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Jagd & Natur | Ausgabe September 2021 | Vorschau

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Revier & Praxis

Bindung und Abhängigkeit

Wann zieht Jungwild

eigene Fährten?

Unter Fachleuten aus Praxis und Forschung ist die Antwort eindeutig. Trotzdem wird

diese Frage immer noch heiss diskutiert: Wie viel Alttier braucht ein Kalb, um seinen ersten

Winter zu überleben? Wann kommen Reh- und Gamskitze allein zurecht?

Unsicher und verzweifelt stakst das Kalb hinter

dem Rudel her. Seit Tagen hat es seinen Pansen

nicht mehr ausreichend füllen können. Es kommt

nicht zur Ruhe, denn der Leitstern seines jungen Lebens

ist verschwunden. Ein eifriger Schütze hat das Alttier

gestreckt – wieder ein Stück mehr auf der Abschussliste.

Das Kalb hat er im Nachhinein zwar bemerkt,

aber im Eifer des Gefechts konnte er es nicht

mehr erlegen. Macht nichts, denkt er sich. Jetzt im

November können die Rotkälber schon selbständig

äsen und sind nicht mehr auf die Milch der Mutter angewiesen.

Wird wohl schon durchkommen. So denkt er

sich – und liegt dabei weit daneben. Denn bei kaum

einer anderen Wildart ist so gut und eindeutig erforscht

Dr. Christine Miller

Adobe Stock

Im strengen Bergwinter haben verwaiste Hirschkälber keine Chance.

Erfahrungsträger stabilisieren

Das Rückgrat von Rotwild-Verbänden sind sogenannte

Mutterfamilien, die jeweils aus einem Alttier, seinem

Kalb und dem Vorjahreskalb bestehen. Drei bis vier dieser

Kerngruppen schliessen sich zu einem Rudel zuund

belegt, dass die Kälber nur durch die Führung des

Muttertieres Zugang zu den überlebensnotwendigen

Äsungs- und Ruheplätzen bekommen. In der hierarchisch

streng geregelten Rotwild-Gesellschaft sind

mutterlose Kälber nicht vorgesehen. Wenn Wölfe Rotwild

jagen, dann sind in der Regel Kälber und schwache

Stücke die Beute. Die Befürchtung, dass bei der Erlegung

von Kälbern im Sommer und Herbst beim zurückbleibenden

Alttier wegen der abrupt endenden Säugung

eine krankhafte Spinnenentzündung entsteht, ist

nachweislich falsch. Diese Annahme ist aus der bäuerlichen

Milchviehhaltung hergeleitet, wo die Tiere ganz-

Fotos: naturpix.ch /castelli

jährig laktieren, weil sie eben fast ganzjährig täglich gemolken

werden. So wurden in Gatter-Versuchen Rotwildkälber

während der Säugeperiode von ihren

Müttern getrennt. Bereits nach vier Tagen wurden die

Jungtiere von diesen nicht mehr angenommen. Einen

Tag sucht das Alttier intensiv sein Kalb, der Vorgang

nimmt darauf kontinuierlich ab, am vierten Tag ist die

Spinne bereits deutlich sichtbar reduziert. Der Verlust

eines Kalbes ist ein in der Natur immer wieder vorkommendes

Ereignis – nicht so der Verlust des Muttertieres.

Im strengen Bergwinter haben verwaiste Kälber

keine Chance. Kommen sie in ausgesprochenen Gunstlagen,

bei mildem Winter und viel Glück durch, dann

bleiben sie ein Leben lang gezeichnet, als schwache

Kümmerer: die Parias im Rudel.

Vielerorts gilt deshalb der Abschuss führender Alttiere

ohne die dazugehörigen Kälber als ein Straftatbestand.

Denn, so wird argumentiert: Das verwaiste Kalb

wird in tierquälerischer Weise zu einem langsamen Tod

oder andauerndem Kümmern und Stress verurteilt. Beides

ein Fall für den Tierschutz.

Die Bindung und

Abhängigkeit zwischen

Kalb und Alttier

dauert beinahe

eineinhalb Jahre an.

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