04.03.2021 Aufrufe

FB_Das Konfliktpotential steigt_Tagesanzeiger_29.01.2021

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Freitag, 29. Januar 2021

Zürich

«Das Konfliktpotenzial steigt»

Opferberatung Das Kinderspital Zürich verzeichnet wegen Corona rekordhohe Misshandlungen.

Anja Böni sagt, was die Zahlen bedeuten und wie man helfen kann.

Lisa Aeschlimann

Frau Böni, Sie haben im letzten

Jahr 592 Fälle von Kindsmisshandlung

bearbeitet. So viele

wie noch nie. Insbesondere

der Lockdown führt zu einer

Mehrbelastung von sowieso

schon belasteten Familien.

Die Situation, dass eine Familie

den ganzen Tag in einer engen

Wohnung aufeinandersitzt, führt

dazu, dass man sich nur schwer

abreagieren kann. Das Konfliktpotenzial

steigt. Zudem haben

viele finanzielle Ängste. Die Ungewissheit

zehrt an der Geduld.

Wenn dann Kinder noch fordernd

sind, kann es schwierig werden.

Darum der traurige Rekord?

Dass uns mehr Fälle gemeldet

wurden, muss nicht zwingend

heissen, dass Misshandlungen

zugenommen haben. Es kann im

Moment auch sein, dass mehr

Personen im Haus sind und Dinge

melden – zum Beispiel die

Nachbarn.Wir wissen aber auch,

dass unsere Fälle nur die Spitze

des Eisbergs sind.

Angenommen, meine Nachbarn

streiten oft, ich höre immer

wieder ihr Kind schreien. Ich

will helfen. Was raten Sie mir?

Fragen Sie andere Nachbarn, ob

sie das auch so sehen. Und sprechen

Sie das Thema bei den

betroffenen Nachbarn an. Am

besten nicht dann, wenn das

Baby schon schreit. Sie können

zum Beispiel sagen: Ich höre, es

ist laut. Wie geht es euch?

«Viele Fälle in der Grauzone»: Anja Böni von der Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle des Kinderspitals Zürich. Foto: Dominique Meienberg

Und dann antworten sie:

«Alles gut, danke, Adieu.»

Es braucht manchmal mehr als

einen Anlauf. Und es ist sinnvoll,

den Betroffenen etwas anzubieten.

Zum Beispiel?

Sie können sie auf den Elternnotruf

aufmerksam machen. Dann

gibt es Kinder- und Jugendhilfezentren,

Sozialzentren, die Erziehungsberatung

anbieten.

Soll ich mit dem Kind reden?

Wenn Sie unsicher sind, melden

Sie sich zuerst bei einer Beratungsstelle.

Jeder Fall ist individuell.

Am Telefon kann man

dann auch abholen: Liege ich mit

meinen Befürchtungen voll daneben,

oder ist da was dran?

Wie sehe ich als Laie,

ob ein Kind misshandelt wird?

Kinder reagieren sehr unterschiedlich

auf Misshandlungen.

Hellhörig werden sollte man auf

alle Fälle, wenn ein Kind plötzlich

sein Verhalten ändert.Wenn

ein unauffälliges, liebes Kind

plötzlich aggressiv wird.

Welche Art von Misshandlung

wurde Ihnen im letzten Jahr vor

allem gemeldet?

Als Spital sehen wir häufig körperliche

oder sexuelle Misshandlungen.

Diese Kinder sind bei uns

in Behandlung; eine Person aus

dem Team merkt dann an den

Verletzungen oder anhand des

Umgangs zwischen Eltern und

Kind, dass etwas nicht stimmt.

Welche Verletzungen sind

verdächtig?

Knochenbrüche bei Kleinkindern

zum Beispiel.Wenn Kinder noch

nicht laufen können, können sie

sich selbst nirgends anschlagen.

Verdächtig ist auch, wenn die Erzählung

der Eltern nicht zu den

Verletzungen passt.

Wie merken Sie das?

Ein klassischer Fall ist, wenn sich

ein Kind in der Badewanne

verbrüht. Das Kind dreht den

Wasserhahn auf, es kommt heisses

Wasser raus. Das Kind beginnt

zu strampeln, das Wasser

spritzt herum. Das sieht man der

Verbrühung an. Misshandelte

Kinder werden bewusst ins heisse

Wasser gelegt und festgehalten.

Die Spritzer fehlen dann.

Worauf achten Sie beim

Umgang zwischen Eltern

und Kind?

Wenn sich Eltern gegenüber dem

kranken Kind verbal aggressiv

oder abwertend verhalten. Kommt

das immer wieder vor, liegt es

nahe, dass dies auch zu Hause

passieren könnte.

Ärztin für Psychiatrie

Anja Böni (34) ist Oberärztin für

Psychosomatik und Psychiatrie

am Kinderspital Zürich. In der

Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle

berät sie unter

anderem Eltern, begleitet Opfer zu

Einvernahmen, vermittelt Rechtsanwälte

oder schreibt Gefährdungsmeldungen.

Zuvor arbeitete

sie in der ambulanten Kinderund

Jugendpsychiatrie sowie der

forensischen Psychiatrie. Die

Kinderschutzgruppe gibt es seit

1969. Sie war die erste in der

Schweiz und wurde nach dem

Vorbild der USA gebildet. (lia)

Wie viele Anzeigen haben

Sie 2020 gemacht?

Normalerweise machen wir um

die fünf Meldungen – im letzten

Jahr waren es zehn.

Wie reagieren Eltern, wenn

Sie ihnen sagen, dass sie sich

ändern müssen?

Wenn wir den Verdacht haben,

dass eine körperliche Misshandlung

vorliegt, machen wir zuerst

weitere Abklärungen, nehmen

Blut oder röntgen, bevor wir es

den Eltern offenlegen. Gerade bei

einer Gefährdungsmeldung ist

es oft so, dass die Eltern schon

mit Behörden in Kontakt sind

oder Betreuungsangebote nutzen

und dann gar nicht so überrascht

sind. Andere Eltern fühlen

sich hintergangen. Das ist für

mich nachvollziehbar.

Warum?

Weil man ihnen – gerade bei

einer Strafanzeige – etwas unterstellt.

Und weil nicht alle, die

ihrem Kind etwas Ungutes antun,

böse Menschen sind. Gewisse

Eltern kommen einfach an

ihre Grenzen.

Zum Beispiel?

Das Kind ist wild, will nicht hören,

die Eltern herrschen das

Kind an. Sie merken, dass sie

überfordert sind und Unterstützung

bräuchten.

Wo fängt Kindsmisshandlung

an? Gehört eine Ohrfeige

schon dazu?

Viele Leute sagen, eine Ohrfeige

mache doch nichts. Ich finde das

nicht so klar: Ist es tatsächlich

nur diese eine Ohrfeige? Oder

steht ein problematischer Umgang

dahinter? Ganz viele Fälle

liegen in einer Grauzone.

Wie sieht diese aus?

Die Aussage: «Bisch jetz e Blöödi!»

Sage ich das einmal oder immer

wieder? Ich finde, wenn ein

Kind, das immer wieder hört,

Zunahme der gemeldeten Fälle in der Pandemie

Anzahl Meldungen von Verdacht auf Kindsmisshandlung

sichere Fälle Verdacht nicht bestätigt

419

600

487 484

500

444 450 450

486

400

300

200

100

551 528 544

592

2010 11 12 13 14 15 16 17 18 19 2020

Grafik: niz / Quelle: Kinderspital Zürich

formt das die Meinung, die es

über sich selbst hat. Das schadet

ihm.Wie oft man was sagen darf,

ist schwierig zu fassen.

Bis wir wieder normal leben

können, dauert es. Was raten

Sie belasteten Familien?

Wenn ich merke, dass mich meine

Kinder an die Grenze bringen,

hilft es, die Situation zu verlassen:

rausgehen, jemanden anrufen.

Längerfristig soll man sich

Luft und Raum schaffen. Es gibt

Familien, die sich im Lockdown

so organisiert haben, dass sie

sich mit der Kinderbetreuung

abwechselten. Es ist auch normal,

wenn man Unterstützung

haben möchte. Es gibt viele Angebote.

Am schwierigsten ist es,

Eltern davon zu überzeugen, diese

zu nutzen.

Weshalb?

Gewisse werfen sich dann vor,

schlechte Eltern zu sein.

Vielleicht liegt es auch daran,

dass Familie in der Schweiz

Privatsache ist. Es gibt ja

immer noch kein explizites

Züchtigungsverbot.

Ja, das zeigen auch die Diskussionen

um die Kesb. In der

Schweiz schaut man für sich. Es

ist schwierig, eine Balance zu finden,

wie viel in der Familie bleiben

soll und was nicht.

Sie finden, dass zu viel

in der Familie bleibt?

Ja, weil diese Haltung niederschwellige

Hilfe verhindert.Wenn

wir uns eingestehen, dass es

manchmal Unterstützung von

aussen braucht, müssen die Behörden

weniger Druck machen.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!