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EIN OFFENES FENSTER<br />

Kann ein <strong>Kunst</strong>werk Freiheit vermitteln? Vor nicht allzu langer Zeit stand ich<br />

zum ersten Mal in meinem Leben vor diesem Gemälde und empfand eine<br />

Kombination aus Sicherheit und Weite. Es war nicht überwältigend, es fand<br />

keine Verschmelzung mit einem größeren Ganzen oder so etwas statt. Es<br />

war eher klein und unvorhergesehen, wie ein Freund, der gerade dann ein<br />

Fenster öffnet, wenn man es nötig hat. Die knallorange-rosa Sonne glüht<br />

am dunstigen Morgenhimmel, und durch diese orangefarbenen Streifen<br />

scheint sich alles zu bewegen. Sie tanzen ruhig auf der Wasseroberfläche.<br />

In der freien Natur achte ich selten so auf etwas.<br />

Doch das war keine zufällige Reaktion. Es gab sogar eine ziemliche<br />

Inkubationszeit für diese Erfahrung. Dieses kleine Gemälde ist weltberühmt,<br />

höchstwahrscheinlich kennen Sie es. Der Titel Impression, Sonnenaufgang<br />

war namengebend für den Impressionismus. Es wurde damals belächelt<br />

(»Monet hatte offenbar so wenig Zeit den Hafen zu malen, dass er das Bild<br />

bloß ›Impression‹ nannte«) und bewundert, aber der Rahmen war durch<br />

dieses eine Wort gesetzt: Impression. Es bedeutet, dass man die Dinge nie<br />

erneut auf die gleiche Weise sieht und Luft, Licht und Stimmung <strong>unser</strong>e<br />

Sichtweise beeinflussen.<br />

Es ist auch eines der ersten Werke, in das ich mich in meiner Schulzeit<br />

vertieft habe. Ich hatte es in einem Buch gesehen. <strong>Wie</strong> ein gemalter<br />

Sonnenaufgang einen rebellischen Teenager ergreifen konnte, ist mir noch<br />

immer ein Rätsel. Ich fand die ganze Welt nervig und die meisten Dinge<br />

dämlich, und dann kommt ein Maler aus dem 19. Jahrhundert daher und<br />

schafft eine Offenheit. Mit diesen glühenden Reflexionen durchbrach etwas<br />

den Kokon, in den ich mich selbst gehüllt hatte. Es wurde ein Fenster zu<br />

etwas Schönem und Ruhigem geöffnet. Kürzlich, 30 Jahre später, stand ich<br />

vor dem Original.<br />

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