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Schriftliche Ausarbeitung zur Thematik Kunsttherapie bei Kindern & Jugendlichen

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1. Einleitung

Die folgende Dissertation widmet sich der Kunsttherapie und soll klären, wie diese zu

definieren ist, welche Methodik verfolgt wird und welchen Stellenwert sie unter den

gegenwärtigen psychiatrischen Therapieformen trägt. Insbesondere soll hier die

Anwendung an Kindern und Jugendlichen in den Vordergrund treten, was sich anhand

von Anwendungsbeispielen und deren Ergebnissen veranschaulichen lässt. Dabei wird

in den Fokus rücken, welche Erwartungen an die Kunsttherapie gestellt werden und

welche Schlüsse man aus dem künstlerischen Prozess ziehen kann. Als Quellen

wurden literarische Werke und Artikel von Kunstpädagogen und Psychologen

herangezogen, vor allem das literarische Werk von Karl-Heinz Merzen, die eine

medizinische als auch pädagogische Sichtweise eröffnen sollen. Der Generalisierung

wegen werden Kinder und Jugendliche auch als Patienten oder Klienten umschrieben,

da sowohl von ambulanter als auch privater Kunsttherapie die Rede ist. Zuletzt werde

ich als Verfasserin selbst zu dem Erarbeiteten Stellung nehmen und daraus ein Fazit

schließen.

In Deutschland arbeiteten 2019 rund 48.000 psychologische Psychotherapeuten sowie

Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, so die Zahl des statistischen

Bundesamtes, was 19% mehr darstellt als fünf Jahre zuvor. 1 Rückblickend lässt sich

eine steigende Tendenz erkennen, denn seit 2015 wächst die Zahl jährlich um

durchschnittlich 2.000 an. 2 Der Bedarf an psychologischer Behandlung wächst – die

Wartzeiten für eine therapeutische Behandlung aber verlängern sich auf bis zu 22

Wochen im Durchschnitt, so das Ergebnis des Berufsverbands Deutscher

Psycholog*innen. 3 Oft ist dieser Zeitraum bereits ausschlaggebend für den

symptomatischen Verlauf und bei vielen Patient*innen besteht die Frage, welche

klientenzentrierte Behandlung in Frage kommt, denn ein rein verbaler Austausch, wie

man ihn aus der Psychotherapie kennt, stellt für viele eine große Hürde dar oder ist

schlichtweg nicht möglich. 4 Hierbei dient die Kunsttherapie als eine effektive Option,

welche durch nonverbale, interaktive Methoden an den Klient*in herantritt. Durch die

aktive künstlerische Teilnahme ist jene Behandlung auch in jüngeren Altersgruppen

1

O.N.: Kunsttherapie für Schermzpatienten, URL: https://www.otv.de/kunsttherapie-fuerschmerzpatienten-535506/

(12.01.2022).

2

Ebd.

3

Ebd.

4

Ebd.

2


besonders effektiv. Doch wie gestaltet sich eine künstlerische Therapie bei Kindern

und Jugendlichen und ist allein mit Kunsttherapie eine Krankheitsbewältigung

möglich? Diese Leitfragen gilt es im folgenden Text zu klären.

2. Begriffsdefinition Kunsttherapie

Kunsttherapie ist eine Therapieform, die sich bildnerische Mittel nutzte macht und mit

anderen Fachrichtungen wie Musiktherapie, Tanztherapie und Theatertherapie zu den

Künstlerischen Therapien zählt. 5 Sie findet heutzutage in psychiatrischen,

neurologischen, onkologischen, pädagogischen und sozialpsychiatrischen

Arbeitsfeldern, in der psychiatrischen und neurologischen Rehabilitation, bei

rheumatischen und chronischen Erkrankungen, bei Suchtpatienten, in der Geriatrie,

sowie in der Familien-, Kinder- und Jugendfürsorge Anwendung. 6 Entscheidend in der

Kunsttherapie ist vor allem das aktive Tun des Patienten, wie Malen, Handwerken,

Schreiben, als auch die rezeptive Wahrnehmung, wie beispielsweise das Betrachten

oder das Fühlen. 7 Ein wesentlicher Unterschied zu anderen Therapieformen bildet vor

allem die Ermöglichung des nonverbalen Ausdrucks sowie den bewussten Zugang zu

vor-und unbewussten Inhalten mithilfe verschiedener Medien und Techniken der

Bildenden Kunst. 8 Abzugrenzen von den künstlerischen Therapien sind die

Kreativtherapien, zu denen zum Beispiel die Ergo- oder auch die

Beschäftigungstherapie gehören. 9 Diese arbeiten ebenfalls mit bildnerischen

Tätigkeiten, ohne dass künstlerisches Tun dabei im Vordergrund steht. 10 Eine weitere

Abgrenzung bildet die Ikonotherapie, bei der die reine Bildbetrachtung im

Vordergrund steht; Bilder werden erst in einer Gruppe gemalt und anschließend

betrachtet und analysiert. 11

5

O.N.: Kunsttherapie, URL: https://www.dfkgt.de/page.cfm?id=1458& (12.01.2022).

6

Eberl, Johanna Stefanie: Der Stellenwert der Kunsttherapie in der stationär-psychiatrischen

Behandlung aus Sicht der Patienten und Kunsttherapeuten. Ein Vergleich von schizophren und

affektiv erkrankten Patienten, München 2017, S.8.

7

Ebd.

8

O.N.: Kunsttherapie, URL: https://www.dfkgt.de/page.cfm?id=1458& (12.01.2022).

9

Eberl, Johanna Stefanie: Der Stellenwert der Kunsttherapie in der stationär-psychiatrischen

Behandlung aus Sicht der Patienten und Kunsttherapeuten. Ein Vergleich von schizophren und

affektiv erkrankten Patienten, München 2017, S.8.

10

Ebd. S.8.

11

Ebd. S.8.

3


Ein Blick in die Geschichte der Kunsttherapie zeigt, dass Kunst bereits seit einer

langen Tradition mythisch-heilende Kräfte zugeschrieben wurde, wobei Bilder als

„Mittel der Repräsentation, der Auseinandersetzung und Heilung“ 12 fungierten. Auch

in der Kindererziehung finden sich schon frühe Wurzeln, in denen „(…) ästhetische

Mittel als kindgerechte und handlungsorientierte Erziehungs-und Lehrmethoden

begründet und eingesetzt wurden“ 13 . Bereits seit der Aufklärung ist die zunächst

erzieherische, dann therapeutische Arbeit mit musisch-bildnerischen Mitteln zu

verzeichnen. 14 Das Kind soll einer ästhetisch-didaktischen Erziehung, orientiert an den

„Bewegungen der Seele“ 15 unterzogen werden. Auch therapeutisch arbeitende

Künstler wie Joseph Beuys tragen mit ihrem erweiterten Kunst-und Therapiebegriff

hierzu bei. 16 Diese Entwicklung wirkt sich ebenfalls auf den Kunstunterricht aus, der

von der „Herstellung einer peinlich genauen Kopie“ 17 immer weiter absieht und sich

stattdessen auf die malerische Darlegung der Gefühle und Empfindungen des

heranwachsenden Kindes fokussiert. Der beschäftigungstherapeutische Ansatz übte

ebenfalls einen musisch-bildnerischen Einfluss auf Psychiatrien aus; ab dem 19.

Jahrhundert entstanden sogenannte offene Ateliers innerhalb von Kliniken, die den

Patienten auf freiwilliger Basis die Möglichkeit zur künstlerischen Entfaltung baten. 18

Ergo-, Werk- und Psychotherapien zielten auf den Erziehungsplan zur

„Industriosität“ 19 , der Wiederherstellung von Arbeit-und Tugendsamkeit, ab, wobei

klar zwischen Arbeits-und Beschäftigungstherapien differenziert wurde. Der bildende

Künstler Siegfried Pütz verwendete 1964 erstmals den deutschen Begriff

„Kunsttherapie“ ausgehend von den in den 60er und 70er Jahren entstandenen

Disziplinen wie der Pädagogik, der Psychotherapie oder auch der Anthroposophie. 20

Die Kunsttherapie soll von nun an „(…) über das Kunsthandwerkliche hinaus die

spielerischen, kreativen, frei gestaltenden Handlungselemente“ 21 vereinen und damit

eine gesundheits-heilungsorientierte Möglichkeit an kognitiver, psycho-und

12

Kortum, Ria: Kunsttherapie in der Ambulanten Kinderkardiologie, Berlin 2013, S.57.

13

Ebd. S.57.

14

Menzen, Karl-Heinz: Grundlagen der Kunsttherapie, Stuttgart 2016, S.14.

15

Ebd. S.15.

16

Niederreiter, Lisa: Kunst, Bildung und. Bewältigung: Kunsttherapie in pädagodischer und

psychosozialer Praxis, Stuttgart 2021, S.23.

17

Menzen, Karl-Heinz: Grundlagen der Kunsttherapie, Stuttgart 2016, S.15

18

Ebd. S.15.

19

Ebd. S.15.

20

Eberl, Johanna Stefanie: Der Stellenwert der Kunsttherapie in der stationär-psychiatrischen

Behandlung aus Sicht der Patienten und Kunsttherapeuten. Ein Vergleich von schizophren und

affektiv erkrankten Patienten, München 2017, S.14.

21

Ebd. S.16.

4


verhaltensanalytischer Therapie eröffnen. Um die beschäftigungstherapeutischen

Aspekte mit der Kunsttherapie zu verknüpfen, begann man den Patienten spezifische

Aufgaben zu erteilen, die eine „individualitätsangemessene und selbstzwecksorientierte

Behandlung“ 22 unterstützen.

In der heutigen Kunst-und Kinderherapie wird das Medium der Kunst als Zugang zur

Innenwelt und den Ressourcen des Kindes eingesetzt. 23 Kunsttherapie sieht sich

nunmehr als eine Ergänzung der verbalen Psychotherapie durch den bildnerischen

Ausdruck und macht sich die innerpsychischen Prozesse bei der Betrachtung und

Erstellung von künstlerischen Ausdrücken zunutze, indem sie Orientierungs-und

Gefühlslagen wiederherzustellen versucht und Problems-sowie Leidenssituationen

eine alternative Ausrichtung geben möchte. 24 Gerade Kinder reagieren auf den Impuls

der Gestaltung offen und nutzen bildnerische Mittel zur Kommunikation. 25 Die

künstlerische Ausgestaltung dient der Entwicklungs-und Persönlichkeitsdiagnostik

und vor allem der therapeutischen Funktion, indem sie belastende Themen objektiviert

und eine Verarbeitung für Außenstehende zugänglich macht. 26 Vielfältige Qualitäten

des bildnerischen Mediums werden dabei genutzt, um körperlich, intellektuell oder

psychisch beeinträchtigte Heranwachsende in den Bereichen Motorik, Wahrnehmung,

Kognition, Emotion, Kommunikation und Interaktion zu stabilisieren und zu

fördern. 27 Karl-Heinz Menzen zählt in seinem Buch „Grundlagen der Kunsttherapie“

dazu drei praktische Perspektiven der Kunsttherapie auf:

1. Die klinisch-neurologische und heilpädagogische-rehabilitative Kunsttherapie,

die vor allem auf geistig und körperlich behinderte Menschen ausgelegt ist und

versucht, deren Selbsterlebens-oder Erfahrensformen zu kompensieren

2. Die psychosomatische, traumatherapeutisch orientierte Kunsttherapie will das

Erlebte des beschädigten, regressiven Bewusstseins bildnerisch aus

Erstarrungen lösen

22

Menzen, Karl-Heinz: Grundlagen der Kunsttherapie, Stuttgart 2016, S.17.

23

Kortum, Ria: Kunsttherapie in der Ambulanten Kinderkardiologie, Berlin 2013, S.57.

24

Menzen, Karl-Heinz: Grundlagen der Kunsttherapie, Stuttgart 2016, S.22.

25

Kortum, Ria: Kunsttherapie in der Ambulanten Kinderkardiologie, Berlin 2013, S.57.

26

Ebd. S.57.

27

Ebd. S.57.

5


3. Die psychiatrisch orientierte Kunsttherapie zielt auf die verunklarten Ich-,

Körper- und Rollenfunktionen durch misslungene soziale Alltagsgeschichten

ab und will ein neues Selbstgefühl konstruieren, das bildhaft verfügbar ist 28

Für alle Bereiche entwickelten sich verschiedene Ansätze und Methoden einer auf

Kinder ausgerichteten Kunsttherapie, die es im Weiteren zu erklären gilt. Eine

einheitliche Vorgehensweise oder ein allgemein zugrunde liegender theoretischer

Bezugsrahmen ist jedoch nicht festgelegt. Grundlegend folgt die Kunsttherapie dem

theoretischen Prinzip der kunsttherapeutischen Triade (Abb.1), wobei das Werk dabei

als der sogenannte „Dritte“ hervorgeht. 29 Klient*in, Therapeut und Medium stehen in

Verbindung miteinander und bilden drei Ebenen, die für die kunsttherapeutische

Praxis eine Rolle spielen: Der Gestaltungsprozess, die Beziehung zwischen Klient und

Therapeut*in und der Bildnerische Ausdruck ergeben eine komplexe Anzahl an

Interaktions-konstellationen. 30 Das Werk selbst erhält eine mehrdimensionale

Bedeutung oder Funktion eines Kommunikationsmediums, das durch den Klienten

geschaffen wird. 31 Von größter Relevanz ist dabei, dass das künstlerische Schaffen frei

von jeglichem Anspruch und Wertung steht; „ein „Nicht-Können“ im Sinne eines

schulischen Kunstunterrichts gibt es im Rahmen der Kunsttherapie nicht“ 32 , betont

Johanna Eberle. Die Kinderwerke sollen als Medium der Kommunikation und

Mitteilung fungieren, nicht als zu wertendes Objekt.

Mithilfe gezielter Stimulationsübungen können Kinder und Jugendliche mit geistiger

Beeinträchtigung oder Wahrnehmungs- speziell Sinnesstörungen trainiert werden. 33

Unter der haptisch-taktilen Stimulation versteht sich beispielsweise

Fingerfarbenmalen, mit den Füßen malen oder das Erstellen von Handabdrücken,

wobei alle Stimulationen je nach Möglichkeit bei geistigen und körperlichen

Beeinträchtigungen wirksam sind. 34 Neben Malarbeiten sollen Bastelarbeiten zur

ästhetisch-basalen Stimulation anregen: Darunter fällt das Sehen, Greifen,

Zusammenfügen verschiedenster Materialien wie San, Ton, Gips, Zement, Samt,

28

Menzen, Karl-Heinz: Grundlagen der Kunsttherapie, Stuttgart 2016, S.24.

29

O.N.: Was ist Kunsttherapie?, URL: https://kunsttherapie.ch/uebersicht (12.01.2022).

30

Ebd.

31

Ebd.

32

Eberl, Johanna Stefanie: Der Stellenwert der Kunsttherapie in der stationär-psychiatrischen

Behandlung aus Sicht der Patienten und Kunsttherapeuten. Ein Vergleich von schizophren und

affektiv erkrankten Patienten, München 2017, S.18.

33

Menzen, Karl-Heinz: Grundlagen der Kunsttherapie, Stuttgart 2016, S.32.

34

Ebd. S.37.

6


Leinen, Wolle, Jute, Wasser, Kleister und Leim. 35 Um psychische und physische

Funktionen zu adressieren, ergeben sich heutzutage oft Überschneidungen von ergound

kunsttherapeutischen Behandlungen. 36 Wie konkrete Anwendungsbeispiele und

deren Resultate aussehen, wird im folgenden Abschnitt demonstriert.

3. Anwendung bei Kindern & Jugendlichen

Es folgen Projekte und Anwendungsbeispiele des kunsttherapeutischen Schaffens, bei

denen zuerst zwei Gruppenprojekte mit geistig beeinträchtigten Kindern, anschließend

eine Einzeltherapiesitzung mit einem sozial beeinträchtigten Jugendlichen vorgestellt

werden. Die Arten der Therapie sind je nach Bedarf als Malen, Plastizieren, Werken,

einzeln, einzeln in der Gruppe oder in der Gruppe zu kategorisieren. 37

Zuerst wird ein Praxisprojekt mit geistig beeinträchtigten Menschen (Abb.2)

vorgestellt. Hierfür wurden die Materialien Kleister, Farbpigmente und

Tapetenkleister genutzt. 38 Letzteres animiert zum Matschen und Herumspielen, aber

auch dazu, erste Strukturen mit der Hand oder den Fingern zu formen. 39 Das Schieben,

Kreisen und Schwingen führt zu eigenen Gebilden, mit denen sich im nächsten Schritt

kleine plastische Figuren erstellen lassen, welche zuletzt noch bemalt werden

können. 40 Das Projekt fördert unterschiedlichste Bereiche der haptisch-taktilen und

motorischen Stimulation (Abb.3), darunter Fühlvermögen, haptisches Greifvermögen,

Vestibulatität, auch als das Gleichgewichtsverhalten bezeichnet sowie Kinästhetik, die

Bewegungs-empfindlichkeit und Tiefensensibilität. 41

Ein weiteres Projekt stellt das Bearbeiten von fettigem und magerem Ton (Abb.4) dar.

Jeder Teilnehmer*in bekommt ein Stück des Tons und bekommt die Aufgabe ihn zu

schlagen, kneten und kräftig durchzuarbeiten. 42 Der fettige Ton ist sehr geschmeidig

und gut formbar wohingegen magerer Ton eher rau und instabil ist. 43 Das hat eine

aggressive Note zur Folge, sodass plötzlich während des Prozesses ein Kind „Ich will

35

Menzen, Karl-Heinz: Grundlagen der Kunsttherapie, Stuttgart 2016, S.42.

36

Ebd S.42.

37

Ebd. S.357.

38

Ebd. S.171.

39

Ebd. S.171.

40

Ebd. S.171.

41

Ebd. S.171.

42

Ebd. S.172.

43

Ebd. S.172.

7


nicht mehr um 7Uhr geweckt werden“ 44 von sich gibt. Die Psychodynamik des

Tonschlagens erinnere laut Menzen an Wehrlosigkeit und Widerstand, zuerst an Grobdann

an die angesprochene Feinmotorik der Kinder. 45

Des weiteren wird eine Einzelarbeit mit einem sozial beschränkten Jugendlichen

geschildert. Er leidet unter einer Sprachverweigerung, die mit traumatischen

Ereignissen seiner Kindheit in Relation steht. 46 Der Jugendliche ist körperlich und

sprachlich in seiner Motorik retardiert und dadurch sehr kontaktscheu, sein einziger

Ausdruck bildet seine Spiel- und Malweise mit bzw. von Autos, welche Ansatzpunkt

für die Therapie werden soll. 47 Er malt verschiedene Lastwagen mit sich

wiederholenden geometrischen Formen, aus denen sich letztlich sogar Landschaften

ergeben, ein sogenanntes „ästhetisches Übergangsprojekt“ 48 , was in Abb. 5 erkennbar

wird. Seine Bilder von Polizei, Gefängnis, Feuerwehr „künden von einer großen

inneren Not, die „gelöscht“ werden muss“ 49 , so Menzen. Der/die Therapeut*in klebt

ein großes Papier auf den Boden mit Straßen, Häusern und Ampeln, dann spielen

Patient und Therapeut*in mit den Autos, es kommt zu einer Kollision. Der Junge malt

einen Notarztwagen und dann etwas Alarmierendes: ein Kind, das blutet und

womöglich ihn selbst darstellen soll. 50 Vor allem die Repetition in seinen Bildern ist

laut Menzen möglicherweise als Selbstvergewisserung zu deuten. 51

Die angesprochenen Faktoren wie die Material- und Farbwahl als auch das

Abgebildete spielen bei der finalen Betrachtung und Interpretation eine entscheidende

Rolle. Wohl bemerkt ist mit einer Interpretation in der Kunsttherapie keine

festgeschriebene Auswertung gemeint, sondern vielmehr die Bewertung des

Prozesses: Fragen wie „Welche Farbe wählt der Patient, wie wässrig malt er“ geben

Aufschluss über emotionale Bereiche, zu denen ein Gespräch keinen Zugang eröffnet,

was wiederum auch die diagnostischen Möglichkeiten erweitert. 52 Das Kind teilt über

eine Zeichnung bewusst oder unbewusst etwas von sich mit, was über reale

Erfahrungen über Projektionen, Phantasien auch Wünsche oder Befürchtungen

44 Menzen, Karl-Heinz: Grundlagen der Kunsttherapie, Stuttgart 2016, S.172.

45

Ebd. S.172.

46

Ebd. S.211.

47

Ebd. S.211.

48

Ebd. S.211.

49

Ebd. S.211.

50

Ebd. S.211.

51

Ebd. S.211.

52

Graß, Michael und Sinapius, Peter: Forschungsprojekt „Berufsfeldspezifische Bedingungen der

Kunsttherapie im klinischen Rahmen“, Ottersberg 2006, S.94.

8


reicht. 53 Liegen mehrere künstlerische Gestaltungen eines Kindes vor, können diese

verglichen und sich wiederholende, fortdauernde Themen analysiert werden. 54 Auch

die Kommentare des Kindes können zu einer möglichen Interpretation beitragen und

als „Erzählhilfe“ 55 nützlich sein. In freien Kinderzeichnungen ist oft die Freude am

Gestalten vorrangig, weswegen bewusste Mitteilungen seltener der Fall sind. 56 Innere

und äußere Erfahrungen manifestieren sich beispielsweise in der formalen, grafischen

Struktur, also der Strichführung und Druckstärke. Welche Vor-und Nachteile

ästhetische Materialien und Techniken bilden, wird im Folgenden gelistet:

Blei- und Buntstifte sind für klare Umrisslinien und verschiedene Härtegrade nützlich

sind, setzen jedoch zeichnerische Fähigkeiten voraus.

Filzstifte gestatten ein schnelles und kontrolliertes Arbeiten, was für Kinder aber eher

überfordernd scheint, sie sind „oft sehr angestrengt und setzen angespannt Strich an

Strich“ 57 .

Wachsmalkreide bietet einen darstellerischen Übergang von Linie zur Fläche, wobei

Form-und Farbgebung kontrollierbar sind, was der Angstreduzierung zugutekommt.

Sie legen eine Grundlage für differenziertes Gestalten.

Fingerfarbe steht dem Reinlichkeits- und Ordnungsbedürfnis entgegen und spricht

viele Sinne an. Sie regt zur Bewegungsförderung an und lässt nahezu alle Stimmungen

und Emotionen unkontrolliert zum Ausdruck kommen.

Aquarell-und Wasserfarben punkten damit, dass durch sie ein „großes Spektrum

seelischer Stimmungen“ widergespiegelt werden kann. Sie helfen bei kindlicher

fehlender Ausdauer, schnell große Flächen zu erarbeiten.

Kreide erlaubt ebenfalls ein breites Spektrum seelischen Ausdrucks und fördert je

nach Härte das fein-und grobmotorische Gefühl.

Papier lässt je nach Beschaffenheit verfließende Farbübergänge zu. Unterlage,

Fixierung und besonders die Größe ist wichtige Faktoren, insbesondere bei

depressiven oder hospitalisierten Kindern 58

53

Kortum, Ria: Kunsttherapie in der Ambulanten Kinderkardiologie, Berlin 2013, S.71.

54

Ebd. S.71-72.

55

Ebd. S.72.

56

Ebd. S.72.

57

Menzen, Karl-Heinz: Grundlagen der Kunsttherapie, Stuttgart 2016, S.198.

58

Ebd. S.198.

9


Neben Motivwahl etc. drücke laut Menzen auch die Farbwahl innere

Gefühlsschwankungen aus, beispielsweise stände Rot für Aggressivität oder Wärme. 59

Allerdings seien derartige Deutungen sehr vage, da die Farbe individuell im Werk

betrachtet werden müsse. 60 Merzen schreibt hierzu: „Je nach augenblicklichem

Gefühlszustand, je nach psychischer Verfassung kann die Farbe ‚blau‘ anders als

‚kühl‘ oder ‚still‘ wirken, ebenso muss ‚rot‘ nicht als aktiv und lebendig empfunden

werden“ 61 .

Es kristallisiert sich heraus, dass die künstlerische Gestaltung ein „Wesensabbild“ des

Kindes zeigt und als diagnostisches Mittel eingesetzt werden kann. 62 Dabei fungiert

das Werk des Kindes nicht nur als Ausdruck, sondern auch zur Verarbeitung. Zeichnen

und Malen sind natürliche Ausdrucksformen für Kinder, um ihre Gefühle und ihre

inneren Einstellungen anhand von Symbolen darzustellen, bevor sie überhaupt in der

Lage sind, sich in abstrakten verbalen Begriffen auszudrücken. 63 Jedoch ist Vorsicht

bei der Auslegung geboten, da es keine konkrete Studie in der Kunsttherapie gibt und

es dementsprechend zu vorschnellen Schlüssen kommen kann, was sich anhand der

Farbwahl zeigt.

4. Fazit

Resümierend lässt sich sagen, dass sich die heutige Kunsttherapie einen hohen

Stellenwert in der Medizin erarbeitet hat, da sie sowohl mit der Psychotherapie als

auch mit anderen Therapien eine Symbiose bildet, die ideal auf den individuellen

Menschen abstimmbar ist. Mehrere Ärzte erhoffen sich Hilfen zur

Krankheitsbewältigung oder Hinweise von der Kunsttherapie für die eigene

Diagnostik. 64 Vor allem chronische Erkrankungen, aber auch Herzerkrankungen oder

Diabetes stehen in Verbindung mit psychischen Faktoren. Demnach können

Künstlerische Therapien nicht unmittelbar in Verbindung mit der

59

Menzen, Karl-Heinz: Grundlagen der Kunsttherapie, Stuttgart 2016, S.199.

60

Ebd. S.201.

61

Ebd. S.201.

62

Graß, Michael und Sinapius, Peter: Forschungsprojekt „Berufsfeldspezifische Bedingungen der

Kunsttherapie im klinischen Rahmen“, Ottersberg 2006, S.73.

63

Kortum, Ria: Kunsttherapie in der Ambulanten Kinderkardiologie, Berlin 2013, S.72.

64

Graß, Michael und Sinapius, Peter: Forschungsprojekt „Berufsfeldspezifische Bedingungen der

Kunsttherapie im klinischen Rahmen“, Ottersberg 2006, S.93.

10


Krankheitssymptomatik gebracht werden, sondern vielmehr mit den psychischen

Folgen und dem Fokus auf die Krankheitsbewältigung- und Verarbeitung. 65

Kunsttherapie soll also eine neue Lebensperspektive eröffnen und das

Selbstbewusstsein sowie die Eigeninitiative mobilisieren. 66 Zudem ist sie in der Lage

mit dem/der Patient*in an seiner/ihrer Wiedererinnerung der inneren Bilder wie der

äußeren Verhaltensmuster, an deren Restituierung und Wiederherstellung zu arbeiten,

was mithilfe der bildnerischen Mittel ideal ausgeführt werden kann. Insbesondere bei

der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen stellt sich heraus, wie ideal ein Bild aus

tiefenpsychologischer Sicht eine „Projektion des inneren nach außen“ 67 abbilden kann

und so dem Betrachter*in einen Einblick in die Gefühlswelt ermöglicht, bevor das

Kind sich überhaupt verbal äußern kann. Eine umfangreiche Studie zum Vergleich,

zur Diskussion oder zur Aufführung der Gemeinsamkeiten verschiedener Methoden

fehlt jedoch, weswegen ich mich in dieser Arbeit hauptsächlich auf die Thesen

Menzens bezogen habe.

Es bleibt leider offen, welche konkreten Methoden neben der Menzens, wie

beispielsweise die Bachmann Theorie, die eine Verbindung zwischen psychisch und

bildnerischen Entwicklungslinien sieht, angewendet werden. Meiner Meinung nach ist

der Arbeit jedoch vernehmbar, wie einzigartig Kunst und Medizin sich ergänzen

können und viel basaler gesehen, wie wichtig das künstlerische Schaffen für den

Menschen doch ist. Ich selbst habe ein 28 tägiges Praktikum im kunsttherapeutischen

Bereich einer Tagesklinik gemacht und kann nur bestätigen, dass Kunst eine derartig

warme, entfaltende Wirkung auf den Menschen haben kann. Bereits als Kinder lernen

wir, kreativ zu arbeiten und sich künstlerisch zu verausgaben, warum verlieren sich

diese wichtigen Eigenschaften oft im Alter?

65

Graß, Michael und Sinapius, Peter: Forschungsprojekt „Berufsfeldspezifische Bedingungen der

Kunsttherapie im klinischen Rahmen“, Ottersberg 2006, S.98.

66

Ebd. S.98.

67

Kortum, Ria: Kunsttherapie in der Ambulanten Kinderkardiologie, Berlin 2013, S.72.

11


5. Literaturverzeichnis:

Block-Aupperle, Susanne: Kusnttherapie mit Kindern: pädagogische Chancen,

Didaktik, Realisationsbeispiele, München 1982.

Bröcher, Joachim: Kunsttherapie als Chance: das Ästhetische in der Grund-und

Sonderschuldidaktik bei auffälligem Verhalten, Heidelberg 1999.

Bröcher, Joachim: Zur heuristischen Funktion kunsttherapeutischer Verfahren für

den sonderpädagogischen Unterricht. Didaktische Variationen zum zeichnerischen

Werk eines verhaltensauffälligen Jungen. In: Musik-, Tanz- und Kunsttherapie, 8,

1997.

Eberl, Johanna Stefanie: Der Stellenwert der Kunsttherapie in der stationärpsychiatrischen

Behandlung aus Sicht der Patienten und Kunsttherapeuten. Ein

Vergleich von schizophren und affektiv erkrankten Patienten, München 2017.

Garg, Anja Simone und Menzen, Karl-Heinz (Hrsg): Kunsttherapie und Spiritualität,

Köln 2012.

Giegler, Monika: Kunsttherapie im psychiatrischen klinischen Setting und ihre

Wirkfaktoren, Linz 2021.

Graß, Michael und Sinapius, Peter: Forschungsprojekt „Berufsfeldspezifische

Bedingungen der Kunsttherapie im klinischen Rahmen“, Ottersberg 2006.

Kolaschinsky, Doreen: Malen, Experimente und Drucken. Gestaltungsprozesse bei

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Kortum, Ria: Kunsttherapie in der Ambulanten Kinderkardiologie, Berlin 2013.

Mathar, Mirjam: Selbsterleben und Krankheitserleben. Zeichnungen herzkranker

Kinder. In: Kunst + Unterricht, Heft 246/247, 2000.

Menzen, Karl-Heinz: Grundlagen der Kunsttherapie, Stuttgart 2016.

Menzen, Karl-Heinz: Kid’s Problems. Ein Studienbuch zur kindlichen und

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Niederreiter, Lisa: Kunst, Bildung und. Bewältigung: Kunsttherapie in pädagodischer

und psychosozialer Praxis, Stuttgart 2021.

O.N.: Kunsttherapie, URL: https://www.dfkgt.de/page.cfm?id=1458& (12.01.2022).

O.N.: Was ist Kunsttherapie?, URL: https://kunsttherapie.ch/uebersicht (12.01.2022).

Richter-Reichenbach, Karin-Sophie: Anwendungsbeispiele aus dem therapeutischrehabilitativen

Bereich. In: Richter-Reichenbach, Karin-Sophie: Identität und

12


ästhetisches Handeln. Präventive und rehabilitative Funktionen ästhetischer Prozesse,

Weinheim 1992.

Schubert, Christian und Von Spreti, Flora (Hrsg): KunstTherapie: Künstlerisches

Handeln – Wirkung- Handwerk, Schattauer 2018.

Wichelhaus, Barbara (Hg.): Kunsttheorie Kunstpsychologie Kunsttherapie.

Düsseldorf 1993 / auch in: Otto, Gunter Lehren und Lernen zwischen Didaktik und

Ästhetik. Band 2 Schule und Museum. Kallmeyer (Seelze) 1998, S. 125-143.

13


6. Abbildungsverzeichnis:

Abb.1)

Skizzierung der kunsttherapeutischen Triade, in: O.N.: Was ist Kunsttherapie?, URL:

https://kunsttherapie.ch/uebersicht (12.01.2022).

14


Abb.2)

Praixprojekt mit Kleister und Farbpigmenten, in: Menzen, Karl-Heinz: Grundlagen der

Kunsttherapie, Stuttgart 2016, S.171.

15


Abb.3)

Kleister zur Anregung von Taktilität, Vestibularität und Kinästhetik, in: Menzen, Karl-

Heinz: Grundlagen der Kunsttherapie, Stuttgart 2016, S.172.

16


Abb.4)

Arbeit mit Ton zur Bewegungsanregung, in: Menzen, Karl-Heinz: Grundlagen der

Kunsttherapie, Stuttgart 2016, S.173.

17


Abb.5)

Bilder eines 18-jährigen Jugendlichen, der sich sozial verweigert, in: Menzen, Karl-

Heinz: Grundlagen der Kunsttherapie, Stuttgart 2016, S.210.

18

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