Gewissen befreien. Haltung zeigen. Gott Vertrauen.
Luther vor dem Reichstag Das Themenheft zum 500. Jubiläum * 1521–2021 EKD Evangelische Kirche in Deutschland
Luther vor dem Reichstag
Das Themenheft zum 500. Jubiläum * 1521–2021
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durch <strong>Gott</strong>es Wirken verheißen ist. Das bedeutet<br />
jedoch, unsere Geschichte aus einem neuen Blickwinkel<br />
zu erzählen: begründet in ökumenischen<br />
Erkenntnissen und geprägt von einer globalen<br />
Perspektive, die die Kirchen auf ihrem Weg zu noch<br />
tieferer Einheit anspornt.<br />
„Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ (VKZG)<br />
stellt in einer unmissverständlichen Eindeutigkeit<br />
fest: „Die ökumenische Bewegung hat der<br />
Wahrnehmung der Reformation in den Kirchen<br />
eine neue Orientierung gegeben: Ökumenische<br />
Theologen haben sich entschlossen, ihre<br />
konfessionelle Selbstbehauptung<br />
nicht auf Kosten ihrer Dialogpartner<br />
zu betreiben, sondern<br />
vielmehr nach dem zu suchen,<br />
was in den Unterschieden, ja<br />
sogar in den Gegensätzen<br />
gemeinsam ist, um so auf<br />
die Überwindung kirchentrennender<br />
Unterschiede<br />
hinzuarbeiten.“ (§ 17)<br />
Die Zeit vor 500 Jahren war<br />
geprägt von theologischer Kreativität<br />
und starken Spannungen, von Missverständnissen<br />
und Spaltung. Wenn wir uns heute an dieses<br />
Jahrzehnt erinnern, soll unser Blick nicht von Spaltung<br />
geprägt sein, sondern von Einheit. Wie die<br />
Lutherwissenschaft und -forschung in den vergangenen<br />
Jahrzehnten gezeigt hat, sind die Grundlagen<br />
von Luthers Gedankengut nicht zu trennen von seiner<br />
mittelalterlichen Erziehung und der damaligen<br />
religiösen Bildung. Darstellungen einer von den Ereignissen<br />
überholten, und insgesamt rückständigen<br />
mittelalterlichen Vergangenheit, die durch das Handeln<br />
Luthers zu Licht und Freiheit geführt worden<br />
seien, gelten inzwischen ebenfalls als überholt.<br />
Stattdessen setzt sich die unbestreitbare Erkenntnis<br />
durch, dass jedes Zeitalter von Licht und<br />
Schatten geprägt ist. Katholikinnen und Katholiken<br />
haben die Gelegenheit, Luther als „ernsten, religiösen<br />
Menschen und gewissenhaften Mann des Gebets”<br />
(VKZD, § 22) zu sehen, der Reformen anstrebte.<br />
Lutheranerinnen und Lutheraner sind eingeladen,<br />
das Katholische in Luthers Gedankenwelt zu erforschen<br />
und ihre tiefe Verwurzelung in den theologischen<br />
Systemen und Strukturen seiner Zeit.<br />
2.<br />
Der Reichstag zu Worms und die Exkommunikation<br />
Luthers stellen komplexe Ereignisse<br />
dar. Wenn man sie aus dieser<br />
neuen Perspektive heraus betrachtet, entgeht man<br />
der Versuchung Heldenverehrung zu betreiben, zu<br />
welcher das historische Ereignis, und dabei insbesondere<br />
die angebliche Aussage Luthers „Hier stehe<br />
ich. Ich kann nicht anders!“, immer wieder verleitet<br />
haben.<br />
Vor weniger als einem Jahr haben der Päpstliche<br />
Rat zur Förderung der Einheit der Christen<br />
(PCPCU) und der LWB eine gemeinsame Arbeitsgruppe<br />
von Theologinnen und Theologen und<br />
Historikerinnen und Historikern eingesetzt, um<br />
die Komplexität dieses historischen Moments zu<br />
untersuchen. Obschon ihre Arbeit noch nicht abgeschlossen<br />
ist, stellen sich schon jetzt die<br />
Ereignisse des Jahres 1521 sehr viel<br />
nuancierter dar.<br />
Ich möchte nur ein Beispiel<br />
nennen: Dank der Lutherforschung<br />
wird die <strong>Gewissen</strong>sfrage<br />
in einem neuen Licht<br />
gesehen. Obwohl Luthers<br />
Berufung auf sein <strong>Gewissen</strong>,<br />
auf die Freiheit seines <strong>Gewissen</strong>s<br />
und seine <strong>Gewissen</strong>sbindung<br />
an <strong>Gott</strong>es Wort immer<br />
als Moment des Widerstands und als<br />
Durchbruch zur Moderne gepriesen wurden,<br />
hat die Wissenschaft mittlerweile nachweisen können,<br />
dass das Verständnis eines gebundenen <strong>Gewissen</strong>s<br />
bereits im Gedankengut des Mittelalters<br />
bekannt und anerkannt war.<br />
3.<br />
Wenn wir heute des Reichstags zu<br />
Worms im Jahr 1521 gedenken, wollen<br />
wir uns auch an die Worte zur Eröffnung<br />
des Gemeinsamen Reformationsgottesdienstes<br />
in Lund erinnern. Sie stammen aus 1. Korinther<br />
12,16: „‚Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle<br />
Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen<br />
sich alle anderen mit ihm.‘ Was ein Glied des Leibes<br />
betrifft, betrifft auch alle anderen. Wenn also die<br />
evangelischen Christen der Ereignisse gedenken,<br />
die zu der besonderen Gestalt ihrer Kirchen geführt<br />
haben, möchten sie das nicht ohne ihre<br />
katholischen Mitchristen tun. Indem sie miteinander<br />
des Reformationsbeginns gedenken, nehmen sie<br />
ihre Taufe ernst.“ (VKZG, § 221)<br />
Unsere Taufe ernst zu nehmen bedeutet, die<br />
mächtige, prophetische Verheißung von Heilung<br />
und Einheit in unserer verwundeten Welt zu verkörpern.<br />
Angesichts der Polarisierungen in unserer<br />
Welt, die zerrissen ist von all den entfesselten Fliehkräften,<br />
die sie zu erfassen scheinen, wollen wir auf<br />
die zentripetal wirkende, also auf die zusammenführende<br />
Kraft der Taufe vertrauen. Die Taufe führt<br />
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