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recke:in - Das Magazin der Graf Recke Stiftung Ausgabe 1/2022

Vor 200 Jahren legte Graf von der Recke den Grundstein für die heutige Graf Recke Stiftung: Ein Rettungshaus für verwahrloste und elternlose Kinder. Mit heutiger sozialer Arbeit hat das nicht viel zu tun. Oder doch? Antworten darauf gibt die neue recke:in 1/2022. Erziehungswissenschaftler Holger Wendelin hat sich zum 200. Geburtstag intensiv mit der Geschichte der Heimerziehung und der Graf Recke Stiftung befasst. Michael Mertens leitet seit 2012 die Graf Recke Erziehung & Bildung. Im Rückblick auf zwei Jahrhunderte, vom Rettungshaus für verwahrloste Kinder bis zur heutigen Jugendhilfe der Graf Recke Stiftung, entdecken die beiden Kontinuitäten und Brüche – und einiges, was es zu bewahren gilt. Außerdem in der neuen recke:in: Warum die Arbeit in einer Jugendwohngruppe ein täglicher Neuanfang ist, wie die Graf Recke Stiftung sich weitere Standbeine verschaffte und was sie im Jubiläumsjahr am Herzen liegt lesen Sie hier digital in der aktuellen Ausgabe 1/2022.

Vor 200 Jahren legte Graf von der Recke den Grundstein für die heutige Graf Recke Stiftung: Ein Rettungshaus für verwahrloste und elternlose Kinder. Mit heutiger sozialer Arbeit hat das nicht viel zu tun. Oder doch? Antworten darauf gibt die neue recke:in 1/2022.

Erziehungswissenschaftler Holger Wendelin hat sich zum 200. Geburtstag intensiv mit der Geschichte der Heimerziehung und der Graf Recke Stiftung befasst. Michael Mertens leitet seit 2012 die Graf Recke Erziehung & Bildung. Im Rückblick auf zwei Jahrhunderte, vom Rettungshaus für verwahrloste Kinder bis zur heutigen Jugendhilfe der Graf Recke Stiftung, entdecken die beiden Kontinuitäten und Brüche – und einiges, was es zu bewahren gilt. Außerdem in der neuen recke:in: Warum die Arbeit in einer Jugendwohngruppe ein täglicher Neuanfang ist, wie die Graf Recke Stiftung sich weitere Standbeine verschaffte und was sie im Jubiläumsjahr am Herzen liegt
lesen Sie hier digital in der aktuellen Ausgabe 1/2022.

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ERZIEHUNG & BILDUNG<br />

Zum Jahreswechsel hat bei Sebastian<br />

Heiland etwas Neues<br />

begonnen. Er wollte das so. Nach<br />

Jahren <strong>der</strong> Arbeit im K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten<br />

wollte <strong>der</strong> staatlich anerkannte Erzieher sich<br />

an<strong>der</strong>weitig orientieren. »Ich suchte e<strong>in</strong>e<br />

neue Herausfor<strong>der</strong>ung«, bekennt er. Und<br />

diese hat <strong>der</strong> 39-Jährige <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat gefunden:<br />

im NETZwerk, e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>tensiven Wohnund<br />

Betreuungsangebot <strong>der</strong> <strong>Graf</strong> <strong>Recke</strong><br />

Erziehung & Bildung. Hier fängt er zuweilen<br />

sogar täglich neu an – und das hat Gründe.<br />

<strong>Das</strong> Angebot, das im September 2021<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Neubau <strong>in</strong> Düsseldorf-Wittlaer<br />

gestartet ist, richtet sich an K<strong>in</strong><strong>der</strong>,<br />

die von FASD betroffen s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>er Form<br />

<strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung, die durch Drogen- o<strong>der</strong><br />

Alkoholkonsum <strong>der</strong> Mutter während <strong>der</strong><br />

Schwangerschaft entstehen kann. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

zeigten häufig massive Auffälligkeiten,<br />

erklärt Fachaufsicht Sandra Scherfenberg.<br />

Willkürliche Wutausbrüche seien ebenso<br />

an <strong>der</strong> Tagesordnung wie Schwierigkeiten,<br />

Erlerntes zu behalten und umzusetzen. <strong>Das</strong><br />

Zusammenleben werde dadurch »massiv<br />

erschwert«.<br />

Sebastian Heiland war das vor se<strong>in</strong>em<br />

Jobwechsel bewusst, geschreckt hat es ihn<br />

nicht. Im Gegenteil: »Ich hatte ke<strong>in</strong>e Scheu<br />

vor den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n«, me<strong>in</strong>t er. »Ich hoffte<br />

vielmehr, von ihnen akzeptiert zu werden.<br />

<strong>Das</strong>s sie mich annehmen, so wie wir<br />

sie annehmen.« Auch wenn er erst e<strong>in</strong>ige<br />

Wochen im E<strong>in</strong>satz ist, hat er dieses Gefühl<br />

längst. Dazu komme e<strong>in</strong> großartiges Team<br />

von <strong>in</strong>sgesamt neun Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen,<br />

die <strong>der</strong>zeit drei K<strong>in</strong><strong>der</strong> zwischen sechs<br />

und zwölf Jahren im sogenannten kle<strong>in</strong>en<br />

NETZwerk im Erdgeschoss betreuen. Später<br />

soll e<strong>in</strong>e Gruppe für Jugendliche im Stockwerk<br />

darüber e<strong>in</strong>gerichtet werden. Im Dachgeschoss<br />

werden zwei Apartments zur Verselbstständigung<br />

entstehen.<br />

HIER LERNEN GEGENSTÄNDE FLIEGEN<br />

<strong>Das</strong> Schöne sei, dass für alle etwas Neues<br />

begonnen habe, man geme<strong>in</strong>sam etwas<br />

aufbaue, me<strong>in</strong>t Sebastian Heiland. »Hier<br />

s<strong>in</strong>d wir alle gleich. Und wir fangen uns<br />

im Team gegenseitig auf.« <strong>Das</strong> ist durchaus<br />

angebracht. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> hätten massive<br />

B<strong>in</strong>dungsstörungen, seien zudem auf direkte<br />

Bedürfnisbefriedigung aus, erklärt er.<br />

»<strong>Das</strong> Wichtigste s<strong>in</strong>d stahlharte Nerven«,<br />

sagt <strong>der</strong> Erzieher mit e<strong>in</strong>em Lachen. »Hier<br />

lernen Gegenstände fliegen.«<br />

Humor hilft, es ist se<strong>in</strong>e Art, mit immer<br />

wie<strong>der</strong>kehrenden Krisen umzugehen. Denn<br />

die K<strong>in</strong><strong>der</strong> me<strong>in</strong>ten das nicht böse, erklärt<br />

er, sie kämen aufgrund ihrer FASD-Störung<br />

manchmal e<strong>in</strong>fach aus ihrem Gefühlschaos<br />

nicht mehr heraus. Geduld ist laut Heiland<br />

daher e<strong>in</strong>e weitere Eigenschaft, die man für<br />

die Arbeit mitbr<strong>in</strong>gen müsse. »Und man<br />

darf das alles nicht persönlich nehmen«,<br />

macht die pädagogische Fachkraft klar.<br />

Ihm helfe es beispielsweise, sagt Heiland,<br />

nach e<strong>in</strong>er Eskalation e<strong>in</strong>en Schritt zurückzutreten<br />

und über die Situation nachzudenken,<br />

während e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Teammitglied<br />

sich des K<strong>in</strong>des annehme.<br />

Sicherlich, räumt er e<strong>in</strong>, diese Aufgabe<br />

sei herausfor<strong>der</strong>nd. Warum er sie dennoch<br />

gerne annimmt? »Eigentlich s<strong>in</strong>d die<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> klasse. Sie s<strong>in</strong>d lustig, aufgeweckt,<br />

zugewandt.« Bis zur nächsten Krise eben.<br />

<strong>Das</strong> Schöne aber sei, dass man nach wenigen<br />

Monaten bereits Fortschritte feststellen<br />

könne, und seien diese noch so kle<strong>in</strong>. »Jedes<br />

K<strong>in</strong>d ist <strong>in</strong>dividuell, braucht se<strong>in</strong>en eigenen<br />

Umgang«, sagt er. Er knüpfe dabei an die<br />

tolle Arbeit <strong>der</strong> Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen<br />

an, die schon etwas länger dabei seien, »und<br />

wir lernen ständig dazu«.<br />

DIE RUHIGEN MOMENTE GENIESSEN<br />

Zudem: Durch den hohen Personalschlüssel<br />

könne man e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d auch mal rausnehmen<br />

für e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>zelbetreuung. So war Sebastian<br />

Heiland etwa mit e<strong>in</strong>em Mädchen aus <strong>der</strong><br />

Gruppe vor Kurzem zum Schlittschuhlaufen<br />

<strong>in</strong> Rat<strong>in</strong>gen. »<strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d dann die ruhigen<br />

Momente, die auch ich genießen kann«,<br />

freut er sich. <strong>Das</strong> sei es, was ihn antreibe –<br />

und an <strong>der</strong> hoch<strong>in</strong>tensiven pädagogischen<br />

Arbeit begeistert.<br />

Abzusehen war das nicht unbed<strong>in</strong>gt. Als<br />

K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>er Grundschulrektor<strong>in</strong> <strong>in</strong> Düsseldorf<br />

aufgewachsen, hatte Heiland zwar von<br />

Anfang an mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n zu tun, etwa Schulfeste<br />

begleitet, Lose für die Tombola verkauft<br />

o<strong>der</strong> AGs geleitet. Doch wohl gerade<br />

aus diesem Grund wollte er sich später<br />

abgrenzen, wie er erzählt, machte parallel<br />

zum Abitur am Kolleg gleich noch e<strong>in</strong>e<br />

Ausbildung zum biologisch-technischen<br />

Assistenten; e<strong>in</strong> Studium schloss sich an:<br />

»Ich wollte Paläontologe werden, ich wollte<br />

D<strong>in</strong>os ausbuddeln«, me<strong>in</strong>t er mit e<strong>in</strong>em<br />

Schmunzeln.<br />

Doch nicht nur die Urzeitechsen s<strong>in</strong>d<br />

längst tot, das Fach war es se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung<br />

nach auch. »Es war zu leise, man wird e<strong>in</strong>sam<br />

<strong>in</strong> diesem Beruf«, hat Sebastian Heiland<br />

bereits an <strong>der</strong> Uni festgestellt. Und so entschied<br />

er sich mit 27 Jahren zu e<strong>in</strong>er Kehrtwende<br />

– und ließ sich am St.-Ursula-Berufskolleg<br />

<strong>in</strong> Düsseldorf zum Erzieher ausbilden.<br />

Nun also doch wie<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>. »Ich<br />

b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> kommunikativer Mensch, brauche<br />

Leben um mich«, begründet er se<strong>in</strong>en damaligen<br />

Entschluss. Er wünsche sich Tage, »an<br />

denen man nicht weiß, was passieren wird«.<br />

VORTEILE DES SCHICHTDIENSTES<br />

Diese bekommt er jetzt im NETZwerk<br />

zweifellos. <strong>Das</strong>s sie im beruflichen Schichtdienst<br />

auch mal 24 Stunden lang se<strong>in</strong> können,<br />

ist für den Erzieher ke<strong>in</strong> Problem. Er<br />

empf<strong>in</strong>det es sogar als angenehm, im Gegenzug<br />

freie Tage zu bekommen. <strong>Das</strong> ermögliche<br />

zum e<strong>in</strong>en Pausen, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wohngruppe<br />

für beide Seiten von Vorteil se<strong>in</strong> könnten.<br />

Zum an<strong>der</strong>en könne er privat D<strong>in</strong>ge erledigen,<br />

für die an<strong>der</strong>e Urlaub nehmen müssen,<br />

o<strong>der</strong> Zeit mit se<strong>in</strong>er Patchwork-Familie<br />

und dem Hund verbr<strong>in</strong>gen. »Dann ist man<br />

nicht so aufs Wochenende fixiert«, f<strong>in</strong>det<br />

er. Entspannung f<strong>in</strong>det Sebastian Heiland<br />

zudem beim Lesen o<strong>der</strong> beim Zocken am<br />

Computer: »Ich b<strong>in</strong> mit World of Warcraft<br />

aufgewachsen.« Er gr<strong>in</strong>st.<br />

Es ist e<strong>in</strong> weiterer Anknüpfungspunkt<br />

für se<strong>in</strong>e junge Klientel, treffen sich hier<br />

doch Lebenswelten. <strong>Das</strong>s es im Umgang<br />

mit Smartphone und Spielekonsole für K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

Regeln braucht, steht außer Frage. Nach<br />

e<strong>in</strong>er Fortbildung, die im Frühjahr beg<strong>in</strong>nen<br />

wird, soll <strong>der</strong> 39-Jährige künftig als Medienbeauftragter<br />

agieren. Konflikte s<strong>in</strong>d dennoch<br />

programmiert, egal ob e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d von FASD<br />

betroffen ist o<strong>der</strong> nicht. Sebastian Heiland<br />

weiß das und macht sich dennoch ke<strong>in</strong>e<br />

Sorgen. »Es ist bei uns eben wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Familie«, beschwichtigt er, »dass man nach<br />

e<strong>in</strong>er Krise wie<strong>der</strong> zusammenf<strong>in</strong>det«. //<br />

1/<strong>2022</strong> <strong>recke</strong>: <strong>in</strong> 15

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