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Revier & Praxis
Bindung und Abhängigkeit
Wann zieht Jungwild
eigene Fährten?
Unter Fachleuten aus Praxis und Forschung ist die Antwort eindeutig. Trotzdem wird
diese Frage immer noch heiss diskutiert: Wie viel Alttier braucht ein Kalb, um seinen ersten
Winter zu überleben? Wann kommen Reh- und Gamskitze allein zurecht?
Unsicher und verzweifelt stakst das Kalb hinter
dem Rudel her. Seit Tagen hat es seinen Pansen
nicht mehr ausreichend füllen können. Es kommt
nicht zur Ruhe, denn der Leitstern seines jungen Lebens
ist verschwunden. Ein eifriger Schütze hat das Alttier
gestreckt – wieder ein Stück mehr auf der Abschussliste.
Das Kalb hat er im Nachhinein zwar bemerkt,
aber im Eifer des Gefechts konnte er es nicht
mehr erlegen. Macht nichts, denkt er sich. Jetzt im
November können die Rotkälber schon selbständig
äsen und sind nicht mehr auf die Milch der Mutter angewiesen.
Wird wohl schon durchkommen. So denkt er
sich – und liegt dabei weit daneben. Denn bei kaum
einer anderen Wildart ist so gut und eindeutig erforscht
Dr. Christine Miller
Adobe Stock
Im strengen Bergwinter haben verwaiste Hirschkälber keine Chance.
Erfahrungsträger stabilisieren
Das Rückgrat von Rotwild-Verbänden sind sogenannte
Mutterfamilien, die jeweils aus einem Alttier, seinem
Kalb und dem Vorjahreskalb bestehen. Drei bis vier dieser
Kerngruppen schliessen sich zu einem Rudel zuund
belegt, dass die Kälber nur durch die Führung des
Muttertieres Zugang zu den überlebensnotwendigen
Äsungs- und Ruheplätzen bekommen. In der hierarchisch
streng geregelten Rotwild-Gesellschaft sind
mutterlose Kälber nicht vorgesehen. Wenn Wölfe Rotwild
jagen, dann sind in der Regel Kälber und schwache
Stücke die Beute. Die Befürchtung, dass bei der Erlegung
von Kälbern im Sommer und Herbst beim zurückbleibenden
Alttier wegen der abrupt endenden Säugung
eine krankhafte Spinnenentzündung entsteht, ist
nachweislich falsch. Diese Annahme ist aus der bäuerlichen
Milchviehhaltung hergeleitet, wo die Tiere ganz-
Fotos: naturpix.ch /castelli
jährig laktieren, weil sie eben fast ganzjährig täglich gemolken
werden. So wurden in Gatter-Versuchen Rotwildkälber
während der Säugeperiode von ihren
Müttern getrennt. Bereits nach vier Tagen wurden die
Jungtiere von diesen nicht mehr angenommen. Einen
Tag sucht das Alttier intensiv sein Kalb, der Vorgang
nimmt darauf kontinuierlich ab, am vierten Tag ist die
Spinne bereits deutlich sichtbar reduziert. Der Verlust
eines Kalbes ist ein in der Natur immer wieder vorkommendes
Ereignis – nicht so der Verlust des Muttertieres.
Im strengen Bergwinter haben verwaiste Kälber
keine Chance. Kommen sie in ausgesprochenen Gunstlagen,
bei mildem Winter und viel Glück durch, dann
bleiben sie ein Leben lang gezeichnet, als schwache
Kümmerer: die Parias im Rudel.
Vielerorts gilt deshalb der Abschuss führender Alttiere
ohne die dazugehörigen Kälber als ein Straftatbestand.
Denn, so wird argumentiert: Das verwaiste Kalb
wird in tierquälerischer Weise zu einem langsamen Tod
oder andauerndem Kümmern und Stress verurteilt. Beides
ein Fall für den Tierschutz.
Die Bindung und
Abhängigkeit zwischen
Kalb und Alttier
dauert beinahe
eineinhalb Jahre an.
9 l 21 JAGD & NATUR 43