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Die transgenerationale Weitergabe von Traumata Elisabeth Elster

Versuch einer autobiographischen Annäherung

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„Wenn wir irgendetwas aus dem Holocaust lernen können dann,

wie eine Welt ohne Menschlichkeit und ohne Liebe aussehen

kann“.

Zitat: Dr. P. Pogany-Wnendt Deutschlandfunk (2021)

Die transgenerationale Weitergabe von

Traumata

Elisabeth Elster

Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Für die

Wissenschaft geht es bei dieser Frage darum, was beim

Menschen angeboren und was erworben ist.

„Ein komplexes Zusammenspiel von Veranlagung,

Umwelteinflüssen, Erziehung und Lebensweise bestimmt unser

Verhalten. Uns beeinflusst eigentlich alles, womit unser Körper

in Berührung kommt. Und das sowohl von innen als auch von

außen. Ernährung, Rauchen, Alkohol, Stress, Sport, Wut,

soziales Engagement alles, was unser eigenes Ich verändert“.

Prof. Isabelle Mansuy 1

Wir tragen alle auch die Erfahrungen unserer Vorfahren in uns.

Unsere eigenen Lebensentwürfe sind häufig bewusst oder

unbewusst, gefördert und inspiriert durch positive

Familienüberlieferungen, auf die wir ZURÜCKgreifen. Ein

bestimmter Charakterzug des Großvaters, bestimmte

Neigungen, Berufe, Sprachbegabungen, künstlerische Talente

und andere Fähigkeiten sind oft angeboren. Der Apfel fällt

eben nicht weit vom Stamm.

Nicht selten gibt es auch die andere Seite dieser Medaille.

1 Mansuy I: „Unser Umfeld ist entscheidend, Und was beeinflusst die Epigenome beim Menschen?“, unter URL-Dokument/

https://taz.de/Forscherin-ueber-Epigenetik/!5744430/ (abgerufen am 19.06.2021).

1


„Jeder Mensch hat wohl in sich eine mehr oder weniger vor

sich selbst verborgene Kammer, in der sich die Requisiten

seines Kindheitsdramas befinden. Die einzigen Menschen, die

mit Sicherheit Zutritt zu dieser Kammer bekommen werden,

sind seine Kinder“. Alice Miller 2

„Unsere Eltern, Großeltern und Urgroßeltern sind

Kriegsüberlebende. Um zu überleben und ein Land wieder

aufzubauen, mussten sie alle gute Strategien entwickeln.

Darüber zu sprechen, was geschehen war, gehörte sicher nicht

dazu. Das Schweigen über die Schrecken des Vergangenen ist

Teil der kollektiven Traumatisierung. Wir kämpfen seit

nunmehr fast 8 Jahrzehnten um eine „Erinnerungskultur“ und

gegen das Vergessen, damit „so etwas“ nie wieder geschehen

kann, während sich eine neue Rechte formiert, die kein Blatt

mehr vor den Mund nimmt.

Noch bei der vor-vorletzen Fußball WM war es für viele

befremdlich und eigenartig, dass plötzlich überall

Deutschlandfahnen Autos und Balkone zierten. All das zähle

ich auf, um zu zeigen, wie tief und unbenannt die

Vergangenheit und ihre dunklen Schatten in unserer

Gesellschaft wirken“. Verena König 3

So gut wie keine deutsche Familie ist von den Auswirkungen

des Krieges verschont geblieben. Der Krieg ist lange her. Aber

ist er auch Geschichte? Das unfassbare Ausmaß an Schrecken,

Leid und Schuld im Nationalsozialismus hat die Menschen

geprägt. Die Ereignisse von Krieg, Vertreibung und Flucht

haben traumatisch auf sie gewirkt.

Trauma heißt Verletzung/Wunde. Beeindruckende

Forschungsergebnisse belegen heute die Auswirkungen von

traumatischen Erfahrungen bis in nachfolgende Generationen

hinein. Auf diese Weise haben unsere heutigen

Lebenserfahrungen Konsequenzen nicht nur für uns, sondern

auch für unsere Nachkommen. „Traumatische Erlebnisse

2 Miller A.: Drama des begabten Kindes Seite 44

3 König V. Traumatherapeutin: „Kreative Transformation, EINE GESELLSCHAFT, DIE ZWEI WELTKRIEGE

ERLEBT HAT, LEIDET AN EINEM KOLLEKTIVEN TRAUMA“ unter: URL-Dokument/

https://www.verenakoenig.de/blog-und-podcast/109-transgenerationale-weitergabe-von-traumatisierung

(abgerufen am 19.06.2021)

2


hinterlassen Spuren im Erbgut, jedoch diese Spuren können

wiederum durch eine positive und anregende Umgebung auch

wieder rückgängig gemacht werden. Diese neuerlichen

Veränderungen werden dann wiederum an die nächste

Generation weitergegeben“. Anne Volkmann 4

„Im Gegensatz zu den Genen sind epigenetische Informationen

flexibel und je nach Umwelt und Lebensstil veränderbar. Wir

sind also mehr als die Summe unsere Gene – und es gibt

Mittel und Wege, diese zu beeinflussen.“ Nina Himmer 5

Das Max-Planck-Institut, Prof. Dr. Alon Chen, in München hat

diese Vererbung, die Epigenetik, auf die Gene der

Nachkommen erforscht.

„Epigenetik gilt als das Bindeglied zwischen Umwelteinflüssen

und Genen und erklärt, unter welchen Umständen welches Gen

angeschaltet wird und wann es wieder stumm wird“. Franziska

Badenschier und Thomas Schwarz. 6 „Ähnlich der Hard- und Software

eines Computers sind die Gene unsere Hardware. Die

Epigenetik als Software entscheidet, welche Informationen wie

genutzt werden“. Nina Himmer 7

Traumatische Erlebnisse können nicht nur durch ein

verändertes Verhalten weitergegeben werden, sondern auch

durch Vererbung. Darauf deuten Versuche mit Mäusen hin.

Dabei wird nicht nur das Erkrankungsrisiko beleuchtet,

sondern auch, was Schutzfaktoren (Resilienzfaktoren) sind.

So erleben die Nachkommen Schmerz, Verlust und großes Leid

als Kriegskinder und Kriegsenkel, obwohl ihnen die Gnade der

späten Geburt zuteil wurde. Manchmal reicht ein

Menschenleben nicht aus, um die seelischen Folgen zu

verarbeiten.

4 Volkmann A.: „Gesundheitsstadt Berlin, Epigenetik: Spuren von Traumata über Generationen nachweisbar“

unter: URL-Dokument/ https://www.gesundheitsstadt-berlin.de/epigenetik-spuren-von-traumata-uebergenerationen-nachweisbar-12501/

(abgerufen am 19.06.2021)

5 Himmer, N: „Focus Gesundheit, Wie sich der Lebensstil auf die Gene auswirkt“ unter: URL-Dokument/

https://focus-arztsuche.de/magazin/gesundheitstipps/auswirkung-des-lebensstils-auf-die-gene (abgerufen am

19.06.2021)

6 Badenschier, F. und und Schwarz, Th.: „Planet Wissen, Epigenetik“ unter: URL-Dokument/

https://www.planet-wissen.de/natur/forschung/epigenetik/index.html (abgerufen am 19.06.2021)

7 Himmer, N: „Focus Gesundheit, Wie sich der Lebensstil auf die Gene auswirkt, Was ist Epigenetk“ unter:

URL-Dokument/ https://focus-arztsuche.de/magazin/gesundheitstipps/auswirkung-des-lebensstils-auf-die-gene

(abgerufen am 19.06.2021)

3


„Traumatisierende seelische Erschütterungen der Täter und der

Verfolgten finden ein Echo in ihren Entwicklungsverläufen“.

Angela Moré, 8 Es wird dann auch von unbewussten Erbschaften

gesprochen. „In Fachkreisen ist man sich darüber einig, dass

Traumata solange weitergegeben werden, solange sie

unbearbeitet bleiben“. Andrea Panier 9

Diese Weitergabe erfolgt dann oft nicht durch Worte, sondern

wirkt besonders stark über Unausgesprochenes. „Dabei wird

nicht das Trauma selbst, sondern die Art und Weise seiner

Verarbeitung und somit eine erhöhte Stressanfälligkeit,

Nervosität und Sensitivität an die folgende Generation

vermittelt“. Eva Maria Seibel 10

„Transgenerationale Epigenetik ist die Wissenschaft, die sich

mit den Fragen der transgenerativen Weitergabe beschäftigt“

Cathleen Wendel 11 . „Das Epigenom sorgt für die Einzigartigkeit und

dynamische und modulierbare Anpassungsfähigkeit eines jeden

Individuums“. Ulrike Schmidt 12

Freud bezeichnete diesen Vorgang als »Gefühlserbschaft«.

„Haydée Faimberg beschreibt mit dem Begriff »Telescoping«

die Auflösung der festen Generationengrenzen und das

Ineinanderschieben der gegenwärtigen und vergangenen

Erfahrungen oft mehrerer Generationen“. Amelie Victoria Beatrice

Meyer-Madaus 13

8 Moré, A.: „Gewalt und Trauma, Traumatische Verstrickungen zwischen Generationen. Das unbewusste Erbe

von Kriegs- und Täterenkeln im interkulturellen Vergleich“ unter URL-Dokument/

https://www.psychohistorie.de/tagungen/32_Jahrestagung_Exposes.pdf (abgerufen am 19.06.2021)

9 Panier A.. Transgenerationale Weitergabe kriegs- und nachkriegsbelasteter Kindheiten,

Abspaltung/Vermeidung/Schweigen“, unter URL-Dokument/ https://monami.hsmittweida.de/frontdoor/deliver/index/docId/4394/file/14_01_31_BA_PANIER.pdf

(abgerufen am 19.06.2021)

10 Seibel, E, M: „Trauma und Transgenerationale Transmission“ unter: URL-Dokument/

http://www.evaseibel.de/portfolio-kriegsenkel (abgerufen am 19.06.2021)

11 Wendel C.: „Schuld und Trauma in der Familie, Erinnerungen werden nicht vererbt“, unter: URL- Dokument/

https://www.cathleen-wendel.de/schwerpunkte/schuld-und-trauma-in-der-familie/ (abgerufen am 19.06.2021)

12 Schmidt, U,: „Die Posttraumatische Belastungsstörung – ein Resultat dysfunktionaler epigenetischer

Adaptationsprozesse?, Zusammenfassung“, unter: URL-Dokument/ https://sbt-in-berlin.de/cipmedien/07.Schmidt.pdf

(abgerufen am 19.06.2021)

13 Meyer-Madaus A.: „Die transgenerationale Weitergabe traumatischer Kriegserlebnisse am Beispiel des Hamburger

Feuersturms 1943 – eine qualitative Studie aus der Familienperspektive, Page 15“, unter: URL-Dokument/

https://webcache.googleusercontent.com/search?q=cache:E939FkFp4eIJ:https://ediss.sub.uni-

4


Versuche zeigen, es gibt eine genetische Komponente.

„Epigenetische Studien zeigen, das Markierungen auf der DNA

durch die Folgen traumatischer Erfahrungen aktiviert oder

deaktiviert werden, also ob ein Erbfaktor ruht oder arbeitet.

Diese Markierungen werden vererbt und prägen das Verhalten

der nächsten Generation“. Martina Janning 14

klassische Konditionierung

„Ein Tierexperiment zeigt die transgenerationalen Weitergabe

von Traumata: Mäusen werden dem für sie neutralen Geruch

von Kirschblüten ausgesetzt, diesem Geruch folgt dann ein

Elektroschock. Nachdem beides mehrmals miteinander

verknüpft worden ist, erstarren die Mäuse schon beim bloßen

Duft von Kirschblüten vor Angst“. Stefan Zettl 15

Die besondere Beobachtung hierzu:

„Auch die Nachkommen der konditionierten Mäuse reagieren

vermeidend auf den Geruch von Kirschblüten, obwohl sie

selbst nie konditioniert wurden. Die Reaktion erfolgt nur auf

den Geruch von Kirschblüten, nicht auf andere Gerüche. Die

abwehrende Reaktion ist bis in die fünfte Nachfolgegeneration

zu beobachten“. Dias, B.G., Ressler, K. 16

hamburg.de/bitstream/ediss/8681/1/Dissertation%2520Amelie%2520Meyer-

Madaus%252006112020.pdf+&cd=3&hl=de&ct=clnk&gl=de (abgerufen am 19.06.2021)

14 Janning, M.: „Trauma-Folgen werden an die Mäusekinder weitergegeben“, unter: URL-Dokument/ https://www.planetwissen.de/gesellschaft/krankheiten/stress/stress-vererbung-100.html

(abgerufen am 19.06.2021)

15 Zettl, St.: „Gespenster im Kinderzimmer Transgenerationale Weitergabe von Traumata, Tierexperiment zur

transgenerationalen Weitergabe von Traumata“, unter: URL-Dokument/ http://www.stefanzettl.de/pdfs/traumaweitergabe_aktuell.pdf

(abgerufen am 19.06.2021)

16 Dias, B.G., Ressler, K. (2014): Parental Olfactory Experience Influences Behavior and Neural Structure in

Subsequent Generations. Nature Neuroscience 17: 89 – 96 unter: URL-Dokument/ http://www.stefanzettl.de/pdfs/traumaweitergabe_aktuell.pdf

(abgerufen am 19.06.2021)

5


In Mitleidenschaft ge- erzogen

Ich spürte genau, dass es bei meinen Eltern offensichtliche

und unerreichbare Dinge gab, über die sie nicht sprechen

wollten. Meine Eltern waren lebenslang nicht in der Lage über

ihre Lebensgeschichten zu sprechen. Die Weitergabe erfolgte

trotzdem ungewollt, über das nicht sprechen.

2016 erlebte ich einen kritischen und schwer zu ertragenden

Wendepunkt in meinem Leben. Erstmals erfuhr ich, mit fast 60

Jahren, von der Sinti-Abstammung meines Großvaters und was

mit seiner großen Familie in Auschwitz und den anderen

Konzentrationslager geschehen war.

Die späte Vergegenwärtigung der ungeheuerlichen Nazi-

Verbrechen an meinen Vorfahren und das große Schweigen

darüber, bewegen mich heute tief. Das großelterliche und

elterliche Schweigen über den schweren Verlust in meiner

Familie, war wie eine Dunkelheit, die erst in der dritten

Generation kraftvoll ans Licht zurückkehrte.

Ich kann nicht von mir sprechen, ohne auch ihre Erfahrungen

zu nennen? Ich spreche in meiner Muttersprache, also auch in

ihrer? Sobald ich von mir spreche, spreche ich unvermeidlich

auch von ihnen. Ihr Schweigegebot weiter zu befolgen würde

für mich bedeuten, ein Stück von mir zu verbannen.

Mit jedem Wort von mir, das heute in die Öffentlichkeit

gelangt, übertrete ich ein ehemals überlebenswichtiges Tabu -

die Sprachlosigkeit über ihre traumatischen Erfahrungen

während der NS-Zeit. Heute spreche ich davon, dass meine

Mutter als 14-jährige auf einer Deportationsliste stand, dass

viele meiner Tanten, Großonkel und meine Urgroßmutter im

Holocaust ermordet wurden. Bei jeder Berichterstattung zum

Thema wird mir bewusst: mich und damit auch meine Kinder

hätte es beinahe nicht gegeben. Und wenn es heute wieder

passiert, sind auch wir mittendrin.

Ich begann diesen schmerzlichen Gefühlen nachzuspüren, den

Schmerz zuzulassen und mich vor allem mit den eigenen

emotionalen Prozessen auseinanderzusetzen. Das Erfahren

dieser Tatsachen, das Schreiben, das Sprechen darüber und

auch das Verfilmen dieser unaussprechlichen Ereignisse,

brachten mich auf den Weg, eine finstere Wolke, die bis dahin

zu mir gehörte, zu verschieben.

6


Aber nicht nur ich bin aufgewachsen mit dem großen

Schweigen, das vor allem einmal schützen sollte. Neben den

vielen Opferfamilien des Holocaust gilt dieses Schweigen auch

für die Nachkommen der Täterfamilien, Mitläuferfamilien,

Wegseherfamilien und Nutznießerfamilien. In vielen deutschen

Familien wird bis heute eisern geschwiegen oder verschleiert,

vertuscht, verdunkelt, verharmlost oder beschönigt.

„Spricht man vom seelischen Trauma ist ein Ereignis gemeint,

welches die vorhandenen Bewältigungsstrategien eines

Menschen übersteigt. Der Mensch findet sich in einer äußerst

bedrohlichen Situation wieder, auf welche er nicht mit den ihm

bekannten Mitteln, Kampf oder Flucht, reagieren kann“. Dr. Wibke

Vogt 17

Wenn das schwere Schicksal der Vorfahren auch im eigenen

Leben eine wichtige Rolle spielt und die seelischen

Erschütterungen der Großeltern ein Echo in den eigenen

Entwicklungsverläufen hervorrufen, haben wir vermutlich ein

solches Erbstück unbewusst schon übernommen. „Keine

Generation kann seine Kinder davor bewahren; keine ist

imstande diese bedeutsamen seelischen Vorgänge vor der

nächsten Generation so zu verbergen, dass sie davon völlig

unberührt bleibt“. Anna Staufenbiel-Wandschneider 18 So wird es möglich,

dass etwas, was ich gar nicht persönlich erlebt habe, in

meinem Leben dennoch wirksam ist. Selbst dann, wenn ich

das Schicksal der Vorgenerationen nicht einmal kenne, weil nie

darüber gesprochen wurde. Solche Erinnerungen sind keine

Eins-zu-eins-Kopien, denn sie sind durch die

Weiterverarbeitung im individuellen Gedächtnis verändert,

eher bruchstückhaft oder nebulös vorhanden, können aber

dennoch sehr kraftvoll wirken.

17 Vgl.: Voigt, Dr. W.: „Was ist ein Trauma ? Trauma, Sucht und Stabilisierung“ unter: URL-Dokument/

https://www.haus-immanuel.de/wp-content/uploads/sites/5/2020/04/Trauma_Sucht_und_Stabilisierung-

Dr._Wibke_Voigt-2011-10.pdf (abgerufen am 19.06.2021)

18

Staufenbiel-WandschneiderR: „ Vererbte Kriegserfahrungen – Was lebt in den Kindern und Enkelkindern

weiter? Gewalterfahrung und Psychosomatik“ unter: URL-Dokument/ https://uexkuell-akademie.de/vererbtekriegserfahrungen-was-lebt-in-den-kindern-und-enkelkindern-weiter/

(abgerufen am 19.06.2021)

7


Wie ist es überhaupt möglich, dass etwas, was ich gar nicht

selbst erlebt habe, auf mein Leben negative Auswirkungen

haben kann?

Neben der Epigenetik kennt man schon etwas länger auch

andere unbewusste Übertragungsmechanismen von

transgenerationellen Traumata.

1. Menschen, die von schrecklichen Erfahrungen

überfordert sind, verändern ihre Lebenseinstellungen

und ihre emotionale Grundstimmung und damit auch

ihren Erziehungsstil.

a. Grundstimmung und Lebenshaltung werden an die

nächste Generation weitergegeben. Erstes Beispiel:

„Angesichts des großen Leides in meiner Familie darf

es mir nicht wirklich gut gehen. Damit ist das

Trauma eines Elternteils an die nächste Generation

übergegangen. Eine solche Haltung kann zum

Handicap für ein ganzes Leben werden“. Anette Lippeck 19

Zwei andere Beispiele: abrupt wird das

Fernsehprogramm bei einem bestimmten Thema

gewechselt oder ein Elternteil starrt bei einem

Thema Löcher in die Decke. Die Kinder füllen das

Ausgesparte mit eigenen Fantasien.

2. Manche Menschen sprechen viel über erlebte Traumata,

was zu einer Überforderung des Gegenübers führen kann.

Von überfülltem Sprechen ist die Rede, …

a. …wenn die Lebenseinstellungen von seelisch

aufgeriebenen Menschen mit übermäßig vielen und

deutlichen Worten, mit starker Gestik, oder Mimik

Ausdruck finden. Solch ein Sprechen kann sich in

rätselhaften, irritierenden Stimmungen und

Emotionen zeigen.

3. Schweigen

19 Lippeck , A.: „Die tragische Erbschaft aus längst vergangenen Zeiten: Transgenerationale Traumatisierung,

Seite 3“ unter: URL-Dokument/ http://www.psychotherapie-nidwalden.ch/view/data/1354/A.%20Lippeck-

Transgenerationale%20Traumatisierung.pdf (abgerufen am 19.06.2021)

8


Das Unaussprechliche ist eine finstere Macht. Das

Unaussprechliche wird unbewusst, nonverbal

weitergegeben, und zwar in erster Linie durch Schweigen.

„Das Vokabular der unbewusst wirksamen Affektsprache

sind der traurige, leere, abwesende Blick oder ein

Ausdruck von Ekel, Zorn oder Scham in Blick, Mimik und

Stimme, sind die zusammengepressten Lippen, die stillen

Seufzer, unwirsche oder müde Gesten, resignierte

Körperhaltungen sozusagen ein beredtes Schweigen“.

Angela Moré 20

a. Sie wollen das grauenhafte Ereignis sozusagen

abschütteln. Oder sie wollen ihre schrecklichen

Erfahrungen verschließen. Das Erlebte wird dennoch

unabsichtlich, schweigend an die nachfolgende

Generation übertragen. Es herrscht ein greifbares,

belastendes Schweigen, das sich nicht ausklammern

lässt. Nicht-Erzähltes nimmt in der Kommunikation

Gestalt an. Unbewusstes wird miterzählt und vom

Unbewussten des Gegenübers auch mitgehört. „Die

nachfolgenden Generationen erben eine nicht

einzuordnende Gefühlslast; eine Ahnung, dass etwas

nicht stimmt, ohne es aber greifen zu können“. Heiko

Carsten Stein 21

Oft gibt es Angst, große Hemmung oder vielleicht auch

Unwille, sich mit der konkreten, eigenen Familiengeschichte

auseinanderzusetzen und genau hinzugucken, was hat der

Vater, was hat der Großvater, was haben die Onkel und so

weiter gemacht oder erlitten?

Hinschauen öffnet aber die Tür, um etwas gegen die negativen

Folgen zu tun. Das Entdecken der eigenen Familiengeschichte

ist immer gewinnbringend, auch wenn Wunden geöffnet

werden und das nicht jedem in der Familie gefällt. In der NS-

Zeit lernten meine Eltern von ihren Eltern, „alles Fremde wird

20 Moré A.: „Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickungen an nachfolgende

Generationen, Erkenntnisse der Säuglingsforschung und Kinderanalyse Kap.: 4.4“ unter: URL-Dokument/

https://www.journal-fuer-psychologie.de/index.php/jfp/article/view/268/310 (abgerufen am 19.06.2021)

21 Stein, Heiko Carsten,: Die Erben des Schweigens, Forschungsstand Seite 27, unter: URL-Dokument/

https://docplayer.org/111415089-Heirs-of-silence-a-study-of-intergenerational-trauma-through-family-historiesof-displaced-germans-after-the-second-world-war-heiko-carsten-stein.html

(abgerufen am 19.06.2021)

9


als Angriffsziel betrachtet“. Deshalb wurde Anpassung, ja fast

Unsichtbarkeit zum Überlebensgebot. Ihnen wurde

beigebracht, ihr müsst vorsichtig sein, dürft niemandem

trauen, ihr dürft nicht über alles sprechen, sonst kann die

Mehrheit mit euch machen, was sie will.

Sozialpsychologin Angela Moré, „sie fragte sich, warum die

deutsche Gesellschaft die Zeit des Nationalsozialismus so

wenig thematisierte, warum sich nur einige Menschen wirklich

emotional mit dieser Zeit auseinandersetzten. Bis heute ist ihr

schleierhaft, warum sich Menschen für nationalistische Ideen

erwärmen können und warum es noch immer funktioniert,

dass Sündenböcke für die Lösung aller Probleme

verantwortlich gemacht werden“. . Angela Moré 22

„Trauma wird auch als nicht vollendete Lernerfahrung

definiert. Wenn die Lernerfahrung – zu einem späteren

Zeitpunkt – abgeschlossen werden kann, braucht sie kein

dramatischer Wendepunkt zu bleiben. Jede Erfahrung kann in

einen Ausgangspunkt für eine erneuerte Lebensgestaltung

umgewandelt werden. Cordula Reimann 23

Diese Lernerfahrung kann also zu einem späteren Zeitpunkt

nachgeholt (korrigiert) werden.

Um ein seelisches Trauma zu bewältigen, der

Wiederholungsschleife zu entkommen und Trauerarbeit leisten

zu können, gibt es eine Reihe von

Möglichkeiten/Voraussetzungen. Dazu gehören:

‣ die eigene Resilienz - seelische und körperliche

Stabilisationsfaktoren

‣ ein Traumabewusstsein

‣ ein Kohärenzgefühl

‣ die Fähigkeit ein solches seelisches Trauma der

Vergangenheit zuordnen zu können

22 Moré A.: „gestern ist jetzt“, unter URL-Dokument/ http://gesternistjetzt.de/angela-more/ (abgerufen am

19.06.2021)

23

Reimann C.: „Bildungsfreiraum“, unter: URL-Dokument/ https://www.bildungsfreiraum.com/lehrgang-trauma

(abgerufen am 19.06.2021)

10


‣ eine sichere Bindung zu Bezugspersonen, ein

verständnisvolles soziales Umfeld

‣ ausreichende psychologische Kenntnisse über Traumata

und deren Bewältigungsmöglichkeiten

Der Heilungsprozess kann in Gang kommen. Das ist am Anfang

schwierig, hat aber meiner Erfahrung nach eine befreiende,

heilende Wirkung. Vielleicht stellt sich ja eine neue

Lebenszufriedenheit ein.

2021 Elisabeth Elster, Düren

---------- Maikäfer flieg, ---------

---- der Vater ist im Krieg … ----

(Kinderlied)

11

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