Bericht von Sophia Pfeifer
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Nicaragua und wie man lernt zu leben<br />
Gratulationen! Abitur mit Bravour bestanden, das<br />
Foto des Abschlussballs hängt schon bei den Großeltern<br />
an der Wand, die Eltern erzählen <strong>von</strong> ihrem<br />
Kind, das nun in die Erwachsenenwelt zieht - jetzt<br />
kann es losgehen! Große Freude, viele Emotionen,<br />
Aufregung, aber dann auf einmal die alles entscheidende<br />
Frage: Was will ich überhaupt machen? Wo<br />
will ich hingehen? Wer will ich sein? Wie soll es<br />
weitergehen? Jetzt ist die Zeit gekommen, in der ich<br />
mich entscheiden muss, in welche Richtung mein<br />
Leben gehen soll.<br />
So wie sicher viele Personen in meinem Alter war ich, <strong>Sophia</strong> <strong>Pfeifer</strong>, Abiturientin des Lessing-Gymnasiums<br />
in Frankfurt, zu dieser Entscheidung letztes Jahr bei weitem noch nicht bereit, weshalb ich<br />
beschloss, eine „Denkpause“ einzulegen, bevor es an die Universität gehen sollte, um mich selber<br />
kennen zu lernen, mehr <strong>von</strong> der Welt zu sehen, Spanisch als weitere Fremdsprache dazuzulernen und<br />
um festzustellen, welches die für mich wichtigen Grundsätze und Ansichten des Lebens sein sollen.<br />
Da diese Zeit aber absolut nicht nur mir dienen sollte und ich <strong>von</strong> der Not in vielen Ländern dieser<br />
Welt wusste, sollte dies unbedingt mit einer Art Freiwilligenarbeit kombiniert sein, und so begab ich<br />
mich auf die Suche nach einer geeigneten Organisation, die ich bald auch im Internet fand: „La<br />
Esperanza Granada“ in Nicaragua. Eine so genannte „non-profit Organisation“, die Schulen in den<br />
Vororten Granadas aufbaut, Lehrer einstellt, für eine medizinische Grundversorgung der Schüler<br />
sorgt und versucht, den Kindern die Augen für eine Welt hinter der Armut und dem Elend des Dorfes,<br />
in dem sie wohnen, durch Erziehung und Bildung zu öffnen. An Kosten fallen für die Volontäre<br />
ausschließlich der Flug, die Unterkunft und der Lebensunterhalt, jedoch keine Zahlungen – außer<br />
einer „administration fee“ <strong>von</strong> 20 Dollar – an die Organisation an, die sich rein durch Spenden<br />
finanziert. Die Freiwilligen, zu denen auch Einheimische gehören, sind in drei Gruppen aufgeteilt:<br />
• Das Englischteam (in dem ich eingesetzt bin), dessen Mitglieder in mehreren Schulen arbeiten<br />
und in den Klassen 3 bis 6 Englisch unterrichten.<br />
• Das Computerteam, welches mit kleinen Laptops der Organisation <strong>von</strong> Schule zu Schule fährt<br />
und mit den Kindern auf spielerische Art und Weise Rechnen, Lesen etc. übt.<br />
• Und zu guter Letzt die Freiwilligen, die „nur“ einer Schule zugewiesen sind und sich dort<br />
speziell um die Kinder kümmern, die große Schwierigkeiten haben oder mit ihrem Wissen<br />
weit hinter der Klasse hängen.<br />
Untergebracht sind die meisten Freiwilligen in Unterkünften der Organisation: reichlich einfache, für<br />
die menschlichen Bedürfnisse jedoch absolut ausreichende Häuser in zentraler Lage in Granada, in<br />
denen man in Einzelzimmern oder gemeinsam mit anderen Volontären wohnt. An die Tatsache, dass<br />
es morgens unter Umständen kein Wasser gibt, mittags der Toaster eventuell nicht anspringt, weil<br />
der Strom ausgefallen ist, oder man nachts ein leises Fiepen aus der Ecke vernimmt, was starke<br />
Vermutungen an die Präsenz einer Maus aufkommen lässt, gewöhnt man sich erstaunlich schnell,<br />
und es ist umso schöner, abends mit den anderen Freiwilligen aus aller Welt zusammenzusitzen, ein<br />
Gläschen des nicaraguanischen Rums zu genießen, sich über die Erlebnisse des Tages auszutauschen
und diese dann zu später Stunde in Gestalt <strong>von</strong> farbenfrohen Fingergemälden an den Wänden des<br />
Gemeinschaftsraumes zu verewigen. Fern <strong>von</strong> der Familie und seinem gewohnten Umfeld und sicher<br />
auch, weil eine gewisse gemeinsame Basis schon allein dadurch besteht, dass man sich als Volontär<br />
in Nicaragua kennenlernt, knüpft man rasch enge Freundschaften, die die Zeit hier noch unvergesslicher<br />
machen und sicher für ein Leben halten werden.<br />
Jeden Dienstag gibt es eine Réunion, in der die Ereignisse der Woche besprochen, Pläne und Termine<br />
für die kommende verkündet werden und Gesprächsraum für Probleme, Kritik oder Lob der Arbeit<br />
und der Organisation gegeben wird.<br />
Ein typischer Tagesablauf sieht für mich also beispielsweise so aus:<br />
Nach einer unter dem hypnotisierenden Quietschen des nicht allzu effektiven Ventilators verbrachten<br />
Nacht und einem Frühstück, bei dem sich die ersten Schweißtropfen aufgrund der aufgehenden,<br />
jedoch bereits glühenden Sonne bemerkbar machen, begebe ich mich auf die Straßen, wo die Marktfrauen<br />
schon ihre Stände aufgebaut haben, frische Früchte in großen Bastkörben auf ihren Köpfen<br />
balancieren, es aus überdimensionalen Kesseln am Straßenrand schon nach typischen nicaraguanischen<br />
Gerichten duftet, aus den ersten Geschäften laute Salsamusik ertönt und einem der Helfer des<br />
Busfahrers bereits aus weiter Ferne zuschreit, wo es hingeht, ob man einsteigen will und wie hübsch<br />
man heute doch aussehe.<br />
Auf dem Markt in Granada
Im Slalom um die Schlaglöcher in der Straße und vorbei an Pferdekutschen, <strong>von</strong> Ochsen gezogenen<br />
Karren und einer bunten Menschenmasse geht es also in Richtung Schule; ob jemand zu- oder aussteigen<br />
will, wird per Handzeichen bzw. lautem Pfeifen kenntlich gemacht, und schließlich steht man<br />
in einem der nur hüfthoch gemauerten, mit nichts außer einfachen hölzernen Stühlen und einer <strong>von</strong><br />
der Organisation gespendeten Tafel ausgestatteten Klassenräume der Schule. Nun heißt es, die Aufmerksamkeit<br />
der Klasse, in der nicht selten über 30 Schüler sitzen, zu gewinnen: Die typische Begrüßung<br />
fällt noch leicht, aber neue Grammatik muss wieder und wieder erklärt und unzählige Male<br />
geübt werden, und selbst dann ist sie oft noch nicht verinnerlicht, weil der Geräuschpegel zu hoch<br />
war, die Kinder im Nebenraum gesungen haben oder einige Schüler nicht zu allen Stunden kommen<br />
konnten, da sie für ihre Eltern arbeiten oder die Schäden, die der Regen in der Nacht zuvor an ihrem<br />
„Haus“ angerichtet hatte, beseitigen mussten. Oft ist die Arbeit also sehr hart und - gemessen an<br />
dem Engagement und der Motivation, die man hineinsteckt - unbefriedigend.<br />
Beim Unterrichten in der Schule „Juan Diego“<br />
Wenn dann aber einige der Kinder die Hausaufgaben sorgfältig erledigt haben, in einer Stunde tatsächlich<br />
30 Paar Augen mit voller Konzentration auf die Tafel gerichtet sind, man in der Pause mit<br />
den Kindern Fußball spielt oder nach dem Unterricht mit festen Umarmungen traurig verabschiedet<br />
wird, empfinde ich eines der schönsten Gefühle und komme mit geschwellter Brust nach Hause! Zu<br />
einigen der Schüler habe ich in den 3 ½ Monaten eine enge Beziehung aufgebaut, sie alle sind mir<br />
unheimlich ans Herz gewachsen, und ich genieße die Zeit mit ihnen wahnsinnig!
Eine Schülerin in höchster Konzentration<br />
Nach der Schule essen wir meist in einem<br />
„comedor“ - einem Straßenstand, an dem<br />
man nicaraguanisches Essen kaufen kann -,<br />
wo Maduros (angebratene Kochbananen),<br />
Enchiladas (frittierte, mit Reis und Fleisch gefüllten<br />
Teigtaschen), Gallo Pinto (das typische<br />
Reis-Bohnen-Gericht) und natürlich frische<br />
Früchte zum Nachtisch angeboten werden.<br />
Nach weiteren 2 bis 4 Unterrichtsstunden<br />
geht es schließlich – oft auf der Ladefläche<br />
eines Pick-Ups trampend - gegen 3/4 Uhr<br />
nach Hause, wo ich lese, etwas mit den<br />
anderen Freiwilligen unternehme, zur Salsa-<br />
Stunde im örtlichen Tanzstudio gehe oder<br />
schlichtweg versuche, das Erlebte und oft<br />
kaum real Erscheinende durch das Schreiben<br />
im Tagebuch zu verarbeiten und festzuhalten.<br />
Pure Lebensfreude
An den Wochenenden machen wir oft Ausflüge zu den umliegenden Vulkanen, Lagunen, Stränden,<br />
Kunstmärkten und Naturwundern, und jedes Mal wieder erlebt man etwas Neues, Überraschendes,<br />
Beeindruckendes und absolut Überwältigendes. Kein Tag ist wie der andere, und die Herzlichkeit der<br />
Menschen, die Exotik und Vielfalt der Natur sowie die Einzigartigkeit dieses Landes erstaunen mich<br />
immer und immer wieder.<br />
Die Hauptstraße Granadas mit dem Mombacho-Vulkan im Hintergrund<br />
Natürlich enttäuschen und erschrecken mich Teile der Kultur (beispielsweise das Bild und die Rolle<br />
der Frau in der Gesellschaft oder die Tatsache, wie schnell Kinder hier erwachsen werden / denken<br />
müssen) sowie die Armut und die daraus resultierenden Aggressionen oft. Dennoch fühle ich mich<br />
sehr sicher, genieße die Erfahrung in vollen Zügen und versuche, einen positiven Beitrag zu dem Alltag<br />
der Menschen zu leisten bzw. mir ungerecht oder gefährlich erscheinende Situationen und Konditionen<br />
zu lösen oder zu verbessern. Um den Kindern zum Beispiel einen kleinen Eindruck zu vermitteln,<br />
was es heißt, zusammen Musik zu machen, habe ich einmal nach der Schule mit einem Freiwilligen<br />
aus Wales, der sehr gut Gitarre spielt, eine „Chorprobe“ organisiert, zu der erstaunlich viele<br />
Kinder kamen. Natürlich lief es nicht ganz so organisiert und geregelt ab, wie wir uns das vorgestellt<br />
hatten, aber die Kinder hatten einen Riesenspaß, haben ein paar weitere Worte auf Englisch gelernt<br />
und konnten für einen Moment einfach Kinder sein und singen, anstatt zu lernen oder zu arbeiten.<br />
Ein andermal bin ich zu der Familie einer meiner Schülerinnen gefahren, deren Elend mir die Lehrerin<br />
geklagt hatte, um ihnen Essen, Kleidung und kleine Weihnachtsgeschenke vorbeizubringen. So sehr<br />
ich am Anfang <strong>von</strong> den Zuständen in den Freiwilligenhäusern geschockt war, so sehr wusste ich sie zu<br />
schätzen, als ich die aus Holzlatten und Plastikfolien zusammengestückelte Hütte betrat und erfuhr,<br />
wie viele Personen in den jeweiligen Betten schlafen mussten. Das war einer der Momente, in denen
Zweifel aufkamen, wie viel Sinn mein Englischunterricht der vergangenen drei Monate macht und<br />
was ich im Endeffekt wirklich verändern kann; aber die Zeit hier hat mich gelehrt, dass etwas nur<br />
effektiv ist, wenn man es langfristig und engagiert verfolgt, und so habe ich hoffentlich zumindest<br />
einen kleinen Beitrag zu dem langen Prozess, an dem „La Esperanza“ und alle seine Mitarbeiter stetig<br />
arbeiten, geleistet. „La Esperanza“ sehe ich in dieser Hinsicht als eine hervorragende Organisation an,<br />
die Großes bewirkt, schon viele positive Veränderungen erreicht hat und absolut unterstützenswert<br />
ist!<br />
Nach der Arbeit mit „La Esperanza“, meinem dreiwöchigen Praktikum im Krankenhaus in der Hauptstadt<br />
Managua und einer anschließenden Reise nach Mexiko und Guatemala werde ich Anfang Februar<br />
nach Deutschland zurückkehren, worauf ich momentan mit sehr geteilten Gefühlen blicke. So<br />
sehr ich Familie und Freunde vermisse, so einzigartig, lehrreich, aufregend und wunderschön ist doch<br />
die Zeit hier, was mir definitiv mindestens ebenso sehr fehlen wird wie die Heimat momentan. Fest<br />
steht, dass die vergangenen Monate eine einmalige Erfahrung für mich persönlich waren, unglaublich<br />
wertvoll und hoffentlich nicht nur mich einiges<br />
gelehrt haben, sondern auch den Menschen<br />
hier <strong>von</strong> Nutzen waren. Ich bin mir<br />
absolut sicher, dass ich die richtige Entscheidung<br />
getroffen habe, einen solchen Aufenthalt<br />
zu machen, der mir ewig in Erinnerung<br />
bleiben wird, und ich hoffe, andere Personen<br />
durch meinen <strong>Bericht</strong> motivieren bzw.<br />
überzeugen zu können, etwas Ähnliches zu<br />
machen.<br />
Saludos desde Nicaragua y hasta luego,<br />
<strong>Sophia</strong> <strong>Pfeifer</strong><br />
La Esperanza Granada,<br />
Calle Libertad, #307,<br />
Un y medio cuadro al lago,<br />
Granada,<br />
Nicaragua.<br />
http://www.la-esperanza-granada.org/<br />
Über den Dächern Granadas mit der Kathedrale<br />
und dem Nicaraguasee im Hintergrund