirtschaft damit den Entwicklungsspielraum.
Mit hinterfragenswürdigen Förderungen
wurden und werden bestehende Systeme am Leben
gehalten. Zukunftsfähige, dem Nachhaltigkeits- oder
betriebswirtschaftlich Going-Concern-Prinzip, das
alle Entscheidungen am gedeihlichen Fortbestand
ausrichtet, entsprechende Landwirtschaft wurde den
16 Landwirtschaft - Angst frisst Zukunft
Bauern buchstäblich aberzogen. Selbst überlieferte
Grundprinzipien - wie etwa die Fruchtfolge - wurde
der Effizienzsteigerung geopfert.
Daher: Ja, Kritik ist erlaubt. Aber sie bleibt ein Spagat.
Auf der einen Seite steht der angsterfüllte Bauer
- der um seine Zukunft bangt, um die Hofnachfolge,
die Wirtschaftlichkeit, der schlichtweg um seine
Existenz fürchtet.
Auf der anderen Seite wächst die Zahl der idealistischen
Weltverbesserer, die einen radikalen Kulturwandel
verlangen und bereit sind, Dogmen über
Bord zu werfen. Zwei fundamentale Standpunkte, die
in der Diskussion auf beiden Seiten zu Verletzungen
führen.
Verständnis, Empathie und Weitblick sind die Zutaten
einer gelingenden, vor allem bereichernden
Diskussion. Dabei sollte nicht die Schuldfrage im
Vordergrund stehen, sondern die Frage nach der Verantwortung.
Und wie das Wort schon mitschwingen
lässt: Das führt zu dringend notwendigen Antworten
auf unliebsame, vielleicht sogar bislang ungestellte
Fragen.
Dabei kann sich niemand aus der Verantwortung
stehlen. Die ganze Kette von der Urproduktion über
die Veredelung, den Handel bis hin zum Konsumenten
ist gefragt und gefordert.
Landwirtschaft - Angst frisst Zukunft
17
Auf der Suche nach der Schuld geht
oft die Lösungsfähigkeit verloren.
Nochmals zurück zur Frage: Wer ist schuld? Die
kürzeste Antwort lautet: Die anderen! Nie man
selbst. Der Mathematiklehrer ist daran schuld, dass
ich die Differentialrechnung nie wirklich kapiert
habe. Die Banken sind daran schuld, dass die Welt
in wirtschaftliche Schwierigkeiten geschlittert ist. Die
Asylanten sind daran schuld, dass unser Land unsicherer
geworden ist. Die Nachbarn sind daran schuld,
dass ich nicht ungestört leben kann. Der Bürgermeister
ist daran schuld, dass in der Gemeinde nichts weitergeht.
Es lässt sich in jeder Lebenslage ein Schuldiger
finden. Kirche, Politik, Schulen, Kammern, Ärzte,
Chefs, der eigene Partner - die Liste ließe sich munter
weiterführen.
Und dann wäre da noch die Zeit. Wir leben in der
falschen Zeit. Früher war alles viel einfacher! Gerne
reden wir von der guten alten Zeit. War sie wirklich
so gut? Ich denke, wohl nicht. Doch im Rückspiegel
schaut die zurückgelegte Strecke einfach und vertraut
aus. Die Energie folgt der Aufmerksamkeit. Zuviel
Aufmerksamkeit für die Vergangenheit, der Blick
zu stark am Rückspiegel hängend, verheißt für die
Zukunft nichts Gutes. Da ist ein Unfall vorprogrammiert.
18 Landwirtschaft - Angst frisst Zukunft
Außerdem gilt es eines zu bedenken: Es wird die Zeit
kommen, in der die Enkel in der sich erst entwickelnden
Zukunft mit Blick auf das Heute feststellen werden:
„Früher war alles viel einfacher. Warum habt ihr
damals nicht die richtigen Entscheidungen getroffen?
Warum habt ihr aus dieser goldenen Zeit nichts oder
nicht viel mehr gemacht?“
Auch die Landwirtschaft wird sich solche und ähnliche
Fragen gefallen lassen müssen. John Naisbitt,
der große US-amerikanische Zukunftsforscher, attestierte
einst: Die großen Trends dieser Welt entstehen
in den kleinen Dörfern und Regionen. Das gilt auch
für die Landwirtschaft und ihre Möglichkeitsräume.
Es sind oft wenige Ar, auf denen große Zukünfte das
Licht der Welt erblicken. Und es sind oft unbedachte
Worte, die sie zunichte machen.
Vor nicht allzulanger Zeit referierte ich vor dem
Lehrerkollegium einer landwirtschaftlichen Fachschule
über die positive Kraft der Gedanken. Daraufhin
berichtete der Direktor euphorisch von einem
jungen Mann, der mit wenigen Hektar Dinkel und
der Anschaffung einer kleinen Mühle für die Dinkelmehlproduktion
exzellente Wertschöpfung erzielte.
Der vernichtende Kommentar eines noch jungen
Fachlehrers: „Den wird die Realität auch noch einholen.“
Ich entgegnete erzürnt: „Hoffentlich nicht
Landwirtschaft - Angst frisst Zukunft
19
deine.“ Es gibt unterschiedliche Realitäten. Während
der eine auf geringer Fläche ein veritables Familieneinkommen
erwirtschaftet, findet manch konventioneller
Großbauer in seiner Wirklichkeit kaum ein
Auskommen. Verrückt? Ja, verrückt! Eben nicht normal.
„Konventionell“ steht für Standardisierung und
damit einen Prozess des „Endphilosophierens“. Standardisierte
Prozesse finden weniger Beachtung und
werden damit weniger geachtet. Die Wertschätzung
sinkt und mit ihr die Wertschöpfung. Standardisierung
steht aber auch für den Fokus auf die Effizienzsteigerung.
Und die Effizienzsteigerung wiederum ist
auf der ständigen Suche nach auszumerzenden Mängeln.
Unsere ganze Aufmerksamkeit liegt beim Mangel,
beim Defizit. Ein kleines Beispiel gefällig? Nehmen
wir an, Sie sitzen in der Schule und auf der Tafel stehen
vier Gleichungen:
14+4=18
7+8=15
9+3=13
17+2=19
Was fällt Ihnen auf? Genau, eine der Gleichungen
ist falsch! Selten lautet die Antwort: 75 Prozent der
Rechnungen sind richtig! Unser Schulsystem ver-
20 Landwirtschaft - Angst frisst Zukunft
sucht eben Mängel auszumerzen und damit sucht es
sie. In die Schwäche wird die meiste Energie investiert.
Für die Stärken bleibt kaum Zeit. Die Energie
folgt der Aufmerksamkeit. Die Freude schwindet -
auch daran, die Stärken zu stärken. Am Ende steht
ein angepasster, normaler Erwachsener - ohne Kontur
oder besondere Fähigkeit. Aber dafür kann er im
besten Fall rechtschreiben, die Grundrechnungsarten
und kennt alle Länder und Hauptstädte Afrikas.
Unser Mangelbewusstsein vereitelt uns ein glückliches
Leben. Dazu eine Behauptung: Nicht die glücklichen
Menschen sind zufrieden, sondern die zufriedenen
Menschen sind glücklich! Und ergänzend eine
weitere Vermutung, die Managementtrainers Dieter
Lange in einem Vortrag in den Raum stellte und
mich nachdenklich zurückließ: Des Glückes Tod ist
der Vergleich.
In einer Welt, in der wir uns alle auf die Suche nach
den Fehlern machen, wird Verantwortungsübernahme
zunehmend unattraktiver. Und so passiert es,
dass nicht die Fähigsten verantwortungsvolle Positionen
anstreben, nicht jene Menschen mit unbändigem
Gestaltungswillen und innerem Anliegen in die Politik
gehen. Politiker werden nicht mehr vorrangig für
das Gelingende gewählt, sondern für das (vielleicht
sogar wenige) populär Misslungene abgewählt. Sie
Landwirtschaft - Angst frisst Zukunft
21
werden nicht für die Gestaltung und Inspiration neuer
Zukünfte gewählt, sondern für die Nichtberücksichtigung
von Einzelinteressen abgewählt.
Wieder gilt: Der Fokus liegt auf dem Mangel. So
scheint es sich für Politiker sogar zu empfehlen, sich
ruhig zu verhalten, zumal nicht die größte Leistung,
sondern vielmehr das Vermeiden von Fehlern belohnt
wird. Politik, die den Wandel will, die Veränderung
anstrebt, ist unbequem. Dazu muss man wissen,
dass die Gewohnheit der wohl stärkste Klebstoff der
Welt ist. Alle wollen die Veränderung. Doch niemand
will sich verändern. Und so ist die kraftvollste Politik
die unbequemste.
So stand in den vergangenen Jahrzehnten mehr die
Effizienzsteigerung als die Neuinterpretation der
Landwirtschaft im Fokus aller Entscheidungen.
Evolutionäre Babyschritte statt revolutionäre Veränderungen,
das war die Devise. Und selbst dieses
Attest scheint schöngefärbt. Schließlich suggeriert
die evolutionäre Weiterentwicklung eine bessere Anpassungsfähigkeit.
Wenn ich mir die aktuelle Landwirtschaft
anschaue, so sehe ich in den bestimmenden
Bereichen wenig Flexibilität, wenig entwickelte
evolutionäre Anpassungsfähigkeit. Da wird um Quadratzentimeter,
Prozente und Cent gestritten, statt
Mut zu beweisen - mit dem Ergebnis, dass Laien den
22 Landwirtschaft - Angst frisst Zukunft
Bauern in allen vermeintlichen Kompetenzbereichen
eine Diskussion entfachen, vom Ackerbau über neue
Kulturen, innovative Kulturführung bis hin zur Tierhaltung.
Glyphosat, Tierleid, Klimaschädigung und
Co. bestimmen die Medien. Die Landwirtschaft hat
die Kommunikationsmacht längst aus der Hand gegeben.
Es sind die Konsumenten, die nun die Kauf-,
Informations- und Kommunikationsmacht in sich
vereinen.
Und bei all dem stellt sich allzu oft die Frage nach
der Schuld. Und genau da liegt das Problem. Was
hilft es, einen Schuldigen auszumachen. Damit ist
die Herausforderung nicht gemeistert. Im besten Fall
hat man die eigene Unschuld bewiesen und damit die
Legitimation dafür geschaffen, weiterhin das eigene
arme Ich zu nähren.
Vielmehr würde es Sinn machen, analysefähig zu
werden, sich über das weite Feld der Sorgen und Nöte
zu erheben, die Ist-Situation nicht zu verurteilen,
sondern wertfrei zu hinterfragen und ein Bild der
Zukunft zu skizzieren. Das braucht richtig viel Mut.
Doch gegenwärtig torkelt die Landwirtschaft ohne
Rezept, nahe an der Ohnmacht, von Krise zu Krise.
Ich bin davon überzeugt: Der Weg aus der Ohnmacht
hin zur Ermächtigung lohnt sich.
Landwirtschaft - Angst frisst Zukunft
23
Über unser tägliches Essen
entscheiden nicht wir allein.
Abschließend ein Gewissensappell: Wir sind
verantwortlich. Jeder von uns und das uneingeschränkt.
Niemand hat das Recht, seine Verantwortung
abzugeben, egal ob im Beichtstuhl, an der
Wahlurne oder an der Supermarktkasse. Es ist unsere
Verpflichtung, die richtigen Fragen zu stellen.
Es ist unsere gesellschaftliche Verantwortung, die
Zahlen auf den Tisch zu legen, die Wirkung unterschiedlicher
Systeme, Prozesse und Produkte offen
und unvoreingenommen zu diskutieren und - wenn
nötig - unbequeme Entscheidungen zu treffen. Was
Sie zuhause im Kühlschrank haben, in Ihrer Küche
zubereiten, in Ihrem Esszimmer oder während der
sommerlichen Grillerei genießen, geht alle etwas an.
Zugegeben, wenn ich diese Zeilen schreibe, erscheinen
sie mir verrückt. Ich kann doch essen, was ich
will? Eigentlich nicht! Es ist höchst an der Zeit, die
externen Effekte unseres Essens in das im Supermarktregal
liegende Produkt einzurechnen. Externe
Effekte beschreiben all die Auswirkungen, die mit
diesem Produkt - von uns oft unbemerkt - in Verbindung
stehen. Jedes wirtschaftliche Handeln verursacht
nicht eingerechnete externe Effekte - nicht
nur die Nahrung, sondern jedes Produkt und jede
Landwirtschaft - Zukunft hinterm Horizont
99
Dienstleistung. Zu viele Lebensmittel sind mitverantwortlich
für die Vernichtung von Ökosystemen, wenig
nachhaltigen Energieverbrauch, das Aussterben
unzähliger Tierarten und das Leid von Menschen.
Impfgegnern wird gerne vorgeworfen, dass sie durch
ihr Handeln die Herdenimmunität gefährden. Dieser
Argumentation folgend muss man den unachtsamen
Konsumenten vorwerfen, dass sie durch ihr Handeln
der Allgemeinheit das Leben, ja vielleicht sogar das
Überleben, auf dem Planeten erschweren, mit ihrem
Konsumverhalten etwa antibiotikaresistente Keime
begünstigen. Die traurige Gewissheit: Die Fleischernährung
löst nicht nur Tierleid und Klimawandel
aus, sie erhöht auch die Gefahr der Antibiotikarestistenz
bzw. superresistenter Bakterien. Dazu kommt
noch: Je billiger das Fleisch, desto größer tendenziell
die Herde, desto wahrscheinlicher intensive Antibiotikagaben.
Hier zeigt sich, wie stark die Ernährung
nicht nur die individuelle Gesundheit des Einzelnen
betrifft, sondern Einfluss auf die Gesamtheit der Gesellschaft
hat.
Und da ist die Gesundheit nur ein Aspekt. Massiver
Fleischkonsum in Österreich ist mitverantwortlich
für Regenwaldrodungen in Südamerika. Damit
scheint die Aussage „ich esse täglich mein Schnitzerl“
klagbar, weil bilanziell betrachtet aufgrund dieses
rücksichtslosen Vorgehens andere öfter auf ihr
100 Landwirtschaft - Zukunft hinterm Horizont
Schnitzerl verzichten müssen, um kostenschonende
Sojaimporte aus den Katastrophengebieten reduzieren
zu können. Außerdem gilt: Wer vom „Nutztier“
(was für ein würdeloses Wort) nur die besten Teile
zum billigsten Preis will, löst eine Welle von energieraubenden
Prozessen aus, um die in Europa kaum
verkaufbaren Stücke im Markt unterzubringen - etwa
in Asien.
Bedenklich ist allerdings auf der anderen Seite auch
der Griff zu veganen Ersatzprodukten, die durch
negative Effekte der Mobilität, unverhältnismäßige
Verpackung oder etwa den Palmöleinsatz direkt und
indirekt Tierleid oder Klimaschädigung verursachen.
Die Welt ist nicht schwarz-weiß, sondern verlangt
viel Aufmerksamkeit und Achtsamkeit.
Wer eine Impfpflicht fordert, muss
auch den Fleischverzicht fordern.
Wer demnach die Impfpflicht fordert, um die
Herde nicht zu gefährden, muss in Analogie
auch den Fleischverzicht fordern, um die langfristige
Existenz der Menschheit abzusichern und superresistenten
Keimen vorzubeugen. Auch wenn es verrückt
klingt. Die Realität zeigt, wie nötig wir eine radikale
(Essens-) Gewohnheitsänderung haben. Corona-Vi-
Landwirtschaft - Zukunft hinterm Horizont
101
rus, Ebola oder etwa die Vogelgrippe sind sogenannte
Zoonosen, die insbesondere durch die intensive Mast
bzw. Zucht auf den Menschen übertragen werden
und wurden. Die aktuelle Dramatik und Hysterie um
die Pandemie von COVID-19, das Corona-Virus,
zeigt dramatisch, wie das Essverhalten zur Gefahr
für die Menschheit werden kann. Sie zeigt aber auch,
wie verheerend die Bedingungen sind, unter denen
das vermeintliche Aktionsschnitzerl produziert wird.
In den großen Schlachthäusern unseres Kontinents
sollte nicht nur das (vorgelagerte) Tierleid diskutiert
werden, sondern auch das unsägliche Menschenleid,
das mit der Würde- und Wertlosigkeit im Produktionsprozess
einhergeht. Das Corona-Virus zeigt die
Schwächen, auch bei der „Grundversorgung“ mit
Erntehelfern, schonungslos auf.
Das Essverhalten wird zur Gefahr für die Menschheit?
Ja, schön und gut, werden manche meinen: Das
Problem sind doch die Chinesen, mit ihrem Hang
zum Verzehr von allem, was kreucht und fleucht.
Die essen sogar Fledermäuse. Das ist doch abartig.
Das gehört sich nicht. Nun ja, mag sein, dass Europäer
das so sehen. Gleichzeitig gebe ich zu bedenken,
dass Hindus wohl das Grauen aufsteigt, wenn beim
mitteleuropäischen Familiengrillen ein saftiges Rindsteak
auf dem Rost landet. Und Muslime hinter der
Fleischtheke österreichischer Supermärkte, was im-
102 Landwirtschaft - Zukunft hinterm Horizont
mer öfter der Fall ist, weil diesen Job Österreicher oft
gar nicht mehr bevorzugen, muss man wohl kaum
nach der geschmacklichen Qualität von ausgewähltem
Schweinefleisch fragen. Sie haben in strengen
Fällen noch nie eines gegessen.
Massentierhaltung ist neben dem exotischen Jagdund
Wildtierhandel mit ein Problem. Nicht nur antibiotikaresistente
Keime, sondern auch die sprunghafte
Entwicklung neuer Krankheiten stehen damitin
Verbindung. Die hohen Besatzdichten fördern Viren
in ihrer Entstehung. Corona ist erst der Anfang. Industrielle
Tierproduktion öffnet damit nicht nur der
Entwertung der Landwirtschaft Tür und Tor, sondern
insbesondere auch der Entwürdigung des Lebens.
Dass ausgerechnet die abnehmende Empathie zur
zunehmenden Gefahr für Leib und Leben wird, ist
eine Ironie der Natur.
Auch wenn es weh tut: Wenn das Leben auf dieser
Erde gelingen soll, ist es höchst an der Zeit, das eigene
Konsumverhalten radikal zu wandeln. Wenn wir
auf dieser Erde weiter existieren wollen, werden wir
unsere Ernährung auf flächenschonend, humusaufbauend,
tierleidvermeidend und umweltschützend
umstellen müssen. Was in unseren Kühlschränken
auf den Verzehr wartet, ist nicht mehr nur unsere
Entscheidung. Unsere Kinder und Enkelkinder ent-
Landwirtschaft - Zukunft hinterm Horizont
103
scheiden mit, selbst wenn sie noch gar nicht geboren
wurden. Und das gilt für jede andere Konsumentscheidung
ganz gleich, egal ob Bekleidung, Mobilität,
Freizeit, Sport oder Arbeit.
Nachhaltig essen muss nicht Verzicht bedeuten.
Ganz im Gegenteil. Wenn wir es wollen, stehen wir
davor, eine neue Stufe der Ernährung zu erklimmen,
auf der das Essen Teil einer gelingenden Welt wird,
vergleichbar mit der Mobilität, die an der Schwelle
steht, neu gedacht zu werden. Da sind Elektro-Mobilität
und erste vegane Convenience-Produkte „nur“
Zwischenschritte. Aber die braucht es, um aus alteingefahrenen,
allzu bequemen, lange Zeit kaum hinterfragten
Systemen auszubrechen. Ganz so, wie es
Roger Bannister in seinem Setting getan hat. Wenn
wir all den kleinen oder größeren aufkeimenden
Entwicklungen viel Potenzial zur Entfaltung lassen,
werden wir besser, gesünder und weltrettender denn
je essen und leben. Und es wird so köstlich munden
und so wohltuend sein, dass wir mit Freude und ohne
Reue genießen und dabei zumindest keine irreversiblen
Schäden anrichten.
Und wenn Ihnen Populisten erklären: Was können
wir schon tun, wenn China und die USA doch ein
Vielfaches der Klimabelastung und des Ressourcendrucks
verursachen? Dann lade ich Sie ein, klar
Stellung zu beziehen. Ist nicht die Umweltdramatik
104 Landwirtschaft - Zukunft hinterm Horizont
Chinas auch ein externer Effekt unserer europäischen
Konsumgesellschaft. Haben wir nicht einen wesentlichen
Teil unseres Konsums ausgelagert, an jene, die
wir jetzt verteufeln? Schauen Sie aufs Etikett - in Ihrer
Kleidung, auf Ihrem elektronischen Gerät oder auf so
manch vermeintlich hochwertigem Lebensmittel.
Und: Es geht nicht darum, wie klein unser Beitrag zum
Gelingen ist. Es geht vielmehr darum, wie kraftvoll
wir unsere Zukunftsfähigkeit vorantreiben. All die gewonnenen
Erkenntnisse dürfen gerne in Patente, Unternehmensideen,
Forschungsdienstleistung und Co.
münden, die wir dann den Chinesen und den Amerikanern
gerne gegen Entgelt anbieten können. Vielleicht
schaffen wir sogar eine Vorbildwirkung für die
großen CO 2 -Emittenten? Vielleicht werden wir zum
Impulsgeber, zum guten Beispiel für andere, den eigenen
Weg zu überdenken und eine Stufe zu überspringen,
hin zu mehr Lebensqualität bei weniger Druck
auf die Lebenssysteme der Erde? Das gilt auch für die
Landwirtschaft der großen, bevölkerungsreichen Nationen.
Dass China, Indien und viele andere Länder
Hunger auf Wohlstand und Lebensstandard haben,
kann man ihnen kaum verdenken. Zu lange wurden
sie insbesondere von Europa unten gehalten, um dem
unermesslichen Wohlstand in unseren Breiten nicht
gefährlich zu werden. Hoffen wir darauf, dass wir große
Lösungen für eine gelingende Welt finden und die
ehemals Unterdrückten daran interessiert sind. Denn
Landwirtschaft - Zukunft hinterm Horizont
105
wenn der Rest der Welt so leben will, wie 500 Millionen
Europäer heute leben, geht uns die Erde aus.
Dann haben wir zu viele Menschen für zu wenig Welt.
Hinterm Horizont der konventionellen Landwirtschaft,
deren Image erodiert, wartet eine Welt, in der
die Landwirte zu den angesehensten Mitgliedern unserer
Gesellschaft zählen. So wie es einmal war. Doch
bis es so wird, wie es einmal war, muss alles anders
werden. Möge die Landwirtschaft das ihr innewohnende
Potenzial entfalten, ohne dabei die Schöpfung
zu verraten, ist sie doch der größte Potenzialträger
dieser Welt.
106 Landwirtschaft - Zukunft hinterm Horizont
Warum wir wieder mehr Preis auf den
Wert legen müssen und warum die
Corona-Krise für die Landwirtschaft
Fluch und Segen ist.
ISBN 978-3-200-06904-6
9 783200 069046