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DIE ZEITSCHRIFT
DER STRASSE
Das Bremer Straßenmagazin
Ausgabe 57
www.zeitschrift-der-strasse.de
2,50 EURO
1,30 € für den Verkäufer
SCHWEIZER
VIERTEL
JENSEITS DES
RAMPENLICHTS
90 MINUTEN
CHEF
LITTLE
POLAND
WAHRHEIT UND
SCHÖNSCHREIBEN
Wie die GSO aus
Ozan Keskin einen
Tubisten machte
Ein Versuch zu verstehen,
warum man
Schiedsrichter wird
Zwei Brüder bedienen
die Nachfrage nach
polnischen Würsten
Eine Schule, in der
sie in Klassenräten
Demokratie lernen
Besser als
EDITORIAL | 3
sein Ruf
Liebe Leserinnen
und Leser,
was haben sich die Planer wohl dabei gedacht, als sie dem damaligen Neubauviertel
im Bremer Osten so viele Schweizer Straßennamen verpassten? 25
sind es, wenn wir uns nicht verzählt haben. Aber warum nur? Die Gegend
ist flach wie sonst auch in der Norddeutschen Tiefeebene, und statt des Rufs
der Berge vernimmt man das Rauschen der Autobahn. Was den Wohlstand
angeht, ist das Quartier auch eher eine Anti-Schweiz: Jeder vierte Einwohner
bezieht Hartz IV, von den Kindern sogar jedes zweite.
Das Schweizer Viertel galt lang als sozialer Brennpunkt, nicht umsonst
hat es von der Stadt einen Quartiersmanager an die Seite gestellt bekommen.
Seither sind nicht alle Probleme verschwunden, aber wir haben bei unseren
Recherchen viele Menschen kennengelernt, die für ihr Viertel brennen
und es voranbringen wollen. Die Lehrerinnen und Lehrer an der Albert-Einstein-Oberschule
beispielsweise, die es schaffen, ihren Jugendlichen die Prinzipien
der Demokratie zu vermitteln, obwohl manche kaum auf liniertem Papier
schreiben können (Seite 20). Oder Christa Brämsmann, die in Tenever ein
Mütterzentrum aufgebaut hat, das Frauen fördert und mittlerweile 75 Angestellte
hat. (Seite 12). Mirko Eggers und Yannick Rath sorgen für Gerechtigkeit
auf Bremens Fußballplätzen – warum sie gern Schiedsrichter sind, erzählen
sie auf Seite 24. Wie aus Ozan Keskin, der mit drei Jahren aus der Türkei nach
Bremen gekommen war, ein Tubist wurde, ist eine längere Geschichte, aber
dafür eine großartige. Die Bremer Kammerphilharmoniker und die Gesamtschule
Bremen-Ost spielen darin eine tragende Rolle (Seite 8).
Viel Vergnügen beim Lesen wünschen
Philipp Jarke, Jan Zier
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße
Die Zeitschrift der Straße
Titelfoto: Wolfgang Everding
Foto Seite 2: Beate Köhler
ist das Bremer Straßenmagazin – ein gemeinsames Projekt von
Studierenden, JournalistInnen, sozial Engagierten, StreetworkerInnen,
HochschullehrerInnen und von Menschen,
die von Wohnungslosigkeit und Armut bedroht oder betroffen
sind. Herausgegeben wird sie vom Verein für Innere Mission in
Bremen. Die Zeitschrift der Straße wird auf der Straße verkauft,
die Hälfte des Verkaufserlöses geht an die VerkäuferInnen.
Jede Ausgabe widmet sich einem anderen Ort in Bremen und
erzählt Geschichten von der Straße.
Inhalt
08 Jenseits des Rampenlichts
Wie die Gesamtschule
Bremen-Ost aus Ozan Keskin
einen Tubisten machte
12 Mit Leib und Seele
Christa Brämsmann vom
Mütterzentrum Tenever:
ein Interview
14 Ein Tag im Café
Bildstrecke
20 Wahrheit und
Schönschreiben
Besuch in einer Oberschule,
wo sie in Klassenräten
Demokratie
lernen
BUCHSTABEN b e a r b e i t e n
BILDER p l a t z i e r e n
PAPIER v e r e d e l n
WERTIGKEIT v e r m i t t e l n
ACHTSAMKEIT e r z e u g e n
EXCELLENT d r u c k e n
28 Sandra und Angela
Sie lernten sich in der Notunterkunft
kennen und
wurden Freundinnen
31 Impressum & Vorschau
24 90 Minuten Chef
Ein Versuch zu verstehen,
warum man
Schiedsrichter wird
26 Little Poland
Ein Lebensmittelgeschäft
versorgt polnischstämmige
Bremer mit
Kulinarischem aus der
Heimat
Illustration: Söntke Campen musste
beim Namen „Schweizer Viertel“ direkt
an die knubbeligen Figuren aus den Heile-Welt-Wimmelbüchern
seiner Kindheit
denken.
DRUCKEREI AM BREMER KREUZ | BERLINDRUCK | 28832 ACHIM | WWW.BERLINDRUCK.DE
6 | zahlEN & Fakten
SCHWEIZER
1965
VIERTEL
Sozial gefördertes Stadtgebiet in den Ortsteilen
Ellenerbrok-Schevemoor und Tenever
2018
Recherche & Text: Philipp Jarke und Jan Zier
Fotos: Gisbert Borucki, LIS Zentrum für Medien (1965), Hartmuth Bendig (2018)
Zahl der Straßen, die den Namen einer Region
oder Stadt aus der Schweiz tragen: 25
Südliche Grenze des Schweizer Viertels: Osterholzer
Heerstraße
Westliche Grenze: Osterholzer Landstraße
Nördliche Grenze: Schevemoorer Landstraße
Östliche Grenze: Egestorffer Park
Zahl der Einwohner: ca. 8.000
Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund
insgesamt, in Prozent: über 50
Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund, in
Prozent: 70
Anteil von Menschen bis 18 Jahren an der Gesamtbevölkerung,
in Prozent: 18
Anteil der Menschen über 65 Jahren an der
Gesamtbevölkerung, in Prozent: 23
Anteil der Hartz-IV-Empfänger, in Prozent: 24,5
Anteil der Hartz-IV-Empfänger in Bremen,
in Prozent: 14
Anteil der Kinder im Schweizer Viertel, die in
Familien leben, die Hartz-IV-Leistungen beziehen,
in Prozent: 51
Anteil der Kinder in Bremen, die in Familien
leben, die Hartz-IV-Leistungen beziehen, in
Prozent: 39,7
Zahl der Mitglieder der Interessengemeinschaft
Schweizer Viertel: 50
Gesamtverkaufsfläche aller Einzelhändler im
Schweizer Viertel, in Quadratmetern: 6.815
Gesamtverkaufsfläche im nahe gelegenen Weserpark,
in Quadratmetern: 138.874
Größter Wohnungseigentümer im Schweizer
Viertel: Gewoba
Zahl der Gewoba-Wohnungen im Schweizer
Viertel: 2.000
Zahl der Wohnungen im Schweizer Viertel, die
dem Wohnungskonzern Vonovia gehören: 400
Zahl der Geschosse des höchsten Wohnhauses im
Schweizer Viertel: 18
Höhe des Gebäudes in Metern: 49,5
Baujahr des Gebäudes: 1970
Zahl der SchülerInnen an der Gesamtschule
Bremen-Ost im Jahr 2017: 1.275
Zahl der SchülerInnen an der Freien Waldorfschule
Bremen-Osterholz in der Graubündener Straße:
420
Größe des Schweizer Viertels, in Hektar: 246
Zahl der Kaugummiautomaten: mindestens 9
Wo sich heute die Weite des Bremer Ostens erstreckt,
im Stadtteil Ellenerbrok-Schevemoor, war
im Jahr 1900 alles noch recht dörflich. Südöstlich
der Dorfschaft Ellen hatte Bauer Maas gerade ein
paar Felder verkauft und es entstand das „St.-Jürgen-Asyl
für Geistes- und Nervenkranke“. Für
rund zwei Millionen Mark wurde hier, damals
noch außerhalb der Stadt, ein Krankenhaus mit
dreihundert Betten gebaut, aus dem später das Klinikum
Bremen-Ost (KBO) hervorging. Zu Zeiten
des Nationalsozialismus wurde dort zwischen Heilen
und Vernichten entschieden, und so war 1934
bereits die Hälfte der PatientInnen zwangssterilisiert.
Zwischen 1938 und 1944 wurden im Rahmen
der Euthanasie fast 1.000 Menschen von hier aus
deportiert, über 700 schließlich umgebracht. Als
1945 die Briten kamen, lebten dort noch 317 Leute.
Der Klinikleiter und SA-Obersturmbannführer
Werner Kaldewey wurde zwar umgehend verhaftetet,
durfte aber 1949 schon wieder als Nervenarzt
praktizieren.
Als 1956 die Stadt Bremen 38.000 Quadratmeter
Land an die staatliche Wohnungsbaugesellschaft
Gewoba übergeben wollte, als Bauland,
sträubte sich die Klinik – mit dem Hinweis, die
Flächen würden für die „notwendige Arbeitstherapie
der Kranken dringend benötigt“. Dabei hatte
die Klinik ihre eigene Landwirtschaft schon in
den Fünfzigerjahren weitgehend aufgegeben. 1971
genehmigte die Stadt dann das heute bekannte
Hochhaus des KBO mit 730 Betten. Der damalige
Klinikleiter sah in dem 1977 eröffneten Bau
die „Entindividualisierung des Menschen“ verwirklicht,
die Bremer SPD hingegen das Ende der
„Zweiklassengesellschaft in der medizinischen
Versorgung“ – es gab fast nur Zweibettzimmer und
keine Privatstationen.
Drumherum wurden in den Fünfzigerjahren
zunächst vor allem Ein- und Zweifamilienhäuser
gebaut. 1963 lebten in Osterholz 13.200 Menschen;
ein neuer Plan aus demselben Jahr sah indes eine
Verdreifachung der Bevölkerung vor, und so wurden
lauter Neubaugebiete geschaffen. Im Zuge dessen
baute die Gewoba im Schweizer Viertel 1.463
Wohnungen – meist in seinerzeit typischer, viergeschossiger
Zeilenbauweise, vereinzelt aber auch
achtgeschossige Hochhäuser. 1965 kam eine Schule
sowie eine Kita an der Graubündener Straße
hinzu, ferner eine Sparkassen-Filiale. 1968 wurde
der neue Stadtteil schließlich ans Straßenbahnnetz
angeschlossen: Seither fährt die Linie 1 auch
in die Züricher Straße. Pläne, stattdessen dort eine
U-Bahn zu bauen, ließ man genauso fallen wie die
Idee einer Unterpflasterbahn in der Innenstadt.
8 | Portrait
Jenseits des
Rampenlichts
Es ist dieser kleine Glücksmoment, der sich in mein Bewusstsein gebohrt hat.
Wie die Gesamtschule Bremen-Ost aus
Ozan Keskin einen Tubisten machte:
eine Geschichte über die Kraft der Musik
Text: Jan Zier
Fotos: Norbert Schmacke
Ohne die Tuba wäre das Leben des Ozan Keskin
wahrscheinlich ein anderes geworden. Ganz sicher
aber ohne die Gesamtschule Bremen-Ost (GSO).
Als er das erste Mal hier ankommt, in der Walliser
Straße, ist er noch ein Junge, der sich ab und
zu mal prügelt. Weil das cool ist. Weil das Ansehen
verschafft. Heute sagt er: „Ich würde nie die Hand
erheben.“ Dass Gewalt ein Zeichen von Schwäche
sei. Er ist 24, hat ein Einser-Abi und den Bachelor
als Maschinenbauer schon fast in der Tasche. Nebenbei
ist er selbstständig – als Personal Trainer,
als ausgebildeter Anlageberater. Und Musik macht
er auch immer noch. Es gibt nicht viele gute Tubisten
in Bremen. Ozan Keskin ist einer von ihnen.
Dabei wollte er genau das nie werden: ein Tubist.
Seine Mutter hat ihn damals in der Musikklasse
der GSO angemeldet, in der jeder Schüler
gleich ein Instrument lernt. Der Junge selbst will
ja lieber auf eine ganz andere Schule, der Freunde
wegen. Und als sie alle was aussuchen müssen,
möchte Ozan Saxophon spielen, oder Schlagzeug,
so wie die meisten. Falls das nicht klappt, soll es
mindestens ein Melodieinstrument sein, nicht nur
die Begleitung. Er hat keine rechte Ahnung, was
genau eine Tuba überhaupt ist, und die anderen
wohl auch nicht. Also bleibt sie übrig. „Ozan, das
kriegen wir hin“, sagt der Musiklehrer zu ihm, außerdem
ist er damals schon etwas größer und kräftiger
als die anderen. Trotzdem ist die Tuba, das
tiefste aller gängigen Blechblasinstrumente, noch
ungefähr halb so groß wie der Junge selbst. Noch
heute ist seine Tuba so riesig, dass er sie zu Hause
im Keller einsperrt, sobald er nicht auf ihr spielt.
Seine Schulnoten sind anfangs eher mäßig.
Und die ersten Erfahrungen mit der Musik – es geschah
auf einer Blockflöte – sind auch nicht gerade
vielversprechend. „Ach nee, hör auf!“, sagt er, wenn
man ihn danach fragt. Dennoch beschert ihm die
Musik in der siebten Klasse das, was er noch heute
„ein Schlüsselerlebnis“ nennt. 2007 zog die Deutsche
Kammerphilharmonie in die GSO ein, 2009
wurde die gigantische Stadtteiloper „Faust 2“ aufgeführt.
Als er, ein Jahr danach, die Bilder dieses
Ereignisses in der Schule hängen sieht, merkt er,
dass sich etwas ändern muss in seinem Leben:
„Damals habe ich begriffen, dass ich mein Leben
in die Hand nehmen muss.“ Er wird von Jahr zu
Jahr besser in der Schule, ehrgeiziger, und verlässt
die zehnte Klasse schließlich mit einer 1,1 im Zeugnis.
Nur in Englisch hat er noch eine zwei. Heute
lobt ihn seine Musiklehrerin als „zuverlässig, ruhig
und sehr engagiert“. Keskin sei einer, der auch
Biss habe – und eine „treue Seele“ sei er auch. Ruft
sie ihn an seine alte Schule, kommt er.
Als seine Familie Ende der Neunziger aus der
Türkei nach Bremen kommt, ist Ozan drei Jahre
alt. Die Keskins ziehen nach Tenever, in eines jener
Hochhäuser, die dem Viertel seinen Ruf als sozialer
Brennpunkt bescherten. „Die Leute haben sich
wegen Spielkarten abgestochen“, sagt Keskin. Sein
Vater kommt als Schneidermeister nach Deutschland,
die Mutter arbeitete lange als Produktionshelferin
am Fließband, heute hat sie zwei Jobs und
braucht trotzdem noch Geld vom Amt. „Scheiße“
sei das, sagt Keskin und dass sie natürlich Geld
von ihm bekomme. „Das ist so in unserer Kultur.“
Noch immer wohnt er am Rande des Schweizer
Viertels, zusammen mit seinem Bruder und seiner
Mutter. Zuhause wird Türkisch gesprochen. Seine
Eltern sind mittlerweile geschieden und haben
Die Musik bescherte Ozan Keskin in der 7. Klasse ein Schlüsselerlebnis.
wieder geheiratet, alle beide. Über zwanzig Jahre
leben sie nun schon hier, die Deutsch-Kenntnisse
seiner Mutter seien über die Jahre besser geworden,
unter anderem dank einer polnischen Kollegin.
„Da ist mein Papa nichts dagegen!“ Das mit
dem Deutschlernen habe sein Vater inzwischen
aufgegeben, erzählt Ozan Keskin, und lacht. Früher
musste er deswegen oft helfen, Bewerbungen
schreiben, auf Ämtern übersetzen, Sachen in die
Hand nehmen, der Familie wegen. „Sehr nervig“
war das, sagt er, „aber man wird schnell reif.“ Heute
sagen viele über ihn, er sei „mehr deutsch als
türkisch“, und wenn er in die Türkei fahre, dann
werde er auf Englisch angesprochen. „Ich habe
türkische Wurzeln, dazu stehe ich, aber ich fühle
mich in Deutschland heimisch.“
Portrait | 11
Was er denn so rappe, wird
Keskin oft gefragt, wenn er
erzählt, er mache Musik.
Und er schämt sich auch nicht dafür, aus dem
Bremer Osten zu kommen. Ganz im Gegenteil:
Als er noch zu Schulzeiten sein erstes Ensemble
gründet, nennt er es stolz „Tenever Brass“, auch
wenn manche der Mitspieler aus der Vahr oder aus
Sebaldsbrück kommen. Es ist ein Statement – er
wollte damit den verfemten Stadtteil „hochpushen“,
sagt er. Mit Erfolg: Bald gab es 300 Euro pro
Auftritt, Visitenkarten wurden gedruckt. Dabei
spielten sie eher Klassik. Nicht Pop. „Wir waren
eine richtig coole Truppe“, sagt Keskin: zwei Trompeter,
zwei Tubisten, ein Posaunist und ein Euphonist.
Nebenbei machte er sein Abitur. Mit 1,6.
Ja, da besteht ein Zusammenhang. Wenn es um
die Frage geht, wie viele SchülerInnen am Ende
ein Abitur schaffen, sagt Imke Howie, „dann sind
die Musikklassen immer ganz weit vorn“. Seit 2001
ist sie Musiklehrerin an der GSO und hat selbst
Statistik geführt. „Die Musikklassen lassen sich
besser unterrichten“, sagen ihr die KollegInnen.
Wissenschaftliche Studien belegen, dass Musik
die Kinder befähigt, ihre Umgebung besser zu verstehen,
sich besser zu konzentrieren und besser zu
kommunizieren. Vor allem dann, wenn sie selbst
singen oder ein Instrument spielen. Passives Zuhören
bringt nur wenig, sagen die Forscher. Kinder,
die ab dem sechsten Lebensjahr kontinuierlich
zwei Stunden Musikunterricht in der Woche haben,
dazu ein Instrument lernen und es in einem
Ensemble spielen, könnten nach drei Jahren ihre
Intelligenzleistungen und das räumliche Vorstellungsvermögen
verbessern, fand der mittlerweile
verstorbene Musikpädagoge Hans Günther Bastian
mal heraus, in einer Langzeitstudie mit
GrundschülerInnen. „Ich habe Selbstvertrauen
durch die Musik bekommen“, sagt Ozan Keskin,
„ich bin offener zu den Menschen.“
Trotzdem hat es der Musikunterricht hierzulande
schwer, erst recht, seit die PISA-Studien
die Bildungspolitik bestimmen. Es zählt die nachweisbare
Leistung und die ist in der Musik eben
nur schwer zu messen. „Die Öffentlichkeit ist auf
die sogenannten ‚harten‘ Fächer fixiert“, klagt der
Präsident des Bundesverbandes Musikunterricht,
Ortwin Nimczik: „Stellen Sie sich die Protestaktionen
der Eltern vor, wenn der Mathematikunterricht
im nächsten Halbjahr ausfällt oder vom
Geschichtslehrer erteilt werden soll. Fällt Musik
aus, bleibt es eher still.“ In Bremens Grundschulen
werden nach Angaben des Senates fast 70 Prozent
des Musikunterrichts fachfremd erteilt, also von
LehrerInnen, die keine musikalische Ausbildung
haben. An den Oberschulen sind es immer noch
20 Prozent. Und immer wieder gibt es Leute, die
fordern, den Musikunterricht zu kürzen – für vermeintlich
Wichtigeres. Es gebe ja Musikschulen,
heißt es dann, und schließlich seien Kinder, die
nicht singen könnten, kein gesellschaftliches Problem.
Unsportliche schon.
Ozan Keskin ist nicht unsportlich, aber als Innenverteidiger
im Fußball hat er mittlerweile aufgehört.
Tuba spielt er immer noch, trotz Studium,
trotz Bachelorarbeit, trotz der Nebenjobs. „Es ist
der Hammer, wie Musik die Leute verbindet“, sagt
Keskin. Im Schweizer Viertel leben rund 8.000
Menschen, mehr als die Hälfte von ihnen hat einen
Migrationshintergrund, überwiegend einen osteuropäischen
oder türkischen – bei den Kindern und
Jugendlichen ist der Anteil sogar noch höher. Ein
Viertel der Leute in diesem Quartier erhält Transferleistungen
vom Amt, bei den Kindern und Jugendlichen
ist der Anteil mehr als doppelt so hoch.
In den Musikklassen der GSO nehmen sie aber
jeden, sagt Imke Howie, es gibt keine Vorauswahl,
keine Auslese. Und wer sein Kind in einer Musikklasse
anmelden will, aber kein Geld hat, um den
verpflichtenden, zusätzlichen Instrumentalunterricht
an der Musikschule zu bezahlen, kann aus
dem sogenannten Bildungspaket gefördert werden,
sagt Howie: mit dem „Bremen-Pass“, der früher
„Blaue Karte“ hieß. In manchen Klassen würden
mehr als die Hälfte aller Kinder so unterstützt.
1.360 SchülerInnen hat die GSO, sie kommen
hauptsächlich aus Osterholz, Mahndorf, Oberneuland
und der Vahr. Jede Musikklasse hat 22 bis 25
SchülerInnen, die dann sechs Jahre lang als Klassenorchester
zusammenbleiben.
Den oft gehörten Einwand, man sei ja unmusikalisch,
lässt Howie nicht gelten. „Jeder würde das
schaffen“, sagt sie selbstbewusst, im Zweifelsfall
wird es dann eben ein Keyboard. Eine Tuba, wie
Keskin sie spielt, sei eher schwer zu vermitteln, sie
ist, wenn überhaupt, eher zweite oder dritte Wahl.
Aber: „Blechbläser ist Blechbläser“, sagt Howie,
etwas streng, und da müsse es eben auch einen
Tubisten geben. Und der sei, Begleitinstrument
hin oder her, „sehr wichtig“ in so einem Ensemble,
sagt Keskin. „Wenn der nicht im Takt bleibt, kann
das ganze Orchester auseinanderfliegen.“
Der Tubist weiß das aber zu verhindern, als er
im Februar dieses Jahres bei der 20. Auflage von
„Melodien des Lebens“ auf die Bühne seiner alten
Schule zurückkehrt, zusammen mit der Deutschen
Kammerphilharmonie, „einem der weltbesten Orchester“,
wie die Schuldirektor Hans-Martin Utz
sagt. Die GSO hat es an diesem Tage unter die Top
20 aller deutschen Schulen geschafft – sie hat sich
für den Deutschen Schulpreis beworben.
Keskin hat für diesen Auftritt nur zweimal geübt,
und bei der Generalprobe war er auch nicht
dabei. Er spielt in der Bigband der GSO, „Thriller“
von Michael Jackson etwa, ein Stück von Amy
Winehouse oder einen Ausschnitt aus Bernsteins
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Volles Engagement für Bremens Zukunft
Die Förderung von Kindern und Jugendlichen liegt uns seit jeher am Herzen. Gemeinsam mit
starken Partnern engagieren wir uns für Bildungs-, Sport-, Kultur- und Umwelt projekte, von denen
junge Bremerinnen und Bremer profitieren. Sie sind die Zukunft unserer Stadt.
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Stark. Fair. Hanseatisch.
„West Side Story“. Im dunklen Anzug und mit
Fliege sitzt er da, ganz hinten, vor sich den ausverkauften
Konzertsaal der GSO; auch die Bildungssenatorin
ist an diesem Abend gekommen. „Was
rappst du denn“ wird Keskin oft gefragt, wenn er
erzählt, dass er Musik macht. Immer wieder muss
er dann sein Smartphone zücken, mit Beweisfotos
seiner Tuba. Weil sie ihm sonst nicht glauben. Ozan
Keskin steht nicht im Rampenlicht an diesem
Abend, der unter der Leitung des Komponisten
Mark Scheibe viele Debüts und erste Auftritte junger
SchülerInnen erlebt, stets mit der Deutschen
Kammerphilharmonie im Rücken, immer von viel
Applaus gekrönt. Der Mann in der letzten Reihe ist
dabei einfach ein perfekter Bestandteil des großen,
harmonischen Ensembles. Aber manchmal geht
es ja genau darum: In einem großen Ganzen aufzugehen.
Damit daraus, für eine Weile, mehr wird
als die Summe der einzelnen Teile.
Jan Zier musste in der 5. Klasse
eines bayerischen Gymnasiums das
Blockflötenspiel lernen. Trotz dieser
eher traumatischen Erfahrung
spielt er heute leidlich Saxophon.
Norbert Schmacke war begeistert
von den „Melodien des Lebens“ in
der GSO: Das sollte Schule machen.
191-529-17_wir-fuer-kinder_az_150x101.indd 1 08.11.17 12:47
Interview: Jördis Früchtenicht
Foto: Lena Möhler
Mit Leib
und Seele
Seit bald 30 Jahren engagiert sich Christa
Frau Brämsmann, was macht Ihre Arbeit aus?
Ich habe hier Begegnungen mit Menschen unterschiedlicher
Kulturen, hauptsächlich Frauen,
die mich akzeptieren und die ich akzeptiere. Wir
versuchen gemeinsam, ein gutes Miteinander zu
schaffen. Das Mütterzentrum ist eine große Familie.
Hochhäuser sind sehr anonym – die Menschen,
die dort leben, jedoch nicht.
Wie sind Sie denn zum Mütterzentrum gekommen?
Ich bin Erzieherin mit Leib und Seele. Ich
wollte aber noch eine andere Sichtweise bekommen
und habe dann Sozialpädagogik studiert. Als
ich anschließend im Haus der Familie Tenever
Kindergruppen betreute, entstand die Idee, ein
Mütterzentrum zu gründen. Was ich ganz wichtig
fand: Es ging um Frauen von hier: Frauen aus Tenever,
Mütter aus Tenever. Ich habe die ersten Anträge
mitgeschrieben, das war um 1989, dann bin
ich dabeigeblieben.
Wie lief diese erste Zeit ab? Thema war hier
immer, dass die Frauen kein eigenes Geld haben.
Also haben wir schnell Beschäftigungen für Frauen
geschaffen. Als Nächstes haben wir geschaut,
welche Rahmenbedingungen gegeben sein müssen:
Wenn Frauen arbeiten wollen, müssen die
Kinder gut versorgt werden. So hat das Mütterzentrum
mehrere Säulen bekommen – neben Kinderbetreuung
und Beschäftigungsmaßnahmen für
die Frauen auch Beratungsangebote, vor allem zur
beruflichen Orientierung.
Wie hat sich das Mütterzentrum entwickelt?
Es ist gewachsen. Zu Beginn musste ich um jede
ABM-Stelle kämpfen. Inzwischen sind hier 75
Frauen und Männer beschäftigt, 63 davon über
arbeitspolitische Maßnahmen. Wir werden über
mehrere Fördertöpfe unterstützt. Das macht die
Arbeit nicht leichter, denn jede Maßnahme ist mit
eigenen Auflagen und Abrechnungen verbunden.
Ihr Zentrum gibt 75 Menschen die Chance, einer
sinnvollen Beschäftigung nachzugehen. Das ist
doch ein toller Erfolg! Sicher. Aber wir haben zum
Beispiel eine Angestellte, die jeden Tag zur Arbeit
kommt. Sie erhält die Fahrkarte und den Mindestlohn
und freut sich auch darüber – ich würde mich
aber freuen, wenn ich sie richtig bezahlen könnte.
Wenn ich mir deren Rente anschaue, dann krieg
ich die Krise. Letztendlich kommen viele Frauen
aus der Grundsicherung nicht mehr heraus.
Deutschland ist ja kein armer Staat. Ich finde, da
müsste es eine andere soziale Gerechtigkeit geben.
Was für Themen begegnen Ihnen im Umgang
mit den Frauen? Ein Schwerpunkt ist Gewalt
gegen Frauen. Wir sprechen allgemein über das
Thema, aber es gibt unter den Frauen, die unsere
Angebote wahrnehmen, auch Betroffene. Wir hatten
eine Frau, die sich von ihrem Mann trennen
wollte, was in bestimmten Kulturen schwierig ist.
Wir vom Mütterzentrum haben diese Frau weiterhin
begleitet und betreut. Außerdem haben wir die
Polizei eingeschaltet: Stalking war ein Thema. Zusätzlich
haben wir die Polizei und den Flüchtlingsrat
ins Erzählcafé eingeladen, um über Gewalt gegen
Frauen zu sprechen. Die betroffene Frau hat so
mitbekommen, dass es nicht in Ordnung ist, wenn
sie jemand schlägt, und dass sie nicht allein ist.
Was ist hier anders als vor 30 Jahren? Durch
die Beschäftigungsmaßnahmen arbeiten hier
mehr Frauen aus unterschiedlichen Kulturen –
unter anderem aus den Philippinen, Indien, Iran,
Thailand, Polen, Russland, Kasachstan, Ghana,
Nigeria. Und wir haben insgesamt mehr Projekte
als früher. Doch auch die Bürokratie wird immer
mehr. Manchmal habe ich das Gefühl, es gibt nur
noch Leute, die prüfen wollen, und keine mehr, die
an der Basis arbeiten wollen. Wenn alle weg sind,
sitze ich hier oft noch und schreibe Anträge. Abrechnung
und Abwicklung sind einfach furchtbar.
Ich merke zudem – und das hat mit meinem Alter
und meiner Erfahrung zu tun –, dass ich nicht
mehr bereit bin, über manche Themen zu diskutieren:
dass Frauen mehr verdienen müssen oder
dass flexible Kinderbetreuung nötig ist. Das ist
doch nicht erst seit gestern Thema! Da merke ich,
dass es Zeit wird zu gehen. Ich bin genervt.
Sie denken also ans Aufhören? Ja und nein.
Wir machen jetzt noch mal ein Projekt, zu dem
ich ein, zwei neue Sozialpädagoginnen hinzuholen
möchte. Die möchte ich so einarbeiten, dass
ich mich anschließend zurückziehen kann. Die
Arbeit als Geschäftsführerin ist anstrengend –
mal kommt kein Geld und man ist kurz davor, die
Gehälter nicht zahlen zu können. Dann kommt
das Geld doch noch und alles ist wunderbar. Doch
die Nerven liegen blank. Ich will in der nächsten
Hälfte meines Lebens Theater spielen oder andere
Dinge im Mütterzentrum machen. Wir arbeiten ja
auch beim Garten der Menschenrechte mit, beim
Afrika-Projekt, bei der Deutschen Kammerphilharmonie
und bei einem Modeprojekt – ich kann
mir vorstellen, dann da mitzuwirken.
Brämsmann im Mütterzentrum Tenever für
Frauen im Quartier. Zeit für ein Gespräch
über eigenes Geld, Gewalt in der Partnerschaft
und ihr Ringen mit der Bürokratie
Christa Brämsmann, 63, ist Geschäftsführerin
des Mütterzentrums Osterholz-Tenever
und seit dessen Gründung 1989 dabei. Das
Mütterzentrum ist ein gemeinnütziger Verein
und bietet als sozialer Beschäftigungsträger 75
Menschen Arbeit. Es gibt unter anderem Beratungsangebote
für Frauen zur beruflichen
Orientierung, Sprachkurse und Gesprächskreise
sowie verschiedene Selbsthilfegruppen.
Außerdem betreibt das Mütterzentrum mehrere
Cafés, einen Second-Hand-Laden sowie ein
Internetcafé und es bietet Kinderbetreuung an.
14 | BILDSTRECKE
Ein Tag
im Café
Fotos: Benjamin Eichler & Lena Möhler
Text: Jan Zier
16 | BILDSTRECKE
BILDSTRECKE | 17
Sie nennen es „Juca“, die Jugendlichen hier, ihr
alkoholfreies Jugendcafé der St.-Petri-Kinder- und
Jugendhilfe in der Walliser Straße, gleich neben
der Gesamtschule Bremen-Ost. Ali Simenova ist
öfter hier, zum Beispiel mit dem BMX auf der Skateranlage
des Juca. Ali ist zwölf Jahre alt und lebt
mit seiner Familie in einem der Hochhäuser ganz
in der Nähe. Später trafen wir ihn beim Tablaüben
wieder, in dem noch recht neuen Tonstudio, auf
das sie hier alle ziemlich stolz sind. Auch den Tablaspieler
Mervan Kocas und den Geiger Yilmaz
Kamaci treffen wir da. Kocas, 27, ein angehender
Sozialarbeiter, arbeitet seit Kurzem als Honorarkraft
im Juca. Er leitet die Arbeitsgemeinschaft
„Rap“ und macht mit Jugendlichen Musik. Kamaci,
23, spielt schon Geige, seit er zehn Jahre alt ist,
und war auch mal drei Jahre lang auf dem türkisches
Musikkonservatorium in Oldenburg. Er ist
gelernter Gastronom, derzeit aber wieder in Ausbildung
– in der Automobilbranche.
Und, ja: Sie haben hier im Moment einen Jungsüberschuss.
Deswegen gibt es Frauen wie Katharina
Johannes. Auch sie arbeitet im Jugendcafé,
seit sechs Jahren schon. Sie organisiert auch die
Mädchenzeit und andere Angebote nur für junge
Frauen. Mit Erfolg: Katarzyna Liszka etwa kommt
immer noch hierher, obwohl sie schon fertig ist mit
der Schule und gerade eine Ausbildung zur Medizinisch-technischen
Assistentin macht. Sie fühlt
sich immer noch sehr wohl, erzählt sie uns. Und
überhaupt, so sagen sie hier: Viele der einstigen
Jugendlichen kommen auch nach der Schulzeit
immer noch gerne hierher, um abzuhängen, aber
auch um einfach mal nach Rat zu fragen.
Benjamin Eichler ist freier
Fotograf und liebt es
wegen der dortigen Vielfalt
sehr, im Schweizer
Viertel Fotos zu machen.
Lena Möhler ist freie Fotografin
und hätte solch
ein Café als Jugendliche
auch gern gehabt.
Jan Zier wollte früher
auch mal ein BMX-Rad.
20 | Reportage
Text: Eva Przybyla
Foto: Wolfgang Everding
Wahrheit und
Schönschreiben
Ein Besuch in der Albert-Einstein-Oberschule,
wo es Sozialtrainings für alle gibt und Klassen-
räte, in denen die Demokratie erlernt wird
Als Melissa sagt, dass sie besser kochen kann als
Hausaufgaben machen, springt Jason auf. „Wusst’
ich’s doch!“, schreit er und wedelt mit seinen Fäusten.
In Siegerpose. „Wir sind nicht im Weserstadion“,
mahnt die Sozialpädagogin Stefanie Neumann.
Jason setzt sich wieder, doch schon wenig
später plappert er erneut in die Runde. Wir sind
im Stuhlkreis einer fünften Klasse der Albert-Einstein-Oberschule
(AEO). Im Sozialtraining lernen
die Kinder heute, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden.
Und dass sie ihre Klassenkameraden
manchmal gar nicht so gut kennen, wie sie denken.
Zum Beispiel backt Nina besser als sie zeichnet.
„Man weiß so was nicht, weil man sich mit manchen
gar nicht unterhält“, sagt Jason. Er hat große
Augen, kurze braune Haare und trägt das Oberteil
eines Jogginganzugs, wie viele andere in seiner
Klasse auch. Ninas lange blonde Haare fallen auf
einen Pullover mit großem, pinkem Adidas-Logo,
ein anderes Mädchen hat die Fanware ihres Lieblings-Youtubers
an. Vielleicht ist das eines der
sichtbaren Merkmale für die soziale Mischung der
Albert-Einstein-Oberschule in Osterholz, im Einzugsgebiet
des Schweizer Viertels.
„Hier schicken alle ihre Kinder auf die Schule“,
sagt die Schuldirektorin Ulla Pörtner, „egal ob
sie aus einem bürgerlichen Einfamilienhaus in
Osterholz oder aus der Blocksiedlung im Schweizer
Viertel kommen“. Entsprechend unterschiedlich
sei die Ausgangslage der SchülerInnen an der
Oberschule: 55 Prozent der SchülerInnen haben
einen Migrationshintergrund, sagt Pörtner, auch
Geflüchtete sitzen in den Klassen. Ihre Integration
sei „eine große Herausforderung für den Schulbetrieb“,
sagt die Schulleiterin. Ohnehin haben viele
der im Schweizer Viertel lebenden Kinder erhebliche
Probleme in der Schule: Bis zu einem Viertel
aller SchülerInnen dort können nach Angaben
des Bremer Senats dem Unterricht „nicht oder nur
teilweise folgen“. Und die Hälfte aller Kinder aus
dem Schweizer Viertel hängt von Hartz IV ab.
Abgesehen von fehlendem Geld für Klassenfahrten
spüre sie den finanziellen Hintergrund der
SchülerInnen nicht, sagt Pörtner. Und für diese
Fälle gebe es finanzielle Unterstützung aus dem
Förderprogramm „Bildung und Teilhabe“. Etwa
15 Prozent der Kinder haben in der Schule angegeben,
dass sie solche Hilfe bekommen. In Wirklichkeit
sind es aber mehr, erklärt Pörtner. Insgesamt
sei die Schülerschaft in der AEO „sehr heterogen“,
resümiert die Schulleiterin – ihnen die gleichen
Chancen zu ermöglichen, ist schwer. „Unser Ziel
ist, dass alle einen qualitativ hochwertigen Schulabschluss
erlangen“, sagt Pörtner. Das muss aber
nicht zwingend ein Abitur sein. Vielmehr sollen
die AbsolventInnen mit ihren jeweiligen Abschlüssen
im Leben gut zurechtkommen, egal ob in einer
Ausbildung oder auf dem Gymnasium.
Auch deswegen besuchen alle Kinder und Jugendlichen
der fünften und sechsten Klassen einmal
in der Woche ein Sozialtraining. Die Kinder
aus der 5b schauen dort nun mit aufgerissenen
Sophie Sommer studiert Journalistik
an der Hochschule Bremen und
könnte sich ein Leben im Wagen
nicht vorstellen.
Für einige Kinder hier ist es schwer, auf liniertem Papier zu schreiben, sagt die Lehrerin.
Augen einen animierten Film über den manchmal
verletzenden Charakter der Wahrheit – und praktische
Notlügen. Ein Junge meldet sich: „Wenn man
Scheiße gebaut hat, aber man hat keinen Bock,
Handyverbot zu bekommen: Ist das dann auch
eine Notlüge, wenn man die Schuld auf andere
schiebt?“ Viele Kinder prusten los. „Das mache ich
so oft“, ruft Jason. „Ja, genau, das passiert hier an
der Schule häufig“, sagt die Sozialpädagogin Stefanie
Neumann. Auch deshalb behandeln sie dieses
Thema hier im Sozialtraining. „Das ist normal in
dem Alter“, sagt sie nach der Stunde. Sozialtrainings
wie dieses seien mittlerweile an Bremer
Schulen weit verbreitet. Neu an der AEO ist dagegen
das Basistraining: Hier erarbeiten die Kinder
das Lernen von Grund auf.
Heute steht „Abschreiben leicht gemacht“ auf
dem Plan der 5b. Juliane Wichmann, die Klassenlehrerin,
zieht blaue Kreidebögen von Silbe zu
Silbe. Jedes Kind bekommt vier Arbeitsblätter und
30 Minuten Zeit für reines Abschreiben. „Ich fühle
mich wie in der zweiten Klasse“, sagt ein Junge genervt.
Dagegen ist es für eine seine Klassenkameradinnen
das erste Mal, dass sie fehlerfrei abschreiben
übt. Nicht nur sie, sondern auch fünf andere
Kinder schreiben langsam und krakelig. „Für einige
ist es schwer, auf liniertem Papier zu schreiben“,
sagt die Lehrerin. Auch das üben sie, oder das
Reportage | 23
regelt das eine sechste Klasse, muss das Kind den
Klassenraum verlassen, bei vieren am Freitag eine
Stunde länger in der Schule bleiben.
Um ihre Klasse zur Ruhe zu bringen, rührt die
Lehrerin in einer Gongschale. Das soll auch Mulu
machen, im Klassenrat der 6c. Er soll in dem Gremium
heute für Ruhe sorgen und die feststehenden
Regeln durchsetzen. Vor ihm liegt eine Liste der
Verwarnungen. Aus dem signalroten Briefkasten
der Klasse fallen Beschwerden über Beleidigungen.
Mulu zum Beispiel wurde als „Schokomilch“
beleidigt. Er erzählt seiner aufmerksam zuhörenden
Klasse den Hergang der Tat: Zwei Jungs hätten
ihn genervt, einen von ihnen habe er geschlagen,
sie hätten ihn dafür „Schokomilch“ genannt.
Beim Erzählen lächelt er, viele andere im Raum
giggeln. Ein Mädchen fragt, ob Mulu die Jungs
vor oder nach der Beleidigung geschlagen habe.
„Davor“, sagt Mulu. Aber die hätten auch sehr genervt.
Die Klasse entscheidet sich schnell für die
Lösung, die schon in den anderen Fällen genügt
hat: Alle drei sollen sich entschuldigen. Als Mulu
einen der Jungs sogar umarmt, brechen viele in
Gelächter aus. Deshalb muss Mulu gleich wieder
für Ordnung sorgen, er verwarnt und schreibt die
Namen seiner Freunde auf. Doch das reicht nicht.
„Du musst auch mal jemanden rausschicken“, sagt
der Klassenlehrer, der nur selten in die demokratische
Sitzung seiner Klasse eingreift. Mit flehendem
Gesichtsausdruck windet sich Mulu zunächst
auf seinem Stuhl, dann spricht er aber doch den
Raumverweis aus. Sein Freund verlässt den Raum.
In dem Rat sollen die SchülerInnen demokratische
Bildung lernen. Die Themen und den Ablauf
bestimmen die Kinder selbst. Einer ist für die
Einhaltung der Zeit zuständig, andere für das Protokoll
oder die Ruhe. Oder dafür, dass jeder beim
Thema bleibt. „In der achten und neunten Klasse
habe ich schon richtig schöne Sitzungen erlebt“,
erzählt der Klassenlehrer Jan Sperling, „da geht es
beispielsweise um die Klassenfahrt oder sogar um
politische Themen.“ Eingreifen müssten er und die
Sozialpädagogin häufig nur bei den Strafen. „Die
sind häufig viel zu hart“, sagt die Sozialpädagogin.
Auch in der sechsten Klasse verzeichnet der
Klassenrat Erfolge: 70 Prozent aller besprochenen
Konflikte klärten sie im Klassenrat, sagen
die SchülerInnen. Nur hartnäckige Fälle wie „den
Streit von den Mädchen“ bekämen sie dort nicht
gelöst, sagt ein Junge. Auch wenn einige Mädchen
bei diesem Thema strenge Blicke in die Runde
werfen, so ist die Anspannung doch schnell verflogen,
als alle zusammen in die Pause stürmen.
Jason aus der fünften Klasse will dagegen gar
nicht gehen. Sanft schiebt ihn schließlich ein Sozialpädagoge
aus dem Raum. Er sei sozial verhaltensauffällig,
aber auch außergewöhnlich intelligent,
sagt der Sozialpädagoge über Jason, als der
außer Hörweite ist. Außer ihm seien noch vier andere
Kinder „mit Bedarf“ in der Inklusionsklasse.
Ja, wenn man den Unterricht aufmerksam Revue
passieren lässt, fällt ein Junge auf, der sich beim
Sprechen manchmal überschlägt. Das schweigsame
Mädchen mit den langen schwarzen Haaren
wirkte dagegen ganz unauffällig. Aufgefallen ist
aber, dass die Kinder jubeln, wenn sie die Talente
ihrer KlassenkameradInnen richtig einschätzen.
Eva Przybyla ist Absolventin des
Masters „Komplexes Entscheiden“
und hätte sich für ihre Schulzeit
auch Sozialtrainings und Klassenräte
gewünscht.
Wolfgang Everding erlebte den Besuch
der Schule als eine Reise in die
Vergangenheit. Überrascht war er
von der liebevollen Atmosphäre.
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Juliane Wichmann ist die Klassenlehrerinder der 5b an der Albert-Einstein-Oberschule.
Packen der Schultasche. Warum viele Kinder das
heute nicht können, kann sich Ulla Pörtner nicht
erklären. „Viele Schüler bringen diese Fähigkeiten
einfach nicht mehr mit, deshalb müssen sie das in
der Schule lernen“, sagt die Direktorin.
Hier gibt es sogar einen Terminplaner für
die SchülerInnen, mit dem Logo der Albert-Einstein-Oberschule
drauf. Ein Junge trägt darin
Sachen ein wie „Schwimmausweis mitbringen“
und gleich auf den ersten Seiten stehen die Schulregeln,
die auch neben jeder Klassentür hängen.
Spucken beispielsweise ist streng untersagt. Wer
spricht, ohne sich zu melden, bekommt einen Verwarnungsstrich.
Bei drei Verwarnungsstrichen, so
Du.
Ja, genau du.
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24 | Portrait
Text: Teresa Wolny
Foto: Beate Köhler
90 Minuten
Chef
Schiedsrichter müssen perfekt funktionieren.
Wird nach einem Fußballspiel über sie gesprochen,
dann meist mit geschwollener Halsschlagader.
Warum tut man sich das an?
Mirko Eggers ist Fußballschiedsrichter und pfeift bald in der Landesliga.
Ein Fußballplatz in Borgfeld an einem Nachmittag
im Februar: Die Sonne steht so tief, dass sie blendet.
Trotz der 25 Menschen auf dem Platz hat man
das Gefühl, fast allein zu sein. Die ZuschauerInnen
am Spielfeldrand kann man an einer Hand abzählen.
Es ist ein Freundschaftsspiel, noch ist Winterpause.
Um den Kunstrasenplatz herum stehen
Pfützen, der Boden ist matschig. Kurz vor Schluss
grätscht ein Spieler seinem Gegner in die Knöchel.
Mirko Eggers, 22 Jahre alt und Schiedsrichter
beim TSV Osterholz-Tenever, pfeift und zieht die
Gelbe Karte. Freistoß, der Torwart hält, Abpfiff.
Das ist die Praxis. Der Theorieteil findet gut
17 Kilometer entfernt statt. Im Kelloggs-Gebäude
in der Überseestadt, am Ende eines Ganges voller
Türen mit der Aufschriften wie „Cornflakes“ oder
„Kellogg’s Frosties“, findet an diesem Donnerstagabend
eine Schiedsrichterfortbildung statt. Unter
den rund 70 Teilnehmern, bis auf eine Ausnahme
allesamt männlich, sind alle Altersklassen
vertreten. Die Power-Point-Präsentation des DFB
handelt von Regel 12: „Fouls und unsportliches Betragen“.
Mit mehr oder weniger schlecht gestellten
Fotos und kurzen Filmausschnitten wird analysiert,
was ein Foul ist, und vor allem, wie es geahndet
wird. Selbst ausgebildete Schiedsrichter sind
sich da manchmal uneinig, was die Komplexität
ihrer Aufgaben erahnen lässt.
Yannick Rath ist deshalb ganz froh, dass bei
seinen Spielen in der Regionalliga nur eine Kamera
läuft. „Viele Szenen kann man aus jeder
Perspektive anders bewerten“, sagt er. Rath ist 26
und im Schweizer Viertel aufgewachsen. Mit 14,
dem Mindestalter für die Ausbildung, wurde er
Schiedsrichter – wie Mirko Eggers beim TSV Osterholz-Tenever.
Als Spieler hatte er sich immer
über die Schiedsrichter geärgert und wollte es besser
machen. Fußball spielt er mittlerweile nicht
mehr. Beides geht nicht, sagt Rath, der in der Steuerberatung
arbeitet, das sei viel zu zeitaufwendig.
Wer Schiedsrichter sein will, muss fit sein.
Rath läuft pro Spiel etwa zwölf Kilometer, für ihn
ist das Pfeifen eine Form von Leichtathletik. Spieler
könnten sich während des Spiels ab und an ausruhen,
Schiedsrichter müssten die ganze Zeit rennen,
um nah am Geschehen zu sein. Ob sie dazu
in der Lage sind, prüfen die Verbände regelmäßig:
Auf einer Strecke von vier Kilometern müssen sie
20 Mal 150 Meter sprinten. Außerdem sind fünf
Fortbildungen im Jahr Pflicht. Denn einige Fußballregeln
ändern sich jährlich. „Die Abseitsregel
ändert sich zum Beispiel andauernd“, sagt Rath.
Bundesligaschiedsrichter werden wollen weder
Yannick Rath noch Mirko Eggers. Obwohl der
DFB eine Pauschale von 60.000 Euro zahlt plus
5.000 Euro pro Spiel. Rath verdient in der Regionalliga
200 Euro pro Einsatz. Mirko Eggers, der
ab der nächsten Saison in der Landesliga pfeift,
bekommt gerade einmal 31 Euro. Mit seinem Schiri-Honorar
bezahlt er das Essen in der Mensa: Eggers
studiert im achten Semester Energietechnik.
Um das Geld geht es den beiden aber auch
nicht. „Das ist ’ne Leidenschaft“, sagt Rath. „Man
ist 90 Minuten der Chef, man kann was ausstrahlen.
Und da ist der ständige Reiz, die richtige Entscheidung
zu treffen.“ Entscheiden macht ihm
Spaß. Dass man dabei immer für eine Partei der
Buhmann sei, damit habe er sich abgefunden.
„Man muss abstumpfen und sich seiner Entscheidung
einfach sicher sein. Das ist auch ein bisschen
Schauspielerei.“ Das Selbstbewusstsein, das er daraus
gewinnt, sei auch in anderen Situationen hilfreich,
etwa bei Bewerbungsgesprächen.
Wie wichtig entschiedenes Auftreten ist, zeigt
die Erfahrung. „Pro Spiel trifft man ungefähr dreihundert
Entscheidungen“, sagt Rath, „mindestens
zehn davon sind falsch.“ Klar, dass sich Spieler
dann aufregen. Seine Devise dabei ist: „Ganz, ganz
wenig hören und alles sehen.“ Wenn man jede
kleine Beleidigung ahndete, käme man bei einigen
Mannschaften gar nicht hinterher, was auch den
Spielfluss hindere. Dabei gibt er nach eigener Einschätzung
recht viele Gelbe Karten, in der Regionalliga
sind es vier bis fünf pro Spiel.
Rath mag kämpferische Spiele, solange sie fair
bleiben. Und: „90 Minuten geisteskrank ist okay,
aber die 91. muss wieder ruhig sein.“ Wie schön
es ist, wenn Spieler nicht nachtragend sind, hat er
selbst erlebt. „Ich hab mal einen Spieler rot runtergeschmissen,
ohne zu wissen, dass das mein Sparkassenberater
war“, erzählt Rath. „Am nächsten
Tag hatte ich einen Termin bei der Sparkasse. Als
der Berater mich sah, hat er auf die Tür gezeigt
und ‚Sofort raus hier‘ gesagt. Das war natürlich ein
Scherz. Er hat mir hinterher gesagt, dass er alle
drei Wochen eine Rote Karte bekommt.“
Teresa Wolny hat mit 7 ihre Fußballkarriere
an den Nagel gehängt.
Beate Köhler ist freie Fotografin in
Bremen mit Schwerpunkt Portrait.
26 | Ortstermin
Text und Fotos: Lena Möhler
Little
Poland
Ein kleines Lebensmittelgeschäft versorgt
polnischstämmige Bremer mit Kulinarischem
aus der Heimat. Besonders gefragt sind Backwaren
und natürlich Würste
Holz, so weit das Auge reicht, honigfarbene Bretter,
in Form gesägt und wellenförmig aneinandergenagelt.
Sie zieren die großen Fenster und
Verkaufstheken, die Einkaufswagen werden von
ihnen eingezäunt und sogar die Kassenzone mit
ihrer Holzumrandung wirkt gemütlich. Ich bin
in einem polnischen Lebensmittelgeschäft im
Schweizer Viertel gelandet: dem „Lukullus“ in
der Graubündener Straße. Was die Optik betrifft,
befinde ich mich eher in einem Schweizer Chalet
inmitten der Alpen. Passt ja auch irgendwie. Aus
Neugier bin ich reingegangen. Alle Schilder sind
auf Polnisch, und wie ich höre, sprechen die Kunden
und Verkäufer auch alle Polnisch miteinander.
Vor vier Jahren hat Piotr Binkowski, 28, das
Geschäft gegründet, gemeinsam mit seinem Bruder
Kamil. Das Lukullus im Schweizer Viertel
ist Teil des gleichnamigen Franchise-Unternehmens,
das seine Lizenz an derzeit 24 Geschäfte in
Deutschland vergeben hat. „Wir haben den Standort
an der Graubündener Straße gewählt, weil hier
so viele Menschen aus Polen leben“, sagt Binkowski.
Ein Jahr zuvor hatten sie ihr erstes Lukullus-Geschäft
in Huchting eröffnet. In Deutschland
leben etwa zwei Millionen Menschen mit polnischem
Migrationshintergrund, in Bremen sind es
mehr als 25.000. „In Polen würde so ein kleines
Geschäft nicht mehr laufen“, sagt Binkowski, die
meisten Menschen kaufen in den großen Supermärkten
ein. Hier ist das anders.“
Das „Herzgeschäft“, so sagt er zufrieden, sind
polnisches Gebäck und polnische Würste. Die
Leute lieben es und wissen es zu schätzen. Der Laden
ist gut besucht, er dient auch als sozialer Treffpunkt.
In der Schlange vor der Wursttheke und
an der Kasse werden Neuigkeiten ausgetauscht,
Nicht nur das Sortiment, sondern auch die
Angestellten kommen aus Polen.
aus den Lautsprechern klingen polnische Schlager.
Eine junge Frau erzählt mir, dass sie und ihre
Freundinnen manchmal einfach so hierherkommen,
um jemand kennenzulernen.
Das ganze Sortiment ist polnisch, von den Süßigkeiten
bis zum Bier, sogar das Frischfleisch
kommt aus Polen, und es gibt eine größere Auswahl
polnischer Zeitschriften und Bücher. „Es
kommen aber auch viele Russen, unsere Küchen
ähneln sich ja, und immer mehr neugierige Deutsche,
die das Angebot prüfen wollen. Das freut
mich besonders“, sagt Binkowski. „Oft kommen
sie danach wieder.“
Es zieht mich weiter hinein in das Geschäft.
Die hohen Regale links und rechts sind gefüllt mit
bunten Verpackungen, die ich nicht kenne. Die
Kekse sehen spannend aus und ich stecke ein Paket
dünne Waffeln in meinen Einkaufskorb. Über
mir spannt sich ein Dächlein aus Brettern, das mit
hellen Fellen gedeckt ist. Da ist wieder das Gefühl
vom Skiurlaub in den Alpen.
Ich gehe einem köstlichen Duft nach. Es riecht
nach Bratwurst und gekochtem Fleisch, nicht aufdringlich,
mehr wie in Omas Küche. Es macht mir
gute Laune. Die Fleischtheke ist voll mit Fleisch,
Sülzen, Pasteten und Würsten. Es sieht alles appetitlich
aus. Zwei Verkäuferinnen bedienen und es
herrscht eine familiäre Atmosphäre. Ich verstehe
kein Wort. Dann sehe ich die Brotregale daneben.
Die großen Leiber mit Kruste locken mich. Ich
spreche die junge Verkäuferin auf Deutsch an,
aber sie versteht mich nicht. Wir schaffen es mit
Zeichensprache und die Brote landen in meinem
Korb. Es gibt noch lange Rollen mit Mohngebäck.
Die nehme ich auch mit.
Die meisten von ihnen sprechen Polnisch
und Deutsch.
Die angestellten Frauen kommen alle aus Polen.
Sie arbeiten gerne hier, sagen sie, und sind für
alles zuständig: vom Putzen über Regale auffüllen,
Kassieren bis zum Verkauf. Die Leiterin wird von
den anderen liebevoll „Minichef“ genannt. „Wichtig
ist, dass alle Artikel auch deutsche Bezeichnungen
haben“, erzählt sie mir. „Sonst gibt es Ärger
mit den Behörden, die regelmäßig Kontrollen
durchführen.“
Auf dem Weg zum Ausgang komme ich an
zwei Holzfässern mit Sauerkraut und Gurken vorbei.
Hier kann man sich selbst bedienen. Dahinter
entdecke ich eine Reihe von großen Tonbehältern
mit kräftigen Deckeln. Sie sind bestimmt zum Einsäuern
von Gemüse gedacht. Ich habe schon mal
nach solchen Gefäßen gesucht, aber keine gefunden.
Jetzt weiß ich, wo es sie gibt.
An der Kasse angelangt, lege ich meine Sachen
auf den Holztresen – es gibt hier kein Laufband wie
in großen Supermärkten. Die Kassiererin spricht
mich auf Polnisch an, wechselt aber schnell ins
Deutsche, als sie merkt, dass ich keine Polin bin.
Wieder draußen, öffne ich die Tüte mit den
dünnen Keksen. Sie sind toll, ausgesprochen dünn
und knusprig und gar nicht süß. Nächstes Mal probiere
ich die anderen Sorten. Auf der Heimfahrt
in der Straßenbahn bedauere ich, dass ich keine
Sülze mitgenommen habe. Sie sah so aus wie in
meiner schwedischen Heimat.
Lena Möhler ist freie Fotografin. Sie
kocht gern und ist neugierig auf Essen
aus anderen Ländern.
28 | Portrait
Sandra, 25, und Angela, 33 (v.l.),
haben keinen festen Verkaufsplatz.
Sie laufen mit den Zeitschriften
lieber quer durchs Bahnhofsviertel
bis in die Innenstadt.
Sandra
und Angela
Sie lernten sich in der Notunterkunft kennen
und wurden Freundinnen. Derzeit verkaufen
sie gemeinsam die Zeitschrift der Straße
Angela und Sandra sind auch heute zusammen auf
dem Weg zum Vertriebsbüro der Zeitschrift der Straße.
Ein guter Tag, die Sonne scheint, die Menschen
sind gut drauf. Die beiden Freundinnen auch, sie
lachen, als sie zur Tür hereinkommen. Von Montag
bis Freitag, immer zwischen zehn und halb
elf, kaufen Angela und Sandra ihre Zeitschriften.
Sie begrüßen mich, holen mich ab. Sandra kauft
morgens gerne sechs oder sieben Zeitschriften und
nachmittags nochmal ein oder zwei. Angela ist mit
ein oder zwei Zeitschriften unterwegs und kauft
neue, sobald ihre verkauft sind.
Zusammen geht’s nach draußen. Heute früh
waren sie schon zwei Stunden unterwegs und haben
verkauft. Angela und Sandra haben keinen
festen Platz, sie bewegen sich gern und halten sich
meist in der Nähe des Hauptbahnhofes auf, ab und
zu geht es in die Innenstadt. Sie sind bei jedem
Wetter draußen. An diesem kalten Februartag
tragen sie je zwei Hosen und drei Pullover. Angela
verkauft seit Dezember, Sandra seit Ende Januar.
Kennengelernt haben sie sich in ihrer Notunterkunft.
Sandra und ihr Freund hatten eine
Wohnung, in der es einen Wasserschaden gab. Sie
mussten die Wohnung bis auf Weiteres verlassen.
Etwas verloren wandten sie sich ans Amt, von dort
wurden sie in die Notunterkunft geschickt. Dort
sind sie zusammen untergebracht, in einem Vierbettzimmer.
Sandra würde gern wieder mit ihrem
Freund in eine eigene Wohnung ziehen. Angela
hatte Sandra von der Zeitschrift der Straße erzählt,
Text und Foto: Ann-Kathrin Just
nachdem diese ihr anvertraut hatte, dass sie von
ihrem Hartz-IV-Regelsatz nur 280 Euro bekommt,
weil sie noch ein Darlehen abbezahlen muss.
Sandra kommt aus Ostfriesland, aus Aurich.
Dort machte sie eine Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen
Assistentin. Doch immer wieder
auftretende Schmerzen bringen sie ins Krankenhaus.
Sandra hat Endometriose, hier wächst
ein gebärmutterschleimhautähnliches Gewebe
nicht nur in der Gebärmutterhöhle, sondern auch
an Stellen, wo es eigentlich nicht hingehört. Diese
Krankheit bringt sie für längere Zeit ins Krankenhaus.
Nachdem sie für vier Wochen krankgeschrieben
war, riet ihr ein Berufsschullehrer, die Ausbildung
abzubrechen, weil sie den versäumten Stoff
nicht aufholen könne. Traurig erzählt sie von ihrer
Gebärmuttererkrankung, die mit starken Schmerzen
während der Menstruation einhergeht. Dann
kam noch die Nachricht der Ärzte, die ihr sagten,
ihre Chance, schwanger werden zu können, betrage
nur noch 20 Prozent. Sie hätte so gern Kinder!
Wie Angela. Schüchtern erzählt Angela von ihren
Kindern. Sie sind 16, 13 und 11 und leben bei der
Großmutter. Angela selbst ist in Köln aufgewachsen.
Nach Bremen kam sie, weil sie zu Hause häusliche
Gewalt erlebte. Sehr distanziert und neutral
spricht sie über ihre Situation, sie gibt wenig preis
über sich. Mit dem Vater ihrer Kinder war sie 14
Jahre lang verheiratet. Ihre Tante vermittelte ihr
einen Job als Reinigungskraft. Als sie schwanger
wurde, wurde es schwieriger für sie zu arbeiten.
Eine Ausbildung hat sie nicht. Sie schmunzelt, als
sie auf Kölsch sagt, sie sei ja „schließlich Hausfrau
und Mutter“ gewesen. Sie vermisst ihre Kinder
sehr, telefoniert fast täglich mit ihnen. Besuchen
konnte sie ihre Kinder nicht, dafür reichte das
Geld nicht. Sie bekommt Hartz IV und verkauft
die Zeitschrift der Straße, viel bleibt da nicht übrig.
Während sie erzählt, fällt ihr eine Geschichte
aus einem Frauenhaus ein. Dort kam es zu einer
gewalttätigen Auseinandersetzung mit einer anderen
Mutter. Angela spricht wieder distanziert, lässt
nur vorsichtig durchblicken, dass es für sie schwer
ist zu sehen, wenn Kinder Gewalt ausgesetzt sind.
Die Situation ging übel aus. Besonders für Angela:
Sie flog raus. Es gibt eine kurze Gesprächspause.
Sandra übernimmt das Reden. Das Verkaufen
der Zeitschrift der Straße ist für sie ein spannender
Job. Sie mag es, dabei in Gespräche verwickelt zu
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werden. Freundlich zu bleiben fällt ihnen aber
nicht immer leicht, etwa, wenn sie beleidigt werden.
Sandra erzählt, wenn jemand sie abwertend
anguckt und dann sagt: „Warum gehst du nicht
anschaffen?“ oder: „Wie eine Obdachlose siehst
du aber nicht aus“, fehlen ihr im ersten Moment
die Worte. Hier hilft es, dass die Freundinnen sich
stündlich für eine Zigarettenpause treffen und reden.
Die Beleidigungen sind dann vergessen.
Für Angela geht es bald wieder zurück nach
Köln zu ihren Kindern. Mit ihrem Ex-Mann hat
sie keinen Kontakt mehr. Sie fühlt sich bereit zurückzufahren.
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Dorothea Teckemeyer, Frederike Voß,
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Koordination: Petra Kettler
Leitung: Rüdiger Mantei, Reinhard „Cäsar“ Spöring
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Bertold Reetz, Prof. Dr. Dr. Michael Vogel
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V. i. S. d. P. Philipp Jarke / Anzeigen: Michael Vogel
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