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Handreichung_IPSex_Version Oktober 2021

Wie gehen wir als Trägerorganisation in der Pflege mit dem Thema Sexualität im Alter um? Zur Sensibilisierung unserer Mitarbeiter*innen und der Ermöglichung eines guten und glücklichen Lebens für unsere Kund*innen und Bewohner*innen in PWH und PZH ist folgende Handreichung derzeit am Entstehen. mfG Ebru Noisternig, Caritas Ethik

Wie gehen wir als Trägerorganisation in der Pflege mit dem Thema Sexualität im Alter um? Zur Sensibilisierung unserer Mitarbeiter*innen und der Ermöglichung eines guten und glücklichen Lebens für unsere Kund*innen und Bewohner*innen in PWH und PZH ist folgende Handreichung derzeit am Entstehen. mfG Ebru Noisternig, Caritas Ethik

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Handreichung zum Thema

Privatsphäre, Intimität und

Sexualität in der Pflege

Caritas der Erzdiözese Wien

Caritas Pflege

Albrechtskreithgasse 19-21

1160 Wien

www.caritas-pflege.at


Vorwort

Es sind die betagten und hochbetagten Menschen, für deren Leben wir uns

einsetzen. Und es ist nicht irgendein Leben, sie sollen ein gutes Leben haben und

wir in der Pflege tragen Mitverantwortung, dass unseren Kund*innen und

Bewohner*innen dieses angestrebte gute Leben in unseren Häusern oder ihren

eigenen vier Wänden möglich wird.

Auf dem Weg zum guten Leben für alle unserer Kund*innen und Bewohner*innen in

der Pflege haben wir Ende 2016 das Lebensqualitätskonzept der Caritas entwickelt.

Wir möchten euch in dieser vorliegenden Handreichung als Mitarbeiter*innen in der

Pflege für ein Thema sensibilisieren, welches ein Grundbaustein eines glücklichen

und guten Lebens für jede/n von uns und in der Langzeitpflege sowohl stationär als

auch mobil immer mehr an Aktualität gewinnt und uns auch vor Herausforderungen

stellt: das Thema Privatsphäre, Intimität und Sexualität im Alter.

In der Pflege begegnen wir tagtäglich unseren Kund*innen und Bewohner*innen

hautnah. Diese Nähe und Intimität soll von gegenseitigem Respekt und der Achtung

der Personenwürde getragen werden. Wir wissen aus Studien, dass sich die gelebte

und erlebte Sexualität von Menschen im Alter im Zuge der Pflegeabhängigkeit und

Pflegebedürftigkeit ändern kann. Wie im Lebensqualitätskonzept verankert, geht es

in der Pflege um die Lebenssituation von beeinträchtigten erwachsenen Menschen.

Diese Handreichung soll euch eine Hilfestellung dazu geben, wie alte Menschen

grundsätzlich Sexualität im Alter im engeren und im weiteren Sinn erleben können

und welche Kultur und Haltung wir als Trägerorganisation im Bereich der Pflege beim

Thema Intimität und Sexualität leben und leben lassen wollen. Wir wollen unsere

Kund*innen und Bewohner*innen in ihrer Personenwürde und ihrem Selbstwertgefühl

stärken, indem wir uns als Pflegeverantwortliche mit dem Thema der Privatsphäre,

Intimität und Sexualität auseinandersetzen und den von uns gepflegten Menschen

Möglichkeiten und Räume schaffen, diese Bedürfnisse zu artikulieren.

In der vorliegenden Handreichung findet ihr auch Fallbeispiele aus dem Pflegealltag

unserer Mitarbeiter*innen in Pflegewohnhäusern wie in der Pflege Zuhause, hilfreiche

Literaturangaben und eine Linksammlung zur Eigenrecherche. Es ist uns ein

Anliegen, dass euch diese Handreichung im Umgang mit Privatsphäre, Intimität und

Sexualität im Alter im Alltag unterstützend zur Seite stehen wird.

Christian Klein

Bereichsleitung

Caritas Pflege

2


1 Hintergrund

In Anbetracht der demografischen Entwicklung kommt der Erhaltung der

Lebensqualität bis ins hohe Alter eine große Bedeutung zu. Die Sexualität, die

Erhaltung der sexuellen Gesundheit und eines befriedigenden Sexuallebens stellen

diesbezüglich wesentliche Aspekte dar. Sexualität ist ein zentraler Teil des

Menschseins, der den ganzen Menschen mit seinen Gedanken, Gefühlen und dem

Körper umfasst. Das eigene Verständnis von Sexualität zeigt sich grundlegend in der

sexuellen Selbstbestimmung, die aus (bewussten oder unbewussten) individuellen

Entscheidungen für oder gegen verschiedenste Formen sexuellen Lebens resultiert.

Mit zunehmendem Alter werden die Sexualität und das Sexualleben unter anderem

von biologischen Faktoren, chronischen, psychischen und somatischen

Erkrankungen, Nebenwirkungen von Medikamenten und sozialen Faktoren

beeinflusst. 1

Die Sexualität besitzt bis ins hohe Alter einen hohen Stellenwert. Bei bestehender,

langjähriger Partnerschaft gaben von Befragten bis zum 69. Lebensjahr, 100% der

Männer und 87,3% der Frauen an, sexuelles Verlangen zu haben. Bei Befragten

über 75 Jahren gaben dies noch 79,2% Männer und 51,5% der Frauen an. Die

befragten Frauen und Männer gaben auch an, mehr sexuelle Aktivitäten erleben zu

wollen, als sie es tatsächlich taten. Auch wenn die Sexualfunktion und die sexuelle

Betätigung mit zunehmendem Alter schwächer werden können, zeigen internationale

Studien, dass alte Menschen ein aktives Sexualleben führen. 2 Weitere

wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass sich Gesundheitsdienste hinsichtlich

dieser Thematik ändern müssen. So wurde deutlich, dass medizinisches Personal

(Ärzte/Ärztinnen, Pflegepersonen) von sich aus selten über Sexualität und sexuelle

Gesundheit mit alten Menschen sprechen, sich jedoch befragte Senior*innen

wünschen, dass Health Professionals von sich aus die Themen Sexualität, sexuelle

Gesundheit und sexuelle Dysfunktion ansprechen. 3

Die Schwierigkeit über dieses sensible Thema im professionellen Kontext zu

sprechen bezeichnete Roach (2004) als „Guarding Discomfort Paradigma“ 4 . Sie

beschrieb, dass ein überwiegendes Unwohlsein bezüglich des sexuellen Verhaltens

der Bewohner*innen seitens der betreuenden Personen und des Managements

vorherrscht, das von eigenen Überzeugungen, Erfahrungen und dem Ethos der

1

Berberich, 2004

2

Lindau und Gavrilova, 2010

3

Aizenberg et al., 2002

4

Roach, 2004

3


Einrichtung beeinflusst wird. Thys et al. (2018) heben in diesem Zusammenhang die

Vulnerabilität aller beteiligten Personen hervor. 5 In der Praxis kann durch diese

Verletzlichkeit ein Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Person und der

Ermöglichung eines Freiraumes für den Ausdruck von Intimität und Sexualität

entstehen. Die Wahrung der Würde der Bewohner*innen, Angehörigen und der

Mitarbeiter*innen steht hier im Mittelpunkt. Um dem nachzukommen wird ein

interpretativer Dialog empfohlen, in dem unterschiedliche Perspektiven einander

gegenübergestellt werden und Fragen, die sich im einzelnen Kontext stellen,

beantwortet werden.

Um diesen Dialog gelingend führen zu können, werden auf institutioneller Ebene

Schulungen und Trainings für Mitarbeiter*innen, Leitlinien für die Pflege und

Information und Unterstützung für alte Menschen und ihre Angehörigen gefordert. 6

Zielsetzung der vorliegenden Handreichung ist es …

Wissen über Privatsphäre, Intimität und Sexualität in Bezug auf das Altern und

das Leben zu vermitteln

Aufmerksamkeit auf Tabuthemen in der Pflege, auf die Betreuung und

Behandlung alter Menschen zu lenken

Scheu vor der Thematik zu reduzieren

Worte zu finden und (Selbst-)Reflexion anzuregen

Tipps und Ideen aus der Praxis für die Praxis zu geben

Bezüge zu den Lebensdomänen des Lebensqualitätskonzeptes herzustellen

Dadurch soll(en) …

… die Wahrung der Würde, in Anbetracht der Verletzlichkeit jeder Person, in den

Mittelpunkt gestellt werden

… einem wesentlichen Bedürfnis des Menschen bis ins hohe Alter

Berücksichtigung geschenkt werden

5

Thys et al., 2018

6

Berberich, 2015

4


ein würdevolles, wertschätzendes Annehmen der Bewohnerin, des Bewohners

als sexuelles Wesen im Sinne einer ganzheitlichen Betreuung und Begleitung

unterstützt werden

… Mitarbeiter*innen die Möglichkeit eröffnet werden, eigene Grenzen und eigenes

Wirken bewusst zu machen

Grenzen und Übergänge zwischen persönlicher und professioneller Nähe und

Distanz und Herausforderungen, die dabei entstehen können, reflektiert und

diskutierbar gemacht werden

… Handlungsmöglichkeiten in grenzüberschreitende Situationen aufgezeigt

werden

2 Begriffsklärungen

Distanzzonen

Kommunikation (im Besonderen nonverbale Kommunikation und Körpersprache) und

Beziehungen finden, je nach Vertrautheit und Kontext, in unterschiedlichen

räumlichen Dimensionen statt. Der Anthropologe und Ethnologe Hall 7 hat

diesbezüglich vier Distanzzonen/-sphären beschrieben, die umgesetzt auf die

Behandlung, Pflege und Betreuung von pflegebedürftigen Menschen besondere

Beachtung bedürfen.

Distanzzonen Situation

Intimzone/

Intimsphäre

Persönliche

Zone

Kommunikation mit nahestehenden Personen,

somatische Behandlung (z.B. bei der Pflege, in der

Physio-/Ergotherapie, bei medizinischen

Untersuchungen), Sexualität

Gespräche mit Kolleg*innen, Freund*innen,

Bewohner*innen, Angehörigen, Schutzsphäre, sich

aufrichten, intensiver Blickkontakt, einseitige

Vermeidung von Körperkontakt (z.B.

Beratungsgespräche)

Distanz in

cm

0 - 50 cm (1

Armlänge)

50 - 130 cm

(1-2

Armlängen)

7

Hall, E.T., 1969, S. 113 ff

5


Soziale Zone

Öffentliche

Zone

Gespräche mit Personen, die bekannt sind,

Ausschluss einer körperlichen Berührung, nach

Möglichkeiten den ganzen Körper im Blickfeld (z.B.

beim Grüßen)

Beobachter*innenposition, Zuhörer*innen, visuell und

akustisch ist im Kontakt möglich, die Intensität der

Nähe/räumlichen Beziehung nimmt mit der

Entfernung exponentiell ab (z.B. bei Fortbildungen,

Bewegungen im Tagraum)

130 – 230

cm (mehr

als 2

Armlängen)

Ab ca. 400

cm

Intimzone/

Intimsphäre

Persönliche

Zone

Soziale Zone

Öffentliche

Zone

Distanzzonen nach Hall 8

Privatsphäre

Laut Artikel 12 der UN Menschenrechtskonvention (1948) darf niemand „willkürlichen

Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen

Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt

werden.“

8

Hall, E.T., 1969, S. 113 ff

6


Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder

Beeinträchtigungen.“ 9 Im Wiener Wohn- und Pflegeheimgesetz ist unter §4 (14) das

„Recht auf Wahrung der Privat- und der Intimsphäre, auch in Mehrbettzimmern“

festgehalten. Privatsphäre bezeichnet den nicht-öffentlichen Bereich, in dem ein

Mensch unbehelligt von äußeren Einflüssen sein Recht auf freie Entfaltung der

Persönlichkeit wahrnimmt. 10

Intimsphäre und Intimität

Unter Intimsphäre wird der ganz persönliche und vertrauliche Lebensbereich eines

Menschen verstanden. Dieser Eigenbereich des Individuums wird sorgsam

abgeschirmt und gestaltet. Nach Masters und Johnson (1990) ist Intimität ein

„gegenseitiges Gefühl der Akzeptanz, der fürsorglichen Verpflichtung, der

behutsamen Zuwendung und des Vertrauens“.

Scham und Schamgefühl

Unter Scham und Schamgefühl kann ein „auf Schutz und Distanz bedachtes

Sozialverhalten, das die Personenwürde und die Unantastbarkeit der Intimsphäre

sichert“ verstanden werden. Scham kann in bestimmten Situationen, in denen

jemand das Gefühl hat seine Selbstachtung zu verlieren, sich mangelhaft oder

entwürdigend (bzw. entwürdigt) zu erleben, empfunden werden.

In der Pflege und Betreuung von pflegebedürftigen Menschen ist es kaum möglich,

Schamgefühle zu verhindern.

Die Mitarbeiter*innen der Einrichtung haben daher die Verantwortung, die

Schamgrenzen wahrzunehmen, zu erkennen und zu wahren. In diesem Sinne

definiert Bohn (2015) die Schamkompetenz der Professionalist*innen als „Fähigkeit,

die individuellen Schamgrenzen kranker und pflegebedürftiger Menschen zu

erkennen, sich diesen sensibel und respektvoll unterzuordnen und das eigene

Handeln umgehend darauf auszurichten.“

Sexualität und sexuelle Gesundheit

9

UNO, 1948

10

https://de.wikipedia.org/wiki/Privatsph%C3%A4re (BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1999, Az. 1 BvR 653/96), Stand Juli

2021

7


Sexualität kann im Sinne der Funktionalität als biologisch, psychologisch und sozial

determinierte Erlebnisqualität des Menschen verstanden werden. Die individuelle

Gestaltung wird von der lebensgeschichtlichen Entwicklung geprägt. 11 Sexualität

kann in Wechselbeziehung von drei Dimensionen betrachtet werden: der

Fortpflanzungsdimension, der Lustdimension und der Beziehungsdimension. 12

In der Dimension der Fortpflanzung sind die biologischen Komponenten der

Vermehrung, Rekombination und Reproduktion beinhaltet. Es geht somit um die

Bedeutung von Schwangerschaft, Eltern werden und Vater/Mutter sein. Die

Dimension der Lust zeigt sich in Form von Erotik, Leidenschaft, sexuelle Stimulation,

Erregung, Befriedigung und Orgasmus. In der Dimension Beziehung liegt die

Bedeutung bei den Aspekten Akzeptanz, Nähe, Sicherheit und Geborgenheit und

zeigt sich auch durch sexuelle Kommunikation. 13

Sexualität umfasst weitere Aspekte des biologischen Geschlechts, der

geschlechtlichen Identitäten und Rollen und der sexuellen Orientierung. Sie wird in

Gedanken, Fantasien, Glaubensgrundsätzen, Einstellungen, Wertehaltungen,

Verhalten, Praktiken, Rollen und Beziehungen erfahren und zum Ausdruck gebracht.

Sexualität kann alle diese Dimensionen beinhalten, es müssen jedoch nicht immer

alle Aspekte erfahren, er- oder gelebt werden. Beeinflusst wird Sexualität von

biologischen, psychischen, sozialen, ökonomischen, politischen, kulturellen, legalen,

historischen, religiösen und spirituellen Faktoren. 14

Privatsphäre, Beziehung, Intimität, Zweisamkeit und Sexualität als wesentliche

Bedürfnisse werden in den allgemeingültigen Menschenrechten hinsichtlich des

Rechts auf Freiheit, Würde und Gleichstellung berücksichtigt und stehen allen

Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, kulturellen und

ethnischen Hintergrund und sozialen Status zu. 15

Alterssexualität

11

Beier und Loewit, 2011, S. 12

12

Beier und Loewit, 2004, Beier et al., 2005, zit. aus Beier und Loewit, 2011, S. 12

13

Beier und Loewit, 2011, S. 13f

14

WHO, 2015, S.5

15

Grond, 2011, S.110

8


Unter Alterssexualität wird das sexuelle Empfinden und Verhalten von Menschen

jenseits des 60. Lebensjahres verstanden. Sie wird von sexuellen Aktivitäten in

früheren Lebensabschnitten, der Möglichkeit einer Umsetzung sexueller Bedürfnisse

und von altersbedingten körperlichen und geistigen Erkrankungen und

Behinderungen beeinflusst. 16 Die Vielzahl an Einflussfaktoren kann im Alter zu einem

„Interest Activity Gap“ führen. Darunter wird die Diskrepanz zwischen dem sexuellen

Interesse und der tatsächlich gelebten Sexualität verstanden. 17

3 Veränderungen im Alter

Das Sexualverhalten bzw. gelebte Sexualität benötigt unterschiedliche

Bedingungen/Grundvoraussetzungen und wird von einer Vielzahl an Faktoren

beeinflusst. Im Laufe des Alterns können diese Aspekte zu Veränderungen im Leben

und Erleben von Sexualität beitragen.

3.1. Was bedeutet es eigentlich „alt“ zu sein?

Sucht man in der Wissenschaft nach Begriffserläuterungen, stellt man schnell fest,

dass die Betrachtung des Alters aus verschiedenen Blickwinkeln möglich ist.

Die Gerontologie setzt sich mit dem Phänomen des Alters auseinander und vereint

Wissen aus verschiedenen Forschungstraditionen. Eine Definition des Alters ist dabei

fast unmöglich, eine Annäherung aber schon. Mögliche Perspektiven auf den

Altersbegriff sind:

• chronologisch-kalendarisches Alter

• biologisches Alter

• psychologisches Alter

• soziales Alter

Jeder Mensch ist im Laufe seines Lebens Veränderungen auf Grund von körperlichen,

sozialen und geistigen Entwicklungsprozessen ausgesetzt. Dieser Wandel im Alter hat

auch Auswirkungen auf den Bereich der Sexualität eines Menschen. Bei der Frau

treten zwischen dem 46. und 55. Lebensjahr starke Veränderungen auf: Die Ovarien

16

Grond, 2011, S.22ff

17

Sydow, 2008, S. 53

9


werden weniger funktionsfähig und können auf trophische Sexualhormone nicht mehr

reagieren. Das hat zur Folge, dass keine Follikel mehr heranreifen, also der Übergang

zur postmenopausalen Phase.

Die Veränderung des Hormonhaushalts einer Frau nach der Menopause führt darüber

hinaus auch zu Migräne, Gewichtszunahme und auch zur Veränderung der

Vaginalschleimhaut, die dünner und trockener wird. Diese Trockenheit der Scheide

führt außerdem zu Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Die Menopause muss

allerdings nicht zwingend nur negative Auswirkungen auf die Sexualität haben. Viele

Frauen genießen weiterhin ihr Liebesleben und verspüren trotz körperlicher

Veränderung großes Verlangen nach sexuellem Kontakt.

Männer sind im Alter mit einem Sinken des Hormonspiegels konfrontiert. Es kann auf

Grund einer gestörten Funktion der zuständigen Zellen zu einer verminderten

Testosteronproduktion im Hoden kommen. Ab einem gewissen Alter kann ein

niedriger Testosteronwert auch auf die altersbedingte Zunahme des Eiweißes im Blut

(SHBG), welches Testosteron bindet, zurückzuführen sein. Folgen von

Testosteronmangel können sein: Lustlosigkeit, Potenzstörungen,

Stimmungsschwankungen bis zur Depression, Abnahme der Muskelmasse,

Osteoporose, Zunahme des Bauchumfanges und eine leichte Blutarmut können

hieraus resultieren. Betreffend der Spermienproduktion und damit der Fruchtbarkeit

gibt es bei Männern weit über ihrem 60. Lebensjahr nur leichte altersbedingte

Einschränkungen. Häufiger sind Erkrankungen wie das Alter oder das Fehlen einer

Partner*in, Ursachen für eine ungewollte Kinderlosigkeit oder eine sexuelle Inaktivität

im höheren Lebensalter (Tiemann 2014).

3.2. Bedingungen des Sexualverhaltens im Alter

Gesellschaftliche Einflüsse:

Gesellschaftliche und persönliche Normen und Werte, Erwartungen von

Angehörigen, Bewohner*innen, Kund*innen und Mitarbeiter*innen, Scham- und

Schuldgefühle, Rolle/Status (Einkommen, Wohnung, soziales Netz), unterschiedliche

kulturelle Hintergründe bei Mitarbeiter*innen.

Körperliche Bedingungen und Veränderungen:

10


Veränderungen der Genitalien, Gesundheit, schwindende Sinneseindrücke, kognitive

und neurologische Veränderungen (Gehirn, Zentralnervensystem, peripheres

Nervensystem, Demenzen), veränderter Hormonhaushalt, Herz-Kreislauf-

Erkrankungen, rheumatische Erkrankungen, sexuelle Dysfunktionen,

Vorerkrankungen, Operationen, Unfälle, Krebserkrankungen, sexuell übertragbare

Erkrankungen.

Psychische/ Psychodynamische Bedingungen und Faktoren:

Das Gefühl von körperlichen Unzulänglichkeiten angesichts gesellschaftlicher

Schönheits- und Jugendideale, Selbstwertgefühl, Lernen und kreative Fähigkeiten,

sexuelle Gewalterfahrungen, Sucht.

Biografische Bedingungen:

Sexuelle Interessen, Sozialisation, aus Kindheit und Jugend, gesellschaftlich

normiertes Sexualverhalten; Umgebungsfaktoren, Geschichte der Familie

(Scheidung, offenes Sexualverhalten).

Beziehungen:

Verluste, Verfügbarkeit, Harmonie; Einflussnahme von Angehörigen

Wohlbefinden:

Zufriedenheit mit dem Leben und mit dem Sexualverhalten, etwa in Fragen der

Autonomie und Selbstbestimmung, Schutz von Privatheit und Intimität.

3.3. Krankheiten und ihr Einfluss auf Sexualität

Folgende Krankheiten können Einfluss auf die Sexualität haben:

Herzkreislauferkrankungen, Herzinfarkt, Hypertonie, Diabetes mellitus,

Inkontinenz

Krebs-Erkrankungen (Rektum-Karzinom mit Kolostoma, Mammakarzinom,

Vulvakarzinom, Ovarialkarzinom, Uteruskarzinom, Prostatakarzinom,

Blasenkarzinom, Peniskarzinom)

Rheumatische Erkrankungen

Neurologische Erkrankungen (Cerebraler Insult, Morbus Parkinson, Multiple

Sklerose, Querschnittslähmung),

Psychische Erkrankungen (Phobien, Depression, Suchterkrankungen)

Infektiöse Erkrankungen (sexuell übertragbare Erkrankungen, multiresistente

Keime)

11


3.4. Sexualität und kognitive Beeinträchtigungen

Das Bedürfnis nach Sexualität und der Ausdruck von Sexualität kann für Menschen

mit kognitiven Beeinträchtigungen ein wichtiger Teil des Wohlbefindens und des

Ausdruckes der eigenen Identität sein.

Gesundheitliche Veränderungen können hierbei jedoch einen wesentlichen Einfluss

haben. Im Pflege- und Betreuungsalltag zeigt sich oftmals ein Spannungsfeld

zwischen Wahrung der Autonomie und dem Schutz vor Gefährdung der betroffenen

bzw. involvierten Bewohnter*innen und Kund*innen. Hilfreich ist in diesem

Zusammenhang zu wissen, in wie weit der/die Bewohner*in oder der/die Kund*in

gerade in diesem Lebensbereich entscheidungsfähig ist und zu sexuellen

Handlungen seine/ihre Zustimmung geben bzw. diese zum Ausdruck bringen kann.

Es muss nicht immer Sex sein: Zärtlichkeit ist vielen älteren Menschen wichtiger als

der Geschlechtsakt. Das beweist auch das Pilotprojekt zum Thema Privatsphäre,

Intimität und Sexualität, welches in dieser Handreichung näher dargestellt wird. Zur

Vertiefung der Grundlagen zum Thema Sexualität im Alter und den dazugehörigen

pflegetheoretischen Bezügen wurde im Anhang eine Auflistung der aktuellen

Pflegemodelle zusammengefasst.

In unserer Arbeit in den Pflegeeinrichtungen der Caritas wird deutlich, dass

Sexualität so viel mehr sein kann als der Geschlechtsverkehr an sich. In der

Auseinandersetzung mit der Thematik sind folgende Fragen/Aspekte zu beachten:

1) Freiheit und Autonomie: Wie wird Sexualität ausgedrückt/gezeigt?

2) Fähigkeit Entscheidungen zu treffen: Wer trifft Entscheidungen?

3) Interventionen um das Risiko des Schadens bzw. der Verletzung der Würde

zu reduzieren: Was kann getan werden?

4) Informationen zu sexueller Gesundheit und Unterstützung beim Ausdruck von

Sexualität: Wer informiert? Welche Möglichkeiten und Grenzen gibt es?

5) Das Recht auf Privatsphäre und Vertraulichkeit: Gelingt dies in der Praxis?

Wie gelingt dies in der Praxis?

6) Schulungen/Trainings für Mitarbeiter*innen: Welches Angebot gibt es?

Welcher Bedarf besteht?

Um diese Fragestellungen zu verdeutlichen haben wir uns bemüht, Fallbeispiele aus

dem Pflegealltag darzustellen.

12


3.5. Fallbeispiele aus dem Pflegealltag

Fallbeispiel 1

„Ich bin in einem Pflegeheim tätig und habe viele Aufgaben, wie z.B. in jedes Zimmer

zu gehen, Geschirr wegzuräumen und frische Gläser und Saft zu bringen. Außerdem

halte ich das Zimmer optisch sauber, helfe bei der Körperpflege, kümmere mich um

die frische Wäsche usw. Wir haben drei Wohngruppen auf einer Ebene und in jeder

Gruppe sind 12 Bewohnerinnen zuhause. Wir haben auch eine psychiatrische

Gruppe. Bei der Dienstübergabe hörte ich, dass wir einen neuen Einzug bekommen

haben. Ein männlicher Bewohner, verheiratet. Seine Ehefrau will ihn immer

besuchen, wenn sie kann. Sie hat allerdings selbst gesundheitliche Probleme. Ich

selbst werde mal da, mal dort eingeteilt. Ich hörte nur von Kolleg*innen wie unser

Neuzugang ist. Seine Gattin ist oft stundenlang bei ihm und geht auch viel mit ihm

spazieren. Eines Tages musste ich in der Wohngemeinschaft 1 kochen, so lernte ich

ihn kennen. Ich stellte mich vor und sagte ihm, dass ich heute zuständig bin. Er lobte

mich für mein Essen.

Um ca. 14 Uhr ging ich zu seinem Zimmer, klopfte an und trat ein. Da sah ich seine

Frau, fast nackt auf seinem Bett sitzen, er saß auf der Bettkante. Ich wurde rot und

entschuldige mich für das Eintreten, daraufhin verschwand ich bei der Tür hinaus. Ich

dachte nur, was war das, was habe ich gesehen und was soll ich sagen, wenn ich

seine Frau wiedersehe. Danach war mir klar, dass ich nie wieder ein Zimmer ohne

ein hörbares ‚Herein’ des Bewohners oder der Bewohnerin betreten werde. Eine

Stunde später kam seine Frau auf mich zu, sie sagte nur: „Wie kann man auf so

einer harten Matratze schlafen? Was wollten Sie?“ Ich entschuldigte mich erst mal

und antwortete, dass alle Matratzen so hart sind. Mir wurde danach bewusst, dass

Sexualität im Alter existiert und dass es egal ist, wie alt man ist und es trotzdem ein

Teil des Lebens bleibt, auch im hohen Alter!"

Fragestellung: Wie sollen in dieser Situation Mitarbeiter*innen richtig reagieren?

Fallbeispiel 2

13


„Ich arbeite in einem Pflegewohnhaus am westlichen Stadtrand von Wien. Unser

Haus besteht aus fünf Wohnbereichen in welchen jeweils an die dreißig

Bewohner*innen betreut werden. Meine Kolleginnen und ich arbeiten interdisziplinär

in einem multiprofessionellen Team, welches aus Pflegepersonen, Psychologin,

Seelsorgerin, Sozialarbeiterin, Ärzten und Sozialbegleitungen besteht. In

gemeinsamen Besprechungen, besonders aber auch bei

Bewohner*innenbesprechungen, reflektieren wir im Team die Anliegen und unsere

Beobachtungen zu Bewohner*innen im Pflegewohnhaus. So auch zur Bewohnerin A.

Bewohnerin A leidet seit ihrem Jugendalter an Multipler Sklerose und mehreren

psychiatrischen Erkrankungen, weshalb Frau A auch eine gerichtliche

Erwachsenenschutzvertretung erhielt. Im Rahmen der Verschlechterung ihrer

Erkrankungen ist die (noch relativ junge) Bewohnerin ins Pflegewohnhaus

gekommen. Sie hatte zuvor alleine mit Betreuung gelebt und hat den Wunsch nach

Intimität bzw. Sex mit einem Mann gegenüber mehrerer Mitarbeiter*innen geäußert.

Es zeigt, dass auch offen der Wunsch nach Sexualität ausgesprochen wird. Hinzu

kommt noch, dass sie in einem Dreibett-Zimmer wohnt und auch hier quasi keine

Intimität gegeben ist.“

Maßnahmen:

Nach Gesprächen innerhalb des interdisziplinären Teams wurde besprochen, dass ein

„erweitertes Wohnzimmer“ gestaltet werden sollte, um Personen die Möglichkeit zu geben

ihre Intimität zu wahren. Außerdem wurde mit der Beratungsstelle Sophie von der Volkshilfe

Kontakt aufgenommen, wo Sexualassistent*innen ausgebildet werden, sowie mit der Caritas

Ethik Gespräche geführt.

Mit der gerichtlichen Erwachsenenschutzvertretung wurde über den finanziellen Aspekt

gesprochen. Aufgrund der Pandemie und dadurch dass seitens der Bewohnerin selbst der

Wunsch in den Hintergrund getreten ist, wurde es nicht weiter verfolgt. Bei den letzten

Recherchen waren außerdem nur weibliche Sexualassistentinnen zu finden.

Fallbeispiel 3

Kunde Herr M. leidet seit einigen Jahren an Muskeldystrophie und ist in seiner

Mobilität bereits so weit eingeschränkt, dass er nur mehr die Finger an seiner Hand

bewegen kann. Ebenfalls hat er Empfindungsstörungen. Deshalb sind ihm

Berührungen im Gesicht sehr wichtig. Hierzu zählen intensive Berührungen wie zum

14


Beispiel festes Reiben mit einem rauen Waschhandschuh. hat er ebenfalls einen

altersentsprechenden Sexualtrieb.

Er wird drei Mal täglich durch die Hauskrankenpflege betreut.

Die Herausforderungen in der Betreuung ergeben sich, als er beginnt, die

Mitarbeiter*in im Abenddienst darum zu bitten, ihm pornografische Filme

einzuschalten. Einige Mitarbeiter*innen äußeren sich und geben zur Kenntnis, dass

sie sich hierbei sehr unwohl fühlen. Es finden Gespräche mit Herrn M. statt, die sehr

vorsichtig geführt werden. Außerdem wird der Fall im Team besprochen.

Maßnahmen:

Mitarbeiter*innen im Abenddienst legen Film ein und schalten den Fernseher ein.

Fernbedienung wird auf einem kleinen Polster sicher unter die Hand von Hrn. M. gelegt. Es

musste auch sichergestellt werden, dass er den Ein/Aus Knopf der Fernbedienung erreicht.

Zur Sicherheit wird einen Timer am Fernseher eingestellt, so dass sich der Fernseher nach 4

Stunden automatisch in Standby Modus begibt.

Für die Mitarbeiter*innen, denen es schlicht zu unangenehm war, gibt es folgende

Möglichkeiten:

Der Früh/oder Mittagsdienst legt bereits die DVD ein und Herr M. startet den Film erst,

wenn die Mitarbeiter*in die Wohnung verlassen hatten.

Fallbeispiel 4

Kunde Herr S. weist eine Lähmung der oberen linken Extremität auf. Dadurch

benötigt er eine Unterstützung bei der Körperpflege sowie beim Essen und Trinken.

Allerdings ist er soweit mobil, dass eine Betreuung durch Haushilfe möglich ist.

Herr S. ist stets freundlich. Er erzählt offen aus seinem Leben. Er erzählt, dass er

mehrmals für einige Jahre im Gefängnis gewesen sei. Außerdem hatte er einige

Jahre in einem Bordell gearbeitet. Dies war sein liebster Job gewesen. Er geht sehr

offen mit seiner Sexualität und seinen sexuellen Bedürfnissen um und erzählt diese

auch den Mitarbeiter*innen.

Die Herausforderung für die Mitarbeiter*innen in der Betreuung ergibt sich dadurch,

dass Herr S. gerne untertags pornografische Filme anzuschauen beginnt. Die

Mitarbeiter*innen fühlen sich zum Teil peinlich berührt und trauen sich entweder nicht

Herrn S. zu bitten die Filme abzudrehen oder weisen ihn in eher schroffem Ton

daraufhin, dass er bitte den „Schmuddelfilm“ ausschalten möge.

15


Maßnahmen:

Nach Gesprächen im Team und mit Herrn S. einigen wir uns darauf, drei Mal laut an seine

Türe zu klopfen und daraufhin eine Minute zu warten, bevor die Wohnung betreten wird. Herr

S. hat somit ausreichend Zeit, den Film auszuschalten. Herr S. ist erfreut über diese

Regelung. Es ist ihm wichtig, niemanden vor den Kopf zu stoßen, wie er sagt. Es passiert

einige Male, dass er während dem Film einschläft und das Klopfen nicht hört. Also gehen

manche Mitarbeiter*innen dazu über, ihn vor ihrem Einsatz anzurufen.

Fallbeispiel 5:

Der Klient in diesem Fall ist Herr S. ein älterer Herr in einem Wohnheim für

ehemalige Obdachlose. Herr S. ist insulinpflichtiger Diabetiker. Ansonsten ist er in

seiner Mobilität nicht eingeschränkt, es bestehen aber psychosoziale Faktoren, die

eine Unterstützung in der Haushaltsführung notwendig machen. Die Einsätze für

Insulinverabreichung finden drei Mal täglich statt. Ebenso findet zwei Mal wöchentlich

ein Einsatz zur Haushaltsführung statt

Herausforderungen in Pflege und Betreuung:

Herr S. spricht sehr abfällig über Frauen. Er betitelt sie im Generellen nur mit

Schimpfwörtern. Allerdings spricht er immer wirklich sehr allgemein und nicht auf die

einzelnen Mitarbeiter*innen bezogen. Trotzdem fühlen sich die meisten weiblichen

Mitarbeiter*innen sehr unwohl bei den Einsätzen. Da es zum damaligen Zeitpunkt in

der Pflege des Klienten kaum männliche Mitarbeiter auf der Station gibt, werden die

Einsätze ausschließlich durch Frauen durchgeführt.

Herr S. spricht während der Einsätze beinahe fortwährend davon, dass die

Mitarbeiter*innen ihm seinen intensivsten sexuellen Wunsch erfüllen sollten: auf

einem aufblasbaren Gummitier zu reiten. Eines Tages kauft und präsentiert er dieses

Gummitier schließlich und lässt es fortan gut sichtbar in seinem Zimmer stehen.

Nach längerer Zeit fühlen sich viele Mitarbeiter*innen nach den Einsätzen so

schlecht, dass sie die Betreuung ablehnen.

Maßnahmen:

Es finden mehrere Gespräche mit Herrn Sch. statt. Er zeigt hier eher wenig Compliance. Es werden

der Hausleiter, Psychiater und auch die Hausärztin hinzugezogen. Eine Änderung der Medikation

wird vorgenommen. Die Einsätze finden nicht mehr alleine statt, stets ist ein männlicher Mitarbeiter

des Wohnheimes anwesend.

Schließlich ergreift Herr Sch. die Initiative und nimmt die Dienste einer Prostituierten in Anspruch.

Dies führt zu einer Entspannung des Pflegealltags für mehrere Wochen.

16


Danach wird die Pflegesituation wieder immer angespannter und es wird über ein Ausschluss aus dem

Haus diskutiert. Schließlich kommt Herr Sch. in ein Pflegewohnhaus, nachdem sich sein

Allgemeinzustand sowie seine Mobilitätssituation nach einem Krankenhaus-Aufenthalt akut

verschlechtern.

Fallbeispiel 6:

Der Klient Herr Z. ist bettlägerig und benötigt umfassende Unterstützung in der

Pflege und Betreuung. Es finden drei Mal täglich Hauspflege Einsätze statt.

Außerdem gibt es Heimhilfe Einsätze und Besuchsdienst.

Herr Z. stellt den Mitarbeiter*innen (hier war es egal ob männlich oder weiblich) ab

Beginn bis Ende des Einsatzes äußerst persönliche Fragen zu ihrem Intim- und

Sexualleben. Er ist sehr interessiert daran und will über kaum ein anderes Thema

sprechen. Auch wenn das Gespräch umgeleitet wird, kommt Herr Z. immer darauf

zurück. Einige Mitarbeiter*innen geben in der Teamsitzung an, sich peinlich berührt

zu fühlen. Wenn Mitarbeiter*innen Herrn Z. darauf hinwiesen, dass sie dieses Thema

als grenzüberschreitend empfinden, reagiert Herr Z. eher negativ, in dem er die

Mitarbeiter*innen anschreit oder diese zum Teil auch aus der Wohnung wirft.

Maßnahmen:

Mitarbeiter*innen wird freigestellt, ob sie den Einsatz machen möchten oder nicht. Es bleiben

genügend personelle Ressourcen übrig um die Betreuung zu gewährleisten.

Die zuständige DGKP kann nach wenigen Monaten eine stabile und starke Pflegebeziehung

aufbauen. Durch die gegenseitige Wertschätzung wird es auch möglich, die Thematik

anzusprechen, dass sich einige Mitarbeiter*innen bei dieser Art der Gespräche nicht wohl

fühlen. Daraufhin beginnt Herr Z. darauf zu achten, wie er ein Gespräch mit den

Mitarbeiter*innen führt. Es kommt weiterhin zu Fragestellungen intimer Art seitens Herrn Z.

Allerdings reagiert Herr Z. sensibler auf die Rückmeldungen der Mitarbeiter*innen.

Nach einigen Jahren erzählt Herr Z. der zuständigen DGKP schließlich von seiner

Missbrauchserfahrung in der Kindheit und verstirbt kurz danach.

Fallbeispiel 7:

DGKP kommt ins Zimmer um Kund*in zu begrüßen. Kund*in lächelt diese eigenartig

an und steckt seine Hand unter die Decke und beginnt zu masturbieren.

Mitarbeiter*in ist dermaßen in Schock dass diese sprachlos aus dem Zimmer geht.

Als die DGKP nach ein paar Minuten wieder das Zimmer der Kund*in betritt, wischt

sich dieser gerade seine Hand an der Decke ab.

17


Fragestellung: Wie sollen in dieser Situation Mitarbeiter*innen richtig reagieren?

Fallbeispiel 8:

An einem Samstag werde ich von einer Mitarbeiterin angerufen, dass Hr. G sie bei

der Pflegehandlung an der Brust angefasst hat. Sie war so schockiert, dass sie sich

nicht wehren und ihn auch nichts sagen konnte. Sie sagt mir, dass sie sich sehr

unwohl fühlte, machte dennoch - aus Verpflichtung ihre Arbeit fertig.

Ich kontaktiere telefonisch den Kunden und sage ihm, dass die Mitarbeiterin den

Vorfall gemeldet hat. Kunde sagt zu mir, dass es nur Spaß war. Ich sage ihm, dass

es Spaß nur für ihn ist, für die Mitarbeiterin ist es jedoch sehr unangenehm. Ich

betone, dass er es unterlassen müsse, da bei uns eine sexuelle Belästigung

inakzeptabel ist.

Hr. G ist verärgert, fragt, ob wir jetzt nicht mehr kommen. Ich sage ihm, dass wir ihn,

so lange er unsere Mitarbeiter*innen nicht belästigt, weiterhin betreuen werden. Hr.

G. legt auf.

Nach dem Vorfall wurde die Mitarbeiterin nicht mehr bei Herrn G zugeteilt. Es wurde

kein sexueller Übergriff mehr gemeldet.

4 Impulse für die Praxis - Dialog als Kommunikationsinstrument

Zu Beginn der Annäherung an das Thema Sexualität im Alter war es wichtig,

niederschwellige Formate zu konzeptualisieren, durch welche sich Pflegepersonen,

Bewohner*innen und Klient*innen an das Tabuthema herantasten konnten. Hierzu

wurde in einer Pflegeeinrichtung der Caritas das Format „Let’s talk about..“ mit

beiden Zielgruppen pilotiert.

4.1. Grundlagen für das Format Let’s talk about…

In einer Pflegeeinrichtung der Caritas kam im Laufe eines themenbezogenen

Pilotprojekts der sog. Dialogkreis (Circle) zum Einsatz, welches aus dem Art of

Hosting and Harvesting stammt. Dieses Kommunikationsinstrument erleichterte den

Zugang zum Thema, da hierbei festgelegte Achtsamkeitsregeln und der zeitliche

Rahmen sehr hilfreich waren. Was ist ein Dialogkreis und wie läuft dieser ab?

18


Dialogkreis (Circle im Englischen)

„Der Dialog ist ein hoch wirksames Moderationsverfahren, das in Gruppen

erfolgreich als strategisches Instrument eingesetzt werden kann. Ein Dialog bewirkt

Veränderungen auf zwei Ebenen gleichzeitig: Einerseits werden im Dialog wichtige

Themen der Gruppe konkret bearbeitet, andererseits ist der Dialog ein konkreter

Weg, um festgefahrene Kommunikationsmuster in Gruppen grundlegend positiv zu

verändern. In der Gesprächsform des Dialogs wird der Beitrag jedes

Gruppenmitglieds für die Weiterentwicklung der Gruppe oder der Organisation als

unentbehrlich betrachtet.

Darin unterscheidet sich ein Dialog von den uns bekannten Formen der Diskussion:

Im Dialog, der auf absoluter Gleichwürdigkeit aller Teilnehmer basiert, kann sich

jeder mitteilen, ohne unterbrochen zu werden. Das einander Zuhören steht im

Mittelpunkt. Eigene Meinungen werden in der Schwebe gehalten, bis ein

gemeinsamer Denkprozess entsteht, in dem das kollektive Wissen der Gruppe

sichtbar wird. Dies steht im Gegensatz zu den uns bekannten, oft sinnvollen, oft aber

auch frustrierenden Diskussionsformen, in denen wir versuchen, unsere individuelle

Meinung durch Argumentation durchzusetzen und meist die Macht des Stärksten gilt.

Diskussion macht durchaus Sinn, wenn es gilt, Entscheidungsprozesse zu

beschleunigen oder wenn eine kritische Auseinandersetzung mit bestimmten

Themen erforderlich ist.

Für kreative Prozesse, für Strategie- oder Visionsentwicklungen, die Lösung

schwieriger Probleme, oder wenn die Kommunikation in einer Gruppe nicht

funktioniert, bietet der Dialog die Chance, das in der Gruppe vorhandene Wissen

sichtbar und nutzbar zu machen.“

4.2. Umsetzung des Dialogkreises im Rahmen des Pilotprojekts

Ausgangspunkt des Pilotprojekts war die Abschlussarbeit der Wohnbereichsleitung in

der Pflegeeinrichtung der Caritas. Im Rahmen ihrer Abschlussarbeit zum Thema

Privatsphäre, Intimität und Sexualität hat die Wohnbereichsleitung sowohl unter den

Mitarbeiter*innen als auch den Bewohnter*innen unterschiedliche Methoden

angewendet, um das Thema ein Stück aus der Tabuzone herauszurücken. Es

wurden verpflichtende Workshops mit allen Mitarbeiter*innen der Station

durchgeführt. Zudem wurden zum Thema modifizierte Fragebögen ausgeteilt,

19


anonym ausgefüllt und mit soziologischen Methoden ausgewertet 18 Ziel war es, den

Umgang und offene, unbeantwortete Fragen der Mitarbeiter*innen in der Pflege zum

Thema Sexualität im Alter herauszuarbeiten.

In der Gruppe der Bewohner*innen wurde ein sog. Work Cafe veranstaltet, in dessen

Kontext auch der Dialogkreis mit der Unterstützung des Ethikteams stattgefunden

hat. Zu diesem Anlass wurden an einem Nachmittag für eine Zeitdauer von

insgesamt zwei Stunden Bewohnter*innen eines Wohnbereichs eingeladen. Der

Dialogkreis wurde begrenzt auf 45 min. und diente der Gruppe auf einer

niederschwelligen Ebene, sich dem Thema anzunähern und eigene Meinungen zu

äußern.

Die Fragestellungen an die Bewohner*innen thematisierten den Bereich der Intimund

Privatsphäre. Es wurden Fragen gestellt wie:

Was ist Ihnen in Ihrer Privatsphäre wichtig?

Wurden Sie einmal in Ihrer Privatsphäre gestört? Wenn ja, wie?

Welche Wünsche haben Sie bzgl. Ihrer Privatsphäre im Haus?

Die Antworten auf diese Fragen bewegten sich von:

Ich will ungestört auf der Toilette oder im Bad sein.

Ich will in Ruhe telefonieren.

Ich möchte einen Besuch von einer Prostituierten.

Bitte anklopfen und min. 10 sec. Warten, bis zum Eintritt

5 Psychosoziale Angebote im Sexualbereich

Im Folgenden werden psychosoziale Angebote für ältere Menschen mit dem

Bedürfnis nach einer erfüllten Sexualität erläutert. Hierbei wird ebenso auf die

Dienstleistung der Sexualbegleitung eingegangen, wobei die Implementierung in der

Caritas anhand eines Pilotprojekts näher beschrieben wird.

18

Bespiel Fragebogen, Dragana B., Sexualität im Alter, s. Anhang

20


5.1. Sexualberatung und Sexualtherapie

In der Sexualberatung werden Gespräche mit Paaren, Einzelpersonen oder

Gruppen geführt, um Konflikte und Anliegen zu bearbeiten, die nicht als

krankheitswertig gelten. Ein wesentlicher Ansatz der Sexualberatung ist, die eigenen

Wünsche und Bedürfnisse klar anzusprechen ohne jegliche Angst vor

Diskriminierung. 19 Insbesondere das Erkennen und Nutzen von Ressourcen sowie

das Erarbeiten von Kompetenzen liefern wesentliche Hilfestellungen. Ziel ist es,

verschiedenste Aspekte des alltäglichen Lebens zu vereinen und in die Beratung zu

integrieren. Dabei gilt der Grundgedanke, dass sexuelles Erleben immer erlernbar -

und damit auch veränderbar - ist.

Folgende therapeutische Methoden können u.a. in den Beratungsprozess

eingebunden werden:

Systemische Sexualtherapie

Systemische Paartherapie

Konzept Sexocorporel 20

Körperorientierte Übungen 21

Bei Bedarf verweisen Sexualberater*innen an medizinische, psychotherapeutische

oder andere qualifizierte Fachkräfte, die entsprechende therapeutische

Behandlungsansätze verwenden.

In der Sexualtherapie werden sexuelle Störungen behandelt, die krankheitswertig

einzustufen sind. Voraussetzung ist, dass ein subjektiver Leidensdruck der

Betroffenen existiert. Insbesondere „Sexuelle Funktionsstörungen“, die im ICD-10

Kapitel F52 zusammengefasst sind, bilden häufige Themen der Sexualtherapie. 22

Hierzu zählen unter anderem der Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen,

Orgasmusstörung, Ejaculatio praecox 23 oder gesteigertes sexuelles Verlangen.

19

Beispielsweise Homosexualität, Transsexualität/-identität, Intersexualität, Ungleichheiten zwischen

den Geschlechtern, Verletzung von Kinder- und Frauenrechten, interkulturelle Differenzen,

Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen

20

Das Konzept wurde von Jean-Yves Desjardins entwickelt. Anbieter in Österreich:

https://sexualpaedagogik.at/lehrgang-sexocorporel/

21

z.B. Beckenbodentraining oder Atemübungen

22

ICD-10 bezeichnet die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter

Gesundheitsprobleme, 10. Revision. Kapitel F behandelt Psychische und Verhaltensstörungen.

23

Vorzeitiger Samenerguss

21


Ebenso können Kapitel F64 „Störung der Geschlechtsidentität“ und Kapitel F65

„Störung der Sexualpräferenz“ Anlässe für Sexualtherapie werden.

Es kann davon ausgegangen werden, dass die sexuellen Verhaltensweisen von

Menschen bereits in jungen Jahren durch die sexuelle Sozialisation geprägt werden

und danach in den Gewohnheiten relativ stabil bleiben. Eine multiprofessionelle

Analyse der individuellen Sexualität kann sich daher bei Problemstellungen als

hilfreich erweisen. 24 Das praktische Vorgehen einer Sexualtherapie kann u.a.

folgende Schritte beinhalten: 25

1) Analyse der Problemsituation: Was ist das konkrete Problem? Wer ist

beteiligt? Welche Person leidet? Welche Bedürfnisse, Normen und

Vorstellungen spielen eine Rolle?

2) Reflexion der Entstehungsbedingungen: Seit wann besteht das Problem?

Was hat sich verändert und kann als Ursache reflektiert werden?

3) Ziele: Was wäre ein positives Ziel und für wen? Welche Bedürfnisse stehen

hinter dem Ziel?

4) Lösungsmöglichkeiten: Welche konkreten Lösungsmöglichkeiten bestehen?

Welche Veränderungen sind dazu notwendig? Welche Hemmnisse gibt es?

5.2. Sexualbegleitung / Sexualassistenz

Sexualassistenz und Sexualbegleitung werden oft als Synonyme verwendet. Zur

genaueren Differenzierung wird in dem vorliegenden Text zwischen „aktiver“ und

„passiver“ Sexualassistenz unterschieden.

Sexualassistenz ist eine Dienstleistung, die es Menschen ermöglicht, ihre Sexualität

würdevoll, diskret und mit Respekt erleben zu können. Gespräche, die persönliche

Hilfe bei der Selbstbefriedigung oder eine Beratung über geeignete sexuelle

Hilfsmittel zählen zur „passiven“ Sexualassistenz. Es wird kein Geschlechtsverkehr

oder oraler Kontakt angeboten. „Aktive“ Sexualassistenz ist hingegen der

Sexualbegleitung gleichzusetzen.

24

Bach & Böhmer, 2011

25

Gatterer, 2018, S. 297

22


Sexualbegleitung (auch „aktive Sexualassistenz“) bedeutet, dass sich

Sexualbegleiter*innen um das Wohlbefinden von Menschen in ihrer Ganzheit

kümmern. Tätigkeiten reichen von Beratung, erotisch-sinnlichen Massagen,

Austausch von Zärtlichkeiten bis hin zu Geschlechtsverkehr. Dabei definiert jede

Sexualbegleiterin bzw. jeder Sexualbegleiter selbst, wie weit er/sie gehen will und

bietet damit eine Begegnung auf Augenhöhe an.

Sexualbegleiter*innen sind auf den Umgang mit älteren und/oder körperlich

beeinträchtigen Menschen geschult und spezialisiert. In der Sexualbegleitung stehen

Vertrauen, Respekt und Einfühlungsvermögen im Vordergrund.

Voraussetzungen bei Sexualbegleiter*innen: Damit eine optimale Sexualbegleitung

durchgeführt werden kann, benötigt der/die Sexualbegleiter*in unter anderem eine

ausführliche Reflexion der eigenen Sexualität und ein Bewusstsein über die eigene

Motivation, diese spezifische Tätigkeit auszuüben.

Da Sexualbegleitung auf Personen mit besonderen Bedürfnissen ausgerichtet ist,

bringen Sexualbegleiter*innen Fachwissen über diese Zielgruppen mit. Bei

Bewohner*innen, die an einer Demenz bzw. Neurokognitiven Störung (NCD) 26

leiden, sollte im Vornhinein beobachtet werden, ob eine Reaktionsfähigkeit der

Bewohner*innen gegeben ist, um Wünsche 27 wie auch Abneigungen 28 zeigen zu

können. Sobald die betreffende Person die Situation emotional mitbestimmen kann,

ist eine mögliche Grenzüberschreitung im Rahmen der Sexualbegleitung

ausgeschlossen.

Da die Sexualbegleitung lediglich eine „Beziehung auf Zeit“ ermöglicht, muss darauf

geachtet werden, dass keine emotionale Abhängigkeit auf Seiten des/der

Bewohner*in entsteht.

Aufgabe der Einrichtung: Aufgrund der Entscheidung des/der Bewohner*in wird

der/die passende Sexualbegleiter*in von der Einrichtung kontaktiert, um ein

Erstgespräch mit dem/der Bewohner*in zu vereinbaren und ein gegenseitiges

Kennenlernen zu ermöglichen.

26

NCD leitet sich von dem englischen Begriff „neurocognitive disorders“ ab und lässt sich im

Klassifikationssystem DSM-5 (5. Auflage des "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders")

finden.

27

Beispielsweise küssen, streicheln, lächeln

28

Beispielsweise schubsen, drücken, schreien, schimpfen, wegdrehen von Kopf oder Körper

23


Im weiteren Verlauf wird der/die Sexualbegleiter*in über den Gesundheitszustand,

die Krankheitsgeschichte und die Wünsche des/der Bewohner*in informiert. Die

Tätigkeit der Sexualbegleiter*innen sollte für alle Mitarbeiter*innen bekannt sein,

anerkannt und respektiert werden. Sexualbegleitung sollte in der Einrichtung nicht

verschwiegen oder die Begleiter*innen anonym gehalten werden. 29

An dieser Stelle sei auf die Beratungsstelle SOPH!E verwiesen, welche in einem

eigens entwickelten Lehrgang zur „Sexualbegleitung und Sexualassistenz“ zum

Einsatz von Sexualbegleitung ausbildet. 30 Da Sexualbegleitung von behördlicher

Seite unter das Prostitutionsgesetz fällt, sei in diesem Zusammenhang auch das

aktuelle Wiener Prostitutionsgesetz (WPG 2011) genannt.

Konkrete Erfahrungsberichte zur Sexualbegleitung und Sexualassistenz erläutern

Krenner (2003) und De Vries (2011). Ein Pilotprojekt der Caritas aus dem Jahr 2021,

das im nachstehend Kapitel genauer beschrieben wird, geht auf die wesentlichen

Meilensteine der Umsetzung ein.

5.3. Pilotprojekt in einer Pflegeeinrichtung der Caritas

Ausgangpunkt des Pilotprojekts stellte ein Bewohner mit der Diagnose ICD F00.-

„Demenz bei Alzheimer-Krankheit“ dar, der ein großes Bedürfnis nach körperlicher

und emotionaler Nähe gegenüber Frauen zeigte. In biografischen Gesprächen

berichtete er immer wieder von mehreren Damen, mit denen er intensive

Liebesbeziehungen geführt habe. Da er zeitlich, örtlich und situativ vollständig

desorientiert war, wähnte er sich teils in Situationen, in denen er wegen Ehebruchs

eine Gefängnisstrafe absitzen müsse. Dies führte dazu, dass er häufig weinte und

die Themen seiner Gespräche hauptsächlich von Sehnsucht und Liebe geprägt

waren. Aufgrund seiner Erkrankung kam er zu der Überzeugung, dass

Mitarbeiterinnen ehemalige Geliebte von ihm seien. Er ging dazu über ihnen häufig

zu sagen, dass er sie liebe, berührte sie an ihrem Busen oder unternahm Versuche

sie zu küssen.

Der Bewohner genoss sichtlich jede Aufmerksamkeit, die ihm von weiblichen

Mitarbeiterinnen entgegengebracht wurde. Seine Reaktion auf Berührungen (z.B.

29

De Vries, 2011, S. 151

30

http://www.sophie.or.at

24


das Halten seiner Hände) führte dazu, dass sich seine Stimmung deutlich besserte,

er öfter lachte und sich intensiver in Gespräche einbrachte.

Im weiteren Verlauf wurde die Idee der Sexualbegleitung generiert. Als Ziel wurde

eine Verbesserung seiner Lebensqualität festgesetzt.

Da sich der Bewohner verbal wie auch körperlich über Wünsche und Abneigungen

äußern konnte, schien eine Grenzüberschreitung durch die Sexualbegleitung

ausgeschlossen.

Der erste Schritt in der Initialisierung einer Sexualbegleitung wurde von Seiten der

Psychologie durch eine Kontaktaufnahme zu SOPH!E, dem Beratungszentrum für

Sexarbeiter*innen und eine frauenspezifische Einrichtung der Volkshilfe Wien,

durchgeführt. Eine Schulung der Mitarbeiter*innen des Wohnbereichs durch die oben

genannte Einrichtung zum Thema „Sexualbegleitung“ schien essentiell, um

Verständnis für das Projekt aufzubauen und Sorgen zu verringern. Parallel dazu

wurden finanzielle und rechtliche Rahmenbedingungen geklärt. Da der Bewohner

weder verheiratet ist, noch Kinder hat, wurde lediglich die Erwachsenenvertreterin

eingebunden, die dem Projekt offen gegenüberstand und finanzielle Mittel vorhanden

sah.

Einen wesentlichen Aspekt stellte die räumliche Umsetzung der Sexualbegleitung

dar. Um die nötige Ruhe und Intimität zu gewährleisten, wurde ein eigener Raum

ausgewählt, der eine positive, wohnliche Atmosphäre generieren sollte und

dementsprechend eingerichtet wurde (z.B. Fernseher, DVD-Spieler, Zeitschriften,

Bilder, Vorhänge). Der sogenannte „Entspannungsraum“ sollte verschiedene

Anwendungsmöglichkeiten erfüllen und neben der Sexualbegleitung auch als

Rückzugsort für sexuell interessierte Paare oder Einzelpersonen zur Verfügung

stehen.

Gleichzeitig traten weitere Fragestellungen rund um das Thema Sexualität in

anderen Wohnbereichen zutage, so dass ein „Infoblatt“ als Kurzüberblick erstellt und

bei Bewohnerbesprechungen verteilt wurde. 31 Ebenso wurde eine

Prozessdarstellung für eine einheitliche Vorgehensweise des Hauses erarbeitet

(siehe Abbildung 1).

Im weiteren Verlauf wurde gemeinsam mit dem Bewohner eine Sexualbegleiterin

ausgesucht, die die Ausbildung bei SOPH!E absolviert hatte und durch die

Berufsvertretung Sexarbeit Österreich (BSÖ) als qualifiziert galt. 32 Telefonisch wurden

31

Knapp, R., 2021, Infoblatt, Unveröffentlicht, s. Anhang

32

Berufsvertretung Sexarbeit Österreich (BSÖ): https://www.berufsvertretungsexarbeit.at/sexualbegleiter/innen

25


die Rahmenbedingungen abgeklärt (z.B. Kosten, Coronavirus-Schutzimpfung) und

daraufhin ein Termin für ein Erstgespräch im Haus fixiert.

Im Erstgespräch wurde die Sexualbegleiterin von der Psychologie und der

Wohnbereichsleitung über das Krankheitsbild informiert und auf die Bedürfnisse des

Bewohners hingewiesen, welche u.a. anhand des Fragebogens zum Bedürfnis nach

körperlicher Nähe (FBKN) 33 erfasst worden waren. Danach fand ein gemeinsames

Kennenlernen des Paares in einem ruhigen, geschützten Setting statt, in dessen Folge

ein Termin für die Sexualbegleitung vereinbart wurde.

Der gesamte Prozess der Initialisierung der Sexualbegleitung im Pflegewohnhaus

erstreckte sich von April bis September 2021.

Abbildung 1: Knapp, R., 2021, Sexualität im Alter, Prozessdarstellung als Diagramm, Unveröffentlicht.

5.4. Kontaktstellen

Folgende Kontaktstellen bieten Beratungsangebote und/oder Aus-, Fort- und

Weiterbildungen rund um das Thema „Sexualität“ an. Die Liste beinhaltet keinen

Anspruch auf Vollständigkeit.

33

Knapp, R., 2021, Fragebogen zum Bedürfnis nach körperlicher Nähe (FBKN), Unveröffentlicht, s.

Anhang

26


‣ Alpha Nova – Fachstelle .hautnah.:

https://www.alphanova.at/alltag-freizeit/fachstelle-hautnah/

‣ Arbeitsgemeinschaft für Verhaltensmodifikation (AVM):

https://institut-avm.at/weiterbildungen/sexualtherapie/

‣ Beratungsstelle für Sexarbeiter*innen (SOPH!E):

http://www.sophie.or.at/

‣ COURAGE - Österreichisches Institut für Beziehungs- und Sexualforschung:

https://www.courage-beratung.at

‣ Initiative Sexualbegleitung (InSeBe): SCHWEIZ

https://www.insebe.ch/

‣ Institut für ganzheitliches Erleben (IFGE):

https://www.ifge.at/ausbildungsangebote/sexualberatung-traumaberatung/

‣ Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter (ISBB): DEUTSCHLAND

http://www.isbbtrebel.de

‣ Kraftwerk - Gegen sexuelle Gewalt an Frauen mit Lernschwierigkeiten

https://www.ninlil.at/kraftwerk/

‣ Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM):

https://oegam.at/

‣ Österreichische Gesellschaft für Sexualwissenschaften (ÖGS):

https://www.oegs.or.at/die_oegs

‣ Österreichisches Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapien (ISP):

https://sexualpaedagogik.at/

‣ Österreichisches Netzwerk Sexualtherapie:

https://www.netzwerk-sexualtherapie.at

‣ Profamilia: Sexualität und Älterwerden:

https://www.profamilia.de/themen/sexualitaet-und-aelterwerden

‣ Verein Senia – Enthinderung der Sexualität:

https://www.senia.at/angebote/beratung/

27


5.5. Sexualität und Alter in den Medien

Folgende Empfehlungen können zum Thema „Liebe und Sexualität im Alter“

gegeben werden. Die Liste beinhaltet keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Spielfilme:

‣ Wolke 9. Dresen, A. (2008). Peter Rommel Productions

‣ Anfang 80 – Für junge Liebe ist es nie zu spät. Hiebler, S. & Ertl, G. (2012).

Hoanzl

Dokumentationen:

‣ Die Lust der Frauen. Schweiger, G. (2011). Good Movies

‣ Die Lust der Männer. Schweiger, G. (2011). Good Movies

‣ Die Zeit ist REIF für eine selbstbestimmte Sexualität im Alter, FSK 12,

Dokumentarfilm von Fabian Korpok

Bücher:

‣ Verschwiegene Lust: Frauen über 60 erzählen von Liebe und Sexualität.

Daimler, R. (2016)

6 Literaturliste

Aizenberg, D.; Weizman, A.; Barak, Y. (2002): Attitudes Toward Sexuality Among

Nursing Home Residents. In: Sexuality and Disability, 20, 185-189

Bach, D.; Böhmer, F. (Hg.) (2011): Intimität, Sexualität, Tabuisierung im Alter. Wien,

Böhlau Verlag

Bauer, M.; Fetherstonhaugh, D.; Tarzia, L; Nay, R.; Beattie, E. (2013): Sexuality

Assessment Tool (sexAT) for residential aged care facilities.

28


https://www.privacy.org.nz/assets/Uploads/Sexuality-Assessment-Tool-SexAT.pdf

(Stand Juli 2021)

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Berberich, H.J. (2004): Sexualität im Alter. In: Urologie, 43, 1076-1081

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Brooker, Christine (1997): Struktur und Funktion des menschlichen Körpers.

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Bucher T., Hornung R., Buddeberg C. (2003): Sexualität in der zweiten

Lebenshälfte. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. In: Zeitschrift für

Sexualforschung, 16, 249-271

Clausen J, Herrath F. (2012): Sexualität leben ohne Behinderung. Das

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Daimler, R. (2016): Verschwiegene Lust: Frauen über 60 erzählen von Liebe und

Sexualität. Köln, Kiwi Bibliothek

De Vries, N. (2011): Die schönste Sache der Welt …?! Sexualassistenz für

Menschen mit Beeinträchtigungen. In: pflege.netz, 1, 12-14

De Vries, N. (2011): Erfahrungsbericht aus der Sexualassistenz. In: Bach, D.;

Böhmer, F. (Hg.): Intimität, Sexualität, Tabuisierung im Alter. Wien, Böhlau Verlag. S.

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Marburg, Tactum Verlag

Leon M. (2013): Sexualität im Alter ein Tabu? Ein Diskussionsbeitrag auf heutigem

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Paulsen, Gabriele (2018): Was Pflegekräfte über Sexualität im Alter wissen sollten.

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Klinischen Sozialen Arbeit. Zu lesen unter https://sozialeskapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/428/766

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31


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Kohlhammer Verlag

Zettl-Wiedner (2018): HB Richtlinie Workplace Policy zu Privatsphäre, Intimität und

Sexualität

7 Anhang

7.1. Zusammenfassung von Pflegemodellen zum Thema Privatsphäre,

Intimität und Sexualität

Biopsychosoziales Modell

Wie wichtig das Miteinbeziehen des Aspekts der Psyche in den Pflegealltag ist, zeigt

das biopsychosoziale Modell, das hier kurz vorgestellt wird. Sexualität, egal in

welcher Form, ob in Form von Kuscheln oder durch Geschlechtsverkehr, gehört wie

bereits in dieser Arbeit erklärt, zu den Grundbedürfnissen und ist daher sehr wichtig

für die gesunde Psyche.

In den 1970er Jahren hat sich das Krankheitsverständnis komplett gewandelt,

nämlich von einem biologisch medizinischen Ansatz zu einer Sichtweise des

psychologischen, sozialen und verhaltensspezifischen Blickwinkels.

Kurzum: Ein Krankheitsbild wird nicht mehr nur biologisch gesehen, sondern der

Mensch wird als Verbindung aus Körper und Geist gesehen. Diese beiden

Zusammensetzungen sind also auch bei jedem Krankheitsbild zu beachten. Das war

die Geburtsstunde des biopsychosozialen Modells, einer der bedeutendsten

Behandlungsgrundsätze der modernen Patient*innenbetreuung, bis heute. Das

Modell beschreibt den Menschen als System, das auf Störungen verschieden

reagieren kann. Gesund ist demnach der- oder diejenige, der/die auf schädliche

Einflüsse von Innen oder Außen regulativ reagiert. Ein stetiger Prozess, um im

Gleichgewicht zu bleiben. Wer diese Balance unter dem Einfluss von Noxen nicht

halten kann, ist demnach krank. Der österreichische Psychologe und

Verhaltensforscher Egger fordert daher in der Patient*innenbehandlung ganz

deutlich, dass Mediziner, Pflegepersonal, etc. bei der Behandlung einer Person,

immer alle Ebenen, also die psychologische (Erleben, Verhalten, Bewältigen, etc.),

32


die soziale (die Rolle in der Familie, Partnerschaft, Kultur, etc.) und die biologische

Ebene (Körperstruktur und -funktion), des Systems „Mensch“ berücksichtigen. Nur so

kann man ganzheitlich behandeln. (Egger 2005)

Das Konservationsmodell nach Myra Levines

Für diese Handreichung sollte neben dem biopsychologischen Modell auch Myra

Levines Konservationsmodell herangezogen werden, um eine

pflegewissenschaftliche Grundlage zu haben.

Die drei Basiskonzepte sind hierbei:

• Energieerhaltung

• Anpassung

• Ganzheitlichkeit.

Levines Modell besagt, dass jede Person als ganzheitliches Wesen zu sehen ist,

dass seine Integrität in der internen und externen Welt durch Adaption erhält. Das

bedeutet, dass jeder Mensch so lange stabil ist, so lange er sich in der sich ständig

verändernden Welt anpassen kann. Levine leitet daraus einen Grundsatz für die

Pflegewissenschaft ab. Demnach ist es die Pflicht der Pflege von kranken wie

gesunden Menschen, dass man diese immer bei diesen Anpassungsversuchen

unterstützt, damit KlientInnen bzw. BewohnerInnen so ihre persönliche, soziale und

strukturelle Integrität, also Vollständigkeit, erhalten können. (Schäfer 2003)

Konkret bedeutet das im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit „Sexualität im Alter“,

dass Pflege nur dann rundum erfolgreich sein kann, wenn man sich auch

angemessen mit sexuellen Bedürfnissen von Bewohner*innen auseinandersetzt und

dabei unterstützt und berät.

Das ist eine große Herausforderung für die Pflege, weil man jede/n Bewohner/in

individuell betrachten soll, um die Adaptionsprozesse zu erkennen und dabei zu

unterstützen. Gleichzeitig hat aber auch die Pflegerin, der Pfleger ein Recht auf

Integrität, daher muss ein harmonisches Verhältnis zwischen BewohnerInnen und

Pfleger*innen gefunden werden.

Das Pflegeplanungsmodell nach Fiechtinger und Meier

Für diese Handreichung steht eine zentrale Fragestellung im Zentrum: Welche

Pflegestrategie kann in Zukunft angewendet werden, um das Thema „Sexualität im

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Alter“ wirkungsvoll in den Pflegealltag zu integrieren? Um die Erkenntnisse der

Interviews, die für das Gesamtprojekt geführt werden, auch erfolgreich in die

Pflegepraxis einzubauen und eine förderliche Strategie zu entwickeln, wird folglich

ein Planungsmodell vorgestellt, das für die praktische Umsetzung dieser

Erkenntnisse herangezogen werden kann.

1981 haben zwei Schweizer Pflegewissenschaftlerinnen, Verena Fiechtinger und

Martha Meier, erstmals das Sechs-Phasen- Modell als ersten Pflegeprozess für den

deutschsprachigen Raum vorgestellt. Sie definierten einen strukturieren und

durchdachten Prozess, um Pflegemaßnahmen aller Richtungen wirkungsvoll und

kontrolliert durchführen zu können. Diese systematische Arbeitsmethode hält die

Pflegequalität hoch und umfasst sechs Schritte, die aufeinander aufbauen.

Die einzelnen Phasen sind:

• Informationen sammeln (Anamnese) & Ist-Analyse

• Pflegediagnosen nach Problem und Ressourcen stellen

• Pflegeziele festlegen

• Pflegemaßnahmen planen

• Pflegemaßnahmen durchführen

• Pflegemaßnahmen evaluieren

7.2. Bildergalerie zum Format „Let’s talk about Privatsphäre, Intimität

und Sexualität“, 2019

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7.3. BEWOHNERINTERVIEW „SEXUALITÄT IM ALTER/PH“: LEITFADEN

Vermisst Du deinen/einen Mann an deiner Seite?

Wenn ja, was genau vermisst Du?

Vermisst Du die körperliche Nähe/Liebe?

Welche Erinnerung hast Du wenn Du an die (körperliche) Liebe denkst?

Wie wichtig ist die körperliche Liebe für Dich? Hat sich im Vergleich zu früher

etwas geändert? Wie wichtig ist die körperliche Liebe derzeit? → aktuelle

sexuelle Bedürfnisse?

Was ist aus Deiner Sicht in Bezug auf die Sexualität wichtig für die

Mitarbeiter*innen?

Braucht es da von Seiten der Mitarbeiter*innen etwas? Sollten die

Mitarbeiter*innen in diesem Zusammenhang etwas beachten?

Findest Du, dass Bewohner*innen hier im Haus die Möglichkeit haben, Ihre

Sexualität auszuleben?

Findest Du, dass die Sexualität im Alter tabuisiert wird? Wenn ja, woran

erkennst Du das?

Was könnte helfen, dieses Tabu aufzubrechen/aufzuweichen?


INFOBLATT

„Sexualität im Alter“ 34

Quelle: John Rankin Wadell

Warum ist Sexualität im Alter wichtig?

Sexualität…

- fördert die Lebensqualität

- ist ein wesentlicher Aspekt des Selbstwertgefühls

- vermittelt Bestätigung der eigenen geschlechtlichen und sexuellen Identität

- ermöglicht ein selbstbestimmtes Leben

- steigert Vitalität und Wohlbefinden

- führt zu ausgeglichenem Verhalten und Entspannung

- führt zu Erregung und körperlichem Vergnügen

- ermöglicht es Menschen, Glück zu empfinden

Woran wird erkannt, dass ein starkes Bedürfnis nach Sexualität besteht?

Der oder die Bewohner*in…

- redet über sexuelle Themen (oder spricht das Thema direkt an)

- fasst andere Personen vermehrt an (z.B. streicheln, küssen, berühren)

- zieht sich vor anderen Personen aus (z.B. im Tagesraum)

- berührt sich selbst im Intimbereich (alleine oder vor anderen Personen)

- berührt andere Personen im Intimbereich (mit oder gegen deren Willen)

- befriedigt sich selbst (in seinem Zimmer oder im Tagesraum)

- zeigt sich verbal oder körperlich sexuell übergriffig (gegenüber Pflegekräften

oder anderen Bewohner*innen)

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Erstellt von Mag. Ramona Knapp, Psychologin im Haus St. Barbara


Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es?

- Bewohnerbesprechungen

In Zusammenarbeit mit der Psychologie können individuelle Konzepte für

Bewohner*innen erarbeitet werden. Hierfür sollte die betroffene Wohnbereichsleitung

kontaktiert und die Psychologie miteinbezogen werden.

- Entspannungsraum

Der Entspannungsraum wurde unter anderem für sexuelle Bedürfnisse von

Bewohner*innen eingerichtet und befindet sich im Wohnbereich 6. In Absprache mit

der betroffenen Wohnbereichsleitung kann dieser Raum von Bewohner*innen für

Intimität genutzt werden. Wichtig ist, dass eine Reservierung des Raums unbedingt

notwendig ist.

- Sexualbegleitung / Sexualassistenz

Sexualbegleiter*innen haben eine eigene fachspezifische Ausbildung absolviert, die

von der Berufsvertretung Sexarbeit Österreich (BSÖ) anerkannt ist. Das Angebot der

Sexualbegleitung richtet sich an alle erwachsenen Menschen, die ihre Sexualität

nicht so leben können wie sie es gerne möchten. Die Leistung ist individuell und kann

von Kuscheln bis hin zu Geschlechtsverkehr reichen. Sollte Sexualbegleitung für

Bewohner*innen erwünscht sein, bitte die Wohnbereichsleitung oder die Psychologie

kontaktieren.

- Schulungen & Fortbildungen

Bei Fragen rund um das Thema Sexualität können Fortbildungen oder Schulungen

genutzt werden. Diese werden durch das Bildungsprogramm der Caritas oder durch

interne Schulungen durchgeführt.

Bei Fragen bitte die Psychologin

oder die zuständige Wohnbereichsleitung kontaktieren!


Fragebogen zum Bedürfnis nach körperlicher Nähe (FBKN) 35

Bei diesem Fragebogen handelt es sich um ein Screening, bei dem die Sehnsucht und das

Bedürfnis nach einer sexuell lustvollen Begegnung erfasst wird. Der Fragebogen kann verbal

wie auch nonverbal beantwortet werden.

Differenziert werden die Kategorien „Explizit genitale Begegnung“ und „Emotional

körpernahe Sehnsucht“. Jede Frage kann beide Aspekte in unterschiedlichem Ausmaß

beinhalten und soll eine qualitative Einschätzung des Bedürfnisses nach körperliche Nähe

ermöglichen. Insbesondere Anmerkungen des/der Bewohner*in während der Befragung

tragen zur Differenzierung der Bedürfnisse bei.

Name des/der Bewohner*in:

Name der testenden Person:

Datum der Durchführung:

1) Wie sehr wünschen Sie sich körperliche Nähe zu einem anderen Menschen?

sehr gerne – gerne – teilweise – wenig – gar nicht

Anmerkungen:

2) Wie angenehm ist es Ihnen, wenn jemand Ihre Haut berührt?

sehr angenehm – angenehm – teilweise angenehm – wenig angenehm – gar nicht angenehm

Anmerkungen:

3) Wie gerne würden Sie die Haut einer anderen Person berühren?

sehr gerne – gerne – mäßig – etwas – gar nicht

Anmerkungen:

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Erstellt von Mag. a Ramona Knapp, Psychologin im Haus St. Barbara


4) Wie gerne würden Sie von einer anderen Person geküsst werden?

sehr gerne – gerne – mäßig – etwas – gar nicht

Anmerkungen:

5) Wie gerne würden Sie eine andere Person küssen?

sehr gerne – gerne – mäßig – etwas – gar nicht

Anmerkungen:

6) Wie angenehm ist es Ihnen, wenn eine Person Ihren Intimbereich berührt?

sehr angenehm – angenehm – teilweise angenehm – wenig angenehm – gar nicht angenehm

Anmerkungen:

7) Wie gerne möchten Sie eine Person intim berühren?

sehr gerne – gerne – mäßig – etwas – gar nicht

Anmerkungen:

8) Wie hoch ist Ihr Bedürfnis nach körperlicher Liebe bzw. Sexualität?

sehr hoch – hoch – mäßig hoch – wenig – nicht vorhanden

Anmerkungen:


8 Impressum

Herausgeberin

Freigegeben von

Caritas der Erzdiözese Wien, Caritas Pflege

Albrechtskreithgasse 19-21, 1160 Wien

Christian Klein

Freigegeben am: Stand, XY 2021

Version 1

Autor*innen

Susanne Csengel

Gabriela Hackl

Ebru Noisternig

Ramona Knapp

Rainald Tippow

© 2021 Caritas der Erzdiözese Wien, Caritas Pflege, Albrechtskreithgasse 19-21, 1160 Wien. Alle Rechte,

insbesondere das Recht der Vervielfältigung, der Verbreitung der auch nur auszugsweisen Wiedergabe und der

Speicherung in Datenbanken, sowie der Übersetzung, sind der Herausgeberin vorbehalten.

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