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FRIENDLY FOOTAGE – Kunst und Spielfilm

Die Ausstellung (8.6. bis 9.9. 2016) geht anhand ausgesuchter Positionen den zahlreichen Bezügen nach, die aktuelle Kunst heute mit dem Genre Spielfilm verbinden. Sie fragt nach den Realitäts- und Fiktionsvorstellungen in Spielfilmen, die in der Kunst ihr Weiterleben führen: welche Zitate, welche Metaphern oder Konstruktionen finden in der bildenden Kunst ihre Fortsetzung? Und welche konkreten und realitätsnahen Verweise finden dort ihren Niederschlag? Ein großes Reservoir liegt im kollektiven Bildgedächtnis und ist der Kunst und dem Spielfilm gemein. Themen, Geschichten und ihre Abfolgen sind ihrem Publikum häufig bereits bekannt und von ihnen verinnerlicht. Wie im Spielfilm geht es folglich auch in der bildenden Kunst um eine Sammlung und Kombination von oftmals vertraut wirkenden Möglichkeiten. Unmittelbar lassen sich mit ihnen Beziehungen zu Fragmenten und Schlüsselszenen des Mediums Spielfilm herstellen. Footage bezeichnet ursprünglich das rohe Ausgangsmaterial für den Filmschnitt. Der Begriff fand allerdings schon bald Eingang in die Kunst , z.B. als „found footage", der experimentelle Film- und Bildwelten aus gefundenem Material beschreibt. Die Kunstwerke der Ausstellung „Friendly Footage“ hingegen verdichten komplexe filmische Sachverhalte und Atmosphären zu Einzelbildern, Bildserien, Objekte und digitalen Techniken. Teilnehmende Künstler: Jürgen Albrecht (DE), Gabriele Aulehla (DE), Wim Bosch (NL), Peter Boué (DE), Viviane Gernaert (DE), Thomas Judisch (DE), Nils Kasiske (DE), Armin Mühsam (US), Marcel Petry (DE), Tina Winkhaus (DE). Special Guest: Peter Sempel (DE)

Die Ausstellung (8.6. bis 9.9. 2016) geht anhand ausgesuchter Positionen den zahlreichen Bezügen nach, die aktuelle Kunst heute mit dem Genre Spielfilm verbinden. Sie fragt nach den Realitäts- und Fiktionsvorstellungen in Spielfilmen, die in der Kunst ihr Weiterleben führen: welche Zitate, welche Metaphern oder Konstruktionen finden in der bildenden Kunst ihre Fortsetzung? Und welche konkreten und realitätsnahen Verweise finden dort ihren Niederschlag?
Ein großes Reservoir liegt im kollektiven Bildgedächtnis und ist der Kunst und dem Spielfilm gemein. Themen, Geschichten und ihre Abfolgen sind ihrem Publikum häufig bereits bekannt und von ihnen verinnerlicht. Wie im Spielfilm geht es folglich auch in der bildenden Kunst um eine Sammlung und Kombination von oftmals vertraut wirkenden Möglichkeiten. Unmittelbar lassen sich mit ihnen Beziehungen zu Fragmenten und Schlüsselszenen des Mediums Spielfilm herstellen.
Footage bezeichnet ursprünglich das rohe Ausgangsmaterial für den Filmschnitt. Der Begriff fand allerdings schon bald Eingang in die Kunst , z.B. als „found footage", der experimentelle Film- und Bildwelten aus gefundenem Material beschreibt. Die Kunstwerke der Ausstellung „Friendly Footage“ hingegen verdichten komplexe filmische Sachverhalte und Atmosphären zu Einzelbildern, Bildserien, Objekte und digitalen Techniken.

Teilnehmende Künstler:
Jürgen Albrecht (DE), Gabriele Aulehla (DE), Wim Bosch (NL), Peter Boué (DE), Viviane Gernaert (DE), Thomas Judisch (DE), Nils Kasiske (DE), Armin Mühsam (US), Marcel Petry (DE), Tina Winkhaus (DE).
Special Guest: Peter Sempel (DE)

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FRIENDLY FOOTAGE – Kunst und Spielfilm


FRIENDLY FOOTAGE – Kunst und Spielfilm

Die Ausstellung geht anhand ausgesuchter Positionen den Bezügen nach, die

zeitgenössische Kunst heute mit dem Genre Spielfilm verbindet. Sie fragt nach den

Realitäts- und Fiktions-vorstellungen in Spielfilmen, die in der Kunst ihr Weiterleben

führen: welche Zitate, welche Metaphern oder Konstruktionen finden in der bildenden Kunst

ihre Fortsetzung oder ihren Widerhall? Und welche konkreten und realitätsnahen Verweise

finden dort ihren Niederschlag?

Ein großes Reservoir liegt im kollektiven Bildgedächtnis und ist der Kunst und dem

Spielfilm gemein. Themen, Geschichten und ihre Abfolgen sind ihrem Publikum häufig

bereits bekannt und von ihnen verinnerlicht. Wie im Spielfilm geht es folglich auch hier in

der bildenden Kunst um eine Sammlung von oftmals bekannten und vertraut wirkenden

Möglichkeiten. Mit ihnen lassen sich unmittelbar Beziehungen zu konkreten Fragmenten

und Schlüsselszenen des Genres Spielfilm herstellen. Beiden gemein ist darüber hinaus

eine transzendente Sphäre des Bildraums, welche sowohl in der Fiktion, dem grundsätzlich

Vorstellbaren sowie in der Fantasie begründet liegt.

Die häufig opulente Bildarchitektur mit dessen Schau- und Handlungsfenstern verstärkt die

mega-picturalen Aspekte, die jeweils jenseits des Bildrahmens oder eines Bildrandes

liegen und sich weiter im Publikum entwickeln dürfen.

Die eingeladenen Künstler widmen sich einerseits den Handlungs-, Raum- und Beziehungsgefügen,

andererseits den atmosphärischen Grundstimmungen. Ihnen geht es

oftmals weder um eine Wiedererzählung, ein Remake oder eine Kommentierung eines

Spielfilms, noch um eine intellektuelle Rehabilitierung des Films durch die Kunst. Künstler

benutzen den Spielfilm als Inspirationsquelle, als eigenständiges Footage-Material. Die

Bandbreite des Umgangs mit dem Medium Spielfilm ist immens groß, diese fängt beim

Integrieren an und hört beim Entzweien und Destabilisieren auf. Die künstlerischen

Ergebnisse sind deshalb häufig Werke, die ein „Double- oder Multi-Screen“ aufweisen. Geht

man vom Kunstwerk als „Originalscreen“ aus, unter Berücksichtigung der in der aktuellen

Kunst ihm innewohnenden Mehrdeutigkeit, so können wir weitere des Films hinzufügen.

Andersherum funktioniert das System, ebenso. Wir nutzen sogar in unserem Sprachgebrauch

den Begriff Leinwand als Bild-Kunst-Fläche als auch als Film-Projektions-Fläche.

„Friendly Fire“ bezeichnet im Militär-Jargon den Beschuss durch die eigenen Truppen. Der

Begriff „Friendly“ im Titel bezieht sich auf den „freundlichen Beschuss“ der Kunst mittels

Hinterfragen und Neucodierung des filmischen Materials oder umgekehrt, quasi als

„freundliche Übernahme“. „Footage“ bezeichnet ursprünglich das rohe Ausgangsmaterial

für den Filmschnitt. Der Begriff fand allerdings schon bald Eingang in die Kunst , z.B. als

„found footage", das Film- und Bildwelten aus gefundenem Material beschreibt.

„Friendly Footage“ fokussiert ausschließlich den künstlerischen Bezug zum Spielfilm und

lässt die Dokumentation und den Experimentalfilm bewusst außer Acht. Auch wird der

Umkehrung, also der Präsentation von Kunst im Massenmedium Film hier keinerlei Raum

gegeben.


FRIENDLY FOOTAGE – Kunst und Spielfilm

Beteiligte Künstler:

Jürgen Albrecht (DE) ------------

Gabriele Aulehla (DE) -------------------------------------------------------

Wim Bosch (NL) ----

Peter Boué (DE) ----------------------------------

Viviane Gernaert (DE) ----

Thomas Judisch (DE) ----------------------------------------

Nils Kasiske (DE) ---------------

Armin Mühsam (US) -----------------------------------------------

Marcel Petry (DE) ---

Tina Winkhaus (DE) ---------------------------------------


Jürgen Albrecht

Film benötigt Raum und Film benötigt Licht. Beides ist in den Skulpturen von Jürgen Albrecht zu

finden. Dem filmischen Aspekt ist allerdings in der bisherigen Rezeption des Werks des

Künstlers noch nie die Aufmerksamkeit geschenkt worden. Zum einen liegt es daran, dass die

äußerlich minimalistisch daherkommenden Wandobjekte mit ihrem eigenen und oft

unvermuteten Innenleben rein kunstimmanent gesehen wurden, zum anderen auch daran, dass

das Moment der Handlung in den einzelnen Arbeiten vollkommen zu fehlen scheint.

Raum und Licht sind jedoch die zentralen Grundpfeiler eines sich selbst seit Jahrzehnten treu

bleibenden Künstlers. Das Innenleben der Wandskulpturen kreiert Raum, Lichtquellen –

natürliche oder künstliche – werden zu Versprechungen einer intelligiblen Welt. Wir Betrachter

verlieren uns im Raum, in der Proportion und in der Täuschung. Das was wir sehen ist Modell

und fertige Ausführung, ist Bühne und Publikumsraum zugleich.

Sokrates, als Sprecher von Platon, interpretiert in seiner Deutung des Höhlengleichnisses – das

als geistiger Hintergrund zum Gesamtwerk Albrechts sehr gut passt – nämlich von der „Kunst

des Umlenkens“. Dieser Methode bedient sich auch Jürgen Albrecht. Unsere Wahrnehmung wird

umgelenkt, wird sogar manipuliert, ja wir begeben uns wissend in seine Räume, deren reale

Proportionen sich in unserer Wahrnehmung nicht lediglich nur verändern, sondern sich gar

auflösen. Dies ist ein besonders naheliegender Aspekt zum Film, denn um letztgenannten

vollständig an uns heranzulassen, müssen wir quasi die gleichen Mechanismen anwenden, und

in den filmischen Raum eintauchen und uns auf ihn vollständig einlassen, auch wenn er

vermeintlich „nur“ Kulisse oder Studio ist. Nahezu identisch tauchen wir auch in die Räume des

Künstlers.

Der Aufstieg ans Tageslicht aus der Höhle Platons entspricht somit dem Aufstieg der Seele von

der Welt der vergänglichen Sinnesobjekte zu einer „geistigen Stätte“. Es bleibt im

Höhlengleichnis wie in den Räumen Albrechts jener Ort, den wir in der Realität nie betreten

können.


Gabriele Aulehla

Die wohl oberflächlich am weitesten von einer konkreten Vorstellung von Spielfilm entfernten

Werke sind die der in Frankfurt/M. lebenden Künstlerin Gabriele Aulehla. In einem anderen

Ausstellungskontext würden ihre Arbeiten keineswegs mit dem Genre Spielfilm überhaupt in

Verbindung gebracht werden. Ihre Ambiguität erlaubt es aber, einen Bereich zu fokussieren, der

auch im Spielfilm-Genre lediglich eine Nebenrolle spielt. Die Rede ist von den Bild- und

szenischen Übergängen, den Grenzen, Überblendungen und -lappungen, von Vor- und Abspann.

Aulehlas Bilder sind unscharfe, verschwommene Farbräume, die jenen Moment festhalten in

dem das eine Bild (und die damit verbundene Handlung) abgeschlossen ist und das nächste Bild

mit Fortführung von Handlung noch nicht sichtbar ist. Diese kurzen Übergangsmomente haben

in den Bildern eine ganz eigene Ästhetik.

Ihre Farbräume bilden außerdem Stimmungslandschaften, der Betrachter versetzt sich selbst

dort hinein.

Das von ihr häufig verwendete Quer- und Panoramaformat verstärkt den Eindruck eines Double-

Screens, auf dem die Erzählung in unserer Vorstellung grundsätzlich horizontal verläuft, nämlich

von links aus der Vergangenheit bis rechts in die Gegenwart. Unsere Lesegewohnheit von links

nach rechts, das Umblättern eines Buches von links nach rechts und die oft benutzte

Besucherführung durch Räume von links nach rechts verstärken diese Richtungsbezogenheit.

Aus abstrakten Formen bilden sich zu jedem Filmbeginn Logos von Produzenten, Filmfirmen

und Verleihern, kreisende Sterne oder Lichtpunkte vermitteln über einem Berg so etwas wie

Erhabenheit, Suchscheinwerfer im Himmel auf große Kinomomente, rotierende Lichtpunkte auf

Dynamik. Auch damit arbeitet die Künstlerin, bannt fragmentarische Schnipsel auf die Leinwand

und provoziert unsere Assoziationsketten.


Wim Bosch

Das Werk des niederländischen Künstlers Wim Bosch evoziert seit den 1980er-Jahren Film.

Insbesondere die Serie „Arrival Delayed“ spielt deutlich mit der Filmästhetik des USamerikanischen

Kinos – konkret: Man stelle sich eine amerikanische Klein- oder Vorstadt vor, sie

muss nicht unbedingt Lumberton heißen, wie in David Lynchs Film „Blue Velvet“, aber kann sie.

Wie in der grandiosen Eingangsszene, die einzelne, freistehende Häuser, umringt von Gärten und

Rasenflächen zeigt, benutzt Bosch genau jene Stimmungslage in seinen Werken. Ein in Zeitlupe

fahrendes Feuerwehrauto, von dessen Trittbrett einer der „Firefighter“ uns zuwinkt und damit

symbolisch die farbenfroh-gepflegte Idylle in eine absolut heile Vorgarten-Welt verortet. Das

einzig Böse scheint wenn überhaupt aus den Fernsehern zu kommen, der Thriller muss sich erst

von außerhalb einschleichen, er lauert zunächst irgendwo unsichtbar.

Die Bilderwelten von Bosch entpuppen sich als komplexe, vielschichtige und filmisch anmutende

Werke, die Zeit zum Betrachten benötigen. Die Schichten, Ebenen, Reflexionen und Spiegelungen

innerhalb des Bildraumes erzeugen jene Filmgeschichten wie in „Blue Velvet“. Einem Filmstill

gleich, ist nur scheinbar ein kurzer Moment eines sich fortlaufend bewegenden Zeitgefüges

sichtbar. Jedoch schafft es der Künstler, und hier liegt die Brisanz, seinen Bildern etwas zu

geben, was Gotthold Ephraim Lessing den „prägnanten Moment oder fruchtbaren Augenblick"

nannte. Dieser impliziert keinen abgeschlossenen oder beendeten Vorgang, der alles aus sich

heraus erklärt und solitär aus der Welt herausgehoben werden darf. Die Bildelemente tragen

vielmehr immer sowohl ihr eigenes Vorher als auch ihr Nachher in sich und verschließen sich

nicht unseren eigenen imaginären Zeitachsen. Durch die Bildsemantik wird der Betrachter zum

Weiterentwickeln der Bildgeschichte veranlasst, nicht aber durch Mit- und Nachvollzug des

tatsächlich Geschehenen, sondern durch die produktive Beteiligung der eigenen

Einbildungskraft. Somit geben die Arbeiten zu bedenken, dass die vermeintliche Ruhe gleich

vorbei sein wird und sich der Ort und die Situation umgehend verändert haben werden. Es ist

jedoch nicht die Ruhe allein, die den Betrachter umtreibt, es ist vor allem der Verweis darauf,

dass sich die Gegebenheiten früher schon in einem völlig anderen Aggregatzustand befunden

haben oder sich gleich befinden können. Und diese Aggregatszustände lassen nichts Gutes

erahnen.


Peter Boué

Düster, mit schwarzer Fettkreide, manchmal auch Lack auf Karton, Vlies und Papier gebrachte

unbehauste Orte sind Hauptbestandteil der Bilderwelt von Peter Boué. Kraterlandschaften,

steinige Bergregionen, verfallene architektonische Fragmente – Terra Incognita – sind die

szenischen Beschreibungen der Orte. Boué beruft sich in seinen Arbeiten auf zwei Kulturgenres

und verbindet sie: die der Kunsthistorie und die des Films.

Die künstlerischen Verweise liegen zum einen in der Berufung auf den niederländischen Maler

und Tiefdruckstecher Hercules Seghers, dessen Radierungen und Druckexperimente ebenfalls

einen eher düsteren Kosmos zeigen sowie auf den Tuschezeichnungen des französischen

Nationaldichters und Zeichners Victor Hugo, die dieser oftmals des nachts bei wenig

Kerzenschein anfertigte. Die Handzeichnungen sind obskur, magisch-dunkel und weitgehend

abstrakt. „Schwarze Romantik“ werden seine Hugos Werke genannt, die Kulissen und

Landschaftsausschnitte zeigen.

Die Verbindung zum Spielfilm liegt bei Boué konkret im Verweis auf Stanley Kubricks „2001 –

Odyssee im Weltraum“ oder „Stalker“. Stalker Stills finden sich in Titeln von Zeichnungen.

Ebenso taucht das Wort „Zone“ auf. Im Zusammenhang mit dem gezeigten, Menschen-entleerten

Orten werden apokalyptische Szenarien von gescheiterten Zivilisationen heraufbeschworen. Von

Sehnsuchtsorten ist weit und breit keine Spur zu erkennen. Vergleichbar mit Hugos „Schwarzer

Romantik“ gibt es darüberhinaus eine filmische Verbindung zum niederländischen Kameramann

Gérard Vandenberg, der ohne die Watt-starken Hilfsmittel der technischen Ausleuchtung seines

Sets, Szenen oft lediglich bei Kerzenschein drehte, etwa im Film „Caspar David Friedrich.

Grenzen der Zeit“, um der Atmosphäre und der Lebenssituation der Romantik authentisch näher

zu kommen.

Petre Boué setzt Licht in seinen Werken sehr sparsam, aber gleichzeitig sehr bewusst ein. Er

arbeitet dadurch, dass er „schwarz-weiß“ wählt, anti-medial oder zumindest generieren seine

Zeichnungen einen starken Zweifel an der Bildverführung der heutigen Medien. Ihm geht es

nicht um das Ausleuchten von Phänomenen, von Sichtbarmachung von Gegenden und Orten,

sondern gegenteilig, um das mystische Zurückwerfen auf die dunklen Ecken unseres

Bewusstseins. Der Künstler fordert uns heraus, will sicher gehen, dass wir uns nicht sicher

fühlen. Seine szenischen Orte sind allesamt mit einer Geschichte aufgeladen, insbesondere mit

einer aus der Vergangenheit, die wir nicht kennen, aber erahnen oder uns in schwarz-weiß

zusammensetzen können.


Viviane Gernaert

Die in Hamburg lebende Künstlerin Viviane Gernaert bezieht sich in ihrem plastischen Werk auf

zeitgenössische Spielfilme der Genres Action und Martial Art. „Kill Bill“ von Quentin Tarantino

oder „The House of Flying Daggors“ von Zhang Yimou sind die Inspirationsquellen, die in ihrer

rasanten Essenz von der Künstlerin entschleunigt werden. Der schnellen Schnittfolge der Filme

sind also in ihrem Werk einem vollständig anderes Zeitgefühl sowie einer anderen Rezeption

entgegengesetzt.

Zu sehen sind Objekte, die eingefrorene, kraftvolle Bewegungen aus den Filmen der

fernöstlichen Kampfkunst zeigen. Sie wirken derartig ästhetisch, dass jedes Moment von Gewalt,

Brutalität, Schmerz und Verletzung weitgehend ausgeblendet erscheint.

Dennoch weiß der Betrachter sehr genau, dass jenes Damoklesschwert über ihm schwebt, das

in sekundenschnelle Real- und Filmfantasien auslösen kann und er sich mit den archaischen

Gegebenheiten auseinandersetzen muss, die zu den eben aufgeführten Begriffen zurückführen

können: Ein ambivalentes und durchaus fragiles Verhältnis zwischen Kunst, Ästhetik und Gewalt.

Das zeigt sich auch in den Titeln der Werke: „Bang Bang“ und „I collect your fucking head“

beispielsweise.

Das gewählte Material, weißes oder graues Stoffgewebe, das durch Styropor und Metall sowie

Leim fixiert wird, spielt im inhaltlichen Kontext eine unterstützende Rolle.

Die Figuren veranschaulichen nämlich Momentaufnahmen eines Bruchteils von Bewegung.

Gebärde und Handlung gehen dabei eine kausale Beziehung ein, weil sie einen entscheidenden

Moment der filmischen Vorlage repräsentieren. Das Interesse der Künstlerin liegt dabei jedoch

nicht einen Spielfilm zu kommentieren, sondern ein Elixier zu finden, das den bestimmten

Augenblick des Schlags, des Sprungs, des Kontrollverlusts oder der Verletzbarkeit sichtbar

macht.


Thomas Judisch

Thomas Judisch spielt mit unseren Wahrnehmungen und setzt auf Assoziationen. Sein

Rabenschwarm ist trügerisch. Durch die Irritationen der Materialwahrhaftigkeit und folgerichtig

durch die Schwierigkeit in der Interpretation dessen, was da tatsächlich ist und auf uns inhaltlich

zukommt, darf man auch den politischen Bedeutungswert im Werk von Thomas Judisch nicht

vergessen. Der Künstler arbeitet mit optischen und inhaltlichen Tricks, die das aktuelle vielfach

verwendete politische Kalkül einer vermeintlichen und vorausgesetzten Konvention ad

absurdum führen. Die Entscheidung orientiert sich weniger an Sachfragen als an Gefühls- und

Erfahrungsmomenten.

Ein Baum voller schwarzer Vögel hat zunächst nichts Bedrohliches. Assoziiert man „too many

birds“, so der Titel des Kunstwerks, allerdings mit schwarzen, voluminösen Vögeln aus der

Filmwelt eines Alfred Hitchcock „The Birds“ (Die Vögel), dann sieht die Sache anders aus.

Unbeweglich sitzen sie da und warten auf den bestimmten Moment, möglicherweise auf die

bestimmte Person, um anzugreifen, zuzuschlagen und der Szenerie das Wort Horror

hinzuzufügen. Die Vögel sind Attrappen, sie sollen andere Vögel von Balkonen fernhalten, mehr

auch nicht. In ihrer kollektiven Masse allerdings, in einem Baum und der potentiellen

Schwarmbildung – und Masse ist keine Seltenheit im Werk von Judisch – können sie hingegen

über den Häuptern der Besucher Unbehagen auslösen.

Der interpretatorische Raum bei der gleichnamigen Kurzgeschichte und Filmvorlage von Daphne

du Maurier ist politisch gezogen. Da heißt es wörtlich: „ Es ist der kalte Ostwind – man munkelt

ja, die Russen seien schuld daran, sie hätten die Vögel vergiftet“ und beim zehn Jahre später

entstandenen Hitchcock-Spielfilm ist dies ebenso thematisiert. Die Vögel sind also ein Symbol

für die Bedrohung durch den Kommunismus. Hier kontert allerdings Judisch der konkreten

historischen Entrückung.


Nils Kasiske

Nils Kasiske gehört zu jenen Künstlern, die genreübergreifend innerhalb der visuellen Künste

arbeiten. Bildende Kunst, Grafik, Illustration, Comic sind ebenso Elemente, wie Medienkunst,

Storyboards, Skulptur und Objekt. Mit einer gehörigen Portion an Kritik, Zynismus mit

gleichzeitiger Ironie verarbeitet er Phänomene der Unterhaltungskultur per se. Er fokussiert in

seinen hier ausgestellten Werken Beziehungsgefüge zwischen Fernseh-, Spielfilm und

gesellschaftlichen Konventionen zu uns Betrachtern. Immer wieder tauchen bei ihm Symbole

und Vorstellungen der Religion auf. Er macht die neuen Glaubensbekenntnisse mit Hilfe alter

Symbole sichtbar, die sich durch unser tägliches Verhalten längst verändert zu haben scheinen.

Die Sehnsucht nach höheren Instanzen und Autoritäten wird bei Kasiske geradezu ins

Lächerliche gezogen.

Sein digitaler Cyborg „Distopia (Postbeta)“ könnte einer dieser futuristischen Zukunftsvisionen

aus Filmen wie „iRobot“, „Tron“,„Terminator“ oder „Krieg der Sterne“ entsprungen sein. Es geht

dem Künstler jedoch nicht um eine Perfektionierung eines menschenähnlichen Wesens und

dessen Machtphantasien bis zur Übernahme und Kontrolle des Menschen selbst, sondern sein

Roboter scheint eher dem Woody Allen-Modell des „Der Schläfer“ zu ähneln, dessen beste und

aktivste Lebenszeit sichtbar weit zurückliegt und der eigentlich ständig in der

Reparaturwerkstatt sein Dasein fristet . Wie ein Bettler sitzt er am Boden und seine

Programmierung reagiert nur noch auf Details.

Es geht um die Lebensdauer und um die Überschneidungskomponenten eines Cyborgs zum

Menschen. Eine Sinnfrage, die bei Ridley Scotts Film „Blade Runner“ gestellt wird. Die

Vergänglichkeit ist nicht nur bei uns Menschen vorprogrammiert, sondern auch bei den

Avataren. Von der Vergänglichkeit des Gros der Spielfilme, ganz zu schweigen.


Armin Mühsam

Armin Mühsam malt Landschaften, die nie reine Natur-, sondern immer Kulturlandschaften

sind. Jedes seiner Bilder zeigt menschliche Hervorbringungen: architektonischer, symbolischer,

zivilisatorischer Art. Seine klinisch-gesäuberte Malweise und die scharfen Konturen,

Lichtführungen und Schatten lassen eine modellhafte Auffassung vermuten.

Bei allen Bildern hat der Betrachter das Gefühl etwas nicht sehen zu können. Als ob es ein

Geheimnis, etwas Mystisches, Unsichtbares, Verborgenes gibt. Warum ist der Raum

ausgestorben? Welche Natur existiert noch? Gibt es die Hoffnung eines anderen, nicht entleerten

Raumes? Um welche Matrix handelt es sich? Woher rührt die merkwürdig und eigenartig

religiöse Anmutung einiger Bilder?

Auf der Suche nach Antworten werden Assoziationen und Erinnerungen zu den Filmen des

russischen Regisseurs und Künstlers Andrei Tarkowskij relevant. Wenn man davon ausgeht,

dass Mühsam in gebetsmühlenartiger Weise eine Art „Zone“ malt, vergleichbar der im Film

„Stalker“ von 1979, so vermengen sich die künstlerisch-kunsthistorischen, filmisch-assoziativen

und politisch-kritischen Sichtweisen in seinen Bildern miteinander und führen zu Ergebnissen

die gesamtgesellschaftlicher Natur sind.

Ein Gebiet wurde evakuiert, abgesperrt und steht unter militärischer Bewachung. Der „Stalker“,

eine Art Pfadfinder oder Kundschafter, verdient sich seinen Lebensunterhalt damit, Leute illegal

durch den Sperrgürtel zu bringen und sie innerhalb der Zone zu führen.

Mühsam obliegt die Aufgabe des Stalkers, die Betrachter sind diejenigen, die er in die „Zone“

führt.

Auch in der Realität, mit den Atomkatastrophen von 1986 und 2011, den verlassenen

Landstrichen in der Ukraine, rund um die Städte Tschernobyl und Pripjat sowie Fukushima in

Japan, finden wir Beispiele. Legen wir die filmischen und realen Katastrophen als

Ausgangspunkte fest, dann scheinen sich unsere dumpfen Ahnungen, die wir in die teils

kontemplativen Bilder legen, zu bestätigen. Die Zeit in den Bildwerken ist eingefroren wie im

Dornröschenschlaf.

Kunst bekommt – auch im Sinne Tarkowskijs – eine hohe Aufgabe, nämlich die der Vermittlung

von Erkenntnis und des Begreifens. Der Endzeitstimmung steht die Wahrheitsfindung gegenüber.

Der Künstler Mühsam ist wie der Künstler Tarkowskij ganz uneigennützig und sieht sich und

seine Kunst in einem Geflecht von Aufklärungen. Nur den Vorgang des Erkennens überlassen

beide uns.


Marcel Petry

Die Bildwerke von Marcel Petry bestehen aus semantischen und narrativen Elementen, als

wollten sie uns, über einen kurzen malerisch festgehaltenen Moment, umfängliche Geschichten

erzählen. Es müssen Alltagssituationen sein. Durchgängig sind allerdings nur wenige

Zusammenhänge sichtbar gemacht: Stile von Ambiente, immer wieder auftauchende

Gegenstände, Lichtnuancen und Farbtemperatur sowie scheinbar gleichwertige und belanglose

Situationen. Anfangs glauben wir, wir wären selbstverständlich eingebundene Zeugen eines

bestimmten Geschehens und wissen genau was da vor uns abläuft. Doch schon nach kurzer Zeit

merken wir, dass dem gar nicht so. Nicht allein, dass allen Bildern eine gewisse Unbehaglichkeit

und eine indifferente Gefahr ausstrahlen, sondern es entsteht auch das Gefühl Täuschungen zu

erliegen.

In vielen Bildern Petrys gibt es malerische und inhaltliche Eingriffe in die vermeintliche

Handlung, zeitliche Verschiebungen, die die Realitätsebene aufbrechen, die einen Eindruck des

Unwirklichen stärken. Die Bildgründe haben selten einen räumlichen Bezug, sind Projektionen,

Traumbilder oder regelrecht Visionen. Versatzstücke sind fragmentarisch zusammengefügt. Wir

sind auf unsere Assoziationen, Gefühle und Interpretationen angewiesen.

Eine Eindeutigkeit ist auch deshalb kaum möglich, weil der Künstler zwischen Dokument und

eigener poetischer Kommentierung oszilliert. Die Inhalte beziehen sich häufig auf filmische

Atmosphären, Schauspieler und eine Ästhetik von Rainer Werner Fassbinder und dennoch zeigt

uns der Künstler Augenblicke, deren Geschichte wir nicht wirklich kennen. Seine Momente sind

so gewählt, dass sie weder schnell dekodierbar, noch rekonstruierbar sind und überwiegend

rätselhaft bleiben. Und doch ist die Ähnlichkeit zur täuschenden Realität eines Films verblüffend.

Film und Performance sind Inspiration für den Künstler: er verbindet erkenntnistheoretische

Fragen nach Wahrheitsgehalt und Lüge zwischen Spielfilm und Kunst.


Tina Winkhaus

Die Werkgruppe „Unter Tage“ der Künstlerin Tina Winkhaus fokussiert auf unterschiedliche

sichtbare und unsichtbare Gegebenheiten, die sich in einer Welt unter der Erdoberfläche abspielt.

Für die aus dem Ruhrgebiet stammende, fotografisch und digital arbeitende Winkhaus, ist der

Arbeitsplatz in der Tiefe ein Teil der kulturellen Herkunft. Die Künstlerin inszeniert diesen Ort,

der gewöhnlich voller Lärm und Staub besetzt ist, vollkommen anders. Der Arbeitsraum ist bei

ihr Lebensraum. Die düstere, licht-entfernte Gesamtatmosphäre verfestigt sich in allen Bildern

der Serie, jedoch wird diese durch Einzelfiguren oder Figurengruppen regelrecht kontaminiert.

Gleich Stillleben oder Film-Stills zeigen die einzel-betitelten Werke skurrile bis rituelle Szenen in

einer Schattenwelt. „Unter Tage“ verweist in seiner inszenatorischen Haltung auf jene Filme in

denen sich eine Unterwelt – aus was für Gründen auch immer – konstituiert hat und ihr

Eigenleben führt. Gleichzeitig verweist die Unterwelt aber auch kontrapunktisch auf eine

unsichtbare Oberwelt. In unserer Vorstellung als Publikum wollen wir uns nicht damit zufrieden

geben, uns in einer lichtlosen Welt zurecht finden zu müssen und erahnen Unterdrückungsmechanismen.

Der vermeintliche Kampf zwischen Unter- und Oberwelt ist ein klassisches Filmund

Science-Fiction-Thema wie bei „Matrix“, „Die Zeitmaschine“, „Snowpiercer“: Menschen die in

der Kanalisation von Städten leben, in unterirdischen Höhlen und Systemen oder ausgebeutet

unter Tage für eine soziale Oberschicht arbeiten müssen. Das Phänomen und die Kritik daran

stecken in den Bildwerken von Winkhaus. Die krassen Unterschiede von Umgebung zur

Inszenierung rütteln uns als Betrachter zunächst indifferent auf, denn wir kennen diese

aufgeputzten, modischen, ethnologischen oder kostümierten Menschen nur – wenn überhaupt,

aus völlig anderen Zusammenhängen. Die Nähe zur flämischen Barockmalerei wird ebenso

überdeutlich, nicht allein durch die Dramatik im Licht und den Kontrasten, sondern auch in der

Art und Weise der Zurschaustellung der Protagonisten.

Das platonische Höhlengleichnis steht auch hier Pate für die Fragestellungen, die sich aus dem

Zyklus ergeben. Was ist real, was ist der Unterschied zwischen meiner Wahrnehmung und der

Wahrheit an sich. Grundsatzfragen des Lebens stellen sich über Zeit, Vergänglichkeit und

Umgang damit.

Im geistigen Kosmos des Höhlengleichnisses schließt sich in der inhaltlichen Choreographie der

Ausstellung der Kreis und führt zum eingangserwähnten Jürgen Albrecht zurück.






Weitere Informationen:

Claus Friede*Contemporary Arts

Prof. Claus Friede

Kleiner Kielort 13

20144 Hamburg

Germany

T: +49 1577 3030 600

M: office@cfca.de

www.cfca.de

Ausstellungsvideo:

Produziert von

Claus Friede*Contemporary Arts und

der Herbert Gerisch-Stiftung

Grafikdesign: Janos Erdmann, Hamburg

Zusätzlich existiert ein

Rahmenprogramm zur Ausstellung mit

Lesung, Musik und Picknick (FRIENDLY

FOO(D)AGE – das Film-Picknick)

© cfca.de, 2016

Alle Rechte liegen bei den Künstlern,

beim Autor der Texte und

Claus Friede*Contemporary Arts.

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