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Als Max aufhörte zu sprechen

15.02.2021 - ZEIT Als Max aufhörte zu sprechen Max ist sieben Jahre, als er plötzlich nicht mehr redet. Er lebt mit Mutismus, bringt aus Angst kein Wort mehr hervor. Nun ist er 17 – und spricht über sein Schweigen.. Max und seine Therapeutin Anke Krabbe werden bei unserer Mutismus-Tagung am 19.06.2021 zu Gast sein. Mehr Infos dazu hier: https://www.mutismus.de/die-naechste-tagung

15.02.2021 - ZEIT
Als Max aufhörte zu sprechen
Max ist sieben Jahre, als er plötzlich nicht mehr redet. Er lebt mit Mutismus, bringt aus Angst kein Wort mehr hervor. Nun ist er 17 – und spricht über sein Schweigen..
Max und seine Therapeutin Anke Krabbe werden bei unserer Mutismus-Tagung am 19.06.2021 zu Gast sein.
Mehr Infos dazu hier: https://www.mutismus.de/die-naechste-tagung

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16.2.2021 Mutismus: Als Max aufhörte zu sprechen | ze.tt

Mutismus

Als Max aufhörte zu sprechen

Max ist sieben Jahre, als er plötzlich nicht mehr redet. Er lebt mit Mutismus,

bringt aus Angst kein Wort mehr hervor. Nun ist er 17 – und spricht über sein

Schweigen.

Von Carolin Rückl und Cora Wucherer | 15. Februar 2021, 20:06 Uhr

An Heiligabend 2010 hört Max Kamp auf zu sprechen. Der Siebenjährige steht morgens

nicht auf, redet nicht mit seinem kleinen Bruder Theo. Der versteht nicht, warum Max

nichts sagt, und rennt zu seinen Eltern. Die Mutter Susanne Kamp ist selbst noch zu

müde, um zu reden. Der Tag schreitet voran, ohne ein Wort von Max. "Ich weine, weil

ich mit keinem mehr reden kann", schreibt er nach einigen Stunden auf einen Zettel an

seine Eltern. Schreiben kann Max schon seit dem Kindergarten. Seine Eltern sind

beunruhigt. Sie wandern zwischen der Küche und dem Wohnzimmer hin und her: In

der Küche besprechen sie das Schweigen von Max, im Wohnzimmer vor den Kindern

tun sie so, als sei alles ganz normal. Ihre Versuche, Max zum Sprechen zu bringen,

scheitern.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag wissen sich die Eltern nicht mehr zu helfen. Die Familie

fährt zur psychologischen Ambulanz, die den Jungen stationär aufnehmen will. Für

mehrere Monate. Mit Kontaktsperre. Susanne Kamp weigert sich, ihren Sohn an die

Ärzt*innen zu übergeben. Sie will ihn nicht allein lassen. Die Familie kehrt zurück in ihre

Wohnung in Berlin. Aber Max spricht nicht, nicht in den nächsten Tagen, nicht im

neuen Jahr. Der Verdacht wird nach einigen Wochen zur Diagnose: Max ist mutistisch.

Die Angst vor dem Sprechen

Mutistische Kinder haben altersgemäß sprechen gelernt, kommunizieren aber oft nur

mit Eltern oder Geschwistern verbal. Vor anderen Erwachsenen, im Kindergarten oder

in der Schule schweigen sie. Situationen außerhalb ihres privaten Umfelds nehmen sie

als zu bedrohlich wahr, um zu reden. Sie sind blockiert, obwohl sie physisch zum

Sprechen in der Lage wären. Expert*innen bezeichnen das als selektiven Mutismus.

Als Kleinkind hat Max noch altersgemäß geredet. Erst im Kindergarten wurde er immer

stiller. Von den Eltern getrennt sein, Zeit mit fremden Menschen verbringen, alles

machte Max Angst. Trotzdem fuhr er mit drei Jahren auf eine Kindergartenfahrt. Ein

Fehler, meinen die Eltern rückblickend. Aber damals fuhren alle Kinder mit, also auch

Max – obwohl er nicht wollte. "Das würde ich heute nicht mehr machen", sagt Susanne

Kamp. "Aber damals war ich noch nicht so selbstsicher. Ich habe mich von den anderen

Eltern, die ihre Kinder mitschickten, unter Druck gesetzt gefühlt."


Nach der Kindergartenfahrt sprach Max kaum mehr, wurde von anderen Kindern

"stummer Fisch" genannt. Susanne Kamp nahm sich vor, ihr Kind nicht mehr unter

Druck setzen zu wollen. Sie zwang ihn nicht mehr dazu, Dinge zu tun, die ihm Angst

machten, wie allein wegzufahren. "Mein Kind soll glücklich sein. Er muss nicht so sein,

wie die Gesellschaft ihn haben will", sagt Susanne Kamp. "Mir war nicht wichtig, ob er

viel spricht."

Seltene Krankheit, gefährliche Folgen

Mutismus gilt laut der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft als relativ seltene

Erkrankung, die vor allem bei jüngeren Kindern auftritt. Je nach Studie leben zwei von

100 Kindern oder aber zwei von 10.000 Kindern mit angstbedingtem Schweigen.

Mutismus ist in der Gesellschaft weitgehend unbekannt.

Genau das macht die Krankheit so gefährlich: Bleibt sie unbehandelt, kann sie zu

weiteren psychischen Erkrankungen wie Zwangsstörungen, Sozialphobien oder

Depressionen führen, sagen Expert*innen. Einige mutistische Menschen errichten

durch ihr Schweigen eine Mauer um sich, die den Kontakt zu anderen Menschen

erschwert und sie vollständig isolieren kann. So werden Mutist*innen anfälliger für

andere psychische Erkrankungen.

Auch das Suizidrisiko steige, sagt Petra Frießnegg, die zweite Vorsitzende des Vereins

Mutismus Selbsthilfe Deutschland. Die Logopädin behandelt selbst Mutist*innen. "Die

Chancen auf eine erfolgreiche Therapie sind wesentlich höher, wenn man früh damit

beginnt. Dank der sozialen Medien ist außerdem das Suizidrisiko nicht mehr so hoch

wie früher, als es diese Art der schriftlichen Kommunikation noch nicht gab", sagt

Frießnegg. Denn auf Social Media haben Mutist*innen die Möglichkeit, sich auf viele

Arten auszudrücken, ohne ihre Stimme benutzen zu müssen. So können sie sich ohne

Hürden mit anderen Menschen, auch Mutist*innen, austauschen.

Woher kommt die Angst?

Für Außenstehende ist es schwer zu verstehen, warum ein Kind nicht spricht. Immer

wieder wird behauptet, Traumata könnten Mutismus auslösen. Doch das sei selten der

Fall, sagen Logopäd*innen. Was genau Mutismus bedingt, ist unklar.

Psychische Vorerkrankungen, andere Angststörungen, aber auch sprachliche

Anpassungsprobleme in migrantischen Familien können dazu führen, dass Kinder

Angst vor dem Sprechen entwickeln.

Wie bei anderen Angststörungen spielt außerdem das Angstzentrum im Gehirn eine

Rolle die Amygdala. Bei mutistischen Kindern reagiert sie zu sensibel. Hinzu kommt

häufg eine Unterversorgung mit dem Neurotransmitter Serotonin. Der Botenstoff

reguliert unter anderem extreme Empfindungen, Angst zum Beispiel.


Mutistische Kinder nehmen so auch Situationen als Bedrohung wahr, die keine

tatsächliche Gefahr darstellen. Alltägliche Situationen machen ihnen Angst, der

Unterricht in der Schule oder das Einkaufen im Supermarkt etwa. Mutistische Kinder

können diese Angst nicht kontrollieren – und flüchten sich ins Schweigen. Einen noch

größeren Einfluss hat die Genetik: Viele Eltern mutistischer Kinder sind selbst

introvertiert, schüchtern oder schweigsam.

Jeder Laut eine Überwindung

Max sprach schon im Kindergarten wenig – aber er sprach, zumindest mit seiner

Familie und dem Nachbarsjungen. Von Weihnachten 2010 an lebte Max mit totalem

Mutismus, er sprach mit niemandem mehr. Was genau der Auslöser dafür war, kann

Max heute nicht richtig in Worte fassen: "Ich hatte das Gefühl, dass alle

Aufmerksamkeit ständig auf mir liegt. 'Wenn ich irgendetwas falsch mache, merken

das alle', dachte ich." Aus diesem diffusen Gefühl entsprang seine Angst. Einen

konkreten Anlass für sein Schweigen gab es nicht.

Dass Max nun auch mit den Eltern nicht mehr sprach, war ein Wendepunkt. "Ich weiß

noch, dass meine Eltern sehr verzweifelt waren", erinnert sich der heute 17-jährige

Max. "Da dachten wir, vielleicht ist das doch nicht mehr normal", erzählt seine Mutter,

"es musste etwas passieren." Über eine Selbsthilfegruppe fand die Familie Anke

Krabbe.

Die Logopädin hat sich 2005 auf selektiven Mutismus spezialisiert. Ein Kind wie Max

aber ist noch nie in ihre Praxis gekommen – er ist bis heute ihr einziger total

mutistischer Fall. Die meisten Kinder in Krabbes Obhut sprechen zu Hause und

spätestens nach zwei Sitzungen auch mit ihr. Nur Max nicht. "Ich hatte keine Ahnung,

wie ich ihn zum Reden bringen sollte", sagt Krabbe.

Der Weg zu den Worten

Als Kind war Anke Krabbe selbst selektiv mutistisch. Heute wirkt die 56-Jährige

gelassen, lacht und redet viel. In den ersten Therapiestunden weinte Max jedes Mal.

Er war damals sieben Jahre alt. "Ich hatte das Gefühl, sie wollte viel zu viel", erinnert

er sich heute. Krabbe und Max verständigten sich schriftlich.

Über Versteckspiele näherten sie sich dem Sprechen. Max leitete sie mit stimmlosen

Lauten zu einem Versteck: Er machte ein lautes "Sch", wenn sie dem Ort nahe kam, ein

leises, wenn sie sich entfernte.

Mit der Zeit erarbeiteten sie sich weitere Laute. Max übte "p" und "t" und "k". Bis es

ihn langweilte. Bis es ihn nervte. Und dann noch einmal. Für den Alltag forderte Krabbe

den Jungen heraus – nahm er etwa am Musikunterricht teil, bekam er eine Belohnung,

zum Beispiel einen Stift.

Die Sprechangst beeinflusste seinen Schulalltag stark. Max wurde mündlich nicht

bewertet, schrieb seine Meldungen auf Zettel. Auch mit seinen Mitschüler*innen


kommunizierte er schriftlich. So und mit Mimik und Gestik schaffte er es trotzdem, sich

mit ihnen anzufreunden. Obwohl die meisten Lehrer*innen Verständnis zeigten, gab

es auch manche, die ihn zum Sprechen zwingen wollten. "Dass ich nicht geredet habe,

hat vieles erschwert, aber es war nicht die schlechteste Schulzeit", sagt Max. Einmal

kassierte er eine Sechs in der mündlichen Mitarbeit in Geschichte. Die Lehrerin wusste

noch nichts von seiner Diagnose. Max' Mutter ging zur Sprechstunde, erzählte von der

Krankheit ihres Sohns. Um aufzuklären, nicht, um eine Sonderbehandlung

einzufordern. Für Max sollten dieselben Regeln gelten wie für alle anderen. Die Sechs

blieb stehen.

»Dass ich nicht geredet habe, hat vieles

erschwert, aber es war nicht die

schlechteste Schulzeit.«

Max

Sommer 2014: Der Wendepunkt

In der Therapie legte Anke Krabbe Max immer wieder ein Bild vor. Darauf türmt sich

ein Berg auf, ein Weg windet sich hoch zu einer Hütte, neben der steht: "Mit Mama

und Papa reden". Eine Seilschaft kämpft sich hinauf. Vorn zieht Logopädin Anke

Krabbe, hinten schieben die Eltern Susanne und Martin Kamp. Mit Kreuzen markierte

Max, wo er sich gerade befand – und machte Fortschritte.

Sommer 2014, Max ist zehn Jahre alt. Schon lange hatte er sich ein Handy gewünscht.

Keine Chance, meinte seine Mutter: "Erst, wenn du redest. Ein Handy ist zum

Telefonieren da." Also machte Max im Familienurlaub an der englischen Westküste

den finalen Schritt. Abends ging er oft mit seiner Mutter geocachen. "Ich merkte, dass

er jetzt reden will", erinnert sich Susanne Kamp.

"Er begann mit Lauten, mit 'Ja' und 'Nein'. Jeden Abend ein bisschen mehr." Nach

einem der abendlichen Streifzüge wandte Max sich schließlich an seinen Vater und

Bruder. "Hallo", sagte Max und beendete damit dreieinhalb stille Jahre. Am Anfang war

er noch heiser. Jede weitere Person, mit der er sprach, war eine neue Hürde. Sein

erstes Wort zu seinem Vater war "Papa". Die Eltern waren erleichtert, die Brüder

ausgelassen.

"Es war ungewohnt, ich war unsicher. Aber es war natürlich toll, wieder zu reden. Es

hat vieles einfacher gemacht. Sachen, die ich zuvor aufgeschrieben hatte, konnte ich

nun sagen oder fragen. Es war schön, wieder mit Theo zu reden", sagt Max. Die Brüder


tanzten miteinander, machten Quatsch. Nach der Reise bekam Max das versprochene

Handy. Zuallererst aktivierte er die Sprachsteuerung.

»Hallo.«

Max' erstes Wort nach dreieinhalb Jahren Stille

Max rief seinen Lehrer an und teilte ihm mit, dass er wieder sprach. Zurück in der

Schule bedrängten ihn Lehrer*innen und Mitschüler*innen nicht, sondern warteten

darauf, dass Max von selbst redete. Und das tat er. Er wurde nun auch mündlich

bewertet, am Anfang zitterte er extrem beim Sprechen. Aber mit jedem Wort wurde

er sicherer.

Vom Ende der Furcht

Auch heute noch klingt seine Stimme rau und ungeübt. Beim Sprechen fasst der heute

17-Jährige sich häufg an den Hals – fast so, als bräuchten die Worte den Schubs seiner

Hand, um dem Rachen zu entweichen. Er lacht verlegen, spielt an der silbernen Kette

um seinen Hals, die er zur Konfirmation bekommen hat. Auf Fragen antwortet er

zögerlich. Trotzdem sucht er sich selbst Herausforderungen, jeden Tag. "Ich habe mir

angewöhnt, das Sprechen zumindest zu versuchen und immer weiter zu probieren. Mit

der Zeit geht es dann irgendwann", sagt Max.

Sein erstes Schulpraktikum macht Max in Krabbes Logopädiepraxis. Er redet mit seiner

Familie, mit Freund*innen, mit anderen Menschen mit Sprachproblemen. Sogar

Sprachnachrichten nimmt er auf. Dabei schließt er sich ins Bad ein, damit ihn niemand

hört. Manchmal braucht er zehn Anläufe, er ignoriert das Klopfen seiner Mutter, das

Aufnehmen strengt ihn an. Aber er schafft es. Seine Angst zwingt Max nicht mehr zum

Schweigen.

Als Max in der siebten Klasse ist, stehen Schulsprecher*innenwahlen an. Max findet

das spannend, würde gern antreten. Er möchte die Stimme für seine

Klassenkamerad*innen sein. Aber er ist neu am Gymnasium und traut sich nicht, zu

kandidieren. In der achten Klasse traut er sich – und lässt sich zur Wahl aufstellen.

Gewählt wird er nicht, aber Max bleibt dran. Im Jahr darauf stellt er sich erneut zur

Wahl. Das Ergebnis schallt durch die Lautsprecher: Max hat gewonnen – er ist

stellvertretender Schulsprecher. "Die ganze Klasse ist in Jubel ausgebrochen, als mein

Name ausgerufen wurde", sagt er. "Das war cool."

Infomaterial zum Mutismus

Max und seine Logopädin Anke Krabbe sind zu Gast bei unserer diesjährigen Online-

Tagung am 19.06.2021

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