«Stadtblick» 23:Layout 1 - Université de Fribourg
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WACHSTUM<br />
Zuwan<strong>de</strong>rung: Wohlstands -<br />
gewinne für wen?<br />
18 Stadtblick <strong>23</strong>/2011<br />
Bevölkerung und Wirtschaft im<br />
Raum Zürich wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n<br />
nächsten Jahren stark wachsen.<br />
Ob dadurch auch <strong>de</strong>r Wohl -<br />
stand zunimmt, hängt davon<br />
ab, wie die Politik mit <strong>de</strong>r sich<br />
verschärfen<strong>de</strong>n Knappheit <strong>de</strong>s<br />
Bo<strong>de</strong>ns und <strong>de</strong>r Infrastruktur<br />
umgeht.<br />
Reiner Eichenberger und David Sta<strong>de</strong>lmann,<br />
<strong>Fribourg</strong><br />
Entgegen <strong>de</strong>n Prognosen nahm die Zuwan<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>r Schweiz während <strong>de</strong>r Finanzkrise nur wenig ab.<br />
Heute nimmt sie auf historisch sehr hohem Niveau<br />
sogar wie<strong>de</strong>r zu. So lag die Netto zuwan <strong>de</strong> rung ge -<br />
mäss <strong>de</strong>n neusten verfügbaren Daten für September<br />
bis Dezember 2010 bei monatlich über 6800 Per -<br />
sonen und damit rund 3 Prozent höher als 2009.<br />
Zuwan<strong>de</strong>rung steigert Pro-Kopf-Einkommen<br />
Mit <strong>de</strong>r Personenfreizügigkeit treiben zwei Faktoren<br />
die Zuwan<strong>de</strong>rung: <strong>de</strong>r Schweizer Lebensstandard im<br />
Vergleich zum Ausland und die Verfügbarkeit von<br />
attraktiven Arbeitsstellen. Bei<strong>de</strong>s entwickelt sich po -<br />
sitiv. Die Schweiz hat dank ihrer guten politischen<br />
Institutionen – insbeson<strong>de</strong>re direkte Demokratie und<br />
wettbewerblicher Fö<strong>de</strong>ralismus – vergleichsweise<br />
gesun<strong>de</strong> Staatsfinanzen, stabile Sozialwerke, gute<br />
Infrastruktur, flexible Arbeitsmärkte und dadurch<br />
eine tiefe Arbeitslosigkeit. Diese Eigenschaften halfen<br />
<strong>de</strong>r Schweiz durch die Krise, sie schaffen gute<br />
Wachstumsaussichten und <strong>de</strong>r Bevölkerung bleibt<br />
mehr vom Wachstum als in <strong>de</strong>n meisten Län<strong>de</strong>rn<br />
Europas. Denn diese haben grosse Staats<strong>de</strong>fizite<br />
und riesige implizite Schul<strong>de</strong>n durch unge<strong>de</strong>ckte zu -<br />
künftige Rentenansprüche. Damit wird die Schweiz<br />
erst recht zum Erwerbstätigenparadies, was eine<br />
weitere Zunahme <strong>de</strong>r Zuwan<strong>de</strong>rung wahrscheinlich<br />
macht.<br />
Was be<strong>de</strong>utet das wirtschaftlich für die bisherigen<br />
Einwohner? Natürlich erhöht die Einwan<strong>de</strong>rung das<br />
Gesamteinkommen. Viel wichtiger ist aber, was mit<br />
<strong>de</strong>m Pro-Kopf-Einkommen passiert. Dafür ist dreierlei<br />
relevant:<br />
Erstens senkt die heutige hoch qualifizierte Zuwan -<br />
<strong>de</strong>rung die Knappheit solcher Arbeitskräfte und<br />
damit ten<strong>de</strong>nziell ihre Entlöhnung. Dadurch sinken<br />
die realen Lohnkosten <strong>de</strong>r Unternehmen, was die<br />
Wettbewerbsfähigkeit <strong>de</strong>r Schweiz sowohl für Ex -<br />
porte wie auch als Firmenstandort steigert, also neue<br />
Investitionen und Unternehmungen anzieht. Zu<strong>de</strong>m<br />
sinkt das Preisniveau, was <strong>de</strong>n Reallohnverlust verkleinert.<br />
Da die neuen Firmen und hoch qualifizierten<br />
Zuwan<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n viele Güter und Dienstleistungen<br />
nachfragen, <strong>de</strong>ren Herstellung auch gering qualifizierter<br />
Arbeit bedarf, steigt die Nachfrage nach<br />
wenig qualifizierten Arbeitnehmen<strong>de</strong>n und damit<br />
<strong>de</strong>ren Entlöhnung.<br />
Zweitens bringen hoch qualifizierte Zuwan<strong>de</strong>rn<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>m Staat meist mehr Einnahmen als Ausgaben.<br />
Dieser sogenannte fiskalische Überschuss hilft, die<br />
Ab ga ben last zu senken und die Sozialsysteme zu<br />
stabilisieren.<br />
Drittens steigert die heutige Zuwan<strong>de</strong>rung das<br />
durchschnittliche Qualifikationsniveau. Die mo<strong>de</strong>rne<br />
Wachstumsökonomik zeigt, dass die Wirtschaft da -<br />
bei anpassungsfähiger und innovativer wird, was die<br />
gesamtwirtschaftliche Produktivität vergrössert.<br />
Durch diese drei Mechanismen lässt die neue<br />
Zuwan<strong>de</strong>rung die Einkommen sowohl von hoch wie<br />
von wenig Qualifizierten steigen. Dem wirken jedoch<br />
zwei Faktoren entgegen.<br />
Grenzen <strong>de</strong>s Wachstums<br />
Zum einen ziehen die Lohnsteigerungen zusätzliche<br />
hoch und niedrig qualifizierte Zuwan<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> an. Das<br />
drückt zwar zuerst die Löhne, löst aber zugleich wie<strong>de</strong>r<br />
einen neuen Wachstumszyklus aus. Insgesamt<br />
ergibt sich dadurch bei leicht erhöhtem Pro-Kopf-<br />
Einkommen ein paralleles Wachstum <strong>de</strong>r Gesamt -<br />
wirtschaft und <strong>de</strong>r Einwohnerzahl.<br />
Zum an<strong>de</strong>ren begrenzt die Verknappung <strong>de</strong>r immobilen<br />
Faktoren Bo<strong>de</strong>n und Infrastruktur die Wohl -<br />
stands wirkung. Je mehr Arbeit und Kapital in die<br />
Schweiz fliessen, <strong>de</strong>sto knapper wird <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n,<br />
wodurch Bo<strong>de</strong>npreise und Mieten steigen. Folglich<br />
kann sich die Zuwan<strong>de</strong>rung trotz positiver Einkom -<br />
menseinflüsse auch negativ auf die bisherige Be -<br />
völkerung auswirken. Das illustriert <strong>de</strong>r Kanton Zug.
Die steigen<strong>de</strong> Nachfrage erhöht <strong>de</strong>n Druck auf die Bo<strong>de</strong>npreise.<br />
Er ist zwar für alle Beschäftigten steuerlich und leis -<br />
tungsmässig überaus attraktiv. Mittlerweile sind aber<br />
dort die Immobilienpreise so hoch, dass sich die<br />
Zuwan<strong>de</strong>rung nur noch für sehr gut Verdienen<strong>de</strong><br />
lohnt. Die «Zugisierung» wird zunehmend auch<br />
Zürich prägen. Zürich ist für Zuwan<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> und<br />
Firmenneuansiedlungen beson<strong>de</strong>rs attraktiv und mit<br />
steigen<strong>de</strong>r Internationalisierung nimmt die Attrak -<br />
tivität auf weitere Zuwan<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> noch zu.<br />
Was soll die Politik nicht tun?<br />
Angesichts steigen<strong>de</strong>r Mieten for<strong>de</strong>rn viele, <strong>de</strong>r Staat<br />
solle die weniger gut Verdienen<strong>de</strong>n durch Markt ein -<br />
griffe schützen. Tatsächlich aber bewirken solche<br />
Eingriffe zumeist genau das Gegenteil.<br />
Staatliche Min<strong>de</strong>stlöhne zur Erhöhung <strong>de</strong>r Ein kom -<br />
men relativ niedrig qualifizierter Einheimischer versagen<br />
mit <strong>de</strong>r Personenfreizügigkeit erst recht. Hohe<br />
Min<strong>de</strong>stlöhne ziehen mehr Zuwan<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> an und<br />
bewirken eine Verdrängung relativ gering qualifizierter<br />
Einheimischer.<br />
Staatliche Höchstmieten heizen die Übernutzung<br />
<strong>de</strong>s knappen Wohnraums nur noch an. Denn zum<br />
einen bewirken sie eine Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Nachfrage,<br />
weil sich so die bisherige Bevölkerung mehr Wohn -<br />
raum leisten will und die Stadt für Neuzuziehen<strong>de</strong><br />
attraktiv wird. Zum an<strong>de</strong>ren bewirken sie eine Ver -<br />
min<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Wohnraumangebots, weil sie die<br />
Anreize <strong>de</strong>r Investoren senken, neuen Wohnraum<br />
bereitzustellen und <strong>de</strong>n alten gut zu unterhalten.<br />
Höchstmieten nützen <strong>de</strong>shalb nur <strong>de</strong>n Glücklichen,<br />
die durch Zufall, gute Beziehungen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Ge -<br />
gen leistungen eine unterpreisige Wohnung erhalten.<br />
Sie scha<strong>de</strong>n aber gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>n sozial Schwächsten,<br />
die sich im Rennen um die knappen Wohnungen<br />
nicht durchsetzen können.<br />
Um möglichst die bisherige Einwohnerschaft zu<br />
begünstigen, könnten Neuzuziehen<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>r<br />
Vergabe künstlich verbilligten Wohnraums in <strong>de</strong>r<br />
einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Form diskriminiert wer<strong>de</strong>n. Das<br />
verstösst aber gegen Recht und Geist <strong>de</strong>r Frei -<br />
zügigkeitsabkommen. Rechtlich zulässig wäre, die<br />
Mieten nur für Altmieter festzuschreiben. Dies wür<strong>de</strong><br />
aber Mieterinnen und Mieter immobil machen, weil<br />
sie beim Umzug ihre Privilegien verlieren, und wie<strong>de</strong>rum<br />
die Anreize <strong>de</strong>r Vermieter senken, ihre<br />
Liegenschaften gut zu unterhalten.<br />
Auch <strong>de</strong>r soziale Wohnungsbau für die einen (auf<br />
Kosten <strong>de</strong>r Allgemeinheit) führt nur zu einer Ver knap -<br />
pung <strong>de</strong>s Bo<strong>de</strong>ns für die an<strong>de</strong>ren. Zu<strong>de</strong>m macht er<br />
die Stadt für unqualifizierte Zuwan<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> attraktiver.<br />
Weil sie sozial oft schlechtergestellt sind als die bisherige<br />
Bevölkerung, haben sie bei einer formalisierten<br />
Wohnungszuteilung sogar bessere Chancen.<br />
Was aber kann die Politik tun?<br />
Erstens kann versucht wer<strong>de</strong>n, die Gewinne aus <strong>de</strong>r<br />
Zuwan<strong>de</strong>rung mit speziellen Steuern und Abgaben<br />
von <strong>de</strong>n Zuwan<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n auf die Ansässigen umzulenken.<br />
Lei<strong>de</strong>r aber erweist sich das als äusserst<br />
schwieriges Unterfangen. Beispielsweise könnten<br />
die durch die Bo<strong>de</strong>npreissteigerung ausgelösten<br />
Mehrwerte abgeschöpft und umverteilt wer<strong>de</strong>n. Eine<br />
gezielte Verwendung dieser Mittel zugunsten <strong>de</strong>r<br />
19
WACHSTUM<br />
20 Stadtblick <strong>23</strong>/2011<br />
Bisherigen dürfte sich aber – auch rechtlich und<br />
ethisch – als schwierig erweisen. Ein Einsatz <strong>de</strong>r<br />
Mittel für allgemeine Steuersenkungen o<strong>de</strong>r zur Ver -<br />
besserung staatlicher Leistungen steigert wie<strong>de</strong>rum<br />
die Attraktivität für Neuzuziehen<strong>de</strong> und damit die<br />
Bo<strong>de</strong>nknappheit.<br />
Wir kennen nur wenige Massnahmen, die gezielt die<br />
bisherige Bevölkerung entlasten. So könnten Belas -<br />
tungen abgeschafft wer<strong>de</strong>n, die vor allem sie treffen.<br />
Die be<strong>de</strong>utendste solche Belastung ist die Wehr -<br />
pflicht. Ihre Aufhebung und <strong>de</strong>r Übergang zum<br />
Wehr mo<strong>de</strong>ll, einer freiwilligen Miliz mit Finanzierung<br />
aus allgemeinen Steuern, wür<strong>de</strong>n die Schweizer -<br />
Innen entlasten. Ein an<strong>de</strong>rer Ansatz ist, jene Tätig -<br />
keiten besser zu entlöhnen, die vor allem von Ein hei -<br />
mischen ausgeführt wer<strong>de</strong>n und wenigstens laut <strong>de</strong>n<br />
betroffenen Berufsgruppen – z.B. Polizisten, Lehrer<br />
und Politiker – weit unterbezahlt sind.<br />
Zweitens können die vorhan<strong>de</strong>nen knappen Res -<br />
sourcen, d.h. Bo<strong>de</strong>n und Infrastruktur, effizienter<br />
genutzt wer<strong>de</strong>n. Die heutige Zersie<strong>de</strong>lung und<br />
Infrastrukturüberlastung ist oft weniger Folge <strong>de</strong>s<br />
Bevölkerungswachstums als <strong>de</strong>r heutigen unsinnigen<br />
Subventionierung <strong>de</strong>r Mobilität. Eine verursachergerechte<br />
Anlastung <strong>de</strong>r externen und betrieblichen<br />
Kosten <strong>de</strong>s privaten und öffentlichen Verkehrs<br />
durch ein mo<strong>de</strong>rnes Road- bzw. Mobilitypricing an<br />
die Verkehrsteilnehmer wür<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong>r wirken. Mit<br />
an<strong>de</strong>ren Worten: Heute gilt es mehr <strong>de</strong>nn je, die<br />
typisch ökonomischen Vorschläge zur besseren<br />
Nutzung <strong>de</strong>r knappen Mittel und Ressourcen umzusetzen.<br />
Denn sie steigern <strong>de</strong>n Wohlstand und die<br />
Lebensqualität für alle Einwohnerinnen und Ein -<br />
wohner <strong>de</strong>r Schweiz.<br />
Drittens kann versucht wer<strong>de</strong>n, die knappen Res -<br />
sour cen zu vermehren. Während das bei <strong>de</strong>r Infra -<br />
Die Mobilität sollte verursachergerecht belastet beziehungsweise besteuert wer<strong>de</strong>n.<br />
struktur sehr teuer ist, ist es beim Bauland eigentlich<br />
leicht möglich. Der knappe Bo<strong>de</strong>n sollte <strong>de</strong>r Nutzung<br />
zugeführt wer<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n grössten Nutzen bringt.<br />
Heute sind die Preise und damit <strong>de</strong>r Nutzen von<br />
Bo<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Wohnzonen typischerweise viel höher<br />
als in <strong>de</strong>n Industrie- und Gewerbezonen. Mit Um zo -<br />
nungen könnten einfach riesige Mehrwerte geschaffen<br />
und die Knappheit an Wohnraum massiv gesenkt<br />
wer<strong>de</strong>n. Problematisch mag die Umnutzung von<br />
Grün- und Landwirtschaftsflächen durch Einzonun -<br />
gen erscheinen. Aber ist es nicht noch problematischer,<br />
die Bevölkerung durch Zuwan<strong>de</strong>rung massiv<br />
wachsen zu lassen, ohne ihr <strong>de</strong>n nötigen Wohnraum<br />
zu geben? In <strong>de</strong>n letzten Jahren wur<strong>de</strong>n viele alte<br />
Traditionen hinterfragt. Das sollten wir wohl auch mit<br />
unserer Zonenordnung tun.<br />
Diese kurze Diskussion möglicher Massnahmen<br />
zeigt: Ein offener Diskurs über eine bessere Ver -<br />
teilung <strong>de</strong>r grossen, aber sehr ungleich verteilten<br />
Zuwan<strong>de</strong>rungsgewinne ist genauso nötig wie<br />
schwierig. Konstruktive Vorschläge müssen sich<br />
nicht nur in einem durch internationale Verträge und<br />
Gepflogenheiten gegebenen Rechtskorsett bewegen,<br />
sie können auf <strong>de</strong>n ersten Blick auch oft be -<br />
fremdlich wirken. Trotz<strong>de</strong>m: Die kommen<strong>de</strong> Zuwan -<br />
<strong>de</strong>rung führt zu riesigen Verän<strong>de</strong>rungen. Nur wenn<br />
die Diskussion rechtzeitig geführt wird, besteht Ge -<br />
währ, dass sinnvolle Massnahmen ergriffen wer<strong>de</strong>n.<br />
Reiner Eichenberger, Dr. rer. pol., Ordinarius für Theorie <strong>de</strong>r<br />
Wirtschafts- und Finanzpolitik an <strong>de</strong>r Universität Fri bourg<br />
sowie Forschungsdirektor von CREMA (Center of Research<br />
in Economics, Management and the Arts)<br />
David Sta<strong>de</strong>lmann, Dr. rer. pol., Oberassistent am Depar te -<br />
ment für Volkswirtschaftslehre <strong>de</strong>r Universität <strong>Fribourg</strong><br />
sowie Research Fellow von CREMA