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PUBLIKATION KONRAD ROSS

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Elendsgebiets annimmt, Afrika von Barackenvierteln zerfressen wird, Passagier- und Militärflugzeuge die Reinheit des amerikanischen oder

melanischen Urwalds beflecken, noch bevor sie ihre Jungfräulichkeit zu zerstören vermögen, – was kann die angebliche Flucht einer Reise da

anderes bedeuten, als uns mit den unglücklichsten Formen unserer historischen Existenz zu konfrontieren?” 23 Man beachte allerdings, wie die

negative eskapistische Definition erst durch die nur ästhetisch überzeugende Konstruktion der fiktiven “Unschuld” genährt wird, die wir immer

noch suchen und die immer noch die Kraft hat, menschliches Handeln zu inspirieren und zu motivieren. Das Leitmotiv des Anthropologen

kehrt mit einem Schönheitsideal die Logik des Fortschritts lediglich um. Die westliche Kultur als “Schöpferin all der Wunder” der Zivilisation

hat bekanntlich ihre “Kehrseiten”. “Und so verstehe ich die Leidenschaft für Reiseberichte, ihre Verrücktheit und ihren Betrug. Sie geben

uns die Illusion von etwas, das nicht mehr existiert und doch existieren müsste, damit wir der erdrückenden Gewissheit entrinnen, dass

zwanzigtausend Jahre Geschichte verspielt sind.” Merkwürdigerweise plädiert der Anthropologe gleich am Anfang seiner Karriere für das Ende

seiner Exkursion. Die “Ordnung und Harmonie des Abendlandes” verursacht eine “Flut schädlicher Nebenprodukte […], die heute die

Erde vergiften. Was uns die Reisen in erster Linie zeigen, ist der Schmutz, mit dem wir das Antlitz der Menschheit besudelt haben.” 24

Aber es gibt andere Sichtweisen. Und andere Ansätze zum Reisen. Konrad Ross scheint in der direkten Begegnung mit der Kultur in ihren

eigenen Gefilden zu gedeihen. Er entwurzelt sich selbst, um dorthin zu gelangen. In Every Garden ist die Frucht seines Ausflugs nach Lyon,

wo er Laurent-Honoré Marquestes Werk kennen lernte; mit Vanity besucht er die Glyptotek in Kopenhagen, ein beliebtes Ausflugsziel des

Künstlers in den Jahren, die er in Dänemark verbrachte; in Goliath und Sangoma kehrt der Künstler in seine Heimat Südafrika zurück;

und Bishnoi führt den Zuschauer nach Indien. Wenn solche Reisen Zaubertruhen sind, die ihre Schätze nie unbefleckt preisgeben (wie

das oxidierte Kupfer in Swan Song andeutet), sind sie nicht weniger kraftvoll als Reflexionen ästhetischen Widerstands. Ob in Albanien oder

Japan oder bei den Einheimischen in Peru, die Bilder, die Konrad Ross entwirft, ähneln in keiner Weise den trügerischen Reisebüchern, die

Lévi-Strauss verabscheut. Es gibt keine traumhaften Versprechungen, die als Gegengift gegen bürgerliche Langeweile und westeuropäische

Lethargie angepriesen werden. Denn der Künstler lebt in einer anderen Welt – wie wir alle. Lévi-Strauss dachte in einer globalen Dichotomie

von hier versus dort. Die koloniale binäre Opposition lässt glauben, dass die indigenen Umgebungen geplündert werden könnten, während

die Landschaften des westlichen Kapitalismus intakt bleiben. Doch in ganz Deutschland gehen die Ernten zurück, Brände bedrohen

Los Angeles (und zwingen das Getty-Museum zur Schließung), und schätzungsweise vier Millionen Todesfälle im Jahr 2016 sind laut WHO auf

Luftverschmutzung zurückzuführen. Der “Schatten”, den die Vergangenheit auf die Gegenwart wirft, erstreckt sich im Werk von Konrad Ross

wie ein anthropologischer Maßstab vom Paläolithikum bis zum Anthropozän. Solche geologischen Epochen überschreiten kulturelle Identitäten

und nationale Grenzen. Die Entropie ist überall. Dennoch bietet die ästhetische Entropologie Bilder des Widerstands, zum Teil mit kongenial

einfachen Lektionen. Mit einigen der Masken, die der Künstler trägt, werden wir vielleicht gewarnt, dass kein Museum, keine in Stein gehauene

Ikone der Unsterblichkeit gegen die Kräfte der Veränderung gefeit ist. Soll die Menschheit fortbestehen, muss das Substrat der menschlichen

Existenz – der Körper – überleben. Und solange sich die Spuren der Hand wiederholen, wird die schicksalsgestaltende Kraft der Kunst noch

im Spiel sein.

23 Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, Frankfurt/Main, ebenda.

24 Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, Frankfurt/Main, ebenda, Kursiv vom Verfasser.

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