Anstifter 1, 2022 der Stiftung Liebenau Österreich
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Das Schwerpunkt Thema<br />
Schwerpunkt<br />
das und wird eifersüchtig, wenn ich mich mit einer an<strong>der</strong>en<br />
Graninger: Atmosphärisch o<strong>der</strong> auch assoziativ: Kerze bedeu<br />
Adler: Da kommt dann die strenge Schwester Erika – (lacht)<br />
Adler: Ich glaube, dass es die sinnstiftende Arbeit selbst ist, die<br />
Bewohnerin unterhalte. Unsere Aufgabe ist es, den jeweiligen<br />
tet Geburtstag o<strong>der</strong> Weihnachten bedeutet schöne Erinnerung<br />
nein, Spaß beiseite: Alle, die aufstehen können, wollen erfah<br />
Lebenslust vermittelt.<br />
Status Quo, das Hier und Jetzt anzuerkennen und wertschät<br />
an bereits Erlebtes bedeutet Befriedigung bedeutet Dankbar<br />
rungsgemäß auch aufstehen. Das hat mit dem Lebenswillen an<br />
zend darauf einzugehen.<br />
keit. Eine Kerze kann aber auch an<strong>der</strong>e Assoziationen auslö<br />
sich, mit Gewohnheit und auch Neugierde zu tun…<br />
… vielleicht auch die Dankbarkeit, die einem entgegengebracht<br />
sen, auch negative. Da braucht es Biografiearbeit, um auf <strong>der</strong><br />
wird?<br />
Ratheiser: Auch die Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen leben meist<br />
sicheren Seite zu sein.<br />
Ratheiser: … o<strong>der</strong> mit Ritualen, etwa die tägliche Lust auf den<br />
Ratheiser: Ich will nicht, dass die Klientinnen und Klienten uns<br />
viel mehr im Hier und Jetzt, als wir das tun. Wir haben neulich<br />
Kaffee. Wenn jemand tatsächlich nicht aufstehen möchte,<br />
gegenüber dankbar sind. Für die eigene Motivation ist es bes<br />
zum Beispiel den 30. Geburtstag eines Klienten gefeiert. Er hat<br />
Adler: Bei uns lebt eine Bewohnerin, die gehörlos und blind<br />
haben wir es eventuell mit einer depressiven Verstimmung<br />
ser, sich kleinere o<strong>der</strong> größere Ziele zu setzen.<br />
sich unglaublich gefreut...<br />
ist. Wir halten den Kontakt zu ihr über das Tasten und Füh<br />
o<strong>der</strong> einer echten Depressi<br />
len beziehungsweise das Fingeralphabet. Sie weiß, wann sie<br />
on zu tun.<br />
Graninger: … und hat sich sicher keine Gedanken darüber<br />
Geburtstag hat; ihre Vorfreude ist spürbar. An ihrem Geburts<br />
gemacht, was er als nächstes tun sollte: Eine kleine Rede hal<br />
tag riecht sie an den Blumengeschenken und ist überglück<br />
Adler: O<strong>der</strong> auch dem ein<br />
ten, den Kuchen anschneiden und verteilen…<br />
lich. Wir wissen auch, dass sie gerne Cola trinkt – das verrät<br />
setzenden Sterbeprozess.<br />
ihre Mimik. Mit genauem Beobachten und regelmäßigem<br />
Unsere Aufgabe ist es, her<br />
Ratheiser: … nein (lacht). Wir wissen auch nicht, was genau ihn<br />
Austausch im Team können wir unseren Bewohnerinnen und<br />
auszufinden, was <strong>der</strong> Grund<br />
jetzt so gefreut hat. Waren es die vielen Kerzen, die Menschen<br />
Bewohnern zu mehr Lebenslust verhelfen.<br />
für das Liegen-bleiben-wol<br />
drum herum, war es <strong>der</strong> Kuchen? Er hat das ja nicht zum ers<br />
len ist: Handelt es sich um<br />
ten Mal so erlebt. Ich denke, es ist das Gesamtpaket, vor allem<br />
Klingt einleuchtend. Aber wie motivieren Sie einen 95-jähri<br />
eine depressive Verstim<br />
auch das Zusammensein. Unsere Klientinnen und Klienten<br />
gen, pflegebedürftigen Menschen morgens aufzustehen, wenn<br />
mung, dann motivieren wir<br />
erleben vieles einfach atmosphärischer, analysieren nicht.<br />
er nicht will?<br />
zum Aufstehen. Geht es ans<br />
Sterben, ist es das gute Recht<br />
jedes Einzelnen, liegen bleiben<br />
zu dürfen.<br />
Graninger: Da muss ich an<br />
einen Bewohner denken,<br />
<strong>der</strong> alkoholabhängig ist und sich täglich Alkohol und Zigaretten<br />
Adler: Die Frage ist ja auch: Was bekomme ich denn zurück –<br />
im Supermarkt holt, beziehungsweise holen lässt. Trotz aufklä<br />
abgesehen von meinem Gehalt? Emotionen – aber eben nicht<br />
ren<strong>der</strong> Gespräche will er nicht von seinen Abhängigkeiten las<br />
nur positive, son<strong>der</strong>n auch negative wie Aggressionen o<strong>der</strong> Spott.<br />
sen, nicht auf das Trinken und Rauchen verzichten. Wir können<br />
Auch diese gehören zu unserer Arbeit und sollten uns motivieren.<br />
unsere Bewohnerinnen und Bewohner nur in ihrer eigenen<br />
Einmal stand ein Teller mit Gröstl vor <strong>der</strong> Bürotür, darunter<br />
Lebensgestaltung unterstützen o<strong>der</strong> Alternativen anbieten. Wir<br />
eine Serviette, auf <strong>der</strong> stand: „Diesen Fraß bekommen wir hier<br />
müssen hin und wie<strong>der</strong> die individuelle Entscheidung akzep<br />
zu essen!“ Es hilft, die Perspektive zu wechseln: In ihrem Zorn<br />
tieren, dass es für manche eben auch Lebenslust bedeutet,<br />
war die Bewohnerin nämlich sehr aktiv und kreativ. Das ist gut.<br />
ungesund zu leben.<br />
Ratheiser: Die Frage ist: Muss ich das Gröstl hinterfragen o<strong>der</strong><br />
Wir haben bisher von <strong>der</strong> Lebenslust <strong>der</strong> Bewohnerinnen und<br />
haben wir nicht doch eher alles richtig gemacht? Solche Refra<br />
Bewohner gesprochen. Was braucht es, damit Pflege- und<br />
mings sollten in regelmäßigen Teambesprechungen stattfinden.<br />
Betreuungskräfte Lust auf ihre Arbeit haben?<br />
Ratheiser: Ich habe Freude an <strong>der</strong> Arbeit, weil ich Momente<br />
Adler: Tatsächlich hat das Gröstl den übrigen 17 Bewohnerin<br />
erleben darf, die vor Spontaneität strotzen. Sei es, weil sich<br />
nen und Bewohnern sehr wohl geschmeckt. Egal, ob ein Gröstl<br />
eine Mitarbeiterin spontan hat impfen lassen und sich das<br />
vor <strong>der</strong> Tür steht o<strong>der</strong> Corona: Wichtig ist, dass wir gemeinsam<br />
gesamte Team mit ihr und für sie freut. Sei es, weil Mitarbeiten<br />
Lösungen finden und unseren Humor behalten.<br />
de auf einem Ausflug kreativ wurden, beziehungsweise werden<br />
mussten, und damit Erfolg hatten.<br />
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Ratheiser,<br />
Herr Graninger und Herr Adler!<br />
Graninger: Die Motivation und Lust, in einem Pflegeheim zu<br />
arbeiten, trägt jede und je<strong>der</strong> einzelne Mitarbeitende in sich.<br />
6<br />
anstifter ÖSTERREICH 1 | <strong>2022</strong><br />
anstifter ÖSTERREICH 1 | <strong>2022</strong> 7