Weiterdenken über das Bauernhaus
BAND 4 der Architekturreihe der FH Kärnten fragt nach exemplarischen Nachnutzungen bäuerlicher Architektur. Gerade solche Ansätze für einen zeitgemäßen und zugleich flexiblen Umgang leer stehenden alter Bauernhäuser zu entwickeln, erscheint uns essentiell, um neue Formen von Urbanität zu erproben. Potentiale, die in verschiedensten Nutzungsmöglichkeiten liegen, sollen dadurch erkannt und sichtbar gemacht werden. Die Adaptierung und Weiterentwicklung der alten Gehöfte ist eine sinnvolle baukulturelle Aufgabe. Dieses WEITERDENKEN soll dem Verlust bzw. Verfall dieser Bauten entgegenwirken und neuen Lebenszusammenhang schaffen.
BAND 4 der Architekturreihe der FH Kärnten fragt nach exemplarischen Nachnutzungen bäuerlicher Architektur. Gerade solche Ansätze für einen zeitgemäßen und zugleich flexiblen Umgang leer stehenden alter Bauernhäuser zu entwickeln, erscheint uns essentiell, um neue Formen von Urbanität zu erproben. Potentiale, die in verschiedensten Nutzungsmöglichkeiten
liegen, sollen dadurch erkannt und sichtbar gemacht werden. Die Adaptierung und Weiterentwicklung der alten Gehöfte ist eine sinnvolle baukulturelle Aufgabe. Dieses WEITERDENKEN soll dem Verlust bzw. Verfall dieser Bauten entgegenwirken und neuen Lebenszusammenhang schaffen.
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WEITERDENKEN
über das Bauernhaus
Hannes Sampl, Adolph Stiller, Helmut Dietrich, Peter Nigst
02 03
Einführung
Inhalt
Einführung........................................................................................................04
Vorwort
Standpunkt: Peter Nigst
Das Bauernhaus als Text: Adolph Stiller
Vernakuläre Architektur...................................................................................16
Hofformen in Österreich
Das Bauernhaus
Gestaltungs- und Errichtungsmethoden
Vernakuläre und Moderne..................................................................................24
Bauen als soziales Handeln
Peripherie und Zentrum
Das Verhältnis von Bewahrung und Erneuerung
Regionales Bauen oder Regionalsimus
Anwendungsstudie...........................................................................................36
Hintergrund
Bestand
Wohnhaus mit weiteren Wohneinheiten
Wohnhaus mit Kinderbetreuung und Dorfladen
Wohnhaus mit Architekturatelier
Wohnhaus mit Bibliothek
Wohnhaus mit Künstlerwerkstatt
Realisierung....................................................................................................104
Das Bregenzerwälderhaus: Helmut Dietrich
Kirchberger Haus, Dietrich I Untertrifaller
Angelika Kauffmann Museum, Dietrich I Untertrifaller
Anhang..........................................................................................................110
Literaturverzeichnis
Impressum
04 05
Einführung
Einführung
Vorwort
Der stetige Schwund und Verfall von alten Bauernhöfen im ländlichen Raum bedeutet
eine zunehmende Veränderung unseres Landschafts- und Kulturraumes. Gesellschaftliche
Entwicklungen, wie der Mangel an Arbeitsplätzen in ruralen Regionen, beeinflussen
unmittelbar das stadt- und dorfräumliche Gefüge. Was bedeuten diese Tendenzen für
einzelne Orte bzw. einzelne Objekte? Was bedeuten sie für unseren einzigartigen Landschaftsraum?
Welche Veränderungen haben sich in der Wahrnehmung ländlicher Architektur
durch den Strukturwandel von einer bäuerlich geprägten Gesellschaft bis heute
vollzogen? Ist man in der Lage, die Attraktivität ländlicher Bereiche zu erhöhen oder ist
man bewusst bereit, ganze Jahrzehnte (bau)kulturellen Erbes aufgrund dieser Tendenzen
aufzugeben?
Durch das sensible Heranführen an diese Thematik und in weiterer Folge die konkrete
Anwendung an einem Anschauungs- bzw. Untersuchungsobjekt, dem „Sorer-Gut“ in
Feistritz am Kammersberg, habe ich bereits im Rahmen meiner Diplomarbeit an der FH
Kärnten mögliche zeitgemäße Lösungsansätze dieser Problematik aufgezeigt. Basierend
auf dieser Arbeit soll im vorliegenden Buch durch die systematische und konsequente
Methodik der räumlichen und architektonischen Annäherung anhand von „Vergleichsmodellen“
unerkanntes Potenzial und Flexibilität veranschaulicht werden. Unterschiedlichste
Nutzungsvarianten mit all ihren gestalterischen, sozialen, technischen und ökologischen
Erfordernissen, sowie deren Relation zwischen Bewahrung und Erneuerung werden hierbei
gegenübergestellt. Das Bemühen um eine öffentliche Bewusstseinsbildung hin zum
Erkennen dieses Potenzials und damit die Bereitschaft einer sinnvollen Adaptierung dieser
als kulturelles Allgemeingut anzusehenden alten Gebäude ist die Chance eines positiven
Beitrages, um dem Verlust und Verfall dieser Bauten entgegen zu wirken und
dörfliche Strukturen baulich sowie sozial erneut zu stärken.
Hannes Sampl
Standpunkt: Peter Nigst
Ein „Weiterdenken“ über verschiedene unserer Lebensumstände und die anderer Kulturen
ist heute, besonders was ihre Angemessenheit betrifft, über alle Maßen notwendig. Teile
dieser Gesamtheit einer Sicht zumindest exemplarisch zu erarbeiten, ist ein wesentliches
Ausbildungsziel unserer Hochschule. Daher werden Themen von Projekten und Diplomarbeiten
von Studierenden, die das erkennen, solchen Fragen gewidmet. Die Inhalte dieser
Arbeiten können mosaiksteinartig zu einem Gesamtbefund zusammengefügt werden.
Das „Autochtone“, das „Vernakuläre“ scheint vorerst ein ungewohnter Ausbildungsaspekt
einer Architekturschule zu sein. Es gilt den Menschen bis in unsere Tage eher als
„rückwärtsgewandt“ – man gibt sich ja immer gerne „modern“, streift Altes ab. Vergleicht
man hierzu die schnittig formalen Produktionen, auch aus den Köpfen des Berufsfeldes
Architektur/Gestaltung stammend, die wirklich nur manchmal sich selbst rechtfertigende
Qualität erreichen und sonst als Wellen von zweitklassigen Nachahmungen Ressourcen
und Möglichkeiten, es anders zu machen, verbrauchen, dann ist das kritische Interesse
am Reichtum überkommener Formen mehr als verständlich.
Eine genaue Sicht gerade auf das Bauernhaus, das sehr oft noch im direkten Bezug zu
den umgebenden kultivierten Flächen gelegen ist, lässt bereits eine Reihe von Veränderungen
erkennen, selbst wenn es noch im ursprünglichen Gebrauch ist. Die Bewirtschaftungsmethoden,
die Größen und Leistungen der Traktoren, der sonstige Maschinen- und
Technikeinsatz haben sich (EU-gefördert) verändert. Weniger Akteure bewirtschaften
größere Flächen, daneben verbleiben vielleicht einige Nebenerwerbsbauern tätig. Die
Spuren der geänderten Bewirtschaftung sind in der Landschaft, in ihrem Aufbau jedenfalls
deutlich lesbar. Die flurtrennenden Vegetationen, die vielen Tieren und Pflanzen eine
„ökologische Nische“ bieten, nehmen rapide ab. Es wird hart an die Grenzsteine herangepflügt,
die Monobewirtschaftung hat noch immer viele Anhänger von früher!
Die baulichen Veränderungen des Bauernhauses resultieren aus technischen Anpassungen
und willentlichen Veränderungen an die Zeit- und Marktbedingungen. Sie sind aber
umso deutlicher, wenn es zu nicht adäquaten Nutzungsänderungen kommt!
06 07
Einführung
„Das Bauernhaus ohne Bauern“ Wenn also nicht eine traditionsbewusste Weiterführung,
also Ererbtes, mit Stolz in Richtung einer neuen Eigenständigkeit steuert, dann
ergeben sich sofort unzählige Fragen mit offenem Ausgang. Welche Ziele werden dann
verfolgt? Für wen wird verändert? Warum? In welche Richtung? Wer verantwortet das,
was gewollt wird, tatsächlich? Das ist ein entscheidender Punkt, an dem eine gut überlegte
Expertise hilfreich ist! Wenn der Druck beispielsweise einer Tourismusnutzung bereits
so stark ist, dass die Gebäude ehemaliger land- und forstwirtschaftlicher Nutzung
zu „verkitschten“ Klischee-Bildern entfremdet bzw. vermarktet werden – dann verhilft
selbst ein etwaig verfügter Denkmalschutz vielleicht nur zu einer äußerlichen Tarnung
als Bauernhaus. Dieser Schein, der sich noch durch nachempfundenes Weiterbauen im
„alpenländischen Stil“ kommerziell ins Unermessliche fortsetzen lässt, wird dann zu den
allseits bekannten „Lederhosen“ in nicht vorhandenem Inhalt und Anspruch! Wollen wir
mit derartigen potemkinschen Dörfern weiterleben und zugleich die Verkehrserschließung
in Gebietszonen in einem noch nicht dagewesenen Ausmaß vorantreiben?
Die Raumordnungsdiskussion ist unausweichlich – es macht aber einen Unterschied in
den Lösungsansätzen, die Randzonen der verschiedensten Siedlungsgebiete zum freien
Umland oder die gestreuten Einzelgehöfte in teils schwieriger topografischer Lage zu betrachten.
Letztere führen direkt zu der kontroversen Diskussion des Rückzuges und der
Preisgabe oder der Stützung und bewussten Neubelebung vieler dieser Zonen.
Doch der zuvor erwähnte entscheidende Punkt, wohin eine Reise vom noch vorhandenen
aber bereits ungenutzten Gehöft führen könnte, ist auch eine Chance, die wahrgenommen
werden kann!
Hier muss Fantasie über Raumvorstellungen, über die Art, wie Alt und Neu kongenial
kombiniert werden können, aus dem Hut gezaubert werden. Solchen Exempeln nachzuspüren
ist eine Aufgabe, die fragend vor uns steht. Ein allein fachgerecht renoviertes
Objekt hilft da wenig, wenn sich dafür keine sinnvollen Nutzungen finden.
Deshalb geht in erster Linie gemeinsam mit dem so wichtigen Erkennen der Qualität der
überkommenen Bausubstanz die Frage nach einer angemessenen Nutzung einer solchen
disponiblen bäuerlichen Gebäudestruktur einher. Es muss also Verantwortung übernommen
werden für eine jeweils wichtige, praktisch unumkehrbare Entscheidung, bei der
entweder etwas richtig gemacht wird oder eben nicht! Es ist eine „Operation“ sozusagen
am noch lebenden Objekt. Wird etwas beseitigt, nicht „weitergedacht“ oder „strukturell
weitergeführt“, dann ist diese bislang vorhandene prägende Spur unwiderruflich getilgt,
verschwunden, ausgelöscht. Denn im Grunde lässt sich nichts rekonstruieren, die Zeit
eben nicht zurückdrehen, ohne dass ein schaler Beigeschmack zurückbleibt.
Die Kombination von Alt und Neu muss demnach versucht werden. Wir sind dabei gefordert,
ausgehend von den ursprünglichen Verhaltensweisen der Bewohner und Nutzer
darüber nachzudenken, welche heutigen Inhalte tragfähig sind, um in gewissen Analogien
entwickelt und dann auch praktisch genutzt zu werden. Das betrifft nicht lediglich
eine zu erhaltende äußere Hülle. Es geht um das Gesamtverständnis einer früheren kulturellen
Produktion, das wesentliche, in der gealterten Materialität und letztlich im Atmosphärischen
verankerte Positionen, mit neugestalteten Teilen einer diesbezüglich neuen
Konzeption kombinieren will. Ob das kontrastierend, voneinander unterschieden lesbar
ausformuliert wird, oder ob eine „weiche“ Überformung ohne sichtbare Trennlinie oder
Brüche auskommt, muss in den Einzelfällen genau erarbeitet werden.
Jedenfalls im konkreten bearbeiteten und zur Diskussion gestellten Fall zeigt diese systematisch
vergleichende Betrachtung von Hannes Sampl in seiner Diplomarbeit über das
Sorer-Gut, das sich, im fast schon dörflichen Verband liegend, klarerweise nicht so sehr
in der Landschaft exponiert, eine Serie an unterschiedlichen Ausbauvarianten, die allesamt
einfach und in gut vorstellbaren Schritten umsetzbar sind. In diesem Sinn können
verschiedene Personen Anregungen erhalten, indem sie diese räumlich nachvollziehbaren
Varianten miteinander vergleichen und sie gegebenenfalls als analoge Modelle für
eigene Vorhaben heranziehen.
Das Bauernhaus als Text: Adolph Stiller
08 09
1: Besonders gründlich wurde
das in der Schweiz aufgearbeitet;
z.B. „Das Bauernhaus des Kanton
Bern“, bereits Band 28 der
Gesamtpublikation „Die Bauernhäuser
der Schweiz“
2: Wolfgang Kos, Die Eroberung
der Landschaft. Semmering, Rax,
Schneeberg, Katalog der Niederösterreichischen
Landesausstellung
1992
3: Erstmals wurde auf der Weltausstellung
in Paris 1867 ein „österreichisches
Dorf“ neben jenen
aus Skandinavien und Russland
gezeigt, 1873 in Wien dann ein
„internationales Dorf“. In Paris
1900 dann das berühmte „Village
Suisse“
4: 1891 gründete Artur Hazelius
auf Skansen, nahe Stockholm, das
erste Freilichtmuseum in Europa
(weltweit das zweite). Weitere
zwanzig Museen entstanden in
den Jahren darauf in den nordischen
Ländern. In den 1950er
bis 1970er Jahren gab es eine
regelrechte Gründungswelle von
Freilichtmuseen in Europa. In Österreich
wurde 1970 (Gründung 8
Jahre zuvor), in der Schweiz 1978
das Freilichtmuseum Ballenberg
eröffnet.
5: Friedrich Achleitner, Bauen in
den Alpen – vor und nach Edoardo
Gellner, in: Christoph Mayr Fingerle,
Neues Bauen in den Alpen,
Basel 2000, S. 203
6: Siehe die beiden letzten Publikationen
von Jakob Eschenmoser,
dem meistbeschäftigten Hüttenarchitekten
der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts: Jakob Eschenmoser,
Von Chur ins Bergell. Skizzen
zur Baukultur an alten Wegen,
Zürich 1979, und Ders., Auf alten
Saum- und Pilgerwegen der Innerschweiz,
Zürich 1988
Einführung
Denken wir an Bilder eines Bauernhauses, so werden einem zuallererst gebräunte, im
Hang stehende Zeugen der alpinen Holzbaukunst einfallen; wir werden diesen Typus
auch hier sozusagen als Protagonisten – bis auf einige Anspielungen auf das rurale
Bauen andernorts – als Figur einsetzen. In einem Land wie Österreich, dass zu seinem
weitaus größeren Teil in den Alpen liegt und nahezu zur Hälfte mit Wald bedeckt ist, hat
verständlicherweise das Bauen mit Holz seit jeher einen großen Stellenwert. Bis zu fünfhundert
Jahre Bautätigkeit im alpinen Bereich – darunter viele heute nicht mehr existierende
Einzelbauten oder Ensembles – lässt sich, illustriert in gut aufbereiteten Publikationen
1 , nachvollziehen; ein „Formenschatz“, für konstruktiv Versierte oder analytisch so
einen Bau Zerlegende vielmehr ein Reservoir technischer Lösungen. Aus diesem Bestand
schöpfte filternd die erste bewusste und gewollte Besiedelung der Alpen (oder zumindest
der Voralpen) durch die Städter im Zuge der grossbürgerlichen „Sommerfrischebewegung“,
einer Eroberung der Landschaft gleich 2 . Das nunmehr von Zauber und Mythen
befreite, bezwingbar erscheinende Rauhe und Unwirtliche sollte in einer romantischen
Vorstellung von Natur soweit wie möglich unmittelbar und doch in „gezähmter“ Distanz
zumindest passiv erlebbar werden.
Diese verklärte Anwandlung wurde seit Ende des 18. Jahrhunderts nicht zuletzt durch
Berichte von Expeditionen zu den Alpengipfeln wie jenen von Horace-Bénédict de Saussure,
den Bildern eines William Turner oder später Segantini, den musikalisch-literarischen
Verarbeitungen der Bergwelt bis hin zur Errichtung eines „Chalet Suisse“ im Londoner
Regent’s Park (um 1830) genährt.
Später führten auf Weltausstellungen ganze Alpendörfer, in Nachbauten und oftmals
unter Verschmelzung verschiedenster regionaler baulicher Eigenheiten, einem internationalen
Publikum eine vermeintliche Beschaulichkeit des Lebens in der doch großteils
unbekannten, abgeschiedenen Gebirgswelt vor Augen. 3 Eine Bewegung entstand, die im
Verschwinden Begriffenes für die Nachwelt erhalten wollte. Es war die Geburtsstunde
der vielerorts eingerichteten Freilichtmuseen: Man transferierte nicht nur die baulichen
Zeugen, sondern die gesamte Gerätschaft mitsamt Hausrat einer Epoche des Bauens in
den Bergen von ihren ursprünglichen Standorten. 4
Auf einem anderen Blatt steht, dass dieser „Blick auf die heilige und geheiligte Dingwelt
[...] ideologisch instrumentalisiert“ und die „selektive Wahrnehmung doktrinäre Leugnung
der Wirklichkeit“ war; „das Fundament, auf dem nach dem Zweiten Weltkrieg die
baulichen Kulissen für den Tourismus errichtet werden“. 5 Angeregt von den erwähnten
Ausstellungen, aber aus ganz anderen Beweggründen und Gesichtspunkten begannen ab
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Architekten, sich bewusst mit der überlieferten
Bausubstanz in den Bergen – verstanden als Substrat jahrhundertelanger Anpassung
der Konstruktion und Verbesserung in jedem Detail – zu beschäftigen und sie zu
dokumentieren. Diese Beschäftigung war ab den 1930er Jahren verstärkt zu beobachten,
hält bis heute an und steht den Arbeiten der Ethnografen um nichts nach. 6
Damit verwandt und für unsere Betrachtung ebenso relevant ist das Interesse von Architekten
für Regionen, in denen extreme, unwirtliche Lebensumstände das Karge zu
einer ebensolchen baulichen Ausformung brachte. Auseinandersetzung mit bzw. Besuch
dieser „anonymen Architekturen“ als gleichsam letzte Zeugen einer Ursprünglichkeit, in
welcher „Funktionalität“ oberstes Gebot war, bildeten für einige Generationen die Basis
der Entwicklung eines neuen Geistes. 7
Adolf Loos, Enfant terrible der Wiener Architektur- und Kunstszene der ersten drei Dezennien
des 20. Jahrhunderts, verfasste die bekannten und gerne zitierten „Regeln für
den, der in den bergen baut“. Wenn einzelne Punkte auch polemisch beziehungsweise
kulturkritisch gehalten sein mögen, so bergen sie doch bis heute in ihrer Essenz das
Wesentliche: „baue nicht malerisch. Überlasse solche wirkung den mauern, den bergen
und der sonne.“ 8
7: vgl. u.a. Le Corbusier, Voyage
d’Orient, Mailand 2002
8: Adolf Loos, Trotzdem, Innsbruck
1931, S. 133 ff.
Bauen in den Alpen in der modernen und spätmodernen Architektur Der unaufhaltsame
Aufstieg des Berg- und Wintersports ab Mitte der 1920er Jahre führte nach ersten
Seilbahnen auf symbolische „Spitzen“ 9 zu einer systematischen Erschliessung und
„Umwidmung der Berglandschaft“. Zur selben Zeit wurde der Kult des Lebens inmitten
unberührter Natur zu einer Art Metapher des freien und wahrhaftigen Lebens und war Zufluchtsort
für eine individuell gepflegte Innerlichkeit geworden. Holzmeisters Ferienhaus
in Kitzbühel kann hier als pars pro toto gesehen werden: Künstler und Intellektuelle brachen
auf, um die Freizeit in der Natur zu verbringen und begannen, sich fallweise schon
um lokale, alte Bausubstanz zu kümmern und diese neu zu beleben. Verstärkt wurde die
Tendenz durch die immer stärkere Betonung der lokalen Identität, auch durch Heimatbilder
und damit verbunden das Aufkommen des Heimatschutzgedankens. Später kamen
ökologische Anliegen wie Natur- und Landschaftsschutz dazu, und all diese Erscheinungen
überzeugten die Architekten, dass dem Bauen in den Bergen ganz spezifische
Zielsetzungen zukommen.Verstärkt beschäftigten sich Publikationen damit und Ausstellungen
bereiteten das Thema ansprechend auf; 10 eine Folge daraus war die um 1950 zu
beobachtende wahre Blüte der Debatte. 11 Was die baulichen Realisierungen der Ziele
dieser Debatte betrifft, so drücken diese Bauten in der Unterschiedlichkeit ihrer Anliegen
und Ergebnisse die vielseitigen kulturellen, ideologischen und künstlerischen Strömungen
innerhalb der architektonischen Kultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus.
Dabei lassen sich einige generelle Grundtendenzen ausmachen, wobei sich allerdings
häufig Positionen der Entwerfer überlagern und dadurch selten eindeutige Zuordnungen
möglich sind, geschweige denn, Kategorien festzustellen wären. Vorbilder sind alte
Siedlungen, volkstümliches Bauen und Handwerkskunst, die als mit dem Boden „verwurzelt“
– als beispielsweise soziale oder mythische Bezüge zum Territorium – verstanden
werden.
Aus architektonischer Sicht lassen sich zwei unterschiedliche Haltungen feststellen:
Die eine plädiert für die Mäßigung des menschlichen Eingreifens durch eine Anpassung
der baulichen Form an Gelände und Landschaft; eine Position, die man als konservativ
bezeichnen könnte, spricht sie sich doch für das mimetische Einpassen in ein kulturell
vorgezeichnetes Landschaftsbild aus, in ein Bild, das aus dem kollektiven Gedächtnis,
aus der Ikonografie der Kunst- und Wissenschaftsliteratur abgeleitet ist.
Die andere Haltung steht für die Bekräftigung des vom Menschen eroberten „Vorpostens“
in der unberührten und feindlichen Natur. „Derartige Aggregate von gut geformten,
simplen Baukuben wirken in der Landschaft nicht störend, sie sehen aus wie aus dem
Felsen gewachsene Kristalle“, bekräftigte der bedeutende Schweizer Architekturkritiker
Peter Meyer diesen in den 1930er Jahren einsetzenden und sich in klarer Architektur
darstellenden architektonischen Ansatz und verteidigte ihn gegen die bis heute nicht
verstummte Kritik.
9: Die Jungfraubahn, deren Bergstation
1912 auf 3454 m ü. M. fertiggestellt
wurde, ist die höchste
Eisenbahn der Alpen.
10: G. Pagano, G. Daniel, Architettura
rurale Italiana, Quaderni della
Triennale Milano, Mailand 1936.
Cereghini, Costruire in montagna,
Mailand 1950 (1. Ausgabe)
11: Mario Cereghini, La prima mostra
di architettura alpina a Cortina
(Katalog des Circolo Artistico
di Cortina), Mailand 1951; Ders.,
Convegno di Architettura Alpina a
Bardonecchia, Mailand 1952. 1953
wurde das Istituto di Architettura
Montana am Politechnico di Torino
gegründet, im selben Jahr der «Movimento
Gente della Montagna» in
Mailand. 1954 fand die Triennale von
Mailand statt, mit einer Ausstellung
über alpine Architektur.
10 11
12: Die Bauten von Mollino – mittlerweile
zum Teil unter Denkmalschutz
– sollen hier für die Etablierung
der klassischen Moderne
in den Alpen stehen. Die Zitate
stammen aus den vom Autor mit
Bruno Reichlin unter Beteiligung
von Studierenden an der Ecole
d’architecture in Genf entwickelten
Ausstellungstafeln. Adolph Stiller,
Carlo Mollino baut in den Bergen,
Basel 1992, Tafeln I–XXVII
13: Adolf Max Vogt, Bauen in den
Alpen – neu gesehen, in: NZZ,
29.9.1993
14: Ich denke hier an Ausstellungen
wie „Carlo Mollino baut
in den Bergen“ 1992 erarbeitet
(vgl. FN 12), insbesondere aber an
die von Christoph Mayr Fingerle
betreute Südtiroler Aktivität im
Rahmen von SextenKultur. Von einer
Neubewertung der klassischen
Hotelbauten (Joachim Moroder,
Benno Peter, Hotelarchitektur in
den Alpen 1920–1940, Innsbruck
1989) fand eine Entwicklung hin
zum renommierten, einzigartigen
Architekturpreis „Neues Bauen in
den Alpen“ mit jeweils begleitenden
Ausstellungen und Publikationen
statt.
15: Walter M. Chramosta, Bauen
für Gäste. Beispiele alpiner
Freizeitarchitektur in Tirol, Innsbruck
1994
16: Vgl. Thom Held: „Berührt vom
Ort. Die Welt erobern. Neunzehn
Porträts zeichnen vor: mit dem
„Terroir-Prinzip“ zu neuen Impulsen
in Gesellschafts-, Wirtschafts- und
Alltagsfragen“. Zürich 2006. Vor
allem die Artikel von Gion Caminada
„Windstoss in den Bergen“ (S.
60ff) und von Andreas Burghardt
„Rein wie der Wein“ (S. 322ff)
behandeln das Bauen im ruralen
Kontext mit Rückbesinnung auf
lokale Qualitäten.
17: Bruno Reichlin 1996, S. 87
(Fussnote 16)
Einführung
Immer noch aus der profunden Kenntnis und einem komplexen Umsetzen der Anliegen
der klassischen Moderne, inklusive deren Kunstströmungen – entstand die Liftstation
Lago Nero (1946/47; im Obergeschoss als Hütte ausgebaut) von Carlo Mollino. Sie kann
als Spitzenleistung dieser „Kontrastarchitektur“ gesehen werden. „Wie ein Dampfer im
Schnee gelandet“ präsentiert sie sich dem Betrachter als „ikonografische Collage im Sog
des Surrealismus“ und gibt dem kundigen Leser eine architekturgeschichtliche Demonstration
mit Referenzen aus unterschiedlichen Architekturtraditionen. 12
Kulturwandel zu reduzierter Ästhetik Anfang der 1990er Jahre setzte ein Umdenken
in der Philosophie der architektonischen Gestaltung von Bauten in den Bergen ein, das
auf mehreren, nicht zufällig gleichzeitig auftretenden Phänomenen beruhte; eine Entwicklung,
die sogar die Massenmedien erreichte 13 : die Wiederentdeckung und Rückbesinnung
auf Leistungen aus der Zwischenkriegszeit. Diese Auseinandersetzung fand nicht nur in
Lehre, Forschung und innerarchitektonischem Diskurs statt 14 , vielmehr wurde Architekturgeschichte
als eine mögliche Vermarktungsstrategie, nicht unähnlich der Tendenzen
im Städtetourismus, aufbereitet. 15 Ein weiteres Phänomen war die Übersättigung des
Tourismusmarktes mit pseudoalpinen Bauten und die Abkehr vom Massentourismus hin
zu einem sogenannten „sanften Tourismus“ mit einem kultur- und qualitätsbewussteren
Gast, der individuellere Wünsche und gehobenes ästhetisches Empfinden für die erlebte
Umgebung hat. Das Designbewusstsein als Lebenshaltung einer neuen Generation
durchdrang immer mehr Bereiche – Stichwort „Markenvermittlung und Konsum durch
Gestaltung“.
Sich abzeichnende Tendenzen Hoher Stellenwert wird heute, sozusagen als Gegenbewegung
zur Globalisierung, der Wiederbesinnung auf ursprüngliche Werte in puristischer
Ausprägung beziehungsweise auf relativ kleinräumig, lokal vorhandene Qualitäten
in Produkten oder Kenntnissen eingeräumt. 16 Bruno Reichlin macht allerdings schon in
seinem als Standard geltenden, zitierten Beitrag zum zweiten Preis „Neues Bauen in den
Alpen“ den unermüdlich Suchenden nach dem Echten darauf aufmerksam, ja warnt geradezu,
dass „wie die sogenannte regionale auch die alpine Architektur keine Absonderung
von Land und Leuten“ ist. 17
In vielen Punkten berührt sich diese Tendenz mit der heute von weiten Kreisen geforderten
oder schon praktizierten Nachhaltigkeit; einem unscharfen Begriff, dem das
Modische anhaftet, der uns aber als Synonym für schonenden Umgang mit Ressourcen
und Langlebigkeit sinnvoll erscheint. Es ist dies ein Bewusstsein, das nicht zuletzt in
den ursprünglicher Erfahrung abgerungenen Produkten sinnlich erfahrbar oder in soziokulturellen
Äußerungen sichtbar und aktiv teilnehmend erlebbar gemacht wird. Mit dem
Modebegriff wird dies dem „Konsumenten“ einigermassen greifbar zu machen versucht.
Überlagert wird diese Bewegung von der aktuellen Energiedebatte, die bis hin zu einem
neuen Kulturpessimismus reicht.
In den Bergen sehen wir mit höchster Präzision und unter Ausnutzung aller geltenden
Normen beziehungsweise Baugesetze und Einbringung aller technischen Errungenschaften
entstehende Spitzenwerke; selten aber doch sind diese auch Umnutzungen alter
Substanz auf höchstem Niveau. Durch die aus den extremen Umgebungsbedingungen
erwachsenen Antworten können sie gar nichts anderes als Vorreiter sein.
Wandlung der Standpunkte in der Beachtung Im Kontext dieser Publikation scheint
es mir nach diesen Überlegungen, nicht nur das rurale Bauen selbst bzw. den möglichen
Nutzen für das aktuelle, zeitgenössische Architekturschaffen, sondern auch die Wandlung
der Standpunkte in der Beachtung anonymen Bauens im Allgemeinen einer gerafften
Betrachtung zu unterziehen.
Weltweit hat die Publikation „Architecture without architects“ von Bernard Rudofsky dermaßen
aufsehen erregt, dass ab dem Erscheinen an diesem Thema in der Architekturausbildung
nicht mehr vorbeizukommen war. Einerseits, weil der Autor – selbst zwar
sehr wenig, dafür aber sehr poetischen Beispielen mit dem konkreten Bauen beschäftigt
– die allgegenwärtige Existenz von qualitätsvollen, anonymen Beispielen aufzeigte, andererseits,
weil er damit gleichzeitig auch eine diese Beispielen immanente Kulturkritik
anbrachte; Architekten sollten mit ihrem Beitrag mehr auf den tatsächlichen Bedarf und
weniger auf Formprobleme oder politischer Repräsentation antworten und in den oft seit
Jahrhunderten bewährten Lösungen auch zeitgemäße Antworten finden.
Zuvor schon, in den 1950er Jahren, machten sich u.a. eine Gruppe von Holzmeisterschülern
der Wiener Akademie zu einer Reise in mehrere Balkanländer auf, um das „Unberührte“,
natürlich Gewachsene zu erkunden, das neben der „akademischen“ (wenn auch
künstlerisch relativ freien) Lehre seine autochtone, unverfälschte Kraft auf die jungen,
angehenden Architekten seine Wirkung entfalten sollte.
Wenn ich das hier in einer Publikation einer Lehrstätte für Architektur anspreche, dann
natürlich auch mit dem Hintergedanken, Studierenden von eindrücklichen, für jeden Entwurf
fruchtbaren, essentiellen Erkenntnissen zu sprechen, die aus dem Studium solcher
Bauten erwachsen können. In dieser Annäherung wollte ich den im Titel dieses Beitrages
verwendeten Begriff „Text“ verstanden wissen. Jedes rurale Bauen – wie wir im folgenden
sehen werden, auch für die großen Meister der modernen Architektur – kann immer wieder
eine Art Steinbruch für Transpositionen und Spiegel darstellen, um über Architektur
etwas mehr zu erfahren als formale Eigenheiten.
„Das Karge als Inspiration“ nannte Hiesmayr eine seiner Publikationen; eine Reisedokumentation
in Skizzen und Fotos, die das anonyme Bauen in Kastilien zeigt. Wer seine
Arbeit ansieht, wird die Reduzierung auf das Wesentliche und sein Streben nach Authentizität
nicht leugnen können.
Die in den 1970er Jahren aktuelle Diskussion zu Fragen des Kontexts und der Typologie
haben eindrucksvoll vor Augen geführt: Zuerst steht jedes Haus in einem Kontext; die
Addition des Einzelnen lässt Letzteren erst entstehen; singuläre Betrachtungsweisen (wie
z.B. die Analyse eines Einzelgrundrisses) waren plötzlich der wesentlich komplexeren
Betrachtungsweise des „Dorfgrundrisses“ gewichen.
„Ticino Nostro“ 18 – nicht zufällig entstanden im personellen Umkreis und auf Basis der
theoretischen Ansätze zur Typologie des zu dieser Zeit an der ETH Zürich lehrenden Aldo
Rossi – hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mittels des Instrumentariums der Analyse
der in Bauaufnahmen erfassten und zeichnerisch dargestellten, zusammenhängenden
Erdgeschoßgrundrisse der Dörfer ganzer Talschaften den Kern des so oft als qualitätsvoll
erfahrenen anonymen Bauens herauszuschälen.
Ein wichtiger Aspekt bei der Bauaufnahme derartiger Ensembles stellte die plötzlich
graphisch lesbar gewordene Struktur und das über das einzelne Dorf hinaus typologisch
Vergleichbare dieser Bauten dar.
In derselben Art arbeitete auch eine Studentengruppe der Akademie der bildenden
18: Die gleichnamige Stiftung
mit Sitz in Lugano hat sich die
Förderung, Veröffentlichung und
Verbreitung von literarischen,
historischen und künstlerischen
Zusammenhängen mit dem Kanton
Tessin sowie ihrer relativen
Vorlaufforschung zur Aufgabe gemacht
und eine groß angelegte
Studie mit abschließender Publikation
zu Tessiner Bergdörfern
ermöglicht, die geleitet von Aldo
Rossi mit Max Bosshard und Eraldo
Consolascio betreut wurde.
Künste Wien mit und um Friedrich Achleitner, als sie das Siedlungsensemble anonymer
Bauten auf der Insel Sifnos aufnahmen. Durch den Wechsel in ein anderes kulturelles
Umfeld entsteht der Abstand, der oft beim Betrachten einheimischer Bauernhäuser fehlt
und sie gerne in Richtung nostalgischer Gefühlswelt schiebt. Bauten einer damals gerade
im Verschwinden begriffenen, bäuerlichen Kultur wurden jeder für sich aufgemessen und
die einzelnen Pläne zum Grundriss der Gesamtanlage gefügt. Besonders diese „Montage“
gab dann einen vertieften Einblick in die Beziehungen; ganz nebenbei sozusagen
lieferte das Bild den „Innenraum im Außenraum“; das sich außerhalb des Einzelhauses
abspielende interaktive Leben wird auf dem ab und zu sich sich dadurch weitenden
Wegenetz plötzlich spürbar.
12 13
19: Danièle Pauly hat in ihrer
Studie zur Kapelle in Ronchamp
das in hervorragender Weise getan.
„Ronchamp, lecture d’une
architecture. APUS, Ophrys, Strasbourg
u. Paris 1980.
20: Vergessen soll nicht werden,
dass die bäuerlichen Strukturen
nicht gerade eine „heile Welt“
darstellten. Bis hinein in die ersten
Jahrzehnte des 20. Jh., ja
sogar bis nach dem 2. Weltkrieg
(beschrieben in Franz Innerhofers
Erstlingsroman „Schöne
Tage“ 1974) hielt sich der daraus
erwachsende Druck auf „Untergebene“,
wie Knechte und Mägde
als Unfreie verstanden wurden.
Vgl. Peter Klammer: „Auf fremden
Höfen. Dienstboten auf dem Land“.
(Böhlau Verlag, Wien 1992); aus
dem Umfeld Bregenzerwald ist die
Autobiografie Franz Michael Felder:
“Aus meinem Leben“. (Vorarlberger
Literarische Gesellschaft,
1974) eines der besten Beispiele,
welches die sozialen Hintergründe
am Lande ohne beschönigenden
Filter beschreibt.
Einführung
Die „Entdeckung“ der Bauernhäuser durch die Architekten Das rurale Bauen als Vorbild
setzte eine Analyse voraus, die fallweise auch sehr umfangreich, ja enzyklopädisch
betrieben wurde; insbesondere, da viele Bauten dem unaufhaltsamen Wandel in allen
Lebensbereichen und der „Modernisierungswut“ zum Opfer zu fallen begannen. In der
Schweiz wurden z.B. (wie eingangs angesprochen) kantonsweise die originalen Bauten
typologisch erfasst und in Plänen, Zeichnungen und umfangreichen Beschreibungen dargestellt.
Daraus erwuchs nicht selten auch die Unterschutzstellung einzelner Bauten, ja
sogar ganzer Ensembles.
Nach der Entdeckung der klassischen Antike durch die Architektengenerationen des 19.
Jahrhunderts warfen die Architekten der klassischen Moderne in ihren Jugendjahren ihr
Interesse auf das Anonyme: allen voran Le Corbusier. In der von Giuliano Gresleri mit
viel Akribie aufgearbeiteten Reise (im Nachschlagebuch „Voyage d’ Orient“) des jungen
Charles Edouard Jeanneret lassen sich konsumierbare Stücke der einstigen Reiseabschnitte
nacherleben.
Die Intensität der Beobachtungen, mit der der spätere „Meisterarchitekt“ präzise in Skizzen
und erläuternden Worten, oft auch in Fotos seinen erarbeiteten Schatz für das Gedächtnis
festzuhalten versuchte, um ihn dann – wie es die moderne Quellenforschung
zu seinen Werken immer wieder nachweist – oft Jahrzehnte später gezielt und meist
verblüffend einfach einzusetzen, ist beeindruckend. 19
Inhaltliches Aneignen der Substanz Die erwähnten Beispiele basieren auf jahrelangem
Studium und Auseinandersetzung mit dem Existierenden. Arbeits- und Alltagskultur, Lebensrhythmus
und Lebensumstände wurden – oft lange bevor sich die Ethnologie damit
wissenschaftlich befasste – von Architekten analysiert. Mit Hilfe der material- und bautechnischen
Vorkenntnisse sowie der Berücksichtigung der ursprünglichen Bedingungen
bzw. Umstände gewonnen Erkenntnisse erscheinen die merkwürdigsten Details sinnvoll,
eben aus der Anforderung heraus entwickelt. Heute muss uns zudem klar sein, dass ohne
eine Anerkennung der sozialen, emotional oft schwer erträglichen historischen Tatsachen
der jeweiligen Einzelleben keine Nostalgie im Zusammenhang mit alten Bauernhäusern
aufkommen kann. 20
Das vor Ort Vorhandene – d.h. im Extrem sogar, direkt auf der Baustelle vorhandene Material,
(wie es Martin Rauch aktuell propagiert) – wird rational und rationell für den Zweck
eingesetzt. Nicht eine bewußte, sondern (wie historisch) eine erzwungene Beschränkung
auf ein vorherrschendes Material kann uns auch heute wieder Richtung geben. In einer
Zeit, in der energetischer Aufwand im Bauprozess in jeder Hinsicht von eminenter Be-
deutung wird, muss uns auch der Transport fremder Baustoffe aus entlegenen „Lagern“
zu denken geben.
Zurück zum Bauen für den Bedarf hieße, genau an jenen historischen Punkt blicken,
als Architekten mit ihrem Entwurf nicht mehr ausschließlich die Erscheinungsform städtischer
Gebäude festlegten und in großem Maße auschließlich für die Repräsentation
arbeiteten, sondern allmählich auch in den Bereich des familiären Wohnens drangen und
neue Modelle für das aufs Land strebende Bürgertum entwickelten und dem Bauernhaus
adäquate Beispiele in „architektonischer Hochsprache“ als Nachbarn setzten.
Nicht zuletzt spielt die aktuell zaghaft sich entwickelnde Wiederbesiedlung der Alpentäler
eine wichtige Rolle in der Betrachtung des baulichen „Altbestandes“ aus neuem
Blickwinkel und der zu beobachtende kreativ-schöpferische Umgang der Architekten mit
alter Substanz beweist ein erstarkendes Kulturbewusstsein.
Getreidekasten, doppelter Stadel
und Wohnhaus im
Kärntner Freilichtmuseum
14 15
Einführung
16 17
Vernakuläre Architektur
Vernakuläre Architektur
Hofformen in Österreich
Um einen Überblick über die augenscheinliche Vielfalt vernakulärer Architektur in Österreich
zu erhalten, sollen historische, regionaltypische Unterschiede in der Bauweise, den
verwendeten Formen und Materialien traditioneller Bauernhäuser im Folgenden dargelegt
werden.
Eine prinzipielle Klassifizierung wird durch die Unterscheidung nach Grundriss, Lage
und Anzahl der Feuerstätten und durch die Lage von Wohn- und Wirtschaftsräumen
erreicht. Demzufolge unterscheidet man etwa zwischen Seiten-, Eck- oder Mittelflurhäusern,
Rauchstuben oder Küchstubenhäusern, Wohnspeicher- oder Wohnstallhäusern, um
nur einige zu nennen. Ein Bauernhof umfasst prinzipiell vier verschiedene Funktionen, die
in eigenen Gebäuden bzw. Gebäudeteilen untergebracht werden: Wohnen, Viehhaltung,
Vorratshaltung und Gerätschaft. Die Stellung der einzelnen Bauten eines Gehöfts zueinander
bestimmt den Hoftypus. Heute sind weite Teile des österreichischen Landgebietes
noch von solch bodenständigen Architekturen gekennzeichnet, wenngleich ihre Bedeutung
aufgrund immer globaler werdenden Denkweisen rapide abnimmt.
07
02
01
03
04
05
06
08
09
10
01 Bregenzerwälderhaus (Vorarlberg)
02 Tiroler Einhof
03 Wohnhaus mit Schweinestall (Südtirol)
04 Mittertenn Einhof (Flachgau)
05 Murtaler Einhof (Obersteiermark)
06 Rauchstubenhaus (Ennstal/Steiermark)
07 Vierseithof
08 Getreidekasten
09 Streckhof (Burgenland)
10 Weingartenhaus (Südsteiermark)
Das Bauernhaus
21: Vernakuläre Architektur =
„Bauen ohne Architekten“ (spontane
Architektur)
22: autochthon = alteingesessen –
einheimisch, heimatverbunden, am
Ort entstanden, in der Heimat verwurzelt,
verankert, bodenständig
23: vgl. Neuwirth H.: Alte Bauernhöfe
in Österreich mit Südtirol;
1997; S. 212
24: Hölz, C.; Hauser, W.: Weiterbauen
am Land; 2011; S. 24
Gestalt Bis zu Beginn des Industriezeitalters am Anfang des letzten Jahrhunderts
bestimmten vorwiegend die geografische Lage, das Klima, die vorhandene Topografie,
Geologie und Vegetation am Grund, aber auch rechtliche, soziale sowie wirtschaftliche
Strukturen und Voraussetzungen die Entwicklung vernakulärer 21 , autochthoner 22 Architektur.
Die oberste Priorität stellte die gesicherte Existenz der Familie dar – Verluste
von Saatgut, Vieh und Wintervorräten galt es zu vermeiden. So entstanden die, je nach
Region unterschiedlichen, „traditionellen“ Bau- und Siedlungsformen als Abbild sozialer,
wirtschaftlicher, klimatischer und kultureller Verhältnisse im Bezug auf Wohnen und
(Über-)Leben. Die Tatsache, dass die einzelnen Gehöfte für mehrere Generationen gebaut
wurden, erklärt das Alter (teilweise 500 Jahre), aber auch die Veränderung mit jeder Generation
und das vom Weiterbauen im Bestand geprägte Erscheinungsbild.
Die Höfe besitzen oft einen mittelalterlichen Kern, welcher in Folge von größerem Wohlstand
in der Gotik und im Barock erweitert, adaptiert und renoviert wurde. Im 20. Jh.
manifestierten sich die durch technische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen bedingten
Vorstellungen vom als Standard empfundenen Wohnkomfort der Bevölkerung in
massiven Verlusten historisch wertvoller Bausubstanz aufgrund von Abbruch bzw. bis zur
Unkenntlichkeit renovierter alter Gebäude. 23 Wirtschaftlicher und sozialer Wandel, die
Motorisierung der Landwirtschaft durch technischen Fortschritt sowie die Intensivierung
des Fremdenverkehrs hinterlassen vor allem im landwirtschaftlichen Sektor und an den
bäuerlichen Objekten ihre Spuren (vgl. Artikel Bauen als Soziales Handeln). So waren
bis vor 100 Jahren ca. 85 Prozent der Bevölkerung im landwirtschaftlichen Sektor tätig,
heute sind es nur noch 15 Prozent, Tendenz sinkend. Daraus resultiert beispielsweise
das Leerstehen alter Höfe durch unzureichende […] Fantasie, die Gebäude anderwärtig
zu nutzen, oft sind es komplizierte Besitzverhältnisse, emotionale Bindungen, aber auch
fehlender Bezug, gepaart mit mangelnder Instandhaltung, die eine Erhaltung technisch
wie finanziell verhindern […] 24 und den Verlust inneralpiner, bäuerlicher Kultur zusehends
vorantreiben.
18 19
25: Pöttler, V.H.: Österreichisches
Freilichtmuseum; 1978; S. 9
Vernakuläre Architektur
Form – Proportion – Landschaft Direkt am Ort vorhandene Materialien, vor allem Stein,
Holz und später auch Ziegel, dienten als „Rohstoff“ für das Bauen. Sowohl Materialbeschaffung
und -zurichtung als auch die Vorbereitung der Baumaßnahmen erstreckte sich
meist über einen sehr langen Zeitraum. Fehlende Kenntnis statischer Berechnungen und
limitierte Verarbeitungsgrößen vor allem von Holz ergaben regionalspezifische Grundgrößen
(z. B. ein Zwei-Schuh-Mauerwerk), welche in Bezug gesetzt auf das menschliche
Maß (Fuß, Elle, …) Form und Proportion der Gebäude weitgehend regelten. Diese empirisch
ermittelten Daten wurden an die nächste Generation mündlich weitergegeben.
Das ausgewogene Zusammenspiel der verwendeten Materialien, die Materialkontinuität
in ihrer Maßstäblichkeit, Farbigkeit, Haptik und Detailhaftigkeit erzeugt dabei das als
„harmonisches Gesamtes“ Empfundene solch autochthoner Bauten. „Form war im alten
Bauernhaus nie Selbstzweck, sondern stets Folge einer zweckhaften Absicht.“ 25
Landschaftlich stark exponierte Flächen und Gelände wurden als Bauplatz gemieden.
Man nutzte die natürliche Topografie (Mulden und Senken) als Schutz vor Witterung.
So baute man meist auf gut besonnten, lawinensicheren Plätzen in stetiger Auseinandersetzung
mit dem konkreten Ort unter Berücksichtigung der umgebenden großen
Landschaftsräume. Die topografiesensiblen Bauten passten sich dem Verlauf des Geländes
an und nicht umgekehrt. Große Erdbewegungen waren mangels technischer Gerätschaft
kaum vorstellbar. 26 Die Positionierung in der Landschaft, die Proportion und Form
der Gebäude selbst vermittelten auch die kulturelle, soziale Stellung eines Gebäudes
in seinem Gefüge. Während vertikal aufstrebende Gebäude (wie z. B. Kirchen) eine Art
„Landmarke“ für hohen Wiedererkennungswert und hohen sozialen Stellenwert darstellen,
fügen sich die horizontal ausgerichteten Bauernhöfe harmonisch in die Landschaft
ein und bilden einen wesentlich geringeren Kontrast zur natürlichen Umgebung. 27
26: vgl. Neuwirth H.: Alte Bauernhöfe
in Österreich mit Südtirol; 1997;
S. 212
27: vgl. Adolf Loos – Regeln für den,
der in den Bergen baut
Heute verweisen das riesige, ökonomisierte, „homogene“ Materialangebot in den Baumarktketten
(charakterlose, übersättigte Edelputze auf dicken Kunststoffdämmplatten,
Plastikfenster, Holz- und Steinimitate usw.) und die starken Eingriffe in die natürliche
Topografie am Grundstück (große Steinschlichtungen ermöglichen ein ebenes Grundstück
selbst im steilsten Gelände) auf den Verlust einstigen Wissens um harmonisches,
landschaftsbezogenes und proportionsgerechtes Bauen.
Funktion Die einzelnen Funktionen eines Hofes orientierten sich stets am Notwendigen
und gingen Hand in Hand mit der Entwicklung der Produktion. Sowohl der Freiraum
zwischen den jeweiligen Gebäuden als auch die Gebäude selbst bildeten dabei ein gemeinsames
Ganzes als „Gehöft“. Die als Ensembles gruppierten Gebäude spannten meist
einen wettergeschützten Freiraum (= Hof) auf und nutzten geschickt die vorhandene
Topografie, um verschiedenste Niveaus in den einzelnen Gebäuden „ebenerdig“ zu erschließen.
Aus Gründen der Feuersicherheit freistehende Dörrhütten und Getreidekästen
bildeten ergänzende Komponenten solcher „Hof-Ensembles“. Die additive Grundrissentwicklung
der Hofanlagen geschah durch sukzessive Anbauten an die jeweiligen Gebäude
(meist über mehrere Generationen hinweg) unter Berücksichtigung des Kleinklimas im
Zusammenhang mit dem Energiehaushalt.
Bauen mit der Topografie
Die als Ressource zu betrachtenden Gehöfte mit ihren autochthonen Objekt(en) und den
Grundstücken wurden meist innerhalb einer Familie weitervererbt. Da die alten Gebäude
für mehrere Generationen erbaut und daher für die immer kleiner werdenden und immer
mehr auseinanderstrebenden Familienstrukturen viel zu groß wurden und generationenübergreifendes
Wohnen nicht der aktuellen Wohnkultur entsprach, wurden sehr oft Neubauten,
die ihr Manifest im freistehenden Einfamilienhaus fanden, in unmittelbarer Nähe
des Altbestandes errichtet. Seitens der öffentlichen Hand fehlte es an finanzieller Unterstützung
für den Erhalt und die Bewahrung der als kulturelles Allgemeingut anzusehenden
alten Gebäude. Die Folge ist das Leerstehen bzw. die zeitweise Ferienvermietung, was
zugleich den langzeitigen Verfall des Altbestandes bedeutet. Verkauf kommt aufgrund zu
starker Nutzungseinschränkungen bzw. auch emotionaler Bindungen oft nicht in Frage.
Aufgrund der zunehmenden Flexibilisierung und der Entgrenzung der heutigen Arbeitswelt
erfuhren die als „heimelig und identitätsstiftend“ empfundenen Höfe als Wohnform
eine Renaissance und viele jüngere Generationen kehren in den letzten Jahren zu ihrem
Erbe zurück, wenngleich diese häufig zu Mehrfamilienhäusern bzw. auch gewerblichwohnlichen
Mischnutzungen umfunktioniert wurden. Obgleich dieser positiven Tendenz
verloren dennoch viele Höfe aufgrund von Unwissenheit um den sachgemäßen Umgang
mit der historischen Substanz an autochthonem Charakter.
Gestaltungs- und Errichtungsmethoden
28: von Meiss, P.: Vom Objekt
zum Raum zum Ort – Dimensionen
der Architektur; 1994; S. 16
Fenster als Vermittler zwischen
Innen und Außen
29: von Meiss, P.: Vom Objekt
zum Raum zum Ort – Dimensionen
der Architektur; 1994; S. 18
30: vgl. von Meiss, P.: Vom Objekt
zum Raum zum Ort – Dimensionen
der Architektur; 1994; S. 16ff.
31: von Meiss, P.: Vom Objekt zum
Raum zum Ort – Dimensionen der
Architektur; 1994; S. 18
Maueröffnungen „Das Fenster – Spur einer menschlichen Existenz, Auge des Gebäudes,
das dem Passanten zublinzelt und den geschützten Blick nach außen lenkt, Einlass
für Licht und Sonnenstrahl, welche Oberflächen und Objekte beleben, Frischluftquelle
und manchmal Gelegenheit zu Austausch von Worten und Gerüchen, … aber ebenso
wunder Punkt, aus dem Bruch der strukturellen Einheit einer Mauer erwachsene Verletzlichkeit,
thermisches Problem und Dichtungsschwäche. […]“ 28
Das Fenster diente also hauptsächlich als Vermittler zwischen dem Bewohner des Gebäudes
und dem Ort und verband dabei drei wesentliche Grundfunktionen: Belichtung,
Ausblick und Gelenkfunktion zwischen Innen und Außen. Als das gängigste der traditionell
ins Mauerwerk eingelassenen Fenster etablierte sich hierbei das vertikale, welches
regional bedingt unterschiedliche Proportionsverhältnisse aufwies, den Fenstersturz minimiert
und die drei wesentlichen Grundfunktionen in nur einem architektonischen Element
integriert. Durch die enormen Mauerstärken von damals und die Positionierung der
Fenster innerhalb der Mauerleibung ergaben sich unterschiedlichste Fensterkonstruktionen,
die in Abstimmung mit den zum Schutz vor Kälte und Eindringlingen montierten
Fensterbalken wesentlich zur Physiognomie der Baumasse, zur Gliederung und Proportionierung
der Fassade als Gestaltungselement beitrugen, aber auch die Verbindung von
konstruktiven und gestalterischen Intentionen des jeweiligen Gebäudes erkennen lassen.
Aufgrund fortschreitender Entwicklungen änderten sich die Methoden der baulichen Konstruktion.
Neue Technologien, wie der Einsatz von Stahl und Beton, sowie die Installation
von künstlichem Licht, ermöglichten eine „Auflösung der Architektur“, wodurch das
vertikale Fenster an Bedeutung und Selbstverständlichkeit verlor. Die drei wesentlichen
Funktionen konnten nun auf verschiedene, genau bestimmte, beliebige Öffnungen verteilt
werden. So musste beispielsweise ein Durchbruch, der die Aussicht in eine Landschaft
rahmte, nicht zwingend auch der Belichtung des Raumes dienen. Demzufolge verlor das
Fenster seine ursprüngliche, integrierte Gesamtaufgabe, seine Wichtigkeit und Objekthaftigkeit.
Wo das „klassische“ vertikale Fenster als „schönes Objekt“ begriffen werden
konnte, […] kann das moderne Fenster nur noch in Bezug auf die Gesamtheit der räumlichen
Anordnung als schön verstanden werden. […] 29
Eine demografische Neuorientierung unserer Gesellschaft, wirtschaftlicher Aufschwung
und damit einhergehende neue Techniken und materieller Wohlstand waren die Wegbereiter
für die Heterogenität neuerer Gebäude. 30 „Folgt jedes Fenster oder jedes Gebäude
seiner eigenen Logik, ohne Rücksicht auf seinen Nachbarn oder Vorgänger, so schmälert
das resultierende Gesamtergebnis den Grat zwischen Zufallspittoreske und Chaos. […]“ 31
Bild rechte Seite: spärlich belichteter
Innenraum
20 21
Vernakuläre Architektur
Oberflächen Die meist sichtbar gelassenen Materialien wie Stein, Ziegel und Holz
erfuhren, der Witterung ausgesetzt, einen natürlichen Alterungsprozess und zeugen in
Verbindung mit Form, Lage und Proportion der jeweiligen Bauwerke von einer gewissen
Gelassenheit und Erdgebundenheit. Nur zwei bis drei oft im Bereich der Fenster
eingesetzte Farbtöne, welche zusammen mit den natürlichen Materialien die Baukörper
gliederten, dienten als Gestaltungselement der Fassaden. Die eingesetzten Farbtöne
entsprangen größtenteils der Inspiration durch die Natur. So kamen ungesättigte Grün-
(Vegetation) oder Gelbtöne (Sonne) zum Einsatz. Diese ursprünglich auf Sicht gelassenen
Stein-, Ziegel-, bzw. fallweise auch Holzmauerwerke wurden aber oft von späteren
Generationen mit Spritzwurf-, Kellenwurf-, Riesel- oder Reibputz verputzt. Die Art der
Zuschlagsstoffe im Putz und die Beimengung natürlicher Farbpigmente waren dabei
maßgebend für den späteren Oberflächeneffekt und dessen gestalterische Qualität.
Flächenstrukturierung Für den stimmigen Gesamteindruck eines alten Bauernhauses
spielt neben Form, Lage im Gelände, Farb- und Oberflächengestaltung auch die
Proportion des Gebäudes bzw. seiner Teilflächen (Dach, Fassade, …) eine wesentliche
Rolle.
Um die oft relativ großen Baumassen und Fassadenflächen eines Hofes zu untergliedern,
behalf man sich durch Kontraste in Materialität oder Farbe, bzw. durch verschiedene
materielle Ebenen und Öffnungen (Verhältnis von Mauerwerk zu Mauerwerksöffnungen),
sogenannte Sekundärflächen zu erhalten. Diese in sich wiederum segmentierenden
Sekundärflächen (z. B. Fenster mit Fenstersprossung) bilden ein eigenes, untergeordnetes
Spannungs- und Proportionssystem, welches jedoch in Bezug zum „Ganzen“
gesehen ein stimmiges, spannungsvolles Fassadenbild generiert.
Dach Das Dach eines Gebäudes gilt als wesentliches Gestaltungs- und Wiedererkennungselement
eines Gebäudes bzw. einer gesamten Region (siehe z.B. die Dachlandschaft
von Graz). Neben der Stellung im (Stadt-)Gefüge und seinem Bauvolumen gibt
auch das Dach Aufschluss über die soziale, kulturelle, aber auch religiöse Wichtigkeit
und Funktion des jeweiligen Gebäudes (Kirchen). Klima, Verfügbarkeit an Baustoff und
die damit zusammenhängende Konstruktion und Nutzungsmöglichkeit geben dem Dach
seine Form. Das im Alpenraum vorherrschende symmetrische Satteldach (Sparrenbzw.
Pfettendach) ermöglicht mit seinem Umriss und seiner klaren Struktur eine relativ
einfache Einschätzung von Breite, Tiefe und Ausrichtung des Gebäudes. Bestimmt von
klimatischen Gegebenheiten gelten die Konstruktion und die damit zusammenhängende
Dachneigung und Art der Eindeckung als nicht unwesentlicher Kostenfaktor. Dies
und die ständige Adaptierung und Veränderung mit jeder Generation führte zu einer
meist inhomogenen Dacheindeckung auch innerhalb eines Gehöfts. Als die wesentlichsten
Eindeckungsarten seien hier Stroh-, Spaltschindel- bzw. Spaltbrett-, Sägebretter-,
Ziegel-, Faserzement- und Blechdach erwähnt.
22 23
Traditionelle Dachformen mit Holzschindeldeckung
Vernakuläre Architektur
Stroh Stroh kam vor allem als Eindeckung bei Dächern zum Einsatz, wurde aber
durch den Fortschritt der Technik (Erzeugung von geschnittener Brettware aus Holz)
vom Holzbretterdach bzw. später auch Ziegel-/ Faserzementdach abgelöst. Eine weitere
nicht unwesentliche Rolle spielte Stroh in Verbindung mit Lehm als „Fugendämmung“
bei Holzblockbauten bzw. als Armierung bei Verputzen.
Lehm Lehm wurde oft neben Kalk als Bindemittel bzw. als Fugenfüller bei Holzblockbauten
verwendet. Vereinzelte kleine Bauten, die komplett aus Lehm bestehen, existieren,
spielen hier aber eine eher unwesentliche Rolle.
Stein Das am Grundstück bzw. der näheren Umgebung vorgefundene Gestein (regionsspezifisch)
wurde für den Bau der Häuser verwendet. Speziell für Fundamente, in
manchen Regionen für die gesamte Erdgeschoßzone (erdberührtes Gemäuer), und für
Gewölbe wurden Steine mit Mörtel in den unterschiedlichsten Formen (Bruchstein, Findling)
vermauert, wobei die entsprechende Positionierung des jeweiligen Steins im Mauerwerksverband
eine entscheidende Rolle spielte. So wurden beispielsweise lange, große,
grobbehauene Steine aus Stabilitätsgründen für die Eckausbildung bevorzugt.
Ziegel Mit zunehmenden Fortschritt der Industrialisierung zu Beginn des 19. Jh. hielt
auch der Ziegel als Werk-/Baustoff im ländlichen Raum Einzug. Unterschiedlichste Ziegelformate
verweisen auf oft eigene bzw. in der näheren Umgebung des Hofes vorhandene
Ziegelproduktion. Nicht nur die weitaus einfachere Handhabung und Verarbeitung aufgrund
der „Uniformität“ des Werkstoffs ist ein Vorteil, sondern auch neue gestalterische
Aspekte generierten sich aus dem „natürlichen, von Menschenhand geformten“ Material.
So etablierte sich der Ziegel beispielsweise auch als Gestaltungselement in Form von
Ornamenten an den Hausfassaden. Unzählige alte Holzhäuser erfuhren durch die Verordnung
neuer Brandschutzbestimmungen Anfang des 19. Jh. entsprechende Adaptierungen
bzw. Umbauten. So wurden sehr oft nachträglich gemauerte Kamine bzw. speziell
im Küchenbereich ganze Wände (typische Abtreppung an der Fassade) und Zubauten in
Ziegelmassivbau errichtet.
Gebäudesockel aus Stein
Holz Dichter Waldbewuchs war für die Entwicklung von Holzbauten in einer Region
grundlegend. In Regionen mit vorwiegend langwüchsigen Nadelbäumen (Fichte, Tanne,
Lärche, Kiefer) etablierte sich der sogenannte Holzblockbau, wohingegen sich in Regionen
mit verhältnismäßig kurzstämmigem Laubbaumbewuchs (Buche, Eiche, Pappel,
Ahorn) eher der sogenannte Ständer- bzw. Fachwerkbau durchsetzte. Entscheidend
für eine lange Haltbarkeit dieser Bauten waren mitunter eine zeitlich genau bestimmte
Schlägerung und gekonnte Weiterverarbeitung des Holzes und der richtige, konstruktive
Schutz dieser Holzbauten. Bei diesem sogenannten konstruktiven Holzschutz, der durchaus
auch ein großes Thema im heutigen Holzbau darstellt, geht es hauptsächlich um
die richtige Verwendung des Baustoffes Holz hinsichtlich stark witterungsbeanspruchter
Bereiche, aber auch um Insekten und Pilzbefall. So wurden beispielsweise „dem Wetter“
ausgesetzte Gebäudeseiten oft zusätzlich mit einer leicht austauschbaren „Verschleißschicht“
z. B. aus Holzschindeln versehen.
In unseren Breiten kamen innerhalb eines Gehöfts unterschiedliche Konstruktionen des
Holzbaus zum Einsatz, je nach Gebäudefunktion und Relevanz. So wurde das Wohnhaus
als Holzblockbau, Stall- und Wirtschaftsgebäude meist als verschalter Ständerbau realisiert.
24 25
Vernakuläre und Moderne
Vernakuläre und Moderne
Bauen als soziales Handeln
Bauen in seiner Gesamtheit und Komplexität muss immer im Kontext von sozialen, wirtschaftlichen
und politischen Gegebenheiten und Veränderungen gesehen werden. Aus
der verklärten und wohl romantischen Sicht des Städters symbolisieren Bauernhäuser
Bodenständigkeit und Zeitlosigkeit, Ruhe und Sicherheit, gleichsam eine starke Naturverbundenheit,
Geborgenheit und Gemeinschaft, also eine Entsagung dem Stress und
dem Alltag des Stadtlebens.
Um der Bedeutung der Bauernhäuser Rechnung zu tragen, muss der Wandel sowohl in
der wirtschaftlichen als auch der familiären Entwicklung der Bauern betrachtet werden:
Bereits Anfang des 19. Jh. kommt es in Österreich durch Revolten zur Aufhebung der
Leibeigenschaft; de facto blieb die gesellschaftliche Abhängigkeit der Bauern aber unverändert
bestehen. Erst 1848 wird im Zuge der bürgerlich-demokratischen Revolution
die vollständige Aufhebung der Feudalherrschaft erwirkt. Die vormals persönliche Abhängigkeit
verlagert sich nun zu einer wirtschaftlichen Abhängigkeit der Bauern; viele Höfe
werden durch die veränderte Situation in den Ruin getrieben, was in letzter Konsequenz
zur Zunahme von Pendlern und zur Entwicklung hin zu Nebenerwerbshöfen führt.
Neben den politischen und wirtschaftlichen Veränderungen sind vor allem auch die sozialen
bzw. familiären augenscheinlich. Waren Bauernfamilien im 16. und 17. Jh. ausschließlich
patriarchalische Großfamilien, lösen sich diese Strukturen im Laufe der Zeit
zunehmend auf und nähern sich immer mehr denen der bürgerlichen Familien an. Die
Kinder sind durch die Schulpflicht anderen gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt und
ihnen bieten sich wesentlich mehr Möglichkeiten. Ferner resultiert aus dem engeren Kontakt
zur Stadt eine Vermischung von städtischen und ländlichen Elementen.
Damit einher geht auch die Auflösung der Einheit aus Arbeits- und Wohnraum. Aus den
einfachen Grundrissen der alten Bauernhöfe werden komplexe Konstrukte: Wurden die
Funktionen Wohnen, Kochen und Arbeiten vormals in einem Raum untergebracht, folgt
durch die Verlegung der Feuerstelle in den Flur als erstes die Trennung von Kochen und
Leben. Kreuzförmige Zubauten werden als Stuben genutzt. Es entstehen eigene Räume
als Schlafzimmer und zur Unterbringung der Sanitäreinrichtungen. Nach und nach erhält
jede Funktion einen eigenen Raum.
26 27
Vernakuläre und Moderne
Diese soziale und wirtschaftliche Entwicklung ist auch an den verwendeten Baumaterialien
ersichtlich: Vormals wurden nur an Ort und Stelle vorhandene Materialien wie Holz,
Naturstein und Stroh verwendet. Doch das Materialangebot wird im Laufe der Zeit immer
größer. Wurde das Dach ursprünglich mit Stroh und Brettschindeln gedeckt, folgen im
18. Jh. Biberschwanzziegel, danach Strangfalzziegel und ab dem 20. Jh. Asbestzementplatten,
Blechdächer und Bitumenpappe. Durch den Einsatz von Ziegeldächern schließlich
kommt es zu gravierenden Änderungen für die Konstruktion der Häuser: Durch deren
Gewicht müssen bei Umbauten die Dachstühle verstärkt werden. Außerdem führt dies zu
einer kompletten Veränderung des Konstruktionstypus: Ortgang, Traufe und Giebel müssen
breiter gebaut werden und mit der Erfindung der Dachrinne ändern sich zusätzlich
Details bezüglich der Proportion.
Die wohl wichtigste Veränderung, die die Bauweise und Materialwahl von Bauernhäusern
nachhaltig prägt, ist der Anstieg an behördlichen Auflagen und Vorschriften. Um 1800
entstehen die ersten Bauvorschriften bezüglich des Brandschutzes; Ölkrise und Umweltbelastung
werden durch behördlich vorgeschriebene Wärmedämmungen bekämpft und
Gesetze für Bau-, Raumordnung, Garagen, Kanäle, Baulärm, Ortsbildschutz – um nur
einige zu nennen – werden erlassen.
Diese Bestimmungen beeinflussen sowohl die technische Ausführung der Häuser als
auch deren formale Umsetzung. So wird im Raumordnungsgesetz das Bauen im Freiland
verboten. Die Ausnahme stellen in Hofnähe errichtete Wohnhäuser in der Größe des
bestehenden Bauernhauses dar. Das führt dazu, dass viele Neubauten ohne Rücksicht
auf die bestehende Struktur des Hofs entstehen. Vor allem durch die Vorschrift „in Hofnähe“
leidet die Qualität der ursprünglichen Bauten. Weiters haben alte Bauernhäuser
sehr steile Treppen, wodurch geringe Haustiefen ermöglicht werden. Das Gesetz fordert
allerdings flachere Treppen, was dazu führt, dass bestimmte Grundrisstypen nicht
mehr realisierbar sind. Nicht zuletzt führt z. B. die gesetzlich geregelte Maximalgröße
für Grundstücke, die gegen die Verschwendung von Bauland eingeführt wurde, zu völlig
veränderten Proportionen der Häuser zur Landschaft, was die Qualität von Neubauten
wesentlich mindert. Vor allem aber sollte auch der Einfluss der Medien auf die Bauweise
nicht vergessen werden, der dazu führt, das Haus als Statusobjekt zu betrachten, bestimmte
Bauformen und Materialien zu bevorzugen und Größe als Zeichen von Besitz und
Macht wahrzunehmen.
Früher waren Form, Größe und Lage eines Hofes determiniert durch traditionelle Baumethoden
und -materialien, durch die Gegebenheiten des Ortes, die Wettersituation, die
Nutzung von Ackerland sowie die Größe der Fuhrwerke. Außerdem wurden die Häuser
von den Bauern zumeist selbst errichtet, Handwerker waren ein Privileg für Herrschaftshäuser.
Auch war bewusster Formwille als Zeichen der Individualität nicht gefragt und
konnte sich höchstens in Verzierungen und Details ausdrücken. Die Rahmenbedingungen
für die Errichtungen eines Hauses ergaben sich immer aus dem Ort, an dem es
stehen sollte.
Heute ist das Bauen an sich einer Vielzahl von externen Einflüssen ausgesetzt, wodurch
es immer schwieriger wird, auf die Rahmenbedingungen des Ortes sensibel einzugehen.
Das Wechselspiel zwischen Haus und Landschaft wird von Auflagen, Richtlinien und
gesellschaftlich auferlegten Zwängen beeinflusst. Aus dieser Entwicklung ist ersichtlich,
dass zu straffe Richtlinien das natürliche Formempfinden unterdrücken oder der
Zwang entsteht, sich gegen Vorgaben aufzulehnen. Als vernünftige Lösung wird daher
angesehen, zukünftig den infrastrukturellen Rahmen für das Bauen (Kanal, Strom, Straßen)
zur Verfügung zu stellen und allzu verschwenderische und leichtsinnige Bauten zu
unterbinden. Durch leichte Reglementierung sollte es möglich sein, verantwortungsvolle,
qualitativ hochwertige Gebäude zu schaffen, die sich in die Landschaft einfügen und mit
ihr harmonieren. 32 „Der größte Feind der Qualität ist nicht die Nichtqualität, sondern die
Kopie. Sie entsteht entweder aus Bequemlichkeit oder aus Angst, einen Fehler zu begehen.
Ohne auf die Randbedingungen und den Ort des Originals einzugehen, wirkt sie
leb- und beziehungslos.“ 33
32: vgl. Haberz M.: Alte Bauernhöfe
in Österreich mit Südtirol; 1997;
S. 215 ff.
33: Haberz M.: Alte Bauernhöfe in
Österreich mit Südtirol; 1997; S. 218
Peripherie und Zentrum
Mit der Gründung des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie im Jahre 1863
und dem damit einhergehenden kreativen Dialog zwischen Zentrum und Peripherie in
den darauffolgenden Jahren (1871–1895) wurde der Grundstein für das Interesse an
Volkskunst und Bauernhaus in der österreichischen Hälfte der Doppelmonarchie gelegt.
Durch die Integration bäuerlicher, wirtschaftlich rückständiger Bevölkerungsgruppen in
das kunsthandwerkliche Schulsystem und der von einigen Fachschullehreren begonnenen
Dokumentation vernakulärer Bauten tauchte die Frage der Nutzbarmachung von
Volkskunst auch in den sich bis dato nur am „Geschmackskanon“ der Zeit orientierenden
Kunstgewerbeschulen auf. Der Austausch und die Zirkulation von Unterlagen der am
Wiener Zentralinstitut zusammenströmenden und wieder in die Provinzen ausschwärmenden
Lehrer sorgte für die Vermischung, Überformung und Hybridisierung von Formen
respektive einer kreativ-kulturellen Synthese, was zufolge mancher Intellektueller die
Zerstörung der „wahren, echten Volkskunst“ nach sich zog. So setzte sich die „aneignende
Transformation“ von mittlerweile zum zeitgenössischen Allgemeinwissen gehörenden
vernakulären Formen in den verschiedenen Kunstrichtungen (Architektur, Musik, …) in
Mitteleuropa durch.
Um dem Trend, welcher sich durch die Erforschung, Dokumentation und Präsentation
bäuerlicher Kultur und das damit zusammenhängende Aufkeimen nationaler Leidenschaft
in den jeweiligen Kronländern des bis dato multiethnischen Österreich entwickelte, entgegenzuwirken,
bemühten sich Theoretiker um eine Reichsideologie, welche einschließende
Toleranzen gegenüber allen Volkskünsten unter dem Namen „Mosaik Österreich“
vereinen sollte. Diese Dokumentation der Vielfalt „volkstümlicher Kulturzeugnisse“ geschah
auf Anweisung des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie. Die Ergebnisse
wurden anschließend in der österreichischen Reichshälfte in Form von Ausstellungen
und Vorlagenwerken publiziert und der damit ausgelöste Diskurs trug langsam zu
einer umfassenden „Österreichischen Idee“ bei. 34
34: vgl. Aigner, A.: Vernakulare
Moderne: Grenzüberschreitungen
in der Architektur um 1900. Das
Bauernhaus und seine Aneignung;
2010; S. 85 ff.
Mythos – Branchen – Branding Das Bild von Österreich definierte sich lange Zeit zum
einen natürlich durch sein kulturelles Erbe der Städte Wien oder Salzburg, zum anderen
wird jedoch ein großer Teil über die Kulturlandschaft des ländlichen Raums und dem damit
einhergehenden, über die Jahrhunderte geprägten ruralen Selbstverständnis definiert
28 29
Weiterbauen im Kontext vernakulärer
Architektur
35: Adam H.: Artikel Mythos -
Branchen - Branding; Deutsche
Bauzeitung Ausgabe 05/2007;
S. 38
36: vgl. Adam H.: Artikel Mythos
– Branchen – Branding; Deutsche
Bauzeitung Ausgabe 05/2007;
S. 37 ff.
Vernakuläre und Moderne
(alpines Gelände, üppige Natur, klare Seen, Wein – „Land der Berge, Land am Strome“, und
nicht „Land der pulsierenden Metropolen“, heißt es beispielsweise in der österreichischen
Bundeshymne). Auch wenn die Zahl jener, welche ihr Einkommen aus der Landwirtschaft
beziehen, stark rückläufig ist, stammt die größte Zahl der Einwohner Österreichs (mit Ausnahme
von Wien und den meisten Landeshauptstädten) aus dem ländlichen Raum, was
nach wie vor sowohl in städtebaulicher als auch sozialpolitischer Ebene stark spürbar ist.
Jedoch wird seit längerem eine Art Imagewechsel, dem sich das Land unterzieht, beobachtet
– die Schaffung von landesweit nahezu identen Lebensbedingungen und der immer
globaler werdende Zeitgeist führen weg von dem über Jahrhunderte geprägten Bild des
ruralen Mythos, hin zu einem aufpolierten, modernen Image Österreichs.
Das identische Phänomen stellt sich auch beispielsweise in der Schweiz ein. Eine Ende
2005 vom ETH Studio Basel (Jacques Herzog, Pierre de Meuron, Marcel Meili, Roger Diener,
Christian Schmid und Studenten) der eidgenössischen technischen Hochschule Zürich
publizierte Untersuchung „Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait“ analysiert das heutige
„Image“ der Schweiz und stellt beispielsweise das agrarische Selbstverständnis des
Landes stark in Frage. Dabei wurde dem Land aufgrund des Postulats, überall gleiche Lebensbedingungen
zu schaffen, ein hohes Maß an Urbanisierung selbst in den entlegensten
Regionen attestiert. Sehr umstritten waren dabei die Aussagen der Verfasser hinsichtlich
alpiner Siedlungsräume, deren Ökonomie heute weitestgehend auf Transferzahlungen und
Subventionen angewiesen ist. Die Sicherung und Aufrechterhaltung der Infrastruktur solcher
Siedlungsgebiete, welche die Verfasser als alpine Brachen bezeichnen, sei der größte
Kostenfaktor. Aus ökonomischen und ökologischen Überlegungen und aufgrund der Tatsache,
dass solch „alpine Brachen“ ohnehin von kontinuierlicher Emigration und Entvölkerung
betroffen sind, sei das kontrollierte Auflösen solcher Siedlungen und eine „Renaturalisierung“
sinnvoller.
Der in seinem entlegenen alpinen Heimatdorf Vrin arbeitende ETH Prof. Architekt Gion A.
Caminada widerlegte hingegen diese Überlegungen und stellte im Zuge seiner 2005 in Meran
vorgestellten Ausstellung „Neun Thesen für die Stärkung der Peripherie« vor.“ „Landschaft
und Kultur sind wichtige Faktoren für den Tourismus. Kultur bedeutet Kultivierung
und meint die Veredelung von dem, was auch Natur sein kann. Kultur zu haben bedeutet
aber auch, anders zu sein. Globale Normen sind die größten Feinde der Natur. Der Kulturtourist
sucht eine Gegenwelt zu seiner eigenen Kultur.“ 35 Mit der modernen Neuformulierung
durch beispielsweise präfabrizierte, modulare Elemente des inneralpin traditionellen
Strickbaus (Holzblockbau) und einer vorbildhaften Sensibilität für Orts- und Landschaftsbild
im inzwischen mehrfach mit Preisen ausgezeichneten kleinen Ort Vrin sorgte Caminada
weit über die Grenzen der Schweiz hinaus für Aufsehen. Selbst wenn es in Vrin kurzfristig
nicht gelingen sollte, sich als selbstfinanzierendes Dorf zu etablieren, ruhen gewisse Hoffnungen
im umweltfreundlichen Tourismus, um den sich die 1990 installierte Initiative „Pro
Val Lumezia“ bemüht und im Nachbartal Vals mit der äußerst erfolgreichen Therme von
Peter Zumthor vorzeigt. Welche Risiken der Tourismus zum anderen aber birgt, zeigen z.
B. die in St. Moritz zu luxuriösen Ferienwohnungen umgebauten alten Engadinerhäuser. 36
Um die Jahrhunderte alte rurale Kultur im inneralpinen Raum zu bewahren, bedarf es natürlich
gewisser Transferzahlungen und Subventionen, aber auch der „Aufklärung“ und Bewusstmachung
der dort lebenden Bevölkerung, dass sie als Landschafts- und Kulturpfleger
eine entscheidende Rolle in diesem Prozess spielen. Erst durch solche Maßnahmen wird
der Erhalt dieses nicht unwesentlichen kulturellen Erbes gewährleistet.
Das Verhältnis von Bewahrung und Erneuerung
Die Frage nach dem „Wieviel“ an Bewahrung und Erneuerung bedeutet einerseits einen
ständigen Grenzgang, den es mit sehr viel Fingerspitzengefühl auszuloten gilt, und zum
anderen sollte dieser weder aufgrund rein emotionaler noch rein wirtschaftlicher/ökonomischer
Gründe entschieden werden. Dass jeder Eingriff in historisch vorgefundene Substanz
als Hinzufügung einer modernen Schicht zum „Ganzen“ und nicht als Restriktion (z. B.
einer inkonsequenten und unaufrichtigen Beschränkung auf reine Restauration), sondern
vielmehr als Chance, genormte Vorstellungen zu verlassen und adäquate Weiterentwicklungen
und Neuinterpretationen eines Themas zu finden, verstanden werden soll, sei hier
festgehalten. Der Verweis auf die 1913 vom österreichischen Architekten Adolf Loos verfassten
„Regeln für den, der in den Bergen baut“ und ihre bis zum heutigen Tage wirkende
Gültigkeit liegt nahe:
Baue nicht malerisch. Überlasse solche Wirkung den Mauern, den Bergen und der Sonne.
Der Mensch, der sich malerisch kleidet, ist nicht malerisch, sondern ein Hanswurst. Der
Bauer kleidet sich nicht malerisch. Aber er ist es.
Baue so gut wie du kannst. Nicht besser. Überhebe dich nicht. Und nicht schlechter.
Drücke dich nicht absichtlich auf ein niedriges Niveau herab, als auf das du durch deine
Geburt und Erziehung gestellt wurdest. Auch wenn du in die Berge gehst. Sprich mit dem
Bauern in deiner Sprache. Der Wiener Advokat, der im Steinklopferdialekt mit dem Bauer
spricht, hat vertilgt zu werden.
Achte auf die Formen, in denen der Bauer baut. Denn sie sind der Urväterweisheit geronnene
Substanz. Aber suche den Grund der Form auf. Haben die Fortschritte der Technik es
möglich gemacht, die Form zu verbessern, so ist immer diese Verbesserung zu verwenden.
Der Dreschflegel wird von der Dreschmaschine abgelöst.
Die Ebene verlangt eine vertikale Baugliederung, das Gebirge eine horizontale. Menschenwerk
darf nicht mit Gotteswerk in Wettbewerb treten. Die Habsburgwarte stört die Kette
des Wienerwaldes, aber der Husarentempel fügt sich harmonisch ein.
Denke nicht an das Dach, sondern an Regen und Schnee. So denkt der Bauer und baut
daher in den Bergen das flachste Dach, das nach seinem technischen Wissen möglich ist.
In den Bergen darf der Schnee nicht abrutschen wann er will, sondern wann der Bauer will.
Der Bauer muss daher ohne Lebensgefahr das Dach besteigen können, um den Schnee
wegzuschaffen. Auch wir haben das flachste Dach zu schaffen, das unseren technischen
Erfahrungen nach möglich ist.
Sei wahr! Die Natur hält es nur mit der Wahrheit. Mit eisernen Gitterbrücken verträgt sie
sich gut, aber gotische Bogen mit Brückentürmen und Schießscharten weist sie von sich.
Fürchte nicht, unmodern gescholten zu werden. Veränderungen der alten Bauweise sind
nur dann erlaubt, wenn sie eine Verbesserung bedeuten, sonst aber bleibe beim Alten.
Denn die Wahrheit, und sei sie hunderte von Jahren alt, hat mit uns mehr inneren Zusammenhang
als die Lüge, die neben uns schreitet. 37
37: A. Loos: Regeln für den der
in den Bergen baut; 1913
Die ständige Weiterentwicklung der Haustechnik und der damit einhergehende, heute kaum
mehr wegzudenkende Standard an Wohnqualität und dem daraus suggerierten „Idealbild“
von individuellem Wohnen widersprechen der Charakteristik historischer Gehöfte (aus natürlichen
Gegebenheiten entwickelt) und setzen deren Bewohner unter Zugzwang. Das er-
38: vgl. Hölz, C.; Hauser, W.:
Weiterbauen am Land - Verlust
und Erhalt der bäuerlichen Kulturlandschaft
der Alpen; 2011; S. 17
Zubau Bauernhof in Egg, Architekt
Hermann Kaufmann
39: Interview mit dem „Spiegel“,
Ausgabe 50/2010, online abrufbar
unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-75638363.html
40: Schlorhaufer, B.: Cul zuffel e
láura dado – Gion A. Caminada;
2008; S. 57
weiterte Materialangebot, staatlich geförderte Eigenheime und die zunehmende Mobilität
der Bevölkerung bedeuteten speziell in den späten 1960er enorme Verluste an regionaler
Baukultur hin zu den willkürlich und leichthin ausgeschmückten „Jodlerhütten“. Nicht nur
die bis dato in den verschiedenen Tälern und Alpenregionen charakteristischen Hauslandschaften
verschwanden, die Identität gesamter geschlossener bäuerlicher Ensembles
und ganzer Ortsbilder wurde aufgrund von Unwissenheit und Nachlässigkeit mit dem
sachgemäßen Umgang von historischer Substanz zerstört. 38
Alte, gewachsene Bauten, die die Identität eines Ortes prägen, stehen immer im direkten
Zusammenhang mit den Menschen, die dort wohnen, sind Teil ihres Lebens, ihrer
Kultur und werden durch diese emotionale Bindung zu Heimaten. Dieser Zugehörigkeit
wird nur noch selten Respekt gezollt. Neubauten werden der sanften Adaptierung zumeist
aus rein ökonomischen Überlegungen vorgezogen, wodurch identitätsstiftende
Bauten verschwinden und Ortsbilder zerstört werden. „Nimmt man uns zu viele dieser
Häuser weg, wird es ungemütlich. […] Ich rede auch nicht dem Stillstand, sondern der
Achtsamkeit und Behutsamkeit das Wort“, bringt der Schweizer Architekt und Pritzker-
Preisträger Peter Zumthor die Thematik auf den Punkt. Peter Zumthor begreift seine
Aufgaben als Architekt nicht nur im Bewahren, sondern speziell auch im Schaffen und
Entwerfen einer Synthese zwischen Altem und Neuem, eingebettet und verwurzelt in der
Umgebung, um ein harmonisches Ganzes zu schaffen, das von den Menschen auf- und
angenommen wird. 39
Modernes Weiterbauen im ländlichen Kontext umfasst demzufolge viel mehr als nur
die denkmalgerechte Erhaltung der historisch gewachsenen Umgebung, sondern liegt
„[…] in einem intensiven Prozess der Aneignung traditioneller, regionaler Bauweisen“ 40
und deren entsprechender Weiterentwicklung. „[…] Vielleicht kann man daher trotz aller
Neuartigkeiten von einer traditionellen Architektur sprechen. Nicht von einer, die das
Erbe als etwas Abgeschlossenes betrachtet, das allenfalls imitiert werden könnte, sondern
von einer, bei der das Erbe als ein Kapital angenommen und für Zukünftiges investiert
wurde – eine traditionelle Architektur also, die mit dem Überliefern auch das
Übersetzen, das Anverwandeln und Entwickeln meint.“ 40
Regionales Bauen oder Regionalismus
30 31
Bild rechte Seite:
Zubau Bauernhof in Egg, Architekt
Hermann Kaufmann
Vernakuläre und Moderne
Worin liegt nun der spezielle Unterschied, die konkreten Anforderungen zwischen Bauen
auf dem Land und Bauen in der Stadt, und was ist das Charakteristikum hinter dem Begriff
„ländlicher Raum“? Obwohl die Grenzen immer mehr verschwimmen, bestehen doch
einige Unterschiede:
Wichtigstes und markantestes Merkmal bleibt der Umgang und die Planung mit der Landschaft,
welche sich im ländlichen Raum, selbst wenn dieser heute kaum mehr die vor
allem wirtschaftliche Bedeutung von früher inne hat, bis dato anhand von Grundgrenzen,
Wegen und Bewässerungssystemen orientiert und geringere Nutzungsdichten zur Folge
hat. Auch das Empfinden und Erleben von öffentlichem Raum, welcher sich am Land in
der Regel auf wenige „sozial kontrollierte“ Ortsplätze beschränkt, verhält sich im Gegensatz
zur Stadt, wo alles Nichtprivate als öffentlich empfunden wird, konträr.
Der Umgang mit der unmittelbar visuell und strukturell prägenden Landschaft verdeut-
licht das Versagen der Raumplanung im ländlichen Raum. Die „Leitidee“ des freistehenden
Einfamilienhauses auf der grünen Wiese und der damit einhergehende enorme
Flächenverbrauch bewirkt eine weitaus raschere und nachdrücklichere Veränderung im
Landschaftsraum im Vergleich zur Stadt und stellt das eigentlich Qualitätsvolle, Einzigartige,
nämlich die Landschaft, die Natur bzw. Ausblicke der Region, hinten an. Nachverdichtung,
Umnutzung oder Adaptierung innerhalb bestehender Siedlungsstrukturen bilden
eher die Ausnahme. Die logische Konsequenz präsentiert sich in nahezu uniformellen
Siedlungsstrukturen, nur mehr anhand von Ortschildern und Straßennamen differenzierbar,
im gesamten österreichischen Landgebiet. Der ursprüngliche Reiz historischer Ortsund
Stadtkerne und deren Einmaligkeit scheinen heute nicht mehr möglich.
Um dieses Phänomen zu verstehen, führt der Architekturtheoretiker Friedrich Achleitner
in seinem Buch „Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite?“ die Differenzierung
zwischen regionalem Bauen und Regionalismus unter folgender Definition ein:
41: Achleitner, F.: „Region, ein
Konstrukt? Regionalismus, eine
Pleite?“, 2001
Das regionale Bauen ist eingebettet in die realen Bedingungen einer Region, ist unmittelbarer
und unreflektierter Spiegel einer konkreten Lebenswelt; es ist weniger abgeschlossen
als man vermuten würde, es vermag auf die Vorgänge in der Welt und auf die Zeit zu
reagieren und es ist, außer mit großer historischer Distanz betrachtet, nie rein.
Und es gibt den Regionalismus, der die vermeintlichen baulichen Merkmale einer Region
zum architektonischen Thema macht oder zur Formel entwertet. Der Regionalismus
ist ein Phänomen des Historizismus, er signalisiert die Verfügbarkeit über die bauliche
Formenwelt einer Region, er ist ein Mittel der Einkleidung, er ist die Lederhose, die der
Notar am Wochenende an seinem Zweitwohnsitz anzieht. Ich muss nicht erwähnen,
dass dieses Verhalten im Spannungsfeld von blinder Liebe und fataler Respektlosigkeit
angesiedelt ist. 41
Der hier von Achleitner definierte Regionalismus bezeichnet demnach eine schlechte Kopie
einer Form, deren formgebende Leitgedanken und Argumente falsch verstanden oder
vergessen wurden. Wie aber kam es dazu? Achleitner schreibt weiter:
32 33
42: vgl. Eisler, M.: Wasmuths
Monatshefte für Baukunst III;
1918/19; S. 310 ff.
Vernakuläre und Moderne
„Nicht der Bauer, der Ansässige wehrte sich gegen diese Entwicklungen; sie brachten
oder versprachen ihm immerhin eine Verbesserung seiner Lage, nein, der Städter, der
die Idyllen der Armut als Fluchträume für seine Regeneration zu entdecken begann, dem
das Land die „Sommerfrische“ gewährte, der entdeckte plötzlich diese Veränderungen.“
Auch der 1918 in Wasmuths Monatsheften für Baukunst publizierte Artikel „Das Landhaus“
von Max Eisler, welcher unter anderem auf Arbeiten von Oskar Strnad und Robert
Örley verweist, hinterleuchtet das Verhältnis und soziale Entwicklungen zwischen Städtern
und der Landbevölkerung:
[…] Wir Menschen ziehen den feierlichen Gehrock aus und nehmen die bequeme Bauernjoppe.
Sie wollen keine ländliche Komödie aufführen, aber sie wollen zwischen den
Bergen ausruhen, in dieser selbstgewählten Abschließung eine Zeit lang völlig aufgehen.
Die hastige, heftige Welt von drüben soll für ein paar Wochen vergessen sein, nichts oder
fast nichts in der neuen Umgebung an sie erinnern. Diesem festen Willen zur bewussten
Ausschaltung des Berufs- und Stadtlebens gibt der Künstler den überall bestimmenden,
behaglichen und behäbigen Ausdruck. 42
Es ist der Städter, der durch seinen räumlichen Abstand zum Land dessen Kultur und
Bauform als Einheit wahrnehmen kann. Der Bauer hingegen sieht es lediglich als seine
Pflicht, seine Werte dem Zwecke des Tourismus zu unterwerfen, den Städtern für ihre
Ausflüge ihre Illusion der „heilen“ Welt vorzuspielen und deren Vorstellung von der Kultur
auf dem Land in eben diesem (geforderten) Einheitsstil aufrechtzuerhalten. Darin liegt
auch der Ursprung des Regionalismus. „Regionalismus ist jene Verwandlungsmaschine,
die aus der ,Artenvielfalt‘ bäuerlichen Bauens einen leicht konsumierbaren Einheitsstil
macht, der sofort erkennbar ist und der Heimeligkeit und Corporate Identity mit einem
geringen Aufpreis liefert.“ 43
Wie regionales Bauen den formalen Ausdruck, der nach heutigem Maßstab dem Wesentlichen
entspricht, mit den tatsächlichen Lebensumständen der heutigen Menschen
kombiniert, zeigt Vorarlberg, wo in den letzten 30 bis 40 Jahren eine Erneuerung lokaler
Bautradition stattfand. Die sogenannten Vorarlberger Baukünstler mit ihrer „Vorarlberger
Bauschule“ „hatte[n] sich als eine Bewegung ,von unten‘ formiert, abseits von Akademien
oder Hochschulen, in Opposition zum kulturellen und bürokratischen Establishment.
Sie war nicht eine Aktivität von Architekten allein, sie war wesentlich und direkt von den
Bauherren und Baufrauen mitgetragen und mitbestimmt. Ihre Keimzelle lag in einem kleinen,
explosiven Netzwerk von aufmüpfigen, weltoffenen Lehrern, Künstlern, Literaten,
Musikern, Grafikern und Planern, die in den 1960er Jahren Alternativen zur lokalen Provinzialität
der Nachkriegsära formulierten und ganz konkret auch lebten. Ihr Engagement
reichte über individuelle Anliegen hinaus in größere Zusammenhänge.“ 44
43: Achleitner, F.: „Region, ein Konstrukt?
Regionalismus, eine Pleite?“,
Birkhäuser, Basel 2001
44: Otto Kapfinger; vgl. Artikel Struktiv
Architektur; http://www.struktiv.at/
downloads/magazine/STRUKTIV_Architektur.pdf;
am 16.03.2011
Weiterbauen am Bestand,
Obergoms, Schweiz
34 35
Vernakuläre und Moderne
36 37
Anwendungsstudie
Anwendungsstudie
Hintergrund
Die Frage, warum und wie man alte Bauernhöfe speziell in peripheren Regionen erhält, ist
sicherlich zwiespältig: Einerseits widerspricht der hohe, auf Subventionen angewiesene,
infrastrukturelle Erhaltungsaufwand und die steigende Entvölkerung der Randregionen
dem Gedanken der Erhaltung, doch andererseits definiert sich Österreich neben historischen
Städten hauptsächlich über die Kulturlandschaft, das Brauchtum, das Leben auf
dem Land und die Natur.
Der Gedanke, viel Land verhältnismäßig günstig zu erwerben, gepaart mit dem Ideal,
losgelöst und fern von der umliegenden „Zivilisation“ dem obligaten Leitmotiv des freistehenden
Einfamilienhauses auf der grünen Wiese gerecht zu werden, klingt für viele
verlockend. Dass diese Haltung jedoch zum einen mit enormem Flächenverbrauch und
einer rapiden Veränderung des einzigartigen Landschaftsraumes einhergeht und zum anderen
eine immense Belastung der Gemeindekassen durch Aufschließung und Versorgung
(Straßen, Wasser, Kanal und Strom) dieser Gebäude verursacht, ist meist nicht bewusst.
Das mittlerweile in Städten häufig vorexerzierte Beispiel der Nachverdichtung im Sinne
von Nach- bzw. Umnutzung leer stehender, meist zentral gelegener „alter“ Gebäude inmitten
bestehender Infrastruktur (Belastungen für die Gemeinde bzw. Mehrkosten für die
Allgemeinheit entfallen) ist im ländlichen Raum bislang kaum ein Thema.
Orte definieren sich über wenige markante, meist historische Bauten. Das Fehlen oder zu
starke Verändern solcher am Ort verwurzelter Gebäude bedeutet demnach nicht nur eine
bauliche Veränderung eines Einzelobjekts, sondern im größeren Maßstab betrachtet eine
ortsräumliche Modulation mit markanten Veränderungen (positive wie negative) für die
gesamte Ortschaft. Trotzdem soll ein Eingriff in historische Bausubstanz über die reine
Erhaltung und Restauration des Objekts hinausgehen, Neuinterpretationen der traditionellen
Bauweisen erlauben und der Weiterentwicklung Raum lassen.
Das Aufzeigen verschiedenster Nutzungsmöglichkeiten von leer stehenden, ortsprägenden
Gebäuden ist demnach ein Schritt hin zu einer möglichen ländlichen „Nachverdichtung“ (mit
all den positiven Nebeneffekten – „Entlastung“ der Gemeindekassen, Landschaftsschutz,
soziale Gleichstellung, keine Zersiedelung etc.), aber vor allem zum Erhalt des kulturellen
Erbes eines Ortes bzw. einer ganzen Region.
Der Ort
Um die Aktualität dieser Thematik zu verdeutlichen und deren starken Realitätsbezug
zu untermauern, wird versucht, diese an einem konkreten Ort bzw. in weiterer Folge an
einem konkreten Objekt aufzuzeigen. Dies geschieht anhand des kleinen Dorfes Feistritz
am Kammersberg, eine Katastralgemeinde der politischen Gemeinde St. Peter am Kammersberg
im obersteirischen Katschtal. Feistritz ist mit seinen knapp 300 Einwohnern
und seiner städtebaulichen Struktur (vorwiegend Einfamilienhäuser bzw. Bauernhöfe) ein
typisches Dorf dieser Region und kann daher als Anwendungsmodell auf sehr viele Orte
mit derselben Problemstellung umgelegt werden.
Luftbilder Feistritz am Kammersberg
1901 und 2006
Die untenstehende Grafik zeigt die Nutzungsstruktur und das baulich vorhandene Potenzial
des Kerngebietes des Ortes. Betrachtet man die Grafik, fällt die für das gesamte
österreichische Landgebiet typische Zersiedelung in den Randbereichen des Dorfes auf,
wohingegen ehemals landwirtschaftlich genutzte Gebäude im Ortszentrum leer bzw. teilweise
leer stehen. Wirft man nun einen Blick auf die Bevölkerungsentwicklung von Feistritz
der letzten Jahre und vergleicht dazu das baulich vorhandene Potenzial dieser alten leer
stehenden Höfe, würde eine sinnvolle Adaptierung dieser Gebäude keine Neubauten (für
Wohnzwecke) in den kommenden Jahren mit sich bringen und damit der Zersiedelung,
dem Verlust und Verfall speziell dieser in der Ortsmitte gelegenen autochthonen Gebäude
entgegenwirken und das bekannte Ortsbild stärken.
Bild rechts: Franziszeischer
Kataster, Feistritz, 1834
38 39
Anwendungsstudie
(teilweise) leer stehender Bauernhof
= Nutzungspotenzial
Einfamilien- u. Mehrfamilienwohnhaus
Bauernhof (Vollerwerbs- bzw. Kleinkeuschler
in Betrieb)
ehemaliger Bauernhof – EFH &
Landwirtschaft verpachtet
sonstiger Leerstand (EFH, ehemalige
Wirtschaftsbauten)
öffentliche Gebäude bzw. Wirtschaftsbetrieb
Sonstiges (kleine Scheunen, landwirtschaftl.
Lager, ...)
Bauernhof (
(teilweise) leerstehe
ehemaliger B
sonstiger Lee
Sonstig
ö
40 41
Anwendungsstudie
Bestand Sorer-Gut
Sorer-Gut um 1905 und heute
Das Sorer-Gut ist aufgrund seiner dorfräumlich äußerst prominenten Lage und seiner für
diese Art von Gebäude durchaus typischen Geschichte ein modellhaftes Beispiel: Der
ursprüngliche Bau ist ein regionaltypischer kleiner Einhof (Vorderhaus und Hinterhaus
bzw. Wirtschaftsteil unter einem Dach), eine sogenannte Keusche, welche im Jahre 1803
erstmals dokumentarisch belegt wurde. Im Verlauf der Jahre wechselte das Gehöft mehrmals
den Besitzer und erfuhr in diesem Zuge unzählige bauliche Veränderungen, welche
speziell in den 1950er und 60er durch mehr oder weniger geglückte Zu- und Umbauten den
ursprünglichen Ausdruck des Hauses stark wandelten. Das Gut erlag dem weitverbreiteten
Schicksal vieler sogenannter Kleinkeuschler: Die Landwirtschaft wurde wegen unzureichendem
wirtschaftlichen Ertrag stillgelegt. Seither steht das Hinterhaus leer. Es fehlte
Einfamilien bzw. Mehrfamilienwohnhaus
an der nötigen Vorstellungskraft und Eigeninitiative, um eine entsprechende Neunutzung
Bauernhof (Vollerwerbs- bzw. Kleinkeuschler) in Betrieb
(teilweise) leerstehender Bauernhof = NUTZUNGSPOTENTIAL
ehemaliger Bauernhof - EFH & Landwirtschaft verpachtet
des Hinterhauses, sonstiger Leerstand (EFH, ehemalige Wirtschaftsbauten) abseits vom ursprünglichen Gebrauch als Wirtschaftsteil, anzudenken.
Sonstiges (kleine Scheunen, landwirtsch. Lager, ...)
öffentliche Gebäude bzw. Wirtschaftsbetrieb
Die Aufarbeitung bzw. Auseinandersetzung hinsichtlich einer sinnvollen Nachnutzung dieser
Gebäude stellt fünf voneinander unabhängige Ansätze, jeweils in Nutzungskombination von
Vorderhaus als Wohnteil und Hinterhaus mit entsprechender Komplementärnutzung gemäß
dem verfeinerten funktionellen Konzept eines traditionellen Einhofs, gegenüber. Das auf
seine ursprüngliche Dimension reduzierte Haus erfährt keinerlei An- bzw. Zubauten und
unterstreicht so die wichtige Stellung des Einzelvolumens in seinem regionaltypischen
Ausmaß, seiner Proportion und Raumbildung zur umliegenden Landschaft und Bebauung.
Die gewählten Ansätze spannen einen weiten funktionalen Bogen und reichen von einem
Kindergarten bis hin zu einem Künstleratelier, ohne das vorhandene, gebaute Volumen
zu erweitern. Die Studie versteht sich als eine Art Beispielsammlung exemplarischer Nutzungsmöglichkeiten,
welche Inspiration und Denkanstoß für dieses und weitere Objekte
dieser Art liefern soll.
Sorer-Gut um 1905 und heute
42 43
Anwendungsstudie
~ 1905-1910: Hauszubau westlich (Holzblock auf Ziegel)
~ 1949: Zubau Stall (Pultdach)
1955: Zubau Klosettanlagen
1965: Dachgeschoßausbau + Gastzimmerausbau
I
07 08
05
03 04 06
09
02
01
01
10
11
07 12
04 13
11
11
11
14
11
11
07
12
11
11
11
II
Umgang mit dem Bestand
Die Entscheidung, das bestehende Gebäude nicht um den weiteren Zu- bzw. Neubau eines
Nebengebäudes (was keinesfalls dem gestellten Anspruch gerecht werden würde) zu
erweitern, sondern, im Gegenteil, die Adaptierung und Rückführung auf die ursprünglich
klare und regonaltypische Struktur und Dimension des Hauses, bildet den Ausgangspunkt
sämtlicher Entwürfe.
Ziel ist es daher, sich innerhalb einer ursprünglicheren, „bereinigten“ Dimension des Gebäudes
zu bewegen und damit die wichtige Stellung des Einzelvolumens in seinem regionaltypischen
Ausmaß, seiner Proportion und Raumbildung zur umliegenden Landschaft
und Bebauung erneut klar zu definieren. Die Nutzungskombination von Vorderhaus als
Wohnteil und Hinterhaus mit entsprechender Komplementärnutzung gemäß dem verfeinerten
funktionellen Konzept eines traditionellen Einhofs, wo seit jeher Wohnen, Lagern
und Wirtschaften unter einem Dach vereint sind, unterstreicht diese Prämisse.
Als mögliche Nachnutzungen des Hinterhauses bzw. Wirtschaftsteils wurden die Funktionen
Wohnen, Kinderbetreuung, Architekturatelier, Bibliothek und eine Künstlerwerkstätte
angedacht. Es wird versucht, eine Gegenüberstellung zwischen den Extrembildern einer
maximal möglichen und verträglichen Nutzung einerseits, bis hin zu einer kleinräumlichen,
partiellen Nutzung andererseits und den verschiedenen dazwischenliegenden Nuancen
herzustellen.
Sorer-Gut Ostseite
Aufgrund der Unterschiedlichkeiten hinsichtlich der Nutzungsart (öffentlich – privat), der
Intensität der Nutzung (Fragen nach: Welche Nutzung erfordert wieviel Platz? – Wieviel
Volumen ist vorhanden und wieviel wird davon genutzt?), der Intensität im Umgang (Art
des Eingriffs – sensibel bis radikal, welche Materialien kommen zum Einsatz? Fassade,
Statik, …) und des räumlichen Umgangs (konventionell, verschiedene Ebenen, Raum im
Raum, partielle Nutzung, Einraum,…) spannen die gewählten Nachnutzungen einen breiten
funktionellen Bogen und können derart als Inspiration und Denkanstoß einer sinnvollen
Adaptierung für dieses und weitere Objekte dieser Art verstanden werden.
Das Aufgreifen und Bewahren der traditionellen Querflurhaustypologie und die Zuordnung
der einzelnen Raumfunktionen erfolgte nach intensiver Auseinandersetzung und Analyse
des Bestands. Die vorgegebene räumliche und statische Struktur wird weitestgehend
beibehalten und durch eine neu eingesetzte Trennmauer, welche die beiden Teile Vorderund
Hinterhaus klar definiert, ergänzt. Die zentrale Erschließung des Querflurs teilt das
Erdgeschoß vom südwestlich orientierten Wohn-/Essbereich und einer Funktionsspange
mit Garderobe, WC, Lager und Erschließung der Obergeschoße. Im ersten Obergeschoß
befindet sich das Elternschlafzimmer mit zugeordnetem Sanitärbereich und einem großzügigen
Wohnbereich. Die Wohnfläche von 216.80 m² wird im zweiten Obergeschoß mit
einem Sauna- und Wellnessbereich, zwei Kinderzimmern und einem gemeinsam genutzten
Sanitärbereich abgerundet. Eine neu eingeführte Ebene ermöglicht die Nutzung des sogenannten
Spitzbodens, wobei diese als Schlafebene der Kinderzimmer angedacht wird.
Eine Variante im Erdgeschoß, in der die neue Trennwand zwischen Vorder- und Hinterhaus
gegen Westen verschoben wurde und sich somit ein zusätzlicher Schlafraum im Vorderhaus
ergibt, wurde als Szenario einer behindertengerechten Alterswohnung (WC und Garderobe
werden zu einem gemeinsamen Bad umgebaut) im Vorderhaus angedacht.
Grundrisse
Ansichten
Schnitte
Modellfotos
DORFLADEN
KINDERGARTEN
52 53
Anwendungsstudie
Wohnhaus mit weiteren Wohneinheiten
67
%
m2
Geschoßdecken
%
Nutzungsart
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen [m3]
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [m3]
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
Fläche Erdgeschoss [m2]
Fläche 1.Obergeschoss [m2]
Fläche 2. Obergeschoss [m2]
Nutzungsart
Fläche Spitzboden [m2]
Gesamt zur Verfügung stehendes Vo
davon beanspruchtes beheiztes Volu
räumlicher Umgang
daraus abgeleitete Nutzungsintensit
Intensität im Umgang [Stufen 1-5]
Fläche Erdgeschoss konventionelle
[m2]
Fläche 1.Obergeschoss [m2]
Fläche 2. Obergeschoss [m2]
Fläche Spitzboden [m2]
54 55
67
Anwendungsstudie
m2
Die vorhandenen alten Steinmauern bilden die Grundstruktur einer möglichen, rein privaten
Geschoßdecken
Nachnutzung in Form zweier Wohnungen mit Garage. Leichte Zwischenwände teilen
das als Garage genutzte Erdgeschoß im Hinterhaus von Nebenräumen wie Lager, Technik
und Treppenhaus. Im ersten und zweiten Obergeschoß, räumlich konventionell durch
Geschoßdecken getrennt, befindet sich jeweils eine Wohnung, welcher ein großzügiger
gedeckter Freiraum, gleich dem eines traditionellen „Vorarlberger Schopfes“, vorgelagert
ist. Wohn- und Aufenthaltsräume orientieren sich nach Süden und Südosten, hin zu dem
vorgelagerten Freibereich; Schlafzimmer und zugeordnete Sanitärräume befinden sich in
den nördlichen Bereichen der Grundrisse.
Die angedachte Garage mit den zwei darüber gelagerten Wohnungen stellt die intensivste
und zugleich radikalste Form einer möglichen Nachnutzung dar – der Altbestand in Form
des ehemaligen Stalls mit darüber liegender Tenne ist, speziell im ersten und zweiten
Obergeschoß, durch den kompletten Ersatz der Außenhaut und Konstruktion nicht mehr
erleb- und spürbar.
Dennoch erinnert die aufgesetzte Holzkonstruktion an die ursprüngliche Funktion als Tenne,
im Speziellen bei geschlossener Position der außen vorgelagerten Holzschiebeläden und
dem im Inneren entstehenden Halbdunkel (gleich dem einer Tenne).
räumlicher Umgang
Intensität im Umgang [Stufen 1-5]
Nutzungsart
Wohnhaus mit weiteren Wohneinheiten
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen [m³]
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [m³]
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
Fläche Erdgeschoß [m²]
Fläche 1. Obergeschoß [m²]
Fläche 2. Obergeschoß [m²]
Fläche Spitzboden [m²]
980,00
873,80
89,2
67,40
93,80
81,40
13,60
Räumlicher Umgang
Intensität im Umgang [Stufen 1–5]
konventionelle Geschoßdecken
5
Nutzungsart
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen [m3]
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [m3]
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
Fläche Erdgeschoss [m2]
Fläche 1.Obergeschoss [m2]
Fläche 2. Obergeschoss [m2]
Fläche Spitzboden [m2]
räumlicher Umgang
Intensität im Umgang [Stufen 1-5]
konventionelle
Wohnen
980.0 m3
873.8 m3
89.2
67.4 m2
93.8 m2
81.4 m2
13.6
5
I
56 57
Anwendungsstudie
21 24
21
22
13
07
19
18 15 04
17
16 20
23
II
10 28 11
10
17 22
11
04
17 07
27
16
07
25
15
26
10 11
17
22
30 10 30
07
16
29 15
26
07
30 30
III
Wohnhaus mit Kinderbetreuung und Dorfladen
Nutzungsart
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen [m3]
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [m3]
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
Kinderbetreuun
84
Fläche Erdgeschoss [m2]
Fläche Obergeschoss [m2]
Nutzungsart
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen
räumlicher Umgang
partielle Nutz
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [
Intensität im Umgang [Stufen 1-5]
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
84
Im Erdgeschoß, in Struktur und Erschließung dem Nachnutzungsszenario des Wohnens
sehr ähnlich, befindet sich ein kleiner Dorfladen. Leichte Zwischenwände teilen den Verkaufsbereich,
Lager, Technik und das Treppenhaus einer Kinderbetreuungseinrichtung.
Eine nahezu die kompletten Abmessungen des Hinterhauses einnehmende, horizontal im
ersten Obergeschoß eingeschobene Box beherbergt die Räumlichkeiten der Kinderbetreuung
von zwei Tagesmüttern. Aufenthalts-, Spiel- und Lernräume orientieren sich süd- bis
südöstlich – Nebenräume, Sanitärbereich, Garderobe und ein ebenerdiger Ausgang in den
Garten (ehemalige Tenneneinfahrt) befinden sich im nördlichen Bereich. Eine Besonderheit
bietet sicherlich der im Dachraum gelegene, gedeckte Frei- und Spielraum, welcher eine
ganzjährige, witterungsunabhängige Nutzung gewährleistet.
Fläche Erdgeschoss [m2]
Fläche Obergeschoss [m2]
räumlicher Umgang
Intensität im Umgang [Stufen 1-5]
64 65
Anwendungsstudie
Die horizontal-partielle Nachnutzung in Form einer Kinderbetreuungseinrichtung nimmt
aufgrund der geforderten Mindestgröße und dem daraus resultierenden Raumprogramm
eine mittlere Intensität einer möglichen Nachnutzungsbeanspruchung ein. Der Altbestand
ist vor allem im gedeckten Spielraum im Dachraum stark erlebbar. Horizontale Faltschiebeelemente
(zur Verschattung und Abdunkelung), welche die Fassade der eingeschobenen
Holzbox bilden, erinnern bei geschlossenem Zustand wiederum sehr stark an die
ursprüngliche Funktion als Tenne.
Nutzungsart
Wohnhaus mit Kinderbetreuung und Dorfladen
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen [m³]
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [m³]
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
980,00
478,30
48,8
Fläche Erdgeschoß [m²]
Fläche 1. Obergeschoß [m²]
71,40
89,10
Räumlicher Umgang
Intensität im Umgang [Stufen 1–5]
partielle Nutzung horizontal
3
Nutzungsart
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen [m3]
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [m3]
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
Fläche Erdgeschoss [m2]
Fläche Obergeschoss [m2]
räumlicher Umgang
Intensität im Umgang [Stufen 1-5]
Kinderbetreuung & Dorfladen
980.0 m3
478.3 m3
48.8 %
71.4 m2
89.1 m2
partielle Nutzung horizontal
3
I
Anwendungsstudie
21 32
21
22
13
07
19
33
18 15 04
17
16
31
II
07
35 36
10
16
11
04 17
07
25
34
30 10 30
29
37
30 30
III
DORFLADEN
KINDERGARTEN
Wohnhaus mit Architekturatelier
Nutzungsart
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen [m3]
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [m3]
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
Ar
74 75
98
98
Anwendungsstudie
Im sehr offen strukturierten Erdgeschoß des von Osten her erschlossenenen Architekturateliers
befinden sich die „öffentlichen“ bzw. Aufenthaltsräume des Büros. Ein abtrennbarer
Besprechungsraum, eine Garderobe, ein WC, eine kleine Teeküche mit zugeordnetem Aufenthaltsraum
und ein Wartebereich mit Bibliothek bilden hierbei die einzelnen Funktionen.
Durch die zwischen WC und Bücherregal eingeschobene gerade Treppe gelangt man auf
die erste von insgesamt drei höhendifferenzierten Ebenen, wo sich die Arbeitsplätze der
Angestellten befinden. Das Atelier bietet auf der ersten und zweiten Ebene jeweils Platz für
zwei, auf der dritten Ebene, welche sich als Brücke von Ost nach West spannt, Platz für
drei bis vier Angestellte. Das Abrücken von der südlichen Bestandsmauer einerseits und
die Aufnahme der Flucht des Vorderhauses im Norden andererseits definieren die Breite des
Ateliers. Das Vorderhaus wird durch diese partielle, vertikale Nutzung des Hinterhauses,
sozusagen von Ost nach West, geradlinig vervollständigt – der nördlichste Teil der Tenne
bleibt als solcher erhalten. Die Präsenz des Altbestandes wird durch vorher genannte
Punkte und aufgrund der Tatsache, dass sämtliche Arbeitsebenen nicht unmittelbar an
die Außenwände anschließen, im gesamten Atelier sehr gut spürbar.
Es entsteht ein großer Einraum mit unterschiedlichen eingeschobenen Ebenen, welche
das Volumen des Hinterhauses partiell – vertikal – beansprucht, und somit eine mittlere
Nutzungsintensität verfolgt. Von außen betrachtet, erfährt das Hinterhaus eine teilweise
Erneuerung der Ostfassade. Die neue Funktion wird damit von außen her gut erkennbar,
ohne den Bestand jedoch zu sehr zu beanspruchen.
Fläche Erdgeschoss [m2]
Fläche Ebene 1 [m2]
Fläche Ebene 2 [m2] Nutzungsart
Fläche Ebene 3 [m2] Gesamt zur Verfügung stehendes Volum
davon beanspruchtes beheiztes Volume
räumlicher Umgang daraus abgeleitete Nutzungsintensität partielle ver [%
Intensität im Umgang [Stufen 1-5]
Fläche Erdgeschoss [m2]
Fläche Ebene 1 [m2]
Fläche Ebene 2 [m2]
Fläche Ebene 3 [m2]
räumlicher Umgang
Intensität im Umgang [Stufen 1-5]
Nutzungsart
Wohnhaus mit Architekturatelier
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen [m³]
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [m³]
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
980,00
481,10
59,3
Fläche Erdgeschoß [m²]
Fläche Ebene 1 [m²]
Fläche Ebene 2 [m²]
Fläche Ebene 3 [m²]
61,90
21,00
25,20
25,60
Räumlicher Umgang
Intensität im Umgang [Stufen 1–5]
partielle Nutzung Splitlevel
3
Nutzungsart
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen [m3]
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [m3]
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
Fläche Erdgeschoss [m2]
Fläche Ebene 1 [m2]
Fläche Ebene 2 [m2]
Fläche Ebene 3 [m2]
Architekturatelier
980.0 m3
581.1 m3
59.3 %
61.9 m2
21.0 m2
25.2 m2
25.6 m2
räumlicher Umgang
Intensität im Umgang [Stufen 1-5]
partielle Nutzung vertikal; Splitlevel
3
I
76 77
Anwendungsstudie
21 42
21
38
13
07
19
16
18 15 04
17
17
07
41
16
40
39
II
45
10
44
11
04 17
07
25
43
30 10 30
29
46
30 30
III
Wohnhaus mit Bibliothek
84 85
112
112
Anwendungsstudie
Das Besondere an diesem Entwurf ist sicherlich die Regalkonstruktion für die Bücher,
welche gleichzeitig, außen mit einer wärmedämmenden Stegplattenkonstruktion versehen,
die tragenden Außenwände bildet. Im großzügig öffenbaren Erdgeschoß befindet sich
ein Verkaufsraum mit Verkaufspult, ein Sanitärbereich, welcher westlich zur Trennmauer
zwischen Vorder- und Hinterhaus anschließt, die Erschließung des ersten Obergeschoßes
sowie Lagerflächen. Auch eine zeitweise Umfunktionierung für Vortragsabende bzw. kleinere
Filmvorführungen ist hier angedacht. Das erste Obergeschoß dient funktionell der reinen
Präsentation der Bücher, durch die großzügige Galerie ist jedoch ein starker räumlicher
Bezug zum Erdgeschoß gegeben. Das Abrücken von der südlichen Bestandsmauer ermöglicht
einerseits die natürliche Belichtung des Sanitärbereichs und andererseits verdeutlicht
diese Maßnahme das verfolgte räumliche Konzept einer losgelösten, eingeschobenen Box,
welche wiederum den starken Bezug zum Altbestand gewährleistet.
Die Tatsache, dass dieses zweigeschoßige Volumen einen eingeschobenen Raum im
vorhandenen Tennenvolumen darstellt und so keinerlei statische Beanspruchung durch
Wind, Wetter und Witterung (Schnee- und Windlasten) auf die Konstruktion einwirken,
ermöglicht erst diese relativ filigrane Art der Konstruktion. Die Bibliothek stellt bei diesen
Überlegungen zwar eine relativ geringe Beanspruchung des vorhandenen Volumens dar,
jedoch lassen die „unkonventionelle“ Fassade (Stegplatten), welche als Neuinterpretation
der alten Holzverschalung angedacht ist, und die teilweise Sichtbarlegung der alten
Tragkonstruktion eine Neunutzung des Hinterhauses sehr stark erkennen.
Nutzungsart
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen [m3]
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [m3]
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
Fläche Erdgeschoss [m2]
Fläche Obergeschoss [m2]
Nutzungsart
räumlicher Umgang Gesamt zur Verfügung stehendes Volum
Intensität im Umgang davon [Stufen beanspruchtes 1-5] beheiztes Volume
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%
Fläche Erdgeschoss [m2]
Fläche Obergeschoss [m2]
räumlicher Umgang
Intensität im Umgang [Stufen 1-5]
Nutzungsart
Wohnhaus mit Bibliothek
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen [m³]
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [m³]
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
980,00
381,30
38,9
Fläche Erdgeschoß [m²]
Fläche Obergeschoß [m²]
60,70
47,50
Räumlicher Umgang
Intensität im Umgang [Stufen 1–5]
Raum im Raum
2
Nutzungsart
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen [m3]
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [m3]
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
Fläche Erdgeschoss [m2]
Fläche Obergeschoss [m2]
räumlicher Umgang
Intensität im Umgang [Stufen 1-5]
I
86 87
Anwendungsstudie
19 47
21
13
48
07
17
18 15 04
17
16
45
10
II
11
04 17
48
07
25
30 10 30
29
30 30
III
Wohnhaus mit Künstlerwerkstatt
Nutzungsart
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen [m3]
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [m3]
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
Küns
126
Fläche Erdgeschoss [m2]
Fläche Box Schlafen [m2]
Nutzungsart
Fläche Box Wohnen [m2]
Gesamt zur Verfügung stehendes Volume
Fläche Terrasse / Wohnerweiterung [m2]
davon beanspruchtes beheiztes Volumen
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%
räumlicher Umgang
schwebende Boxen
Intensität im Umgang [Stufen 1-5]
Fläche Erdgeschoss [m2]
Fläche Box Schlafen [m2]
Fläche Box Wohnen [m2]
Fläche Terrasse / Wohnerweiterung [m2]
126
Das sehr offen strukturierte Erdgeschoß beherbergt den großen Arbeitsraum des Künstlers
sowie Lager und Technikräume. Zarte Stützen, die eine der beiden darüber schwebenden
Boxen tragen, definieren im Erdgeschoß einen Raum, welcher die angedachte winterliche
Benützung der Werkstätte ermöglichen sollte, wobei leichte, einhängbare Elemente die
thermische Abtrennung bewerkstelligen. Die großen, an alte Tennentüren angelehnten
Schiebeelemente im Eingangsbereich ermöglichen einerseits die nötige Belichtung der
Werkstätte und signalisieren andererseits über den geschlossenen bzw. geöffneten Zustand
die Ab- bzw. Anwesenheit des Künstlers. Über die am Bestandsmauerwerk angebrachte
Treppe gelangt man auf die erste Ebene, wo sich die sogenannte Schlafbox (Schlafen,
Lager, Sanitär) befindet. Einige Stufen weiter erreicht man die Terrassenebene, welche
die räumliche Erweiterung zur sogenannten Wohnbox mit kleiner Küche und Wohnbereich
bildet und über ein großes Schiebeelement gegen Süden großzügig geöffnet werden kann.
räumlicher Umgang
Intensität im Umgang [Stufen 1-5]
94 95
Anwendungsstudie
Der räumliche Entwurf des Nachnutzungsszenarios Künstlerwerkstatt samt kleiner Wohneinheit
mit zwei „schwebenden Boxen“ innerhalb des Volumens und den sehr subtilen
Eingriffen stellt bei meinen Überlegungen das den Bestand am geringsten beanspruchende
Konzept dar. Der gesamte Tennenraum bleibt als großer, wahrnehmbarer Einraum vorhanden.
Nutzungsart
Wohnhaus mit Künstlerwerkstatt
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen [m³]
980,00
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [m³]
111,40
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
11,4
Fläche Erdgeschoß [m²]
Fläche Box Schlafen [m²]
Fläche Box Wohnen [m²]
Fläche Terrasse/Wohnerweiterung [m²]
74,40
14,60
17,50
16,30
Räumlicher Umgang
Intensität im Umgang [Stufen 1–5]
schwebende Boxen im Einraum
1
Nutzungsart
Gesamt zur Verfügung stehendes Volumen [m3]
davon beanspruchtes beheiztes Volumen [m3]
daraus abgeleitete Nutzungsintensität [%]
Fläche Erdgeschoss [m2]
Fläche Box Schlafen [m2]
Fläche Box Wohnen [m2]
Fläche Terrasse / Wohnerweiterung [m2]
räumlicher Umgang
Intensität im Umgang [Stufen 1-5]
Künstlerwerkstatt
980.0 m3
111.4 m3
11.4 %
74.4 m2
14.6 m2
17.5 m2
16.3 m2
schwebende Boxen im Einraum
1
I
96 97
Anwendungsstudie
21
21
13
50
07
19
51
18 15 04
17
16
49
45
10
10
28 45
17
11
11
04
07
25
52 15
II
30 10 30
29
30 30
III
Ausblick
Bauen im Bestand bedeutet unweigerlich eine intensive Auseinandersetzung mit der vorgefunden
Situation:
Das Verständnis für den Kontext – typologische Aufnahme, Examinieren von Material,
Konstruktion und Raum, Analyse vorhandener Strukturen und Proportionen – und das
Hinterfragen sozialer Hintergründe sowie das „Herausschälen“ des „wahren Kerns“ des
Gebäudes, ohne sämtliche „Vorgaben“ des Hauses zu zerstören bzw. zu ignorieren, bilden
den Ausgangspunkt dieser Studie. Was ist an Substanz vorhanden? Welche Bedeutung
hat diese für das Objekt und in weiterer Folge für den Ort? Wie viel Veränderung verträgt
das Haus, ohne ein Ungleichmaß, dafür aber vielmehr ein spannungsvolles Nebeneinander
zwischen Altem und Neuem entstehen zu lassen?
Der Anspruch bestand darin, eine Art Beispielsammlung exemplarischer Nutzungsmöglichkeiten
vorzulegen, welche Inspiration und Denkanstoß für dieses und weitere Objekte dieser
Art liefern soll. Die rein private Nutzung des zu Wohnungen ausgebauten Hinterhauses,
die Belebung und Einbindung des öffentlichen Lebens in Form der Kinderbetreuung und
des Dorfladens, das Architekturatelier als Szenario „Arbeiten und Wohnen unter einem
Dach“, die privat bzw. öffentlich getragene Bibliothek und die temporäre Nutzung als
Künstlerwerkstätte mit kleiner Wohneinheit versuchen, den unterschiedlichen Ansprüchen
hinsichtlich Nutzungsart und -intensität, Intensität im Umgang mit der vorhandenen Substanz
und den unterschiedlichen „räumlichen Situationen“ gerecht zu werden. All diese
Szenarien – öffentliche oder private Nutzung, stark oder wenig frequentiert – können im
Bestand realisiert werden, ohne das Verhältnis zwischen Alt und Neu in ein Ungleichgewicht
zu rücken.
Durch fortschreitende technologische Entwicklungen wird es immer öfter möglich, sich
auch beruflich auf dem Land niederzulassen, ohne Einbußen hinsichtlich Anbindung,
sozialem Austausch und beruflicher Integrität hinnehmen zu müssen. Diese Synthese
zwischen Arbeiten und Wohnen und in weiterer Folge die Verlagerung des Arbeitsplatzes
vom Urbanen ins Rurale bringt unmittelbar eine Loslösung von der bis dato notwendigen
Mobilität mit sich, was eine neue Perspektive für viele Berufsgruppen herbeiführt und
deren „Rückkehr“ aufs Land ermöglicht.
Auf die westlichen Bundesländer Österreichs – Vorarlberg und Tirol – aber auch auf den
benachbarten Schweizer Kanton Graubünden, wo schon einige hervorragende Projekte
dieser Art umgesetzt wurden und so maßgeblich zu einer breit akzeptierten, unverwechselbar
landespezifischen Baukultur beigetragen wurde, sei hier abschließend nochmals
verwiesen. Erst ein von Beginn an fruchtbarer Austausch zwischen aufgeschlossenen
Bauherren, Planern und Architekten, einer innovativen Wirtschaft, gestützt durch „zukunftsorientierte“
finanzielle Landesförderungen, ermöglicht die Realisierung derartiger
Projekte, welche wesentlich zu einer sinnvollen Weiterentwicklung solch peripherer Regionen
in Form neuer Traditionen beitragen.
Die „rurale Kulturlandschaft“, ihre autochthonen Bauten und die sozialen Strukturen und
Bräuche der dort lebenden Bevölkerung prägen die heutige Wahrnehmung Österreichs
und sind meiner Ansicht nach nicht wegzudenken.
104 105
Realisierung
Realisierung
Das Bregenzerwälderhaus: Helmut Dietrich
Die Nachhaltigkeit eines Gebäudes wird heute primär an den Energiekennwerten gemessen.
Die graue Energie – jene Menge an Energie, die für die Herstellung der Baumaterialien,
die Errichtung und schlussendlich für Abbruch und Entsorgung benötigt wird
– bleibt meist unberücksichtigt. Betrachtet man den Energieaufwand für den gesamten
Lebenszyklus eines Bauwerks wird die Lebenserwartung zu einem wesentlichen Faktor
der Nachhaltigkeit.
Das Bregenzerwälder Bauernhaus ist ein gutes Beispiel für eine nachhaltige Haustypologie.
Die Häuser prägen auch heute noch das Siedlungsbild des Bregenzerwaldes, obwohl
seine funktionelle Grundlage, die Landwirtschaft seit mehr als 60 Jahren im Rückzug
begriffen ist. Dennoch stellt das Bregenzerwälderhaus eine gesuchte und begehrte
Wohnform dar. Die Nachfrage nach solchen Häusern, fast unabhängig vom Bauzustand
ist weit größer als das Marktangebot. Was macht diese Häuser für Menschen im 21. Jh.,
die meist weit entfernt von bäuerlicher Kultur und der Beschäftigung mit Landwirtschaft
sind, so attraktiv?
Die außergewöhnliche, funktionelle Konstruktion und ästhetischen Qualitäten der Bregenzerwälderhäuser
und ihre große Anpassungsfähigkeit an die sich wandelnden Bedürfnisse
und Nutzungen sind maßgebend für ihre Langlebigkeit. Der Einhof im Bregenzerwald
vereinte das Wohnen der bäuerlichen Großfamilie mit den Notwendigkeiten des
Wirtschaftens, der Stalltierhaltung, der Lagerung des Futters und der Ernte sowie der
Gerätschaften. Die verschiedenartigen Nutzungen wurden zu einer präzisen Großform
gefügt. Die Klarheit der langgestreckten, meist zweigeschossigen Häuser unter einem
längsgerichteten Satteldach mit knappen Dachüberständen prägt die Kulturlandschaft
und stellt als Hauslandschaft einen Wert für sich dar.
Über Jahrhunderte wurde das Funktionsthema des Bregenzerwälderhauses den Entwicklungen
und Möglichkeiten angepasst und verfeinert. Die letzten Häuser wurden in den
50er Jahren des 20. Jh. nach dieser Typologie gebaut. Die Anpassungsfähigkeit der
Bregenzerwälderhäuser ist wesentlicher Bestandteil ihrer Langlebigkeit. Die differenzierte
Holzkonstruktion – der Wohnteil und der Stall waren in Holzstrickbauweise errichtet,
Umbau am Bregenzerwälderhaus,
Dietrich I Untertrifaller Architekten
Dachstuhl und Wirtschaftsteil in Holzskelettbauweise – erleichterte die Adaptionen an
veränderte Bedürfnisse.
Dem wesentlichen Nachteil des Bregenzerwälderhauses, der geringen Raumhöhe der
Wohnräume, wurde oft mit dem Einschieben eines zusätzlichen Balkens begegnet. Die
flachen Legeschindeldächer wurden nach Verfügbarkeit des industriell gefertigten Stahlnagels
durch steilere raumschaffende Dächer ersetzt. Diese Adaptionen waren im Holzbau
relativ leicht möglich. Neben den Entwicklungen in der Landwirtschaft mussten viele
der Häuser im Laufe der Zeit anderen Formen des Wirtschaftens angepasst werden.
Handwerker bauten ihre Werkstätten im Wirtschaftsteil ein, Sticklokale für die einträglichere
Lohnstickerei fanden Ende des 19. Jh. ihren Raum, und in den 1950er Jahren
begann mit dem Aufblühen des Tourismus im Bregenzerwald und dem Rückgang der Kinderzahl
in den Familien, die Adaption der Bauernhäuser zu Beherbergungsbetrieben. Die
Verbindlichkeit der Typologie und die klare Organisation der Häuser hat die Entwicklung
von Anpassungsstrategien ermöglicht, die ebenso wie der Haustyp selbst wiederholt,
verbessert und weiter entwickelt werden konnten.
Mit den gesteigerten Ansprüchen an das individuelle Wohnen sind in den letzten Jahrzehnten
zahlreiche Umbauten und Sanierungen von Bregenzerwälderhäusern entstanden,
die veranschaulichen, welches Potenzial für zeitgenössisches Wohnen diesen Bauten
bei verhältnismäßig geringen Eingriffen innewohnt. Die jahrzehntelang als nutzlos
eingestuften Wirtschaftsgebäude, der nicht mehr gebrauchte Stall, wurde als wertvolle
Raumreserve entdeckt. Vom unbeheizten Sport- und Freizeitraum bis zum kleinen Museum,
von der Loftwohnung bis zum Atelier, finden Nutzungen in diesen meist stützenfreien
bis in den Dachraum offenen Volumen neuen Platz.
Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Langlebigkeit von Gebäuden ist deren architektonische
Qualität, ihre Fähigkeit ästhetische und atmosphärische Bedürfnisse zu erfüllen und
ihre Anmut auch über einen langen Zeitraum zu bewahren. Den ästhetischen Aspekt, der
für den Erhalt von Gebäuden meines Erachtens der wichtigste ist, erfüllt das Bregenzerwälderhaus
besonders eindrücklich.
Nach der gescheiterten Suche nach neuen Bauformen für den ländlichen und alpinen
Raum in den 1950er bis 1970er Jahren, in denen eine Abwendung von der bäuerlichen
Herkunft im Vordergrund stand, hat eine „Neue Tradition“, wie es Arch. Ernst Hiesmayr
formuliert, Fuß gefasst. Das Bregenzerwälderhaus ist nicht nur ein langlebiges anpassungsfähiges
Haus, das bauökologisch hochwertig erstellt und energieeffizient betrieben
werden kann, seine baukulturelle Bedeutung hat starken Einfluss auf das zeitgenössische
Bauen im Bregenzerwald, auf das Entstehen einer neuen zeitgemäßen Typologie.
106 107
Realisierung
Kirchberger Haus, Dietrich I Untertrifaller
Das ehemalige Dorfwirtshaus ist Teil des alten Ortskerns von Wolfurt auf den die Westfront
der Kirche von erhöhter Position hinunter blickt. Nach einer längeren Phase von
Niedergang und Zerfall brachte ein integrales Revitalisierungskonzept eine Wende. So
auch für das nicht unattraktive, alte Rheintalhaus. Allerdings musste der Wirschaftsteil
vollkommen ersetzt werden. Das neue Nutzungskonzept sah im gemauerten Erdgeschoss
des Altbestands eine Bar vor, daneben, in der Holzkonstruktion des erneuerten Wirtschaftsteils,
entwickelt sich ein Laden mit halbgeschoßig versetzten Ebenen über zwei
Stockwerke. Eine großzügige Diele mit einläufiger Stiege teilt in den Obergeschossen den
Grundriss. Die niedrigen Räume der Altsubstanz entsprechen mit ihren langen Bänken
entlang den Fensterwänden typologisch gesehen klassischen Bauernstuben, doch ist die
Materialisierung in kostensparenden Holzwerkstoffen in der Anmutung zeitgenössisch.
Der kleine Saal im zweiten Obergeschoss dient gesellschaftlichen Anlässen für größere
Gruppen. Mit dem Lift können auch Alte und Mütter mit Kinderwagen in alle Geschosse
des Sozialzentrums gelangen, sei dies zur Beratung oder zum „Altersnachmittag“. Im
Dachgeschoss sind drei Notwohnungen untergebracht. Äußerlich wirkt das Haus mit
erneuertem Schindelschirm und vertikaler Deckleistenschalung konventionell-vertraut.
Ein hohes Fenster mit Schiebepaneel sowie die schwenkbaren, scheunentorgroßen Flügel
zum verglasten Ladeneingang bilden den zurückhaltenden Hinweis auf die erfolgte Nutzungsänderung.
Dagegen ist das Oberlicht, das den Absatz in der Stirnwand zum Nachbarhaus
nützt, eine subtile Uminterpretation der von den Schutzbestimmungen festgelegten
äußeren volumetrischen Konfiguration. Damit wird das Element des Zufälligen, wie
es Häuser mit komplexer Baugeschichte Kennzeichnet, für eine zeitgenössische Au sage
genützt, die dem ansonsten karg instrumentierten Innenraum einen wichtigen Impuls verleiht.
Im Kontext des alten Ortskerns bildet das Kirchberger-Haus einen Angelpunkt, der
die Distanz zu den bescheideneren Nachbarhäusern jedoch nicht überbetont. 45
Saniertes Rheintalhaus mit erneuertem
Wirtschaftsteil
45: Walter Zschokke, 2008
Angelika Kauffmann Museum, Dietrich I Untertrifaller
Das Tennentor lässt nur im offenen
Zustand den Umbau des Hauses erahnen.
46: Walter Zschokke, 2008
Am ansteigenden Hang westlich des Dorfkerns befinden sich zwei kleine Museen in einem
historischen und sorgfältig gepflegten Wälderhaus. Der ehemalige Wohnteil dient als
Heimatmuseum und weist den typischen, laubenartigen Vorraum auf, den die Bregenzerwälder
„Schopf“ nennen, der, ungeheizt, mit von der Decke herunterklappbaren Läden
oder Fenstern gegen Wind und Wetter abschließbar ist.
Das neue Angelika Kauffmann Museum füllt den früheren Wirtschaftstrakt und wird über
dessen Tenne betreten. Eine breite Schiebewand lässt sich beiseite schieben, und das
Haus ist geöffnet. Das bis unters Dach hinaufreichende Foyer liegt hinter einer breiten
Glaswand, als ob das Tor zur Tenne offen stehen würde. Dagegen sind die Türen, der zu
öffnende Teil, massiv in Holz gehalten und geschlossen. Das frische Blassgelb des Weißtannenholzes
von Wänden und Möbeln kontrastiert mit der altersdunklen Blockwand des
Wohnteils, die unverkleidet blieb. Neue Träger sind zum Abfangen der Dachlasten erforderlich
und bestehen zur Unterscheidung vom alten Zimmermannswerk aus Stahlprofilen.
Der Boden, sägeraue Tannenbretter, begeht sich sanft wie ein Teppich. Er zieht sich in
den Ausstellungssaal hinein, dessen Seitenwände in drei flache Nischen gegliedert sind,
unterteilt von schmalen, verglasten Zwischenräumen, in denen die Stahlprofilböcke zu
sehen sind, die die Dachlasten der alten Holzbinder abfangen. Verschlüsselt wird damit
an die Struktur der alten Hülle erinnert, in die die neue, deutlich aus einzelnen Teilen
gefügte, hineingebaut wurde. Die flache Decke und die Nischenelemente sollen nicht
raumschließend wirken, auch wenn eine klimatische Trennung besteht. Hier wurde jedoch
nicht ein „Haus im Haus“ gebaut - ein beliebtes Thema der Postmoderne. Vielmehr
definieren die raumbildenden Elemente zwar den Ausstellungssaal, lassen aber trotzdem
die Erinnerung an das schirmende, ehemalige Wirtschaftsgebäude zu, das mehr als die
Hälfte des früheren Bauernhofs ausmacht. Dieser architektonische Dialog ist anspruchsvoll,
schiebt sich jedoch nicht in den Vordergrund. Die Porträts der großartigen, aus
Schwarzenberg stammenden Künstlerin Angelika Kauffmann (1741-1807) kommen, mild
beleuchtet, vor den weißen Hängeflächen bestens zur Geltung. Kleine und große Welt,
Tradition und Innovation werden in diesem Bauwerk auf zurückhaltende Art und Weise
geschickt miteinander verknüpft. 46
108 109
Realisierung
Literaturverzeichnis
Alte Bauernhöfe in Österreich mit Südtirol | Frich, A.; Haberz, M.; Jerney, W.; Neuwirth,
H.; Pohler, A. | Augsburg 1997 | Steiger Verlag
Weiterbauen am Land - Verlust und Erhalt der bäuerlichen Kulturlandschaft in den
Alpen | Hölz,C.; Hauser,W. | Innsbruck 2011 | Studienverlag
Österreichisches Freilichtmuseum | Pöttler, V.H. | Stübing 1987 | Selbstverlag des österreichischen
Freilichtmuseums
Regeln für den, der in den Bergen baut | Loos, A. | 1913
Vom Objekt zum Raum zum Ort - Dimensionen der Architektur | Meiss, P. | Basel - Boston
- Berlin | 1994 | Birkhäuser
Vernakulare Moderne: Grenzüberschreitungen in der Architektur um 1900. Das Bauernhaus
und seine Aneignung | Aigner, A. | Bielefeld | 2010 | transcript Verlag
Artikel Mythos – Branchen – Branding | Adam H. | Deutsche Bauzeitung, Ausgabe 05/2007
Cul zuffel e láura dado – Gion A. Caminada | Schlorhaufer, B. | Luzern 2009 | Quart Verlag
Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite? | Achleitner F. | Basel – Boston – Berlin
1997 | Birkhäuser
110 111
Anhang
Impressum
Herausgeber: FH Kärnten, Studiengang Architektur
Villacherstraße 1, 9800 Spittal an der Drau, Österreich
spittal@fh-kaernten.at, www.fh-kaernten.at
Text: Hannes Sampl
weitere Textbeiträge: Adolph Stiller, Helmut Dietrich, Peter Nigst
sowie zwei Texte von Walter Zschokke (aus dem Archiv Dietrich | Untertrifaller)
Redaktion: Daniela Fößleitner, Hannes Sampl, Peter Nigst
Grafische Gestaltung und Aufbau: Daniela Fößleitner
Plangrafiken: Hannes Sampl
Lektorat: archimappublishers
Schrift und Papier: Helvetica auf Munken Pure
Druck und Bindung: Samon Druck Gesellschaft m.b.H, AUT
Foto- und Abbildungsrechte:
S.14 u. 15 | S.19 | S.22 | S.30 | S.31: Wirnsberger
S.20 | S.21 | S.23 | Modellfotos S.51-97: Wortmeyer
S.27u. | S.41 | S.42 li.u. | S.42 | S.49: Sampl
S.27o. |S. 34 u. 35: Fößleitner
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ISBN 978-3-940874-64-1
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