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Urteilsdatenbank - Palliativnetz-Witten eV

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LG Münster 171 O 1176/08 vom 17.06.2010<br />

In dem Rechtssteit der Frau … Klägerin gegen Klinik …<br />

<strong>Urteilsdatenbank</strong> - Medizinrecht - Stand 11.09.2010<br />

Hat die 11. Zivilkammer des Landgericht Münster auf die mündliche Verhandlung vom 17.06.2010 durch den<br />

Vorsitzenden Richter am Labndgericht Dr. Terharn, den Richter am Landgericht Busche-Köckemann und den<br />

Richter Kluth für Recht erkannt:<br />

Die Klage wird abgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.<br />

Tatbestand:<br />

Die Parteien streiten über Ansprüche aus einer angeblich fehlerhaften ärztlichen Behandlung.<br />

Die Klägerin begab sich zur Durchführung einer Strabismusoperation in die stationäre Behandlung der Beklagten.<br />

Diese wurde am 23.01.2008 auf Wunsch der Klägerin unter Allgemeinanästhesie durchgeführt.<br />

Die Klägerin wog bei einer Körpergröße von 158 cm 93 kg. Ferner litt sie unter Refluxbeschewrden und<br />

nahrungsunabhängigem Sodbrennen. Daher entschied der behandelnde Anästhesist sich für eine „Rapid-<br />

Sequence Induction―. Hierbei wurde ein Ring-Adair-Elwyn (RAE)- Endotrachealtubus mit einem<br />

Innendurchmesser von 7,5 mm verwandt. Wegen des Strabismus der Klägerin sollte bei der Anästhesie auf<br />

Substanzen, die eine maligne Hyperthermie begünstigen können, verzichtet werden. Daher wurde als<br />

Muskelrelaxans nicht Succinylcholin verwendet, sondern Mivacurium.<br />

Im Laufe der Operation trat bei der Klägerin eine Trachealruptur auf. Dies machte eine posterolaterale<br />

Thorakotomie erforderlich. Dabei enstand der Klägerin eine Narbe auf der rechten Seite der Brust bis zum<br />

Rücken.<br />

Die Klägerin behauptet:<br />

Die Trachealruptur sei auf eine fehlerhafte Verwendung des Trachealtubus zurückzuführen. Da der verwendete<br />

Tubus aus PVC vorgeformt sei, müsse der behandelnde Anästhesist massiv eine falsche Technik angewandt<br />

haben.<br />

Seit der Opertion leide sie an Erschöpfung, erheblichen physischen und psychischen Einschränkungen sowie<br />

Schmerzen im rechten Brustbereich.<br />

Vor der Operation habe sie täglich 6-9 Stunden den Haushalt geführt. Dies sei ihr nun wegen des massiv<br />

reduzierten Allgemeinzustands nicht mehr möglich.<br />

Nachdem die Klägerin angekündigt hatte, neben den nun gestellten Anträgen auch Leistungsanträge zu stellen,<br />

die aur den Ersatz materieller Schäden gerichtet waren, hat sie ihre Klage umgestellt und diese Anträge mit<br />

einem Feststellungsantrag verbunden.<br />

Die Klägerin beantragt nun,<br />

die Beklagte zu verurteilen, an sie ein ausdrücklich in das Ermessen des erkennenden Gerichts gestelltes<br />

Schmerzensgeld nebst 5 % Zinsen … zu zahlen, nicht unter 35000 €,<br />

…<br />

Die Beklagte beantragt die Klage abzuweisen.<br />

Die Beklagte behauptet, die Klägerin fehlerfrei behandelt zu haben. Die von der Klägerin behaupteten<br />

gesundheitlichen Beeinträchtigungen bestreitet sie mit Nichtwissen.<br />

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Prof. R<br />

sowie die Hinzuziehung von Krankenunterlagen. Prof. R hat sein Gutachten in der mündlichen Verhandlung vom<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 1


17.06.2010 mündlich erläutert. Auf das Gutachten, das Protokoll der mündlichen Verhandlung, den Inhalt der<br />

Krankenunterlagen sowie die Schriftsätze wird Bezug genommen.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

Die Klage hat keinen Erfolg.<br />

Die Klage ist zulässig. Insbesondere war die Klageänderung zulässig, weil die Voraussetzngen des §§ 263 1. Fall,<br />

267 ZPO vorliegen.<br />

Die Klage ist jedoch unbegründet. Denn es ist der Klägerin nicht gelungen, darzulegen und zu beweisen, dass der<br />

Beklagten ein Behandlungsfehler unterlaufen ist.<br />

Die Kammer stützt ihre Überzeugung unter anderem auf das gut verständliche und eindeutige Gutachten des<br />

Sachverständigen Prof. R sowie die anschaulichen Erläuterungen aus der mündlichen Verhandlung.<br />

Es war nicht fehlerhaft, dass bei der Klägerin eine Intubationsnarkose vorgenommen wurde. Nach eingehender<br />

Aufklärung über die alternativen Narkosemöglichkeiten, insbesondere die Möglichkeit einer Lokalanästhesie,<br />

entschied sich die Klägerin für eine Vollnarkose. Im Rahmen der Vollnarkose konnten grundsätzlich nur die<br />

Intubationsnarkose, eine Narkose mittels Maskenbeatmung und eine Narkose durch Verwendung einer<br />

Larynxmaske angewandt werden. Weder die Maskenbeatmung noch die Verwendung einer Larynxmaske stellten<br />

hier jedoch eine gleichwertige Alternative zu einer Intubationsnarkose dar.<br />

Aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen ist die Kammer davon überzeugt, dass die Maskenbeatmung<br />

bereits deshalb keine Alternative darstellte, weil die Nähe des Operationsgebiets zur Region von Nase und Mund<br />

es unmöglich macht, dem Operateur optimale Operationsbedingungen zu schaffen. Des weiteren hätte die<br />

Maskenbeatmung keinen Aspirationsschutz dargestellt, sondern im Gegenteil aufgrund der Ventilation des<br />

Magens eine erhebliche Aspirationsgefahr bedeutet.<br />

Die Larynxmaske war ebenfalls keine Alternative, da sie insbesondere aus zwei Gründen kontraindiziert war.<br />

Einerseits stellte das Gewicht der Klägerin von 93 kg bei einer Körpergröße von 158 cm eine relative<br />

Kontraindikation dar, andererseits verbot sich die Anwendung der Larynxmaske wegen des von der klägerin im<br />

Rahmen des Aufklärungsgesprächs geschilderten nahrungsunabhängigen Sodbrennens. In diesem Fall<br />

gewährleistet das Verfahren nämlich keinen gesicherten Atemwegsschutz. Die Anwendung einer Larynxmaske<br />

hätte im Gegenteil eine Aspiration von Magensaft mit schweren lebensbedrohlichen Folgen wie<br />

Aspirationspneumonie, Lungenversagen, mögliche Sepsis und schlussendlich Todesfolge bewirken können.<br />

Auch vermag die Kammer keinen Fehler in der Auswahl des Tubus erkennen. Bei der Klägerin wurde ein Ring-<br />

Adair-Elwyn (RAE) Endotrachealtubus mit einem Innendurchmesser von 7,5 mm verwandt. Der<br />

Innendurchmesser entsprach dem für Frauen vorgesehenen Standard.<br />

Hinsichtlich der Durchführung der narkose ist ebenfalls kein zum Schadensersatz verpflichtender<br />

Behandlungsfehler feststellbar. Die Klägerin kann sich insbesondere nicht darauf berufen, dass bei ihr als<br />

Muskelrelaxans nicht Succinylcholin, sondern Mivacurium verwendet wurde. Nach den Ausführungen des<br />

Sachverständigen ist die Kammer zwar davon überzeugt, dass diese Wahl ungewöhnlich ist. Ob sie deshalb auch<br />

als fehlerhaft anzusehen ist, kann vorliegend dahinstehen. Denn die Klägerin hat nicht bewiesen, dass es<br />

aufgrund der Wahl des Muskelrelaxanz zu der Ruptur gekommen ist. Standardrelaxanzien wie Succinylcholin<br />

werden wegen der geringen Anschlagzeit empfohlen. Damit soll verhindert werden, dass der Patient durch einen<br />

Sättigungsabfall der Gefahr einer Hypoxie ausgesetzt ist. Im Falle der Klägerin ist ein derartiger Sättigungsabfall<br />

jedoch nicht eingetreten.<br />

Die Kammer kann auch nicht erkennen, dass dem Personal der Beklagten sonstige Behandlungsfehler<br />

vorzuwerfen sind. Zwar kommen als Ursache für eine Trachealruptur auch Fehler wie das Herausragen des<br />

Führungsmandrins über den Tubus oder ein zu hoher Cuff-Druck in Betracht. Die Kammer ist aufgrund der<br />

Erörterung in der mündlichen Verhandlung aber davon überzeugt, dass eine derartige Ruptur auch bei<br />

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vollständiger Wahrung des ärztlichen Standards eintreten kann und sie keineswegs zwingend den Rückschluss<br />

auf einen Behandlungsfehler gebietet.<br />

Aus vorstehenden Gründen ist auch der Feststellungsantrag unbegründet.<br />

Da die Klägerin keine Anspruch auf Schadenersatz gegen die Beklagte hat, hat sie auch keinen Anspruch auf<br />

Ersatz derr außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten, die mit dem Antrag zu 3. Geltend gemacht werden.<br />

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91 Abs. 1 S 1 709 S 1, 2 ZPO<br />

Dr. Terharn, Busche-Köckemann, Kluth<br />

BGH VI ZR 204/09 Verkündet am: 15. Juni 2010- In einfach gelagerten Fällen kann der Arzt den Patienten<br />

grundsätzlich auch in einem telefonischen Gespräch über die Risiken eines bevorstehenden Eingriffs<br />

aufklären, wenn der Patient damit einverstanden ist.<br />

BGH, Urteil vom 15. Juni 2010 - VI ZR 204/09 - OLG München, LG Traunstein<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 15. Juni 2010 durch den<br />

Vorsitzenden Richter Galke, die Richter Zoll und Wellner, die Richterin Diederichsen und den Richter Stöhrfür<br />

Recht erkannt:<br />

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 4. Juni 2009<br />

wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Klägerin begehrt von den Beklagten Schmerzensgeld und Feststellung der Schadensersatzpflicht wegen<br />

vermeintlicher Fehler im Zusammenhang mit einer bei ihr im Alter von drei Wochen vorgenommenen<br />

Leistenhernien-Operation, die der Beklagte zu 1 als Operateur und der Beklagte zu 2 als Anästhesist in einem<br />

Kreiskrankenhaus durchgeführt haben.<br />

Der Beklagte zu 1 führte bei einem Besuch der Eltern der Klägerin in seiner Praxis im Behandlungszimmer ein<br />

Aufklärungsgespräch mit der Mutter der Klägerin. Der Vater befand sich zu diesem Zeitpunkt im Wartezimmer. Er<br />

hatte ein Aufklärungsformular über die geplante Operation erhalten, welches er ausfüllte und auf dem er - ebenso<br />

wie später seine Ehefrau - durch seine Unterschrift die Einwilligung zu dem Eingriff erklärte.<br />

Der Beklagte zu 2 führte zwei Tage vor dem Eingriff mit dem Vater der Klägerin ein Telefonat über die<br />

bevorstehende Operation, dessen Inhalt streitig ist. Am Morgen vor der Operation unterzeichneten die Eltern der<br />

Klägerin ein Einwilligungsformular.<br />

Bei der Operation kam es zu atemwegsbezogenen Komplikationen. Die Sauerstoffsättigung fiel ab, es kam zu<br />

einer Kreislaufdestabilisierung und Pulsabfall. Zunächst wurde die Klägerin mit einer Larynxmaske beatmet, dann<br />

erfolgte eine Intubation. Es wurde auch eine Herzdruckmassage durchgeführt. Die Klägerin erwachte nach<br />

Beendigung der Operation nicht aus der Narkose und musste auf die Intensivstation eines Kinderkrankenhauses<br />

verlegt werden. Infolge des Narkosezwischenfalls erlitt die Klägerin eine schwere zentralmotorische Störung, die<br />

insbesondere die Fein- und Grobmotorik, die Koordinations- und Artikulationsfähigkeit beeinträchtigt (spastische<br />

Tetraparese mit Linksbetonung und dystoner Komponente, Strabismus convergens).<br />

Die Klägerin macht geltend, sowohl die chirurgische als auch die anästhesiologische Aufklärung sei unzureichend<br />

gewesen, da nicht beide Elternteile aufgeklärt worden seien. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das<br />

Oberlandesgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit ihrer vom<br />

Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.<br />

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Entscheidungsgründe:<br />

I. Das Berufungsgericht ist - wie schon zuvor das Landgericht - aufgrund sachverständiger Beratung zu dem<br />

Ergebnis gelangt, dass Behandlungsfehler nicht vorliegen. Darüber hinaus hat es auch Aufklärungsfehler<br />

verneint.<br />

Was die chirurgische Aufklärung durch den Beklagten zu 1 anbelangt, hat sich das Berufungsgericht aufgrund<br />

seiner Beweisaufnahme die Überzeugung gebildet, dass die Eltern der Klägerin einige Tage vor der Operation in<br />

der Praxis des Beklagten zu 1 erschienen seien, wo dieser mit der Mutter der Klägerin, die bereits durch den<br />

Kinderarzt vorinformiert gewesen sei, im Behandlungszimmer die Indikation und die Art des Eingriffs besprochen<br />

habe. Der Vater der Klägerin sei zwar in der Praxis anwesend gewesen, er habe seine Frau jedoch nicht in das<br />

Behandlungszimmer begleitet. Er habe ein Aufklärungsformular über die geplante Operation erhalten, welches er<br />

ausgefüllt und auf dem er - ebenso wie später seine Ehefrau - durch seine Unterschrift in den Eingriff eingewilligt<br />

habe. Nicht geklärt werden könne, weshalb der Vater der Klägerin nicht mit in das Behandlungszimmer<br />

gekommen sei. Insbesondere sei die Behauptung des Vaters der Klägerin nicht bewiesen, ihm sei von der<br />

Sprechstundenhilfe gesagt worden, es dürfe nur ein Elternteil in das Behandlungszimmer. Möglicherweise sei der<br />

Vater der Klägerin im Wartezimmer geblieben, um sich zwischenzeitlich die übergebenen Unterlagen<br />

durchzulesen und auszufüllen. Inhaltlich sei die Aufklärung des Beklagten zu 1 zutreffend und vollständig<br />

gewesen. Beide Sachverständige hätten übereinstimmend bestätigt, dass es sich bei der Leistenhernienoperation<br />

bei Mädchen, auch wenn diese neugeborenseien, um einen einfachen Eingriff handele. Die Operation sei objektiv<br />

dringlich gewesen. Ein Abwarten hätte ganz erhebliche Risiken für die Klägerin zur Folge gehabt und dies als<br />

Alternative darzustellen, wäre ein Fehler gewesen. Die Aufklärung durch den Beklagten zu 1 sei auch nicht<br />

deshalb unzureichend gewesen, weil er nur mit der Mutter der Klägerin gesprochen habe. Aus chirurgischer Sicht<br />

habe es sich bei der Operation nur um einen einfachen Eingriff gehandelt, so dass eine ausführliche Besprechung<br />

der Vorgehensweise und der Risiken mit beiden Elternteilen nicht erforderlich gewesen sei. Der Vater der<br />

Klägerin sei in die Aufklärung und Einwilligung insoweit einbezogen gewesen, als er das Aufklärungsformular<br />

erhalten, dieses ausgefüllt und unterzeichnet habe. Beide Elternteile seien demnach ausreichend über die<br />

chirurgische Seite des Eingriffs informiert und mit der Operation einverstanden gewesen.<br />

Was die anästhesiologische Aufklärung anbelangt, hält es das Berufungsgericht für ausreichend, dass der<br />

Beklagte zu 2 den Vater der Klägerin über die bevorstehende Anästhesie seiner Tochter telefonisch aufgeklärt<br />

hat. In dem cirka 15 Minuten dauernden Telefonat, das der Vater der Klägerin als angenehm und vertrauensvoll<br />

geschildert habe, habe dieser hinreichend Gelegenheit gehabt, sich zu informieren. Dabei habe ihn der Beklagte<br />

zu 2 in dem vom Sachverständigen als vollständig und zutreffend bezeichneten Aufklärungsgespräch in<br />

gebotenem Umfang über die Risiken der Anästhesie aufgeklärt, insbesondere auf die Gefahren hingewiesen, die<br />

sich bei der Operation verwirklicht haben (Atemstörungen, Beatmungsprobleme, Herz-Kreislaufprobleme und<br />

Querschnittslähmung). Im Übrigen habe der Sachverständige Narkosezwischenfälle sowohl bei einem drei<br />

Wochen alten Neugeborenen als auch bei wenige Monate alten Säuglingen als extrem selten bezeichnet. Die<br />

Tatsache, dass der Beklagte zu 2 nur mit dem Vater gesprochen habe, sei angesichts des im unteren bis<br />

allenfalls mittleren Anforderungs- und Risikoprofil liegenden Eingriffs rechtlich unbedenklich. Der Beklagte zu 2<br />

habe sichergestellt, dass nicht allein der Vater über die Operation seiner Tochter entschieden habe, indem er<br />

darauf bestanden habe, dass beide Elternteile vor der Operation anwesend gewesen seien. Er habe dabei beiden<br />

Elternteilen nochmals Gelegenheit zu Fragen gegeben und beide hätten sodann ihr Einverständnis zur Operation<br />

erteilt, indem sie den Anästhesiebogen (einschließlich der handschriftlich vermerkten Risiken) unterzeichnet<br />

hätten. Da sich die Rechtsprechung jedoch bislang nicht mit der Möglichkeit einer telefonischen Aufklärung<br />

befasst habe, sei die Revision wegen der Frage zuzulassen:<br />

"Genügt eine telefonische Aufklärung über die Risiken einer Anästhesie bei einer ansonsten einfachen Operation<br />

zwei Tage vor dem Eingriff den Anforderungen der Rechtsprechung an ein "vertrauensvolles<br />

Aufklärungsgespräch zwischen Arzt und Patient", insbesondere, wenn der Arzt unmittelbar vor der Operation<br />

nochmals ausdrücklich nachfragt, ob noch Unklarheiten bestehen oder Fragen offen sind?"<br />

II.Das Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung stand.<br />

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1. Die Revision greift das Berufungsurteil nicht an, soweit dieses Behandlungsfehler verneint hat. Rechtsfehler<br />

sind insoweit auch nicht ersichtlich.<br />

2. Das Berufungsgericht ist - entgegen der Auffassung der Revision - in tatrichterlicher Würdigung ohne<br />

Rechtsfehler zu dem Ergebnis gelangt, dass die Eltern der Klägerin aufgrund einer hinreichenden Aufklärung<br />

durch den Beklagten zu 1 über die chirurgische Seite der Operation wirksam ihre Einwilligung in den Eingriff erteilt<br />

haben.<br />

a) Aufklärungspflichtig ist grundsätzlich jeder Arzt für diejenigen Eingriffs- und Behandlungsmaßnahmen, die er<br />

selbst durchführt, und nur soweit sein Fachgebiet betroffen ist (vgl. Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 6. Aufl., C<br />

Rn. 106 f. m.w.N.). Da die anästhesiologische Aufklärung durch den Beklagten zu 2 - wenn auch später - erfolgt<br />

ist, konnte sich der Beklagte zu 1 auf eine Aufklärung über die chirurgischen Risiken des Eingriffs beschränken<br />

und musste nicht auch noch - wie die Revision meint - über die Risiken der für den Eingriff erforderlichen<br />

Anästhesie aufklären.<br />

b) Das Berufungsgericht hat die Einwilligung in den Eingriff mit Recht nicht deshalb für unwirksam erachtet, weil -<br />

worauf die Revision abheben will - der Beklagte zu 1 das Aufklärungsgespräch nur mit der Mutter der Klägerin geführt<br />

hat.<br />

aa) Nach gefestigter Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Senatsurteile BGHZ 144, 1, 4; 105, 45, 47 ff.)<br />

bedarf es bei einem minderjährigen Kind in den Fällen, in denen die elterliche Sorge beiden Eltern gemeinsam zusteht,<br />

zu einem ärztlichen Heileingriff der Einwilligung beider Elternteile. Jedoch wird man jedenfalls in<br />

Routinefällen davon ausgehen können, dass der mit dem Kind beim Arzt erscheinende Elternteil ermächtigt ist,<br />

die Einwilligung in die ärztliche Behandlung für den abwesenden Elternteil mitzuerteilen, worauf der Arzt in<br />

Grenzen vertrauen darf, solange ihm keine entgegenstehenden Umstände bekannt sind. In anderen Fällen, in<br />

denen es um ärztliche Eingriffe schwererer Art mit nicht unbedeutenden Risiken geht, wird sich der Arzt darüber<br />

hinaus vergewissern müssen, ob der erschienene Elternteil die Ermächtigung des anderen hat und wie weit diese<br />

reicht; er wird aber, solange dem nichts entgegensteht, auf eine wahrheitsgemäße Auskunft des erschienenen<br />

Elternteils vertrauen dürfen. Darüber hinaus kann es angebracht sein, auf den erschienenen Elternteil dahin<br />

einzuwirken, die vorgesehenen ärztlichen Eingriffeund deren Chancen und Risiken noch einmal mit dem anderen<br />

Elternteil zu besprechen. Geht es um schwierige und weit reichende Entscheidungen über die Behandlung des<br />

Kindes, etwa um eine Herzoperation, die mit erheblichen Risiken für das Kind verbunden sind, dann liegt eine<br />

Ermächtigung des einen Elternteils zur Einwilligung in ärztliche Eingriffe bei dem Kind durch den anderen nicht<br />

von vornherein nahe. Deshalb muss sich der Arzt in einem solchen Fall die Gewissheit verschaffen, dass der<br />

nicht erschienene Elternteil mit der vorgesehenen Behandlung des Kindes einverstanden ist (vgl. Senatsurteil<br />

BGHZ 105, 45, 47 ff.).<br />

bb) Im Streitfall führte der Beklagte zu 1 zwar das Aufklärungsgespräch allein mit der Mutter der Klägerin. Er<br />

konnte aber - wie das Berufungsgericht mit Recht angenommen hat - aufgrund der vorliegenden Umstände davon<br />

ausgehen, dass auch der Vater einverstanden war.<br />

Nach den Feststellungen des sachverständig beratenen Berufungsgerichts handelte es sich im Streitfall aus<br />

chirurgischer Sicht um einen relativ einfachen Eingriff. Der Vater der Klägerin war in der Praxis mit erschienen, er<br />

begleitete lediglich seine Ehefrau nicht in das Behandlungszimmer, in dem das Aufklärungsgespräch stattfand. Er<br />

hatte jedoch nach den weiteren Feststellungen des Berufungsgerichts ein einschlägiges Aufklärungsformular<br />

erhalten, dieses ausgefüllt und es - ebenso wie seine Ehefrau - unterschrieben. Unter diesen Umständen durfte<br />

der Beklagte zu 1 davon ausgehen, dass der Vater der Klägerin die Mutter ermächtigt hatte, das<br />

Aufklärungsgespräch allein zu führen. Dass der Vater der Klägerin - wie sie behauptet - von der<br />

Sprechstundenhilfe des Beklagten zu 1 davon abgehalten worden sein soll, ihrer Mutter in das<br />

Behandlungszimmer zu folgen, hat das Berufungsgericht gerade nicht festgestellt und musste es deshalb -<br />

entgegen der Auffassung der Revision - seiner Beurteilung auch nicht zugrunde legen.<br />

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3. Entgegen der Auffassung der Revision ist es rechtlich auch nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht<br />

aufgrund der getroffenen Feststellungen von einer hinreichenden Aufklärung über die Risiken der Anästhesie<br />

durch den Beklagten zu 2 ausgegangen ist.<br />

aa) Das Berufungsgericht ist in tatrichterlicher Würdigung verfahrensfehlerfrei zu der Überzeugung gelangt, dass<br />

der Beklagte zu 2 den Vater der Klägerin in einem Telefongespräch zwei Tage vor der Operation in gebotenem<br />

Umfang vollständig und zutreffend über die Risiken der Anästhesie aufgeklärt hat. Der Auffassung der Revision,<br />

dass das Telefongespräch nicht den Anforderungen genügte, die der Senat an ein vertrauensvolles Gespräch<br />

zwischen Arzt und Patient stellt, kann unter den besonderen Umständen des Streitfalles nicht gefolgt werden.<br />

bb) Grundsätzlich kann sich der Arzt in einfach gelagerten Fällen auch in einem telefonischen<br />

Aufklärungsgespräch davon überzeugen, dass der Patient die entsprechenden Hinweise und Informationen<br />

verstanden hat. Ein Telefongespräch gibt ihm ebenfalls die Möglichkeit, auf individuelle Belange des Patienten<br />

einzugehen und eventuelle Fragen zu beantworten (vgl. Senatsurteil BGHZ 144, 1, 13). Dem Patienten bleibt es<br />

unbenommen, auf einem persönlichen Gespräch zu bestehen. Handelt es sich dagegen um komplizierte Eingriffe<br />

mit erheblichen Risiken, wird eine telefonische Aufklärung regelmäßig unzureichend sein.<br />

cc) Das Aufklärungsgespräch betraf im Streitfall die typischen Risiken einer Anästhesie im Zusammenhang mit<br />

einem - nach den Feststellungen des Berufungsgerichts - eher einfachen chirurgischen Eingriff. Die Anästhesie<br />

hatte gewisse, durchaus erhebliche, aber insgesamt seltene Risiken. Nach den weiteren Feststellungen des<br />

Berufungsgerichts dauerte das Telefonat 15 Minutenund wurde von dem Vater der Klägerin selbst als angenehm<br />

und vertrauensvoll bezeichnet. Unter diesen Umständen begegnet es aus revisionsrechtlicher Sicht keinen<br />

Bedenken, dass das Berufungsgericht die Vorgehensweise des Beklagten zu 2 als zulässige Möglichkeit der<br />

Aufklärung über die Risiken der Anästhesie angesehen hat. Dabei hat es mit Recht dem Umstand besondere<br />

Bedeutung beigemessen, dass der Beklagte zu 2 bei seinem Telefongespräch mit dem Vater darauf bestanden<br />

hat, dass beide Elternteile am Morgen vor der Operation anwesend sind, nochmals Gelegenheit zu Fragen<br />

erhalten und sodann ihre Einwilligung zur Operation durch Unterzeichnung des Anästhesiebogens einschließlich<br />

der handschriftlichen Vermerke erteilen. Dabei durfte der Beklagte zu 2 mangels entgegenstehender<br />

Anhaltspunkte aufgrund des vorangegangenen telefonischen Aufklärungsgesprächs mit dem Vater davon<br />

ausgehen, dass dieser bereits die vorgesehenen ärztlichen Eingriffe und deren Chancen und Risiken mit der<br />

Mutter besprochen hatte (vgl. Senatsurteil BGHZ 144, 1, 4). Soweit die Revision geltend macht, die<br />

handschriftlichen Vermerke aufdem Anästhesiebogen seien unleserlich gewesen, vermag dies angesichts der<br />

Tatsache, dass die Eltern Gelegenheit zu Fragen hatten, keine abweichende Beurteilung zu rechtfertigen.<br />

Galke Zoll WellnerDiederichsen StöhrVorinstanzen:<br />

LG Traunstein, Entscheidung vom 16.04.2008 - 3 O 2127/04 -<br />

OLG München, Entscheidung vom 04.06.2009 - 1 U 3200/08 –<br />

BGH- Urteil vom 06.06.2010 – 5 StR 386/09. Die Präimplantationsdiagnostik zur Entdeckung schwerer<br />

genetischer Schäden des extrakorporal erzeugten Embryos ist nicht strafbar<br />

Das Landgericht Berlin hat den Angeklagten, einen Frauenarzt mit dem Schwerpunkt Kinderwunschbehandlung,<br />

vom Vorwurf einer dreifachen strafbaren Verletzung des Embryonenschutzgesetzes freigesprochen.<br />

In den Jahren 2005 und 2006 wandten sich drei Paare mit dem Ziel einer extrakorporalen Befruchtung an den<br />

Angeklagten. In allen Fällen wies einer der Partner genetische Belastungen auf. Aufgrund dessen bestand die<br />

Gefahr, dass auch die erzeugten Embryonen genetisch belastet sein würden, was einen Abort, eine Totgeburt,<br />

ein Versterben des Neugeborenen nach der Geburt oder die Geburt eines schwerkranken Kindes<br />

hochwahrscheinlich machte.<br />

Im Hinblick auf die Gefahrenlage und dem Wunsch seiner Patienten entsprechend führte der Angeklagte jeweils<br />

eine sog. Präimplantationsdiagnostik (im Folgenden: PID) an pluripotenten, d.h. nicht zu einem lebensfähigen Organismus<br />

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entwicklungsfähigen Zellen durch. Die Untersuchung diente dem Zweck, nur Embryonen ohne genetische<br />

Anomalien übertragen zu können. Dies geschah in allen Fällen. Embryonen mit festgestellten<br />

Chromosomenanomalien wurden hingegen nicht weiter kultiviert und starben in der Folge ab.<br />

Der 5. ("Leipziger") Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat das freisprechende Urteil des Landgerichts bestätigt und die<br />

Revision der Staatsanwaltschaft demgemäß verworfen. Der Senat ist in Übereinstimmung mit dem Landgericht zu<br />

der Auffassung gelangt, dass der Angeklagte § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG (missbräuchliche Anwendung von Fortpflanzungstechniken) und § 2<br />

Abs. 1 ESchG (missbräuchliche Verwendung menschlicher Embryonen) nicht verletzt hat.<br />

Aus den genannten Strafbestimmungen kann nicht mit der im Strafrecht erforderlichen Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG)<br />

ein Verbot der bei Erlass des Embryonenschutzgesetzes im Jahr 1990 erst im Ausland entwickelten PID<br />

abgeleitet werden, die den Embryo nach derzeitigem medizinisch-naturwissenschaftlichem Kenntnisstand<br />

überdies nicht schädigt. Das Vorgehen des Angeklagten verstößt weder gegen den Wortlaut noch gegen den<br />

Sinn des Gesetzes. Dem bei jeder Gesetzesauslegung zu würdigenden Willen des historischen Gesetzgebers<br />

lässt sich ein Verbot einer solchen PID, die der Gesetzgeber nicht ausdrücklich berücksichtigt hat, nicht<br />

entnehmen.<br />

Dem mit dem Gesetz verfolgten Zweck des Schutzes von Embryonen vor Missbräuchen läuft die PID nicht<br />

zuwider. Das Embryonenschutzgesetz erlaubt die extrakorporale Befruchtung zur Herbeiführung einer<br />

Schwangerschaft ohne weitere Einschränkungen. Ein strafbewehrtes Gebot, Embryonen auch bei genetischen<br />

Belastungen der Eltern ohne Untersuchung zu übertragen, birgt hohe Risiken in sich; vor allem ist zu besorgen,<br />

dass sich die Schwangere im weiteren Verlauf nach einer ärztlicherseits angezeigten und mit denselben<br />

Diagnosemethoden durchgeführten Pränataldiagnostik, hinsichtlich derer eine ärztliche Aufklärungspflicht besteht,<br />

für einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet. Die PID ist geeignet, solch schwerwiegende Gefahren zu<br />

vermindern. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber sie verboten hätte, wenn sie bei<br />

Erlass des Embryonenschutzgesetzes schon zur Verfügung gestanden hätte. Dagegen spricht auch eine<br />

Wertentscheidung, die der Gesetzgeber in § 3 Satz 2 des Embryonenschutzgesetzes getroffen hat. Dort ist eine<br />

Ausnahme vom Verbot der Geschlechtswahl durch Verwendung ausgewählter Samenzellen normiert worden. Mit<br />

dieser Regelung ist der aus dem Risiko einer geschlechtsgebundenen Erbkrankheit des Kindes resultierenden<br />

Konfliktlage der Eltern Rechnung getragen worden, die letztlich in einen Schwangerschaftsabbruch einmünden<br />

kann. Eine gleichgelagerte Konfliktlage hat in den zu beurteilenden Fällen bestanden.<br />

Der Bundesgerichtshof hat betont, dass Gegenstand seiner Entscheidung nur die Untersuchung von Zellen auf<br />

schwerwiegende genetische Schäden zur Verminderung der genannten Gefahren im Rahmen der PID sei. Einer<br />

unbegrenzten Selektion von Embryonen anhand genetischer Merkmale, etwa die Auswahl von Embryonen, um<br />

die Geburt einer "Wunschtochter" oder eines "Wunschsohnes" herbeizuführen, wäre damit nicht der Weg<br />

geöffnet.<br />

Urteil vom 6. 07.2010 – 5 StR 386/09. Landgericht Berlin – Urteil vom 14. 05.2009 – (512) 1 Kap Js 1424/06 KLs<br />

(26/08)<br />

Karlsruhe, den 6. 07.2010. § 1 Abs1 Nr. 2 ESCHG lautet:<br />

(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer …<br />

es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau<br />

herbeizuführen, von der die Eizelle stammt, …<br />

§ 2 Abs.1 ESchG lautet:<br />

(1) Wer einen extrakorporal erzeugten oder einer Frau vor Abschluss seiner Einnistung in der Gebärmutter<br />

entnommenen menschlichen Embryo veräußert oder zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck abgibt,<br />

erwirbt oder verwendet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.<br />

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BGH-Urteil vom 25.06.2010 – 2 StR 454/09. Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des<br />

Patientenwillens ist nicht strafbar<br />

BGHR: ja BGHSt: ja Veröffentlichung: ja, StGB §§ 212, 216, 13, BGB §§ 1901a ff.<br />

1. Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung<br />

(Behandlungsabbruch) ist gerechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen<br />

entspricht (§ 1901a BGB) und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess<br />

seinen Lauf zu lassen.<br />

2. Ein Behandlungsabbruch kann sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun vorgenommen werden.<br />

3. Gezielte Eingriffe in das Leben eines Menschen, die nicht in einem Zusammenhang mit dem Abbruch einer<br />

medizinischen Behandlung stehen, sind einer Rechtfertigung durch Einwilligung nicht zugänglich.<br />

BGH, Urteil vom 25. Juni 2010 - 2 StR 454/09 - LG Fulda<br />

in der Strafsachegegen<br />

wegen versuchten Totschlags<br />

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 25. Juni 2010 auf Grund der Hauptverhandlung<br />

vom 2. Juni 2010, an denen teilgenommen haben:<br />

Vorsitzende Richterin am BundesgerichtshofProf. Dr. Rissing-van Saan,Richter am Bundesgerichtshof<br />

Prof. Dr. Fischer,Richterin am BundesgerichtshofRoggenbuck,Richter am BundesgerichtshofDr. Appl,<br />

Prof. Dr. Schmitt,Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof ,in der Verhandlung vom 2. Juni 2010,<br />

Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof ,bei der Verkündung am 25. Juni 2010,als Vertreter der<br />

Bundesanwaltschaft,<br />

der Angeklagte,Rechtsanwalt<br />

für Recht erkannt:<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Fulda vom 30. April 2009 aufgehoben.<br />

Der Angeklagte wird freigesprochen.<br />

2. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das vorbezeichnete Urteil wird als unbegründet verworfen.<br />

3. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.<br />

Von Rechts wegen<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten<br />

verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Der Angeklagte verfolgt mit seiner auf die Sachrüge<br />

gestützten Revision die Aufhebung des Urteils und seine Freisprechung. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit<br />

ihrer auf die Sachrüge gestützten, zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten Revision die Strafzumessung. Das<br />

Rechtsmittel des Angeklagten hat in vollem Umfang Erfolg, das der Staatsanwaltschaft ist unbegründet.<br />

A Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:<br />

Der Angeklagte ist ein für den Fachbereich des Medizinrechts, insbesondere auf Palliativmedizin spezialisierter<br />

Rechtsanwalt. Er beriet seit 2006 die beiden Kinder der 1931 geborenen E. K. , nämlich die ursprünglich<br />

Mitangeklagte G. und deren inzwischen verstorbenen Bruder P. K. .<br />

Frau K. lag seit Oktober 2002 nach einer Hirnblutung im Wachkoma. Sie war seither nicht ansprechbar und wurde<br />

in einem Altenheim in B. H. gepflegt und über einen Zugang in der Bauchdecke, eine sog. PEG-Sonde, künstlich<br />

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ernährt. Frau K. , der nach einer Fraktur im Jahr 2006 der linke Arm amputiert worden war, war im Dezember<br />

2007 bei einer Größe von 1,59 m auf ein Gewicht von 40 kg abgemagert. Eine Besserung ihres<br />

Gesundheitszustands war nicht mehr zu erwarten.<br />

Nachdem schon ihr Vater im Jahr 2002 eine Hirnblutung ohne schwerwiegende gesundheitliche Folgen erlitten<br />

hatte, hatte Frau G. ihre Mutter Ende September 2002 befragt, wie sie und ihr Bruder sich verhalten sollten, falls<br />

Frau K. etwas zustoßen sollte. Diese hatte darauf u.a. erwidert, falls sie bewusstlos werde und sich nicht mehr<br />

äußern könne, wolle sie keine lebensverlängernden Maßnahmen in Form künstlicher Ernährung und Beatmung,<br />

sie wolle nicht an irgendwelche "Schläuche" angeschlossen werden.<br />

Zunächst war für Frau K. deren Ehemann als Betreuer bestellt und später zu dessen Unterstützung eine<br />

Berufsbetreuung eingerichtet worden. Die Berufsbetreuerin nahm seit Ende 2005 die Betreuung allein wahr,<br />

nachdem der Ehemann der Betreuten verstorben war. Frau G. teilte der Berufsbetreuerinim März 2006 mit, dass<br />

sie und ihr Bruder den Wunsch hätten, dass die Magensonde entfernt würde, damit ihre Mutter in Würde sterben<br />

könne. Hierbei berichtete Frau G. auch von dem mit ihrer Mutter im September 2002 geführten Gespräch, dessen<br />

Inhalt diese trotz der Bitte der Tochter, die Angelegenheit mit ihrem Ehemann zu besprechen und sodann<br />

schriftlich zu fixieren, nicht schriftlich niedergelegt hatte. Die Berufsbetreuerin lehnte die Entfernung der<br />

Magensonde unter Hinweis auf den ihr nicht bekannten mutmaßlichen Willen der Betreuten ab und blieb auch auf<br />

mehrere Interventionen des inzwischen mandatierten Angeklagten bei ihrer Ablehnung.<br />

Der Angeklagte bemühte sich in der Folgezeit zusammen mit Frau G. und deren Bruder um die Einstellung der<br />

künstlichen Ernährung. Auf seinen Antrag wurden beide Kinder im August 2007 zu Betreuern ihrer Mutter bestellt.<br />

Der behandelnde Hausarzt unterstützte das Vorhaben der Betreuer, weil aus seiner Sicht eine medizinische<br />

Indikation zur Fortsetzung der künstlichen Ernährung nicht mehr gegeben war. Die Bemühungen stießen aber auf<br />

Widerstand bei Heimleitung und -personal. Nachdem auch eine ausdrückliche Anordnung des Arztes zur<br />

Einstellung der künstlichen Ernährung vom Pflegepersonal nicht befolgt worden war, schlug die Heimleiterin<br />

schließlich einen Kompromiss vor. Um den moralischen Vorstellungen aller Beteiligten gerecht zu werden, sollte<br />

sich das Personal nur noch um die Pflegetätigkeiten im engeren Sinn kümmern, während Frau G. und Herr K.<br />

selbst die Ernährung über die Sonde einstellen, die erforderliche Palliativversorgung durchführen und ihrer Mutter<br />

im Sterben beistehen sollten. Nach Rücksprache mit dem Angeklagten erklärten sich Frau G. und Herr K. hiermit<br />

einverstanden.<br />

Demgemäß beendete Frau G. am 20. Dezember 2007 die Nahrungszufuhr über die Sonde und begann, auch die<br />

Flüssigkeitszufuhr zu reduzieren. Am nächsten Tag wies die Geschäftsleitung des Gesamtunternehmens<br />

jedochdie Heimleitung an, die künstliche Ernährung umgehend wieder aufzunehmen. Frau G. und Herrn K. wurde<br />

ein Hausverbot für den Fall angedroht, dass sie sich hiermit nicht einverstanden erklären sollten. Darauf erteilte<br />

der Angeklagte ihnen am gleichen Tag telefonisch den Rat, den Schlauch der Sonde unmittelbar über der<br />

Bauchdecke zu durchtrennen, weil gegen die rechtswidrige Fortsetzung der Sondenernährung durch das Heim<br />

ein effektiver Rechtsschutz nicht kurzfristig zu erlangen sei. Nach seiner Einschätzung der Rechtslage werde<br />

keine Klinik eigenmächtig eine neue Sonde einsetzen, so dass Frau K. würde sterben können. Frau G. folgte<br />

diesem Rat und schnitt Minuten später mit Unterstützung ihres Bruders den Schlauch durch. Nachdem das<br />

Pflegepersonal dies bereits nach einigen weiteren Minuten entdeckt und die Heimleitung die Polizei eingeschaltet<br />

hatte, wurde Frau K. auf Anordnung eines Staatsanwalts gegen den Willen ihrer Kinder in ein Krankenhaus<br />

gebracht, wo ihr eine neue PEG-Sonde gelegt und die künstliche Ernährung wieder aufgenommen wurde. Sie<br />

starb dort am 5. Januar 2008 eines natürlichen Todes auf Grund ihrer Erkrankungen.<br />

B.Das Landgericht hat das Handeln des Angeklagten am 21. Dezember 2007 als einen gemeinschaftlich mit Frau<br />

G. begangenen versuchten Totschlag durch aktives Tun gewürdigt, der weder durch eine mutmaßliche Einwilligung<br />

der Frau K. noch nach den Grundsätzen der Nothilfe oder des rechtfertigenden Notstandes gerechtfertigt<br />

sei. Auch auf einen entschuldigenden Notstand könne sich der Angeklagte nicht berufen. Soweit er sich im Erlaubnisirrtum<br />

befunden habe, sei dieser für ihn als einschlägig spezialisierten Rechtsanwalt vermeidbar gewesen.<br />

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Die Mitangeklagte G. hat das Landgericht freigesprochen, weil sie sich angesichts des Rechtsrats des<br />

Angeklagten in einem unvermeidbaren Erlaubnisirrtum befunden und deshalb ohne Schuld gehandelt habe.<br />

I. Die Revision des Angeklagten<br />

Der Angeklagte rügt mit seiner Revision die Verletzung sachlichen Rechts. Sie führt zur Aufhebung des Urteils<br />

und zum Freispruch des Angeklagten. Die Annahme des Landgerichts, das Verhalten des Angeklagten P. und<br />

das ihm nach § 25 Abs. 2 StGB zurechenbare, auf seinen Rat hin erfolgte Durchtrennen des<br />

Versorgungsschlauchs der PEG-Sonde durch die frühere Mitangeklagte G. seien als versuchter Totschlag weder<br />

durch Einwilligung noch auf Grund des Eingreifens sonstiger Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt, hält im<br />

Ergebnis rechtlicher Prüfung nicht stand.<br />

1. Eine ausdrückliche rechtliche Würdigung des Geschehens, welches den der Verurteilung zugrunde gelegten<br />

Tathandlungen vorausging, hat das Landgericht nicht vorgenommen. Seine Ansicht, dass die vom Heimbetreiber<br />

beabsichtigte Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung gegen den Willen der Betreuer und des behandelnden<br />

Arztes ein rechtswidriger Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen gewesen wäre, setzt jedoch<br />

voraus, dass die vorausgehende Beendigung der Ernährung rechtmäßig war. Davon ist das Landgericht im<br />

Ergebnis zutreffend ausgegangen.<br />

a) Bereits mit Urteil vom 13. September 1994 (1 StR 357/94 = BGHSt 40, 257, 261) hat der 1. Strafsenat des<br />

Bundesgerichtshofs über einen Fall des Abbruchs der künstlichen Ernährung bei einer irreversibel schwerst<br />

hirngeschädigten, entscheidungsunfähigen Patientin im Zusammenwirken von deren zumPfleger bestellten Sohn<br />

und dem behandelnden Arzt entschieden. Da die Grunderkrankung - wie im vorliegenden Fall - noch keinen<br />

unmittelbar zum Tod führenden Verlauf genommen hatte, lag, wie der 1. Strafsenat festgestellt hat, kein Fall der<br />

so genannten "passiven Sterbehilfe" nach den Kriterien der damaligen "Richtlinien für die Sterbehilfe" der<br />

Deutschen Ärztekammer vor (vgl. Deutsches Ärzteblatt 1993 B-1791 f.). Gleichwohl hat der Bundesgerichtshof<br />

erkannt, "dass angesichts der besonderen Umstände des hier gegebenen Grenzfalls ausnahmsweise ein<br />

zulässiges Sterbenlassen durch Abbruch einer ärztlichen Behandlung oder Maßnahme nicht von vornherein<br />

ausgeschlossen (sei), sofern der Patient mit dem Abbruch mutmaßlich einverstanden ist. Denn auch in dieser<br />

Situation ist das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu achten, gegen dessen Willen eine ärztliche<br />

Behandlung grundsätzlich weder eingeleitet noch fortgesetzt werden darf" (BGHSt 40, 257, 262).<br />

In seinem Beschluss vom 17. März 2003 (XII ZB 2/03 - BGHZ 154, 205 = NJW 2003, 1588), der den Fall eines an<br />

einem apallischen Syndrom leidenden Patienten betraf, hat der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs allerdings<br />

entschieden, das Unterlassen lebenserhaltender oder -verlängernder Maßnahmen bei einem<br />

einwilligungsunfähigen Patienten setze voraus, dass dies dessen tatsächlich geäußerten oder mutmaßlichen<br />

Willen entspreche und dass die Grunderkrankung einen "irreversibel tödlichen Verlauf" angenommen habe.<br />

Hieraus ist in der Literatur vielfach abgeleitet worden, zwischen der zivilrechtlichen und der strafrechtlichen<br />

Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestehe in der Frage der Zulässigkeit so genannter "passiver<br />

Sterbehilfe" eine Divergenz (vgl. etwa Höfling/Rixen JZ 2003, 884, 885 ff.; Ingelfinger JZ 2006, 821; Otto NJW<br />

2006, 2217, 2218 f.; Saliger MedR 2004, 237, 240 f.; Sternberg-Lieben in FS für Eser (2005) S. 1185, 1198 ff.;<br />

Verrel, Gutachten zum 66. DJT, 2006, C 43 ff.). Diese Ansicht bestand auch fort, nachdem der XII. Zivilsenat in<br />

einem Kostenbeschluss vom 8. Juni 2005 (XII ZR 177/03 - BGHZ 163, 195 =NJW 2005, 2385) entschieden hatte,<br />

ein Heimbetreiber sei zur Fortsetzung einer künstlichen Ernährung bei einem entscheidungsunfähigen, an einem<br />

apallischen Syndrom leidenden Patienten gegen dessen durch den Betreuer verbindlich geäußerten Willen nicht<br />

berechtigt und das Vormundschaftsgericht zu einer Entscheidung nicht berufen, wenn Betreuer und Arzt sich<br />

übereinstimmend gegen eine weitere künstliche Ernährung entschieden hatten; der Eintritt in eine mutmaßlich<br />

unmittelbar zum Tod führende Phase der Grunderkrankung war danach nicht vorausgesetzt.<br />

Die hierdurch in der öffentlichen Wahrnehmung entstandene Unsicherheit über Voraussetzungen und Reichweite<br />

der Erlaubnis, eine lebenserhaltende medizinische Behandlung auf Grund des Patientenwillens zu beenden, ist<br />

durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29. Juli 2009 (BGBl I 2286) jedenfalls insoweit<br />

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eseitigt worden (näher dazu unten), als es nach § 1901a Abs. 3 BGB nicht (mehr) auf Art und Stadium der<br />

Erkrankung ankommt.<br />

b) Allerdings war, wie das Landgericht im Ergebnis zutreffend erkannt hat, die Beendigung der künstlichen<br />

Ernährung durch Unterlassen bzw. Reduzierung der Zufuhr kalorienhaltiger Flüssigkeit durch die frühere<br />

Mitangeklagte und ihren Bruder schon auf der Grundlage des zur Tatzeit geltenden Rechts zulässig, denn die<br />

anerkannten Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Behandlungsabbruch durch so genannte "passive<br />

Sterbehilfe" lagen vor. Dabei kam es hier nicht auf einen - im Einzelfall möglicherweise schwer feststellbaren (vgl.<br />

BGHSt 40, 257, 260 f.) - mutmaßlichen Willen der Betroffenen an, da ihr wirklicher, vor Eintritt ihrer<br />

Einwilligungsunfähigkeit ausdrücklich geäußerter Wille zweifelsfrei festgestellt war. Zwischen den Betreuern und<br />

dem behandelnden Arzt bestand überdies Einvernehmen, dass der Abbruch der künstlichen Ernährung dem<br />

Willen der Patientin entsprach. Unter diesen Voraussetzungen durftedie Fortsetzung der künstlichen Ernährung<br />

unterlassen werden, ohne dass eine betreuungsgerichtliche Genehmigung erforderlich oder veranlasst gewesen<br />

wäre.<br />

c) Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht daher angenommen, dass die von der Heimleitung angekündigte<br />

Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung einen rechtswidrigen Angriff gegen die körperliche Integrität und das<br />

Selbstbestimmungsrecht der Patientin dargestellt hätte. Nach der schon zur Tatzeit ganz herrschenden<br />

Rechtsauffassung verliehen weder der Heimvertrag noch die Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) der<br />

Heimleitung oder dem Pflegepersonal das Recht, sich über das Selbstbestimmungsrecht von Patienten<br />

hinwegzusetzen und eigenmächtig in deren verfassungsrechtlich verbürgtes Recht auf körperliche Unversehrtheit<br />

einzugreifen (vgl. BGHZ 163, 195, 200; Dirksen GesR 2004, 124, 128; Höfling JZ 2006, 145, 146; Hufen NJW<br />

2001, 849, 853; ders. ZRP 2003, 248, 252; Ingelfinger JZ 2006, 821, 829; Lipp FamRZ 2004, 317, 324; Müller<br />

DNotZ 2005, 927, 928 f.; Sternberg-Lieben in FS für Eser (2005) S. 1185, 1203; Uhlenbruck NJW 2003, 1710,<br />

1711 f.; Verrel, Gutachten zum 66. DJT, 2006, C 41 ff.; Wagenitz FamRZ 2005, 669, 670 f.; anders noch OLG<br />

München NJW 2003, 1743, 1745; LG Traunstein NJW-RR 2003, 221, 224).<br />

2. Zutreffend hat das Landgericht die Frage verneint, ob die der Verurteilung zugrunde gelegten Handlungen des<br />

Angeklagten und der früheren Mitangeklagten, mit denen die rechtswidrige Wiederaufnahme der künstlichen<br />

Ernährung und der hierin liegende Angriff auf die körperliche Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht<br />

verhindert werden sollten, schon nach den Regeln der Nothilfe (§ 32 StGB) gerechtfertigt waren. Zwar lag, wie<br />

sich aus Vorstehendem ergibt, eine Notwehrlage im Sinne von § 32 StGB vor, welche den Angeklagten und die<br />

Betreuerin zur Nothilfe gem. § 32 Abs. 2 StGB berechtigt hätte. Die Verteidigungshandlungen richteten sich hier<br />

aber nicht oder nicht allein gegen<br />

Rechtsgüter des Angreifers (Sachbeschädigung durch Zerschneiden des Schlauchs), sondern vor allem gegen<br />

ein höchstrangiges, anderes Rechtsgut der Angegriffenen selbst. Der Eingriff in das Rechtsgut Leben der<br />

angegriffenen Person kann aber ersichtlich nicht durch Nothilfe gegen einen Angriff auf das Rechtsgut der<br />

körperlichen Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht derselben Person gerechtfertigt sein. Er bedurfte<br />

als selbständige Rechtsgutsverletzung vielmehr einer eigenen, von der Nothilfelage unabhängigen Legitimation.<br />

Auch eine Rechtfertigung aus dem Gesichtspunkt des Notstands gem. § 34 StGB scheidet, wie das Landgericht<br />

im Ergebnis zutreffend gesehen hat, vorliegend schon deshalb aus, weil sich der Eingriff des Angeklagten hier<br />

gegen das höchstrangige Rechtsgut (Leben) derjenigen Person richtete, welcher die gegenwärtige Gefahr (für die<br />

Rechtsgüter der körperlichen Unversehrtheit und des Selbstbestimmungsrechts) im Sinne von § 34 StGB drohte<br />

(a.A. Otto, Gutachten zum 56. DJT, 1986, D 44 ff.; Merkel ZStW Bd. 107 (1995) S. 454, 570 f.; ders.,<br />

Früheuthanasie (2000) S. 523 ff.; Neumann NK-StGB vor § 211 Rn. 127; H. Schneider in MüKo-StGB vor §§ 211<br />

ff. Rn. 111 f.; Chr. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung<br />

1998 S. 242 ff.). Eine Entschuldigung gem. § 35 StGB oder aus dem Gesichtspunkt des "übergesetzlichen"<br />

Notstands scheidet ebenfalls aus.<br />

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3. Eine Rechtfertigung für die Tötungshandlung konnte sich daher hier allein aus dem von den Kindern der Frau<br />

K. als deren Betreuern geltend gemachten Willen der Betroffenen, also ihrer Einwilligung ergeben, die künstliche<br />

Ernährung abzubrechen und ihre Fortsetzung oder Wiederaufnahme zu unterlassen.<br />

Im Unterschied zu den bislang vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fällen weist der vorliegende die<br />

Besonderheit auf, dass die die Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung verhindernde, direkt auf die<br />

Lebensbeendigung abzielende Handlung der früheren Mitangeklagten, die dem Angeklagten vom Landgericht<br />

rechtsfehlerfrei als eigene Handlung gemäß § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet worden ist, nach den allgemeinen<br />

Regeln nicht als Unterlassen, sondern als aktives Tun anzusehen ist. Für diesen Fall ist eine Rechtfertigung direkt<br />

lebensbeendender Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt der "Sterbehilfe" von der Rechtsprechung bisher<br />

nicht anerkannt worden. Hieran hält der Senat, auch im Hinblick auf die durch das Dritte Gesetz zur Änderung des<br />

Betreuungsrechts vom 29. Juli 2009 (BGBl I 2286) geänderte zivilrechtliche Rechtslage, nicht fest.<br />

a) Der Gesetzgeber hat den betreuungsrechtlichen Rahmen einer am Patientenwillen orientierten<br />

Behandlungsbegrenzung durch Gesetz vom 29. Juli 2009 - so genanntes Patientenverfügungsgesetz - (BGBl I<br />

2286) festgelegt. Das am 1. September 2009 in Kraft getretene Gesetz hatte vor allem auch zum Ziel, Rechts-<br />

und Verhaltenssicherheit zu schaffen (vgl. Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses BT-Drucks. 16/13314<br />

S. 3 f. und 7 f.). Maßstäbe für die gesetzliche Neuordnung waren zum einen das verfassungsrechtlich garantierte<br />

Selbstbestimmungsrecht der Person, welches das Recht zur Ablehnung medizinischer Behandlungen und<br />

gegebenenfalls auch lebensverlängernder Maßnahmen ohne Rücksicht auf ihre Erforderlichkeit einschließt, zum<br />

anderen der ebenfalls von der Verfassung gebotene Schutz des menschlichen Lebens, der unter anderem in den<br />

strafrechtlichen Normen der §§ 212, 216 StGB seinen Ausdruck findet.<br />

In Abwägung dieser Grundsätze hat der Gesetzgeber des Dritten Betreuungsrechtsänderungsgesetzes nach<br />

umfassenden Beratungen und Anhörungen unter Einbeziehung einer Vielzahl von Erkenntnissen und Meinungen<br />

unterschiedlichster Art entschieden, dass der tatsächliche oder mutmaßliche, etwa in konkreten<br />

Behandlungswünschen zum Ausdruck gekommene Wille eines aktuell einwilligungsunfähigen Patienten<br />

unabhängig von Art und Stadium seiner Erkrankung verbindlich sein und den Betreuer sowie den behandelnden<br />

Arzt binden soll (§ 1901a Abs. 3 BGB; vgl. dazu die Begründung des Gesetzentwurfs BT-Drucks. 16/8442 S. 11 f.;<br />

Diederichsen in Palandt BGB 69. Aufl. § 1901a Rn. 16 ff. u. 29). Eine betreuungsgerichtliche<br />

Genehmigungsbedürftigkeit für Entscheidungen über die Vornahme, das Unterlassen oder den Abbruch<br />

medizinischer Maßnahmen ist auf Fälle von Meinungsdivergenzen zwischen Arzt und Betreuer oder<br />

Bevollmächtigtem über den Willen des nicht selbst äußerungsfähigen Patienten oder über die medizinische<br />

Indikation von Maßnahmen beschränkt (§ 1904 Abs. 2 und 4 BGB). Die Regelungen der §§ 1901a ff. BGB<br />

enthalten zudem betreuungsrechtliche Verfahrensregeln zur Ermittlung des wirklichen oder mutmaßlichen Willens<br />

des Betreuten (vgl. dazu Diederichsen aaO Rn. 4 ff. u. 21 ff.; Diehn/Rebhan NJW 2010, 326; Höfling NJW 2009,<br />

2849, 2850 f.).<br />

b) Diese Neuregelung entfaltet auch für das Strafrecht Wirkung. Allerdings bleiben die Regelungen der §§ 212,<br />

216 StGB von den Vorschriften des Betreuungsrechts unberührt, welche schon nach ihrem Wortlaut eine Vielzahl<br />

weit darüber hinaus reichender Fallgestaltungen betreffen und auch nach dem Willen des Gesetzgebers nicht<br />

etwa strafrechtsspezifische Regeln für die Abgrenzung erlaubter Sterbehilfe von verbotener Tötung enthalten (vgl.<br />

BT-Drucks. 16/8442 S. 7 f. u. 9). Im Übrigen ergibt sich schon aus dem grundsätzlich schrankenlosen und die<br />

unterschiedlichsten betreuungsrechtlichen Fallgestaltungen erfassenden Wortlaut des § 1901a BGB selbst, dass<br />

die Frage einer strafrechtlichen Rechtfertigung von Tötungshandlungen nicht nur als zivilrechtsakzessorisches<br />

Problem behandelt werden kann. Wo die Grenze einerrechtfertigenden Einwilligung verläuft und der Bereich<br />

strafbarer Tötung auf Verlangen beginnt, ist, ebenso wie die Frage nach der Reichweite einer eine<br />

Körperverletzung rechtfertigenden Einwilligung (§ 228 StGB), eine strafrechtsspezifische Frage, über die im Lichte<br />

der Verfassungsordnung und mit Blick auf die Regelungen anderer Rechtsbereiche, jedoch im Grundsatz<br />

autonom nach materiell strafrechtlichen Kriterien zu entscheiden ist (ebenso Verrel, Gutachten zum 66. DJT,<br />

(2006) C 34 ff. und 57 ff.; vgl. auch AE-Sterbebegleitung GA 2005, 533, 564; a.A. Lipp FamRZ 2004, 317;<br />

Neumann/Saliger HRRS 2006, 280, 284; offengelassen für das frühere Betreuungsrecht von Bernsmann ZRP<br />

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1996, 87, 90). Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte diese Grenze durch die Regelungen der §§ 1901a ff.<br />

BGB nicht verschoben werden (BT-Drucks. 16/8442 S. 9). Die §§ 1901a ff. BGB enthalten aber auch eine<br />

verfahrensrechtliche Absicherung für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts von Patienten, die selbst<br />

zu einer Willensäußerung nicht (mehr) in der Lage sind. Sie sollen gewährleisten, dass deren Wille über den<br />

Zeitpunkt des Eintritts von Einwilligungsunfähigkeit hinaus gilt und beachtet wird. Diese Neuregelung, die<br />

ausdrücklich mit dem Ziel der Orientierungssicherheit für alle Beteiligten geschaffen wurde, muss unter dem<br />

Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Rechtsordnung (vgl. Reus JZ 2010, 80, 83 f.) bei der Bestimmung der<br />

Grenze einer möglichen Rechtfertigung von kausal lebensbeendenden Handlungen berücksichtigt werden.<br />

4. Das Landgericht hat eine Rechtfertigung des Angeklagten und der Mittäterin durch Einwilligung der betroffenen<br />

Patientin abgelehnt, weil nach seiner Auffassung die Voraussetzungen einer nach bisherigem Recht zulässigen<br />

so genannten passiven Sterbehilfe durch Unterlassen der weiteren künstlichen Ernährung nicht vorgelegen<br />

haben; es hat das Durchtrennen des Schlauchs der PEG-Sonde als aktives Handeln gewertet und deshalb der<br />

Einwilligung der Patientin eine rechtfertigende Wirkung abgesprochen.<br />

a) Diese Ansicht entspricht der bisher in Rechtsprechung und Literatur ganz überwiegend vertretenen Auffassung,<br />

wonach zwischen (unter bestimmten Bedingungen) erlaubter "passiver" und "indirekter" sowie stets verbotener<br />

"aktiver" Sterbehilfe zu unterscheiden sei (vgl. hierzu allgemein: Eser in Schönke/Schröder StGB 27. Aufl.<br />

Vorbem. §§ 211 ff. Rn. 21 ff.; Fischer StGB 57. Aufl. vor §§ 211-216 Rn. 16 ff.; Otto NJW 2006, 2214 ff.; Roxin in<br />

Roxin/Schroth Handbuch des Medizinstrafrechts 4. Aufl. S. 83 ff.; Chr. Schneider, Tun und Unterlassen beim<br />

Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, 1998 S. 33 ff.; H. Schneider in MüKo-StGB vor §§ 211 ff.<br />

Rn. 88 ff.; Schöch in FS für Hirsch (1999) S. 693 ff.; Schreiber NStZ 2006, 473, 474 ff.; Schroth GA 2006, 549 ff.;<br />

Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis 4. Aufl. (2008) S. 336, Rn. 275 ff., alle mwN; vgl. auch Sterbehilfe und<br />

Sterbebegleitung, Bericht der Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz v. 23. April 2004 S. 64 ff.). Das bloße<br />

Einstellen künstlicher Ernährung ist danach schon wegen seines äußeren Erscheinungsbildes, jedenfalls aber<br />

nach dem Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens, nicht als aktives Tun, sondern als Unterlassen<br />

und damit als "passives" Verhalten angesehen worden (BGHSt 40, 257, 265 f.; vgl. dazu auch Coeppicus FPR<br />

2007, 63; Eser aaO Rn. 27 ff.; Fischer aaO Rn. 19 ff.; Rn. 92 u. 104 ff.; Helgerth JR 1995, 338, 339; Kutzer NStZ<br />

1994, 110, 113 f.; ders. FPR 2007, 59, 62; Merkel ZStW Bd. 107 (1995), 545, 554; H. Schneider aaO; Schöch<br />

NStZ 1995, 153, 154; Schroth GA 2006, 549, 550 ff.; Verrel, Gutachten zum 66. DJT, 2006, C 13 ff. u. C 56 f.;<br />

Vogel MDR 1995, 337, 338 f.; Weigend in LK 12. Aufl. § 13 Rn. 8; jew. mwN; grundlegend dazu schon Geilen,<br />

"Euthanasie" und Selbstbestimmung, 1975, S. 22 ff.). Eine zulässige "passive Sterbehilfe" setzt auf der Grundlage<br />

dieser Differenzierung nach bisher herrschender Meinung deshalb stets ein Unterlassen im Rechtssinn (§ 13<br />

StGB) voraus; aktives Handeln im natürlichen Sinne soll danach stets als rechtswidriges Tötungsdelikt im Sinne<br />

der §§ 212, 216 StGB strafbar sein (vgl. Helgerth JR 1995, 338, 339).<br />

b) An diesem an den äußeren Erscheinungsformen von Tun und Unterlassen orientierten Kriterium für die<br />

Abgrenzung zwischen gerechtfertigter und rechtswidriger Herbeiführung des Todes mit Einwilligung oder<br />

mutmaßlicher Einwilligung des betroffenen Patienten hält der Senat nicht fest.<br />

aa) Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat sich in der Vergangenheit selbst auch nicht durchgängig<br />

hieran orientiert, denn ein pflichtwidriges Unterlassen kann den Tatbestand des § 216 StGB ebenfalls erfüllen<br />

(BGHSt 13, 162, 166; 32, 367, 371). Schon dies zeigt, dass die Kriterien für die Abgrenzung zwischen erlaubtem<br />

und verbotenem Verhalten nicht allein in der äußerlichen Handlungsqualität gefunden werden können. Zwar<br />

unterscheidet das Gesetz zwischen dem pflichtwidrigen Unterlassen einer erfolgsabwendenden Handlung und<br />

dem aktiv erfolgsverursachenden Tun grundsätzlich wertungsmäßig, da es in § 13 Abs. 2 StGB für den Fall der<br />

Erfolgsverursachung durch Unterlassen eine fakultative Strafmilderung bereit hält (vgl. Kargl GA 1999, 459 ff.;<br />

Ulsenheimer aaO S. 336). Diese generelle Differenzierung lässt jedoch gleichzeitig die Möglichkeit offen, Tun und<br />

Unterlassen wertungsmäßig gleich zu gewichten und damit auch gleich zu behandeln, wenn der zugrunde<br />

liegende Lebenssachverhalt dies erfordert.<br />

bb) Die Grenze zwischen erlaubter Sterbehilfe und einer nach den §§ 212, 216 StGB strafbaren Tötung kann<br />

nicht sinnvoll nach Maßgabe einer naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln bestimmt<br />

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werden. Die Umdeutung der erlebten Wirklichkeit in eine dieser widersprechende normative Wertung, nämlich<br />

eines tatsächlich aktiven Verhaltens, etwa beim Abschalten eines Beatmungsgeräts, in ein "normativ<br />

verstandenes Unterlassen"- mit dem Ziel, dieses Verhalten als "passive Sterbehilfe" rechtlich legitimieren zu<br />

können - ist in der Vergangenheit zu Recht auf Kritik gestoßen und als dogmatisch unzulässiger "Kunstgriff"<br />

abgelehnt worden (vgl. etwa Fischer StGB 57. Aufl. vor §§ 211-216 Rn. 20; Gropp in GS für Schlüchter (2002) S.<br />

173, 184; Hirsch in FS für Lackner (1987) S. 597, 605; Kargl GA 1999, 459, 478 ff.).<br />

Eine solche wertende Umdeutung aktiven Tuns in ein normatives Unterlassen wird den auftretenden Problemen<br />

nicht gerecht. Ein "Behandlungsabbruch" erschöpft sich nämlich nach seinem natürlichen und sozialen Sinngehalt<br />

nicht in bloßer Untätigkeit; er kann und wird vielmehr fast regelmäßig eine Vielzahl von aktiven und passiven<br />

Handlungen umfassen, deren Einordnung nach Maßgabe der in der Dogmatik und von der Rechtsprechung zu<br />

den Unterlassungstaten des § 13 StGB entwickelten Kriterien problematisch ist und teilweise von bloßen Zufällen<br />

abhängen kann. Es ist deshalb sinnvoll und erforderlich, alle Handlungen, die mit einer solchen Beendigung einer<br />

ärztlichen Behandlung im Zusammenhang stehen, in einem normativ-wertenden Oberbegriff des Behandlungsabbruchs<br />

zusammenzufassen, der neben objektiven Handlungselementen auch die subjektive<br />

Zielsetzung des Handelnden umfasst, eine bereits begonnene medizinische Behandlungsmaßnahme gemäß dem<br />

Willen des Patienten insgesamt zu beenden oder ihren Umfang entsprechend dem Willen des Betroffenen oder<br />

seines Betreuers nach Maßgabe jeweils indizierter Pflege- und Versorgungserfordernisse zu reduzieren (zum<br />

Begriff des "tätigen Behandlungsabbruchs" vgl. schon Jähnke in LK-StGB 11. Aufl. vor § 211 Rn. 18; ähnl. Roxin<br />

in Roxin/Schroth Handbuch des Medizinstrafrechts 4. Aufl. S. 94 f.; vgl. § 214 AE-Sterbehilfe 1986 und § 214 AE-<br />

Sterbebegleitung GA 2005, 552, 560 f. sowie Nr. II u. III der Grundsätze der BÄK zur ärztlichen Sterbebegleitung,<br />

Fassung 2004). Denn wenn ein Patient das Unterlassen einer Behandlung verlangen kann, muss dies<br />

gleichermaßen auch für die Beendigung einer nicht (mehr) gewollten Behandlung gelten, gleich, ob dies durch<br />

Unterlassen weitererBehandlungsmaßnahmen oder durch aktives Tun umzusetzen ist, wie es etwa das<br />

Abschalten eines Respirators oder die Entfernung einer Ernährungssonde darstellen. Dasselbe gilt, wenn die<br />

Wiederaufnahme einer dem Patientenwillen nicht (mehr) entsprechenden medizinischen Maßnahme in Rede<br />

steht (so etwa Eser in Schönke/Schröder/Eser StGB 27. Aufl. vor § 211 Rn. 31 f.; Roxin NStZ 1987, 345, 350; LG<br />

Ravensburg NStZ 1987, 229), die verhindert werden soll.<br />

cc) Da eine Differenzierung nach aktivem und passivem Handeln nach äußerlichen Kriterien nicht geeignet ist,<br />

sachgerecht und mit dem Anspruch auf Einzelfallgerechtigkeit die Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer eine<br />

Rechtfertigung des Handelns durch den auf das Unterlassen oder den Abbruch der medizinischen Behandlung<br />

gerichteten Willen des Patienten anzuerkennen ist, müssen andere Kriterien gelten, anhand derer diese<br />

Unterscheidung vorgenommen werden kann. Diese ergeben sich aus den Begriffen der "Sterbehilfe" und des<br />

"Behandlungsabbruchs" selbst und aus der Abwägung der betroffenen Rechtsgüter vor dem Hintergrund der<br />

verfassungsrechtlichen Ordnung.<br />

Der Begriff der Sterbehilfe durch Behandlungsunterlassung, -begrenzung oder -abbruch setzt voraus, dass die<br />

betroffene Person lebensbedrohlich erkrankt ist und die betreffende Maßnahme medizinisch zur Erhaltung oder<br />

Verlängerung des Lebens geeignet ist. Nur in diesem engen Zusammenhang hat der Begriff der "Sterbehilfe"<br />

einen systematischen und strafrechtlich legitimierenden Sinn. Vorsätzliche lebensbeendende Handlungen, die<br />

außerhalb eines solchen Zusammenhangs mit einer medizinischen Behandlung einer Erkrankung vorgenommen<br />

werden, sind einer Rechtfertigung durch Einwilligung dagegen von vornherein nicht zugänglich; dies ergibt sich<br />

ohne Weiteres aus § 216 und § 228 StGB und den diesen Vorschriften zugrunde liegenden Wertungen unserer<br />

Rechtsordnung.<br />

Eine durch Einwilligung gerechtfertigte Handlung der Sterbehilfe setzt überdies voraus, dass sie objektiv und<br />

subjektiv unmittelbar auf eine medizinische Behandlung im oben genannten Sinn bezogen ist. Erfasst werden<br />

hiervon nur das Unterlassen einer lebenserhaltenden Behandlung oder ihr Abbruch sowie Handlungen in der<br />

Form der so genannten "indirekten Sterbehilfe", die unter Inkaufnahme eines möglichen vorzeitigen Todeseintritts<br />

als Nebenfolge einer medizinisch indizierten palliativen Maßnahme erfolgen.<br />

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Das aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG abgeleitete Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen legitimiert die Person zur<br />

Abwehr gegen nicht gewollte Eingriffe in ihre körperliche Unversehrtheit und in den unbeeinflussten Fortgang<br />

ihres Lebens und Sterbens; es gewährt ihr aber kein Recht oder gar einen Anspruch darauf, Dritte zu<br />

selbständigen Eingriffen in das Leben ohne Zusammenhang mit einer medizinischen Behandlung zu veranlassen.<br />

Eine Rechtfertigung durch Einwilligung kommt daher nur in Betracht, wenn sich das Handeln darauf beschränkt,<br />

einen Zustand (wieder-)herzustellen, der einem bereits begonnenen Krankheitsprozess seinen Lauf lässt, indem<br />

zwar Leiden gelindert, die Krankheit aber nicht (mehr) behandelt wird, so dass der Patient letztlich dem Sterben<br />

überlassen wird. Nicht erfasst sind dagegen Fälle eines gezielten Eingriffs, der die Beendigung des Lebens vom<br />

Krankheitsprozess abkoppelt (vgl. zu dieser Unterscheidung auch Höfling JuS 2000, 111, 113; Verrel, Gutachten<br />

zum 66. DJT, 2006, C 64).<br />

Eine solche Unterscheidung nach den dem Begriff des Behandlungsabbruchs immanenten Kriterien der<br />

Behandlungsbezogenheit und der Verwirklichung des auf die Behandlung bezogenen Willens der betroffenen<br />

Person ist besser als die bisherige, dogmatisch fragwürdige und praktisch kaum durchführbare Unterscheidung<br />

zwischen aktivem und passivem Handeln geeignet,dem Gewicht der betroffenen Rechtsgüter in der Abwägung<br />

Geltung zu verschaffen und für alle Beteiligten eine klare rechtliche Orientierung zu bieten.<br />

Die tatbestandlichen Grenzen des § 216 StGB bleiben hierdurch unberührt. Dies entspricht auch der Intention des<br />

Gesetzgebers des Dritten Betreuungsrechtsänderungsgesetzes, wonach Handlungen, die der Ablehnung einer<br />

medizinischen Maßnahme oder der Untersagung ihrer Fortführung durch den betroffenen Patienten Rechnung<br />

tragen, von einer Tötung auf Verlangen i.S.d. § 216 StGB strikt zu unterscheiden sind (vgl. BT-Drucks. 16/8442 S.<br />

3, 7 f.).<br />

dd) Für die Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens gelten beweismäßig strenge Maßstäbe, die<br />

der hohen Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter Rechnung zu tragen haben (vgl. schon BGHSt 40, 257, 260 f.).<br />

Dies hat insbesondere zu gelten, wenn es beim Fehlen einer schriftlichen Patientenverfügung um die Feststellung<br />

eines in der Vergangenheit mündlich geäußerten Patientenwillens geht. Die Verfahrensregeln der §§ 1901a ff.<br />

BGB, insbesondere das zwingend erforderliche Zusammenwirken von Betreuer oder Bevollmächtigtem und Arzt<br />

sowie gegebenenfalls die Mitwirkung des Betreuungsgerichts, sichern die Beachtung und Einhaltung dieser<br />

Maßstäbe.<br />

c) Die Anwendung der oben dargelegten Grundsätze einer Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs ist nicht auf<br />

das Handeln der den Patienten behandelnden Ärzte sowie der Betreuer und Bevollmächtigten beschränkt,<br />

sondern kann auch das Handeln Dritter erfassen, soweit sie als von dem Arzt, dem Betreuer oder dem<br />

Bevollmächtigten für die Behandlung und Betreuung hinzugezogene Hilfspersonen tätig werden. Dies folgt schon<br />

daraus, dass sich ein Behandlungsabbruch in der Regel nicht in einzelnen Handlungen oder Unterlassungen<br />

erschöpft, sondern unter Umständen ein Bündel von meist palliativmedizinischen Maßnahmen erfordert, die nicht<br />

notwendig vom behandelnden Arzt selbst vorgenommen werden müssen.<br />

5. Ob der Senat mit der dargelegten Auslegung des § 216 StGB und der Inhaltsbestimmung des<br />

Rechtfertigungsgrunds der Einwilligung im Rahmen der Sterbehilfe von früheren tragenden Entscheidungen<br />

anderer Senate des Bundesgerichtshofs abweicht, kann dahinstehen, weil der Senat auf der Grundlage der<br />

neuen gesetzlichen Regelung der §§ 1901a ff. BGB zu entscheiden hatte; eine Anfrage gem. § 132 Abs. 3 GVG<br />

war daher nicht geboten (vgl. BGHSt 44, 121, 124; BGH NStZ 2002, 160 f.). Wäre nach der Rechtslage vor dem<br />

1. September 2009 das Handeln des Angeklagten nicht gerechtfertigt gewesen, so wäre die Rechtsänderung<br />

jedenfalls gemäß § 2 Abs. 3 StGB und § 354a StPO zu seinen Gunsten zu berücksichtigen.<br />

6. Der Angeklagte hat als von den Betreuern der Frau K. hinzugezogener und sie beratender Rechtsanwalt<br />

ebenso wenig rechtswidrig gehandelt wie die Betreuer selbst. Er war deshalb gemäß § 354 Abs. 1 StPO durch<br />

den Senat freizusprechen.<br />

II. Die Revision der Staatsanwaltschaft<br />

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Die allein gegen die Strafzumessung gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft ist nach alledem unbegründet<br />

und war deshalb zu verwerfen.<br />

Rissing-van Saan Fischer RoggenbuckAppl Schmitt<br />

VI ZR 252/08 Verkündet am: 11.05.2010.<br />

Will ein Patient abweichend von den Grundsätzen des totalen Krankenhausaufnahmevertrags seine<br />

Einwilligung in einen ärztlichen Eingriff auf einen bestimmten Arzt beschränken, muss er seinen<br />

entsprechenden Willen eindeutig zum Ausdruck bringen. Der von einem Patienten geäußerte Wunsch<br />

oder seine subjektive Erwartung, von einem bestimmten Arzt operiert zu werden, reichen nicht für die<br />

Annahme einer auf eine bestimmte Person beschränkten Einwilligung aus. Die Klage des Patienten auf<br />

Schmerzensgeld wurde abgewiesen.<br />

BGH, Urteil vom 11. 05.2010 - VI ZR 252/08 - OLG Köln<br />

LG Aachen Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 11. 05.2010 durch<br />

die Richter Zoll, Wellner, Pauge und Stöhr und die Richterin von Pentz<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 25. 08.2008<br />

aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das<br />

Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

1. Nach einer Operation am Kniegelenk im M.Hospital in A. wurde die gesetzlich krankenversicherte Klägerin von<br />

Januar bis 07.2001 drei Mal durch den leitenden Oberarzt Dr. E. im Klinikum der Beklagten behandelt. Dieser<br />

führte im 01.2001 eine Tibiakopfosteotomie mit Fibulakopfosteotomie linksseitig durch, entfernte im 05.2001 die<br />

gelockerte Osteosyntheseklammer und nahm im 07.2001 eine Reosteotomie und Plattenosteosynthese vor. Nach<br />

einem Vorgespräch zwischen der Klägerin und Dr. E. wurde die Klägerin am 18. 10.2001 durch Dr. S. aufgeklärt,<br />

wobei sie einen Aufklärungsbogen unterzeichnete. Am 19. Oktober entfernte der in der Facharztausbildung<br />

befindliche Arzt Dr. L. unter Aufsicht des Oberarztes Dr. H. das Osteosynthesematerial. Intraoperativ kam es zu<br />

einer Blutung und Übernahme der Operation durch Dr. H. Am 20. 10.2001 wurde eine Läsion des Nervus<br />

peronaeus festgestellt. Trotz weiterer Operationen kann die Klägerin seit der Verletzung des Nervs nicht mehr<br />

normal stehen und gehen.<br />

2. Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Schmerzensgeld und Ersatz ihres Verdienstausfalls bis Ende 10.2004 in<br />

Anspruch. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht<br />

die Beklagte verurteilt, an die Klägerin einen Schmerzensgeldbetrag von 30.000 € sowie weitere 26.994 € zu<br />

zahlen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren<br />

Klageabweisungsantrag weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts, dessen Urteil unter anderem in VersR 2009, 785 veröffentlicht ist, war<br />

der Eingriff vom 19. 10.2001 nicht von der Einwilligung der Klägerin gedeckt, weil die Einwilligung auf einen<br />

Eingriff durch Dr. E. beschränkt gewesen sei. Infolge eines Organisationsverschuldens der Beklagten sei es zu<br />

der rechtswidrigen Operation durch die Ärzte Dr. L. und Dr. H. gekommen. Nach dem Sachvortrag der Beklagten<br />

und der inhaltsgleichen Aussage des Zeugen Dr. E. habe dieser auf die Bitte der Klägerin in dem Vorgespräch<br />

erklärt, er werde die Operation, sofern möglich, selbst durchführen. Dass die unbedingte Zusage einer Operation<br />

durch den Arzt Dr. E. nicht vorgelegen habe, bedeute nicht notwendig, dass eine Beschränkung der Einwilligung<br />

der Klägerin nicht in Betracht komme. Da die Frage, wer operiere, während des Aufklärungsgesprächs nicht<br />

angesprochen oder erörtert worden sei, seien keine neuen Abreden getroffen worden. Daher habe die Klägerin<br />

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nicht in die von anderen Ärzten durchgeführte Operation eingewilligt, weil eine Operation durch andere Ärzte nicht<br />

aus sachlichen Gründen geboten gewesen sei. Wer eine - verbindliche oder aber auch unverbindliche -<br />

Absprache über die Person des Operateurs treffe, sei in aller Regel nicht mit einer ihm nicht offenbarten<br />

Durchführung der Operation durch einen anderen Arzt einverstanden.<br />

II.<br />

4. Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Entgegen der Auffassung des<br />

Berufungsgerichts war die Einwilligungserklärung der Klägerin in die Operation nicht auf einen Eingriff durch Dr.<br />

E. beschränkt. Die abweichende Auffassung des Berufungsgerichts wird den Grundsätzen, die für den so<br />

genannten totalen Krankenhausaufnahmevertrag gelten, nicht gerecht.<br />

5. 1. a) Die Klägerin hat mit der Beklagten einen einheitlichen, so genannten totalen<br />

Krankenhausaufnahmevertrag geschlossen. Bei dieser Regelform der stationären Krankenhausbetreuung hat der<br />

Patient grundsätzlich keinen Anspruch darauf, von einem bestimmten Arzt behandelt und operiert zu werden. Zur<br />

Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Behandlungsvertrag kann sich der Krankenhausträger vielmehr<br />

grundsätzlich seines gesamten angestellten Personals bedienen (vgl. OLG Celle VersR 1982, 46 f.; OLG Düsseldorf VersR 1985, 1049, 1051; OLG<br />

Stuttgart MedR 1986, 201, 202; OLG München, Urteil vom 9. 03.2006 - 1 U 4297/05 - juris Rn. 13; OLG Oldenburg MedR 2008, 295). Dem Krankenhausträger als alleinigem<br />

Vertragspartner ist es insbesondere überlassen, den Operationsplan so aufzustellen, dass alle Krankenhausärzte<br />

nach Möglichkeit gleichmäßig herangezogen und entsprechend ihrem jeweiligen Können eingesetzt werden, so<br />

dass einerseits die höher qualifizierten und erfahrenen Ärzte für die schwierigeren Eingriffe zur Verfügung stehen<br />

und andererseits den noch nicht so erfahrenen Assistenzärzten - unter Überwachung durch einen erfahrenen<br />

Kollegen - die Möglichkeit gegeben werden kann, sich anhand von weniger schwierigen Eingriffen weiter zu<br />

bilden. Anders wäre die Aufstellung eines den verschiedenen Schwierigkeitsgraden der Eingriffe gerecht<br />

werdenden Operationsplans wie auch eine vernünftige Aus- und Weiterbildung der Ärzte in Krankenhäusern nicht<br />

möglich (vgl. OLG Celle, aaO).<br />

6. b) Auch beim totalen Krankenhausaufnahmevertrag bleibt es dem Patienten allerdings unbenommen zu<br />

erklären, er wolle sich nur von einem bestimmten Arzt operieren lassen. In diesem Fall darf ein anderer Arzt den<br />

Eingriff nicht vornehmen. Einen Anspruch darauf, dass der gewünschte Operateur tätig wird, hat der Patient<br />

jedoch nicht; er muss sich, wenn er nicht doch noch darin einwilligt, dass ein anderer Arzt den Eingriff vornimmt,<br />

gegebenenfalls damit abfinden, unbehandelt entlassen zu werden (OLG Celle, aaO). Ist ein Eingriff durch einen<br />

bestimmten Arzt, regelmäßig den Chefarzt, vereinbart oder konkret zugesagt, muss der Patient rechtzeitig<br />

aufgeklärt werden, wenn ein anderer Arzt an seine Stelle treten soll. Sofern die Einwilligung nicht eindeutig auf die<br />

Behandlung durch einen bestimmten Arzt beschränkt ist, erstreckt sie sich grundsätzlich auch auf die Behandlung<br />

durch einen anderen Arzt (vgl. OLG Oldenburg, aaO; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 6. Aufl., C 15). Denn ein gesetzlich versicherter Patient<br />

erklärt sich beim totalen Krankenhausaufnahmevertrag im Regelfall mit der Behandlung durch alle diejenigen<br />

Ärzte einverstanden, die nach dem internen Dienstplan zuständig sind (vgl. Kollhosser/Kubillus JA 1996, 339, 341; Staudinger/Hager, BGB (2009),<br />

§ 823 Rn. I 109).<br />

7. c) Die beim totalen Krankenhausaufnahmevertrag bestehende Situation ist von den Fällen zu unterscheiden, in<br />

denen der Patient aufgrund eines Zusatzvertrags Wahlleistungen, insbesondere die so genannte<br />

Chefarztbehandlung, in Anspruch nimmt. In diesen Fällen ist der Arzt gegenüber dem Patienten aus einer<br />

ausdrücklichen Wahlleistungsvereinbarung verpflichtet und muss seine Leistungen gemäß § 613 Satz 1 BGB<br />

grundsätzlich selbst erbringen. Der Patient schließt einen solchen Vertrag nämlich im Vertrauen auf die<br />

besonderen Erfahrungen und die herausgehobene medizinische Kompetenz des von ihm ausgewählten Arztes<br />

ab, die er sich in Sorge um seine Gesundheit gegen Entrichtung eines zusätzlichen Honorars für die<br />

Heilbehandlung sichern will. Demzufolge muss der Wahlarzt die seine Disziplin prägende Kernleistung persönlich<br />

und eigenhändig erbringen. Insbesondere muss der als Wahlarzt verpflichtete Chirurg die geschuldete Operation<br />

grundsätzlich selbst durchführen, sofern er mit dem Patienten nicht eine Ausführung seiner Kernleistungen durch<br />

einen Stellvertreter wirksam vereinbart hat (vgl. BGHZ 175, 76 Rn. 7 ff. m.w.N.).<br />

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8. 2. Das Berufungsgericht meint, aus objektiver Sicht der behandelnden Ärzte, die den Informationsfluss zu<br />

gewährleisten hatten, sei das Verhalten der Klägerin dahin zu verstehen gewesen, dass sie das Krankenhaus nur<br />

deshalb aufgesucht habe, weil nach der - wenn auch unverbindlichen - Erklärung von Dr. E. grundsätzlich eine<br />

Operation durch diesen zu erwarten gewesen sei, während die Klägerin sich für den Fall seiner Verhinderung<br />

oder der Einteilung eines anderen Operateurs eine endgültige Entscheidung vorbehalten habe. Insofern sei<br />

unerheblich, dass die Frage des Operateurs nicht Gegenstand des Aufklärungsgesprächs am Vortag der<br />

Operation gewesen sei und die Klägerin ihren Wunsch, durch Dr. E. operiert zu werden, in dem<br />

Aufklärungsgespräch nicht erwähnt habe.<br />

9. Gegen diese Würdigung wendet sich die Revision mit Erfolg. Die tatrichterliche Auslegung ist für das<br />

Revisionsgericht nicht bindend, wenn gesetzliche oder allgemein anerkannte Auslegungsregeln, Denkgesetze<br />

oder Erfahrungssätze verletzt sind. Zu den allgemein anerkannten Auslegungsregeln gehört der Grundsatz einer<br />

nach beiden Seiten hin interessengerechten Auslegung (vgl. BGHZ 131, 136, 138; 137, 69, 72; 149, 337, 353; 150, 32, 39). Im Streitfall beruht<br />

die Würdigung des Berufungsgerichts auf der Auslegungsregel, dass auch derjenige, welcher eine unverbindliche<br />

Absprache über die Person des Operateurs trifft, in aller Regel nicht mit einer Operation durch einen anderen Arzt<br />

einverstanden ist. Dieser Ansatz ist rechtsfehlerhaft, weil er beim totalen Krankenhausaufnahmevertrag dem<br />

Grundsatz einer nach beiden Seiten hin interessengerechten Auslegung nicht gerecht wird. Bei einem solchen<br />

Vertrag kann der Patient grundsätzlich nicht erwarten, von einem bestimmten Arzt behandelt zu werden. Wenn<br />

der Patient ausschließlich in die Operation durch einen bestimmten Arzt einwilligen will, obgleich er keinen<br />

entsprechenden Arztzusatzvertrag abgeschlossen hat, muss er demgemäß in Anbetracht des dem<br />

Krankenhausträger grundsätzlich zustehenden Rechts, sich für die Behandlung seines gesamten Personals zu<br />

bedienen, eindeutig zum Ausdruck bringen, dass er nur von einem bestimmten Arzt operiert werden will. Der von<br />

einem Patienten geäußerte Wunsch oder seine subjektive Erwartung, von einem bestimmten Arzt operiert zu<br />

werden, reichen nicht für die Annahme einer auf eine bestimmte Person beschränkten Einwilligung aus (vgl. OLG Celle,<br />

aaO, 47; OLG München, Urteil vom 9. 03.2006 - 1 U 4297/05 - juris Rn. 16; Bender, VersR 2010, 450, 451).<br />

10. Dies gilt auch dann, wenn ein Krankenhausarzt auf die Bitte des Patienten in einem Vorgespräch erklärt, er<br />

werde die Operation, sofern möglich, selbst durchführen. Eine solche Erklärung bringt zum Ausdruck, dass die<br />

persönliche Übernahme des Eingriffs nicht verbindlich zugesagt werden soll. Es würde den Interessen der<br />

behandelnden Ärzte und der Krankenhausträger nicht gerecht, wenn bereits eine solche nicht verbindliche<br />

Erklärung eines Arztes die erteilte Einwilligung auf seine Person beschränken und dazu führen würde, dass ein<br />

von einem anderen Krankenhausarzt durchgeführter Eingriff wegen der fehlenden Einwilligung rechtswidrig wäre.<br />

Könnte in solchen Fällen keine wirksame Einwilligung in die Behandlung durch andere Ärzte vorliegen, bestünde<br />

eine erhebliche Rechtsunsicherheit, weil Krankenhausärzte und Krankenhausträger beim totalen<br />

Krankenhausaufnahmevertrag grundsätzlich darauf vertrauen dürfen, dass die erteilte Einwilligung nicht an die<br />

Behandlung durch eine bestimmte Person gebunden ist. Es würde die Organisation vor allem in großen<br />

medizinischen Einrichtungen über Gebühr erschweren, wenn auch nicht verbindliche Erklärungen zu einer<br />

Haftung aus Organisationsverschulden führen könnten, und dies - wie im Streitfall - sogar dann, wenn der Wille<br />

des Patienten, nur von einem bestimmten Arzt behandelt zu werden, im Aufklärungsgespräch und bei der<br />

Einwilligung des Patienten in den Eingriff nicht erklärt wird. Dies wäre weder im Hinblick auf eine möglichst<br />

wirtschaftliche Organisation der Krankenhäuser, zu deren Aufgaben es gehört, im Interesse aller Patienten einen<br />

den verschiedenen Schwierigkeitsgraden der Eingriffe gerecht werdenden Operationsplan aufzustellen und eine<br />

vernünftige Aus- und Weiterbildung der Ärzte zu gewährleisten, noch im Hinblick auf eine Gleichbehandlung der<br />

gesetzlich versicherten Patienten sachgerecht. Andererseits wird das Selbstbestimmungsrecht des Patienten<br />

nicht über Gebühr beeinträchtigt, wenn man die von den Grundsätzen des totalen Krankenhausaufnahmevertrags<br />

abweichende Beschränkung der Einwilligung auf einen bestimmten Arzt nur dann annimmt, wenn der Patient<br />

seinen entsprechenden Willen eindeutig zum Ausdruck bringt.<br />

11. 3. Nach den getroffenen Feststellungen war die Einwilligung der Beklagten nicht auf einen Eingriff durch Dr. E.<br />

als Operateur beschränkt. Das Berufungsurteil ist mithin aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht<br />

zurückzuverweisen, damit es die bisher von seinem Standpunkt aus folgerichtig nicht getroffenen Feststellungen<br />

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zu dem mit der Berufung geltend gemachten vermeintlichen Behandlungsfehler und der behaupteten<br />

unzureichenden Qualifikation des Arztes Dr. L. nachholen kann.<br />

Zoll Wellner Pauge Stöhr von Pentz<br />

Vorinstanzen: LG Aachen, Entscheidung vom 09.01.2008 - 11 O 524/05 -<br />

AG Gmünden vom 03.02.2010<br />

Verurteilung des gynäkologischen Operateurs und des Assistenten zu Freiheitsstrafen auf Bewährung wegen<br />

fahrlässiger Tötung und des Narkosearztes zu einer Geldstrafe wegen fahrlässiger Körperverletzung.<br />

Gynäkologischer Operateur und Assistent im fachübergreifenden Bereitschaftsdienst hatten nach einer<br />

Kaiserschnittentbindung nicht fachgerecht auf eine Blutung reagiert, die Patientin verstarb an den Folgen eines<br />

unbehandelten Volumenmangelschocks. Der Narkosearzt hatte telefonisch in Verkennung der Situation eine<br />

falsche medikamentöse Maßnahme angeordnet.<br />

VI ZB 51/09 vom 15.12.2009.<br />

Versäumter Blutzuckertest wird alsgrober Behandlungsfehler bewertet: Die Rechtsbeschwerde des<br />

Patienten hat Erfolg, das Landgericht hat unter Verkennung der Rechtsprechung des Senats eine bloße<br />

Mitursächlichkeit des groben Behandlungsfehlers für den Zustand des Klägers nicht in Erwägung<br />

gezogen.<br />

in dem Rechtsstreit Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 15. 12.2009 durch den Vorsitzenden<br />

Richter Galke, den Richter Zoll, die Richterin Diederichsen, den Richter Stöhr und die Richterin von Pentz<br />

beschlossen:<br />

Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 12. Zivilsenats des Brandenburgischen<br />

Oberlandesgerichts vom 21. 07.2009 aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das<br />

Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Beschwerdewert: 221.066,68 €<br />

Gründe:<br />

I.<br />

1. Der Kläger verlangt von der Beklagten Zahlung von Schmerzensgeld und die Feststellung, dass die Beklagte<br />

zum Ersatz der künftigen materiellen und immateriellen Schäden aus der ärztlichen Behandlung in ihrer<br />

Einrichtung am 25. und 26. 02.2003 verpflichtet ist. Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines<br />

gerichtlichen Sachverständigengutachtens abgewiesen.<br />

2. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Behandlung des Klägers durch die Ärzte der Beklagten unter<br />

medizinischen Gesichtspunkten weitgehend nicht zu beanstanden sei. Dies gelte trotz der in der Notaufnahme am<br />

25. 02.2003 unterbliebenen Untersuchung auf die genetisch bedingte Stoffwechselstörung MCAD (Medium Chain AcylCoA<br />

Dehydrogenase) und der Unterlassung einer sofortigen Wärmezufuhr nach der stationären Aufnahme am folgenden Tag.<br />

Der Kläger sei hinreichend mit Sauerstoff versorgt worden. Nicht akzeptabel und aus medizinischer Sicht<br />

unverständlich sei allerdings, dass die Ärzte der Beklagten versäumt hätten, unmittelbar nach der stationären<br />

Aufnahme die bestehende Hypoglykämie des Klägers festzustellen und Glukose zuzuführen. Jedoch habe sich<br />

dieses Versäumnis auf die gesundheitliche Situation des Klägers nicht mehr ausgewirkt. Aus dem Zustand des<br />

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Klägers bei seiner Einlieferung müsse geschlossen werden, dass auch mit der früheren Gabe von Glukose dem<br />

Kläger nicht genug Kalorien zugeführt worden wären, um die Wirkung der bereits im Körper des Klägers<br />

vorhandenen Giftstoffe zu vermindern.<br />

3. Gegen das am 20. 01.2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 19. 02.2009 Berufung eingelegt. Nach<br />

Verlängerung der Begründungsfrist hat er die Berufung mit Schriftsatz vom 20. 04.2009 begründet. Das<br />

Berufungsgericht hat nach Erteilung eines Hinweises mit Fristsetzung zur Stellungnahme die Berufung durch den<br />

angefochtenen Beschluss als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers.<br />

II.<br />

4. 1. Das Berufungsgericht hat ausgeführt:<br />

5. Die Berufungsbegründung genüge nicht den Anforderungen nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3 ZPO. Sie<br />

beschränke sich auf die Wiederholung der Auffassung des Klägers, dass die Behandlung im Hause der Beklagten<br />

fehlerhaft gewesen sei, ohne jedoch konkret auf die dem Urteil zugrunde liegenden Ausführungen des<br />

Sachverständigen einzugehen und darzulegen, aufgrund welcher konkreten Anhaltspunkte im vorliegenden Fall<br />

Anlass zu einer erneuten Tatsachenfeststellung bestehe. Soweit der Kläger im Schriftsatz vom 9. 07.2009<br />

ausführlich zu den Ausführungen des Sachverständigen Stellung nehme und die Feststellungen des<br />

Sachverständigen teilweise als falsch oder widersprüchlich angreife und dazu ausführe, die fehlende bzw. nicht<br />

rechtzeitige Glukosezufuhr sei jedenfalls mitursächlich für die beim Kläger eingetretene Schädigung des Gehirns<br />

gewesen, seien diese Ausführungen nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist erfolgt und könnten daher die<br />

fehlende Auseinandersetzung mit den tragenden Urteilsgründen im Rahmen der Berufungsbegründung nicht<br />

mehr heilen.<br />

6. 2. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO). Sie ist auch im Übrigen zulässig. Das<br />

Berufungsgericht versagt aufgrund von überspannten Anforderungen an die Ordnungsmäßigkeit der<br />

Berufungsbegründung dem Kläger den Zugang zur Berufungsinstanz. Die angefochtene Entscheidung beruht<br />

mithin auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und der Versagung wirkungsvollen<br />

Rechtsschutzes für den Beschwerdeführer (BGHZ 154, 288, 296; 159, 135, 139 f. zu § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO).<br />

7. a) § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 bis 4 ZPO konkretisiert die inhaltlichen Anforderungen an die Berufungsgründe und<br />

trägt der verstärkten Funktionsdifferenzierung zwischen erster und zweiter Instanz Rechnung. Da die Berufung in<br />

erster Linie ein Instrument zur Fehlerkontrolle und Fehlerbeseitigung sein soll, muss sich sinnvoller Weise auch<br />

der Inhalt der Berufungsbegründung an dieser Zielsetzung orientieren. § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und 3 ZPO sind<br />

auf das Prüfungsprogramm des § 513 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zugeschnitten, § 520 Abs. 3<br />

Satz 2 Nr. 4 ZPO auf das des § 513 Abs. 1 ZPO i.V.m. §§ 529 Abs. 1 Nr. 2, 531 Abs. 2 ZPO. Nach § 520 Abs. 3<br />

Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich nach Ansicht des<br />

Berufungsklägers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergibt. Dazu<br />

gehört eine aus sich heraus verständliche Angabe, welche bestimmten Punkte des angefochtenen Urteils der<br />

Berufungskläger bekämpft und welche Gründe er ihnen entgegensetzt (BGH, Beschluss vom 27. 05.2008 - XI ZB 41/06 - NJWRR 2008, 1308, 1309;<br />

Urteile vom 14. 11.2005 - II ZR 16/04 - NJWRR 2006, 499, 500; vom 24. 06.2003 - IX ZR 228/02 - NJW 2003, 3345 und vom 18. 06.1998 - IX ZR 389/97 - NJW 1998, 3126). Die Darstellung<br />

muss dabei auf den Streitfall zugeschnitten sein (BGH, Beschluss vom 5. 03.2007 - II ZB 4/06 - NJWRR 2007, 1363). Da das Berufungsgericht<br />

an die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen grundsätzlich gebunden ist (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO),<br />

muss die Berufung, die den festgestellten Sachverhalt angreifen will, eine Begründung dahin enthalten, warum die<br />

Bindung an die festgestellten Tatsachen ausnahmsweise nicht bestehen soll. § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 und 4<br />

ZPO regeln diese Anforderungen näher. Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO muss der Berufungsführer konkrete<br />

Anhaltspunkte bezeichnen, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im<br />

angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Dazu gehört eine aus sich<br />

heraus verständliche Angabe, welche bestimmten Punkte des angefochtenen Urteils der Berufungskläger<br />

bekämpft und welche Gründe er ihnen entgegensetzt (Senat, Beschluss vom 18. 10.2005 - VI ZB 81/04 - VersR 2006, 285 Rn. 8; BGHZ 162, 313, 317 f.; Beschluss<br />

vom 27. 05.2008 - XI ZB 41/06 - NJWRR 2008, 1308 Rn. 11 m.w.N.). Zur Darlegung der Fehlerhaftigkeit genügt die Mitteilung der Umstände, die<br />

das Urteil aus der Sicht des Berufungsklägers in Frage stellen. Besondere formale Anforderungen werden nicht<br />

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gestellt; für die Zulässigkeit der Berufung ist es insbesondere ohne Bedeutung, ob die Ausführungen in sich<br />

schlüssig oder rechtlich haltbar sind (vgl. BGH, Beschluss vom 21. 05.2003 - VIII ZB 133/02 - NJWRR 2003, 1580). Die Begründung des<br />

Beschwerdeführers genügt diesen Anforderungen.<br />

8. b) In der Rechtsmittelschrift wendet er sich gegen die Würdigung des Landgerichts, dass der Beklagten ein<br />

Behandlungsfehler bei der ersten Behandlung des Klägers am 25. 02.2003 in der Notfallaufnahme nicht<br />

anzulasten sei. Hierzu trägt der Beschwerdeführer vor, den Ärzten der Beklagten habe zum ersten<br />

Einlieferungszeitpunkt am 25. 02.2003 bekannt sein müssen, dass im Gegensatz zu anderen Bundesländern im<br />

Lande Brandenburg bei älteren, aber auch bei im Jahr 2001 geborenen Kindern, im Rahmen der Untersuchung<br />

U1 ff. keine MCAD-Mangel-Untersuchungen über eine Stoffwechselerkrankung durchgeführt worden seien und<br />

deshalb dem Kläger in jedem Fall Flüssigkeit hätte zugeführt werden müssen. Hierfür bietet er Beweis an durch<br />

den Zeugen F. und Sachverständigengutachten. Er weist darauf hin, dass bei ausreichender Flüssigkeitszufuhr<br />

am 25. 02.2003 die Krampfanfälle nicht aufgetreten wären.<br />

9. Des Weiteren bemängelt der Kläger, dass das Landgericht Behandlungsfehler der Beklagten in Form von<br />

unterlassenen Maßnahmen gegen die Unterkühlung und die Sauerstoffunterversorgung nach der stationären<br />

Aufnahme des Klägers am 26. 02.2003 verneint habe. Auch hierzu bietet er Beweis durch<br />

Sachverständigengutachten an.<br />

10. Im Übrigen stimmt die Berufungsbegründung zwar in der Würdigung des Behandlungsgeschehens mit der im<br />

Urteil des Landgerichts überein, dass es inakzeptabel gewesen sei, dem Kläger nicht sofort nach der Aufnahme in<br />

das Krankenhaus Glukose zuzuführen. Doch behauptet der Beschwerdeführer, dass es bei rechtzeitiger richtiger<br />

Behandlung zu keiner Störung in dem nunmehr vorliegenden Ausmaße gekommen wäre und das Landgericht die<br />

damit verbundenen Leiden des Klägers verkannt habe. Mit Recht sieht die Rechtsbeschwerde darin die Rüge,<br />

dass das Landgericht unter Verkennung der Rechtsprechung des Senats (vgl. Senatsurteil vom 1. 10.1996 - VI ZR 10/96 - VersR 1997, 362 f.)<br />

eine bloße Mitursächlichkeit des groben Behandlungsfehlers für den Zustand des Klägers nicht in Erwägung<br />

gezogen habe.<br />

11. c) Da mithin innerhalb der Berufungsfrist Gründe der Anfechtung genannt worden sind, ist die Berufung<br />

zulässig. Das Berufungsgericht wird danach zu prüfen haben, ob und gegebenenfalls inwieweit das Vorbringen im<br />

Schriftsatz des Klägers vom 9. 07.2009 im Berufungsverfahren zu berücksichtigen ist (vgl. Senat, BGHZ 159, 245, 249).<br />

Galke Zoll Diederichsen Stöhr von Pentz Vorinstanzen: LG Potsdam, Entscheidung vom 15.01.2009 - 11 O 55/05,<br />

OLG Brandenburg, Entscheidung vom 21.07.2009 - 12 U 31/09<br />

BGH, Urteil vom 12.11.2009 - III ZR 110/09 - OLG Zweibrücken, LG Frankenthal<br />

Vereinbarungen zwischen Krankenhausträgern und niedergelassenen Ärzten über deren Zuziehung im<br />

Rahmen allgemeiner Krankenhausleistungen (Konsiliararztverträge) unterliegen nicht den Vorschriften<br />

der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ).Demzufolge darf der Einfachsatz unterschritten werden. Die Klage<br />

der niedergelassenen Ärzte wurde abgewiesen.<br />

GOÄ § 1 Abs. 1; KHEntgG § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2; RhPfBerufsO Ärztinnen und Ärzte §§ 12, 31<br />

Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 12. 11.2009 durch den<br />

Vizepräsidenten Schlick und die Richter Dörr, Hucke, Seiters und Tombrinkfür Recht erkannt:<br />

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken<br />

vom 10. 03.2009 wird zurückgewiesen.Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsrechtszugs zu tragen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand<br />

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[1] Die Klägerin, eine Gemeinschaftspraxis von Röntgenärzten, erbrachte in den Jahren 2004 und 2005 für das<br />

von der Beklagten betriebene St. V. Krankenhaus in S. in 561 Fällen radiologische Leistungen für<br />

Regelleistungspatienten des Krankenhauses. Sie berechnete der Beklagten hierfür insgesamt 197.491,94 €,<br />

wobei sie für einen Großteil ihrer Leistungen einen Steigerungssatz von 1,2 des Gebührensatzes der GOÄ(GOÄ)<br />

zugrunde legte. Mit Rücksicht auf eine mit dem früheren Praxisinhaber geschlossene mündliche Vereinbarung<br />

zahlte die Beklagte unter Zugrundelegung eines einheitlichen Steigerungssatzes von 0,75 des Gebührensatzes<br />

hierauf nur 122.917,09 €.<br />

[2] Die Klägerin, die diese Vereinbarung bereits wegen Nichteinhaltung der in § 2 Abs. 2 GOÄ vorgesehenen<br />

Schriftform für unwirksam hält, nimmt die Beklagte auf den Unterschiedsbetrag von 74.574,85 € nebst Zinsen in<br />

Anspruch. Die Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Oberlandesgericht zugelassenen<br />

Revision verfolgt die Klägerin ihren Antrag weiter.<br />

Entscheidungsgründe<br />

[3] Die Revision ist nicht begründet.<br />

[4] I. Hintergrund der hier zu beurteilenden Leistungsbeziehungen zwischen der radiologischen Praxis der<br />

Klägerin und dem Krankenhaus ist der Umstand, dass das Krankenhaus über keine radiologische Abteilung<br />

verfügte. Soweit daher für stationär aufgenommene Patienten radiologische Leistungen erforderlich waren,<br />

musste sich das Krankenhaus diese Leistungen durch externe Ärzte beschaffen. Diese Leistungen sind nach § 2<br />

Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 KHEntgG Bestandteil der allgemeinen Krankenhausleistungen; bei diesen handelt es sich um<br />

die Krankenhausleistungen, die unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Krankenhauses im Einzelfall<br />

nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinisch zweckmäßige und ausreichende Versorgung des<br />

Patienten notwendig sind. Mit den Entgelten für die allgemeinen Krankenhausleistungen (§ 7 KHEntgG) werden die für<br />

die sachgerechte Behandlung der Patienten erforderlichen Leistungen vergütet. Soweit es sich um<br />

sozialversicherte Patienten oder Privatpatienten handelt, die darauf verzichten, wahlärztliche Leistungen in<br />

Anspruch zu nehmen, sind auch die Leistungen eines vom Krankenhaus hinzugezogenen externen Arztes als<br />

Bestandteil der allgemeinen Krankenhausleistungen mit diesen Entgelten abgegolten (vgl. Senatsurteile BGHZ 151, 102, 106; 172, 190,<br />

195 f Rn. 19). Die Leistungen der Klägerin sind daher aus den Mitteln des Krankenhauses zu honorieren, ohne dass die<br />

Patienten in Anspruch genommen werden könnten oder die Honorierung über die kassenärztliche Vereinigung<br />

vorgenommen werden könnte (vgl. allgemein zum Honorararzt im Krankenhaus Quaas, GesR 2009, 459).<br />

[5] II. Das Berufungsgericht (GesR 2009, 415) ist der Auffassung, dass die nur mündlich getroffene, das Einfache des<br />

Gebührensatzes unterschreitende Vergütungsabrede wirksam ist. Denn auf die von dem Rechtsvorgänger der<br />

Klägerin und dem Krankenhausträger geschlossene Vereinbarung, die als Rahmenvertrag im Sinne eines<br />

Konsiliararztvertrags anzusehen sei, sei die GOÄnicht anzuwenden. Eine zwingende Anwendung der GOÄ auf<br />

das Vertragsverhältnis der Parteien lasse sich nicht mit den in der Verordnung getroffenen Regelungen unter<br />

Berücksichtigung der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage in § 11 der Bundesärzteordnung (BÄO) vereinbaren.<br />

Sie berücksichtige zwar die Interessen des selbst zahlenden Patienten und der öffentlichen Leistungsträger, trage<br />

aber der hier gegebenen Vertragsgestaltung nicht ausreichend Rechnung.<br />

[6] Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung stand.<br />

[7] 1. Nach § 1 Abs. 1 GOÄ bestimmen sich die Vergütungen für die beruflichen Leistungen der Ärzte nach dieser<br />

Verordnung, soweit nicht durch Bundesgesetz etwas anderes bestimmt ist. In § 11 BÄO wird die Bundesregierung<br />

ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Entgelte für ärztliche Tätigkeit in einer<br />

Gebührenordnung zu regeln. In dieser Gebührenordnung sind Mindest- und Höchstsätze für die ärztlichen<br />

Leistungen festzusetzen. Dabei ist den berechtigten Interessen der Ärzte und der zur Zahlung der Entgelte<br />

Verpflichteten Rechnung zu tragen. Danach handelt es sich bei der ärztlichen Gebührenordnung, wie der Senat<br />

entschieden hat (Urteil vom 23. 03.2006 - III ZR 223/05 - NJW 2006, 1879, 1880 Rn. 10), um ein für alle Ärzte geltendes zwingendes Preisrecht,<br />

das verfassungsrechtlich unbedenklich ist und weder die Kompetenzordnung des Grundgesetzes noch die<br />

Berufsfreiheit der Ärzte verletzt (vgl. BVerfGE 68, 319, 327 ff = NJW 1985, 2185 ff; BVerfG NJW 1992, 737; 2005, 1036, 1037).<br />

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[8] 2. Ungeachtet des weit gefassten Wortlauts des § 1 Abs. 1 GOÄ, der die Vergütungen für ärztliche Leistungen<br />

insgesamt zu erfassen scheint, teilt der Senat jedoch die Auffassung des Berufungsgerichts, dass die GOÄ für die<br />

hier entfaltete Tätigkeit der Ärzte der Klägerin nicht anwendbar ist. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass<br />

die Vertragsschließenden, was ohne weiteres zulässig ist, sich für die Vergütung der von den Ärzten der Klägerin<br />

erbrachten Leistungen am Gebührenverzeichnis der Gebührenordnung orientiert und einen bestimmten<br />

Steigerungsfaktor vereinbart haben. Eine Schriftform war daher für die Vereinbarung nicht zu beachten.<br />

[9] a) Die GOÄ regelt, für welche Leistungen und in welcher Höhe Ärzte von Privatpatienten und von in § 11 Abs.<br />

1 GOÄ genannten Leistungsträgern, die für einen bestimmten Kreis von Patienten einstehen, die die Vergütung<br />

nicht selbst bezahlen müssen, Honorare verlangen können (vgl. Lang/Schäfer/Stiel/Vogt, Der GOÄKommentar, 2. Aufl. 2002, § 1 Rn. 9; Quaas/Zuck,<br />

Medizinrecht, 2. Aufl. 2008, § 13 Rn. 42 f). Um eine solche Fallgestaltung handelt es sich hier nicht. Das Krankenhaus ist kein<br />

(öffentlichrechtlicher) Leistungsträger, sondern - wie die Ärzte der Klägerin - ein Leistungserbringer, der dem Patienten die<br />

allgemeinen Krankenhausleistungen schuldet, zu denen auch die von der Klägerin erbrachten Leistungen<br />

rechnen (s.o. I). Wenn auch nicht unmittelbar der in § 1 Abs. 1 GOÄ geregelte Fall einer anderen Bestimmung durch<br />

Bundesgesetz vorliegt, werden die hier in Rede stehenden Leistungen der Klägerin - im rechtlichen Sinne - weder<br />

dem Patienten noch zur Erfüllung einer vertragsärztlichen Pflicht erbracht, sondern auf Grund eines<br />

Dienstvertrags mit dem Krankenhaus zur Komplettierung der vom diesem geschuldeten allgemeinen<br />

Krankenhausleistungen, die insgesamt nach dem Krankenhausentgeltgesetz abgerechnet werden. Es geht daher<br />

nicht um den in der Ermächtigungsnorm des § 11 BÄO geforderten Interessenausgleich zwischen den Interessen<br />

der Ärzte und der zur Zahlung der Entgelte Verpflichteten, der Patienten, sondern um eine Einbindung und<br />

Vergütung einer ärztlichen Tätigkeit, die weder unmittelbar dem Privatpatienten noch vertragsärztlich erbracht<br />

wird, sondern gleichsam zwischen diesen beiden Honorierungssystemen wirtschaftlich in die Finanzierung der<br />

Krankenhausleistungen eingepasst werden muss. Aus dieser Besonderheit ergeben sich, wie beiden<br />

Vertragsteilen bewusst ist, die für die Angemessenheit der Vergütung wesentlichen Parameter. Dies im Einzelnen<br />

zu regeln, ist Sache der jeweiligen Vertragsparteien, die sich am ärztlichen Gebührenrecht orientieren können (vgl.<br />

Quaas GesR 2009, 459, 460). Die GOÄ verhält sich zum Inhalt einer solchen Vereinbarung jedoch nicht. Sie nimmt sich dieser<br />

Gestaltung nur an, wenn eine Zahlung solcher externer Leistungen durch den Patienten geschuldet wird, etwa im<br />

Sinne der Gebührenminderungspflicht nach § 6a Abs. 1 GOÄ, die bei der Vereinbarung wahlärztlicher Leistungen<br />

auch den externen Arzt betrifft (vgl. Senatsurteil BGHZ 151, 102).<br />

[10] b) Die Materialien zur GOÄ vom 12. 11.1982 (BGBl. I S. 1522) belegen den Befund, dass Vereinbarungen zwischen<br />

Krankenhausträgern und externen Ärzten über deren Hinzuziehung im Rahmen allgemeiner<br />

Krankenhausleistungen nicht Gegenstand der Regelungen geworden sind.<br />

[11] In § 2 Abs. 1 GOÄ 1982 wurde geregelt, dass durch Vereinbarung eine von dieser Verordnung abweichende<br />

Höhe der Vergütung festgelegt werden kann. In der Begründung zur Verordnung wird zu dieser Bestimmung<br />

ausgeführt, sie gelte sowohl für Einzelvereinbarungen zwischen Arzt und Zahlungspflichtigem als auch für<br />

Kollektivvereinbarungen wie z.B. für Vereinbarungen zwischen Ärzteverbänden und der<br />

Postbeamtenkrankenkasse oder der Krankenversorgung der Bundesbahnbeamten (vgl. BRDrucks. 295/82 S. 13). Der<br />

Verordnungsgeber hat daher nicht nur Vereinbarungen des Arztes mit dem Patienten in die Regelung<br />

einbezogen, sondern mit den so genannten Kollektivvereinbarungen auch solche mit Leistungsträgern, die<br />

anstelle des Patienten die Vergütungspflicht zu übernehmen haben. Verträge mit Leistungserbringern werden<br />

demgegenüber nicht genannt, obwohl schon während der Geltung der Bundespflegesatzverordnung vom 25.<br />

04.1973 (BGBl. I S. 333) mit den allgemeinen Pflegesätzen die allgemeinen Krankenhausleistungen einschließlich der<br />

Leistungen von nicht am Krankenhaus angestellten Konsiliarärzten abgegolten wurden, so dass insoweit eine<br />

vertragliche Regelung zwischen Krankenhaus und Arzt erforderlich war (vgl. § 3 Abs. 1 BPflV 1973).<br />

[12] In § 2 Abs. 2 Satz 1 GOÄ 1982 war bestimmt, dass "eine Vereinbarung nach Absatz 1 zwischen Arzt und<br />

Zahlungspflichtigem" vor Erbringung der Leistung des Arztes in einem Schriftstück zu treffen sei, das keine<br />

anderen Erklärungen enthalten dürfe. In der Begründung wird hierzu ausgeführt, Absatz 2 enthalte eine<br />

Schutzvorschrift für die Individualvereinbarung zwischen Arzt und Zahlungspflichtigem (BRDrucks. 295/82 S. 13). Aus dem<br />

Kreis der nach Absatz 1 zulässigen Vereinbarungen wurden daher durch Absatz 2 solche Vereinbarungen einer<br />

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esonderen Regelung unterworfen, die zwischen dem Arzt und Zahlungspflichtigem anlässlich und vor einer<br />

konkreten Behandlung geschlossen werden. Auch wenn die Verordnung den Begriff des "Zahlungspflichtigen"<br />

verwendet, liegt es auf der Hand, dass es um den Schutz des Patienten oder eines mitversicherten Angehörigen<br />

geht, der durch eine klare, der Schriftform bedürftige Vereinbarung vor Erbringung der Leistung wissen soll, was<br />

hinsichtlich der abweichenden Vergütungshöhe auf ihn zukommt. Die hier in Rede stehende Vereinbarung, die<br />

nicht mit dem Patienten, sondern mit dem Krankenhaus getroffen wurde und nur den Rahmen für die Honorierung<br />

einer Vielzahl von Einzelbehandlungen durch das Krankenhaus darstellt, wird von dieser Zielsetzung nicht erfasst.<br />

[13] c) An diesem Rechtszustand hat sich aus Sicht des Senats durch spätere Änderungen der ärztlichen und<br />

zahnärztlichen Gebührenordnungen, die vor allem dem weitergehenden Schutz des Zahlungspflichtigen gedient<br />

haben, nichts geändert.<br />

[14] aa) Der Schutz des Zahlungspflichtigen wurde zunächst bei der anstehenden Novellierung der<br />

Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) vom 22. 10.1987 (BGBl. I S. 2316) weiter ausgebaut. Während § 2 Abs. 1 GOZ<br />

wörtlich mit § 2 Abs. 1 GOÄ 1982 übereinstimmt, sieht § 2 Abs. 2 GOZ für eine Vereinbarung zwischen Zahnarzt<br />

und Zahlungspflichtigem - neben den soeben erörterten Erfordernissen des § 2 Abs. 2 GOÄ 1982 - zusätzlich vor,<br />

dass das Schriftstück die Feststellung enthalten müsse, dass eine Erstattung der Vergütung durch<br />

Erstattungsstellen möglicherweise nicht in vollem Umfang gewährleistet sei. In der Begründung wird hierzu<br />

ausgeführt, die Bestimmung enthalte zwingende Schutzvorschriften zugunsten des Patienten. Durch den<br />

vorgesehenen Hinweis solle dem besonderen Informationsbedürfnis der privat krankenversicherten und<br />

beihilfeberechtigten Patienten Rechnung getragen werden, deren Erstattungsansprüche in der Regel auf den<br />

Umfang der nach der Verordnung vorgesehenen Vergütungshöhe begrenzt seien (vgl. BRDrucks. 276/87 S. 63 f). Die Regelung<br />

betrifft damit das Verhältnis zwischen Zahnarzt und Patient und trifft Vorkehrungen dafür, dass der Patient die<br />

Folgen einer über die Sätze der Gebührenordnung hinausgehenden Honorarvereinbarung rechtzeitig und richtig<br />

einschätzt (vgl. Senatsurteil BGHZ 138, 100, 103).<br />

[15] bb) Durch die Dritte Verordnung zur Änderung der GOÄ vom 9. 06.1988 (BGBl. I S. 797) wurde § 2 Abs. 2 GOÄ an<br />

die Regelung des § 2 Abs. 2 GOZ angeglichen, verfolgt daher wie diese den Schutz des privat<br />

krankenversicherten und beihilfeberechtigten Patienten, um diesen Personenkreis durch den gebotenen Hinweis<br />

vor Überraschungen zu schützen (BRDrucks 118/88 S. 45).<br />

[16] cc) Seine heute noch geltende Fassung hat § 2 GOÄ durch die Vierte Verordnung zur Änderung der GOÄ<br />

vom 18. 12.1995 (BGBl. I S. 1861) erhalten. Die bisherige Regelung in § 2 Abs. 1 GOÄ 1982 ist mit einer geringfügigen<br />

Änderung (statt "abweichende Höhe der Vergütung" jetzt "abweichende Gebührenhöhe") § 2 Abs. 1 Satz 1 geworden. Daneben enthält die<br />

Bestimmung jetzt einige zusätzliche Modifikationen, die die Zulässigkeit einer Vereinbarung betreffen. So ist in<br />

Fällen eines unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 StGB vorgenommenen Abbruchs einer<br />

Schwangerschaft, für die § 5a GOÄ eine besondere Bemessung vorsieht, eine Vereinbarung ausgeschlossen (§ 2<br />

Abs. 1 Satz 2 GOÄ). Ferner ist nach § 2 Abs. 1 Satz 3 GOÄ die Vereinbarung einer abweichenden Punktzahl (§ 5 Abs. 1 Satz 2 GOÄ)<br />

oder eines abweichenden Punktwerts (§ 5 Abs. 1 Satz 3 GOÄ) nicht zulässig. Der Verordnungsgeber hat insoweit im<br />

Interesse einer größeren Transparenz eine Klarstellung vorgenommen, die der vorherrschenden Auffassung zu<br />

dem bereits davor geltenden Recht entsprochen hat (vgl. BRDrucks. 211/94 S. 94). Schließlich wird in § 2 Abs. 1 Satz 3 GOÄ<br />

bestimmt, dass Notfall- und akute Schmerzbehandlungen nicht von einer Vereinbarung abhängig gemacht<br />

werden dürfen. Daraus ergibt sich, dass § 2 Abs. 1 GOÄ grundsätzlich weiterhin Vereinbarungen zulässt, die die<br />

Gebührenhöhe abweichend nach einem anzuwendenden Steigerungssatz bestimmen.<br />

[17] In § 2 Abs. 2 ist der Schutz des Patienten weiter verstärkt worden; die Vorschrift nimmt die Rechtsprechung<br />

des Bundesgerichtshofs (BGHZ 115, 391, 394 ff) auf, dass es zur Wirksamkeit einer abweichenden Honorarvereinbarung<br />

der individuellen Absprache im Einzelfall zwischen Arzt und Zahlungspflichtigem bedarf (§ 2 Abs. 2 Satz 1 GOÄ), und<br />

ergänzt die Regelung zur Verbesserung der Transparenz dahin, dass das Schriftstück auch die Nummer und<br />

Bezeichnung der Leistung, den Steigerungssatz und den vereinbarten Betrag enthalten muss (§ 2 Abs. 2 Satz 2 GOÄ). Alle<br />

diese Tatbestandsmerkmale betreffen die hier zu beurteilende Rahmenvereinbarung zwischen dem Krankenhaus<br />

und den zugezogenen Ärzten nicht. Dies belegt, dass die Vorschrift des § 2 GOÄ vor allem<br />

Individualvereinbarungen zwischen dem einzelnen Arzt und dem Zahlungspflichtigen im Auge hat (vgl. Lang/Schäfer/Stiel/Vogt<br />

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aaO § 2 Rn. 2; ähnlich Miebach, in: Uleer/Miebach/Patt, Abrechnung von Arzt- und Krankenhausleistungen, 3. Aufl. 2006, § 2 GOÄ Rn. 14; Hoffmann, GOÄ, 3. Aufl. Stand 11.1999, § 2 Rn. 1). Ob sie<br />

nach Maßgabe des § 2 Abs. 1 auch noch auf Kollektivvereinbarungen anzuwenden ist (vgl. hierzu Lang/Schäfer/Stiel/Vogt aaO § 11 Rn.<br />

8 und § 12 Rn. 16; Miebach aaO; Hoffmann aaO Stand 09.1998, § 2 Rn. 1 am Ende), bedarf hier keiner Entscheidung. Jedenfalls lassen sich der<br />

Rechtsentwicklung keine Hinweise darauf entnehmen, dass der Verordnungsgeber mit der GOÄ und ihren<br />

Einzelregelungen, die durchweg dem Patientenschutz dienen, zugleich einen verbindlichen Rahmen für<br />

Vereinbarungen zwischen Krankenhausträgern und externen Ärzten über deren Zuziehung im Rahmen<br />

allgemeiner Krankenhausleistungen setzen wollte. Es wird daher auch im Schrifttum vertreten, dass<br />

Dauerschuldverhältnisse, mit denen Krankenhäuser unter Verzicht auf eigenes Personal niedergelassene Ärzte<br />

zu bestimmten Dienstleistungen heranziehen, nicht der Gebührenordnung unterliegen, so dass auch pauschale<br />

Vergütungsvereinbarungen, die nach § 2 GOÄ unwirksam wären, geschlossen werden könnten (vgl. Brück, GOÄ, 3. Aufl. Stand<br />

1.4.2007, § 1 Rn. 4 Anm. 4.2.2). Eine solche Dienstleistungspflicht ist hier zwar nicht vereinbart worden; gleichwohl haben die<br />

Beklagte und der Rechtsvorgänger der Klägerin eine Rahmenvereinbarung geschlossen, auf deren Grundlage<br />

eine längerfristige - wenngleich kündbare - Zusammenarbeit vorgesehen war.<br />

[18] 3. Die hier zu beurteilende Vereinbarung ist auch nicht deshalb unwirksam, weil sie eine Honorierung<br />

unterhalb des Gebührenrahmens der Gebührenordnung vorsieht oder aus berufsrechtlichen Gründen zu<br />

beanstanden wäre. Wie die vertragsärztliche Versorgung insgesamt zeigt, ist die Gebührenordnung nicht das<br />

einzige Vergütungssystem, das für eine leistungsgerechte und angemessene Vergütung ärztlicher Leistungen den<br />

Maßstab bildet. Im Übrigen liegt es, wenn der Verordnungsgeber für die Vergütung Mindest- und Höchstsätze<br />

festlegt und zugleich zur Höhe abweichende Vereinbarungen zulässt, grundsätzlich in der Konsequenz dieser<br />

Regelung, dass Abweichungen in beide Richtungen gehen können (vgl. Erman/Edenfeld, BGB, 12. Aufl. 2008, § 612 Rn. 16; Pflüger MedR 2003, 276,<br />

277; zurückhaltend Dahm MedR 1994, 13, 14; zur GOZ KG NJWRR 2008, 910, 911; a.A. Kamps/Kiesecker MedR 2000, 72, 73 f, die - nicht bei einer Überschreitung, aber bei einer Unterschreitung - § 11 BÄO<br />

für verletzt ansehen). Auch die Berufsordnungen der Ärztekammern gehen davon aus, dass bei der privatärztlichen<br />

Liquidation eine Unterschreitung der Mindestgebühr nicht generell verboten ist. § 12 Abs. 1 Satz 3 der<br />

Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Rheinland-Pfalz sieht (lediglich) vor, dass die Sätze nach der<br />

Gebührenordnung nicht in unlauterer Weise unterschritten werden dürfen (vgl. hierzu auch Brück aaO Stand 1. 07.2004, § 2 Anm. 1.3.2).<br />

Darüber hinaus erlaubt sie in § 12 Abs. 2, dass der Arzt gegenüber einem bestimmten Kreis von Personen -<br />

Verwandten, Kollegen, deren Angehörigen, mittellosen Patienten - das Honorar ganz oder teilweise erlassen darf.<br />

Um einen Erlass geht es hier freilich nicht, sondern um die Befugnis, für einen gesamten Behandlungsbereich<br />

konsiliarärztlicher Tätigkeit eine Vergütung unter dem Einfachsatz zu vereinbaren. Ob das unlauter ist, lässt sich<br />

nicht - wie die Klägerin dies vertritt - allein mit der Unterschreitung des Rahmens der Gebührenordnung<br />

begründen. Vielmehr kann es selbst im Anwendungsbereich der Gebührenordnung gerade auch unter dem<br />

Gesichtspunkt der Berufsfreiheit erforderlich sein, dem Arzt eine Unterschreitung des Einfachsatzes zu erlauben,<br />

wie es insbesondere für Laborärzte vertreten wird, die mit nicht ärztlich geleiteten Einrichtungen im Wettbewerb<br />

stehen (vgl. hierzu Ratzel, in: Ratzel/Lippert, Kommentar zur Musterberufsordnung der deutschen Ärzte, 4. Aufl. 2006, § 12 Rn. 13; Pflüger aaO). Dass die hier in Rede<br />

stehende Unterschreitung des Einfachsatzes den Wettbewerb in unlauterer Weise beeinflusst hätte, hat das<br />

Berufungsgericht nicht festgestellt; auch die Klägerin verweist auf keinen Vortrag, nach dem sie oder das<br />

Krankenhaus durch ein zu niedrig bemessenes Honorar andere Radiologen in unlauterer Weise in ihrer Tätigkeit<br />

behindert hätten. Dagegen spricht vor allem, dass nach dem übereinstimmenden Vorbringen der Parteien mit der<br />

die Gebührenhöhe betreffenden Rahmenvereinbarung nicht die Pflicht für das Krankenhaus verbunden war, alle<br />

Patienten, die radiologische Leistungen benötigten, den Ärzten der Klägerin zuzuführen, und dass auch die Ärzte<br />

der Klägerin entscheiden konnten, ob sie vom Krankenhaus der Beklagten zugewiesene Patienten behandeln<br />

wollten. Dass die Klägerin ihre Tätigkeit für das Krankenhaus der Beklagten fortgesetzt und von einer Kündigung<br />

der Rahmenvereinbarung abgesehen hat, nachdem sich die Beklagte nach der ersten Rechnungsstellung vom<br />

24. 03.2005 am 29. 04.2005 auf die mit dem Praxisvorgänger geschlossene Vereinbarung berufen hatte, spricht<br />

im Übrigen dafür, dass die Klägerin die getroffene Regelung selbst nicht für unangemessen gehalten hat. Dass<br />

man sie als eine unerlaubte Vorteilsgewährung im Sinne von § 31 der genannten Berufsordnung seitens der<br />

Klägerin an das Krankenhaus für eine Zuweisung von Patienten ansehen müsste<br />

Schlick Dörr Hucke Seiters Tombrink<br />

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BGH VI ZR 325/08 vom 10.11.2009. GG Art. 103 Abs. 1, ZPO § 286 A<br />

a) Nach allgemeinem Grundsatz macht sich eine Partei die bei einer Beweisaufnahme zutage tretenden ihr<br />

günstigen Umstände regelmäßig zumindest hilfsweise zu Eigen.<br />

b) In der Nichtberücksichtigung eines Beweisergebnisses, das sich eine Partei als für sie günstig zu Eigen<br />

macht, kann eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegen.<br />

BGH, Beschluss vom 10. 11.2009 - VI ZR 325/08 - OLG Düsseldorf LG Düsseldorf –<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. 11.2009 durch den Vorsitzenden Richter Galke, die<br />

Richterin Diederichsen, die Richter Pauge, Stöhr und die Richterin von Pentz beschlossen:<br />

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten wird das Urteil des 18. Zivilsenats des Oberlandesgerichts<br />

Düsseldorf vom 5. 11.2008 aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der<br />

Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Gegenstandswert: 35.811,79 €<br />

Gründe:<br />

1. 1. Die Klägerin, die sich vom 17. 02.1997 bis zum 28. 01.2000 in zahnärztlicher Behandlung des Beklagten<br />

befand, hat diesen auf Rückzahlung von Honorar sowie auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in<br />

Anspruch genommen. Das Landgericht hat der Klage (nur) hinsichtlich eines Teils des Feststellungsantrags<br />

stattgegeben, weil die Versorgung der Frontzähne des Unterkiefers (Kronen 33 bis 43) behandlungsfehlerhaft erfolgt sei.<br />

Auf die Berufung hat das Oberlandesgericht der Klägerin zusätzlich Ersatz materiellen Schadens (Nachbehandlungskosten)<br />

sowie ein Schmerzensgeld von 5.000,00 € zuerkannt und den Feststellungsausspruch erweitert. Es hat, anders<br />

als das Landgericht, einen Behandlungsfehler nicht für erwiesen erachtet, eine Ersatzpflicht des Beklagten jedoch<br />

deshalb bejaht, weil dieser die ihm obliegende Pflicht zur therapeutischen Aufklärung hinsichtlich der<br />

Notwendigkeit regelmäßiger Pflege und regelmäßiger Kontrolle des Zahnersatzes verletzt und dadurch die<br />

Notwendigkeit der Nachbehandlung verursacht habe. Die Revision hat das Berufungsgericht nicht zugelassen.<br />

Dagegen wendet sich der Beklagte mit der Nichtzulassungsbeschwerde.<br />

2. 2. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des<br />

angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Dieses hat den<br />

Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise<br />

verletzt.<br />

3. a) Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Recht, dass das Berufungsgericht die Höhe des der Klägerin<br />

zuerkannten Schadensersatzanspruchs (§ 249 Abs. 2 Satz 1 BGB) aufgrund verfahrensfehlerhafter Tatsachenfeststellungen<br />

beurteilt hat.<br />

4. Das Landgericht hat mit Beweisbeschluss vom 30. 06.2005 die Einholung eines zahnmedizinischen<br />

Sachverständigengutachtens angeordnet und an den mit Beschluss vom 17. 08.2005 bestellten<br />

Sachverständigen Dr. Dr. B. u.a. die Frage gerichtet, ob zur Sanierung des Gebisses der Klägerin die in dem von<br />

ihr vorgelegten Heil- und Kostenplan des Zahnarztes A. vom 30. 07.2004 aufgeführten Maßnahmen mit<br />

voraussichtlichen Kosten in Höhe von 25.811,79 € ausgeführt werden müssen. Diese Frage hat der gerichtliche<br />

Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten vom 28. 12.2005 teilweise verneint und erklärt, die<br />

Maßnahmen gemäß diesem Heil- und Kostenplan müssten nicht ausgeführt werden. Der Heil- und Kostenplan<br />

habe sich und werde sich noch gravierend ändern. So sei ein Implantat an Stelle des Zahns 21 nicht erforderlich,<br />

weil dieser Zahn fest im Kieferknochen stehe. Im Unterkiefer seien nur zwei und nicht sechs Implantate gesetzt.<br />

Da die Folgekonstruktion etwas anders ausfalle, dürfte sich die Summe etwa um die Hälfte reduzieren.<br />

5. Diese Ausführungen des Sachverständigen durfte das Berufungsgericht bei seiner Entscheidungsfindung nicht<br />

mit der von ihm gegebenen Begründung unberücksichtigt lassen, dass der Beklagte erhebliche Einwendungen<br />

gegen die Richtigkeit und Angemessenheit des Heil- und Kostenplans nicht erhoben habe. Das Berufungsgericht<br />

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hat verkannt, dass sich eine Partei die bei einer Beweisaufnahme zutage tretenden ihr günstigen Umstände<br />

regelmäßig zumindest hilfsweise zu eigen macht (vgl. Senatsurteil vom 8. 01.1991 - VI ZR 102/90 - VersR 1991, 467, 468 mit Anm. Jaeger). Gegen diesen<br />

allgemeinen Grundsatz hat das Berufungsgericht verstoßen. Es hat die Höhe des Ersatzanspruchs nämlich allein<br />

auf der Grundlage des von der Klägerin vorgelegten Heil- und Kostenplans bemessen, in dem jedoch<br />

Maßnahmen aufgeführt sind, die nach Beurteilung des gerichtlichen Sachverständigen teilweise gar nicht<br />

notwendig sind, so dass die für die Sanierung des Gebisses erforderlichen Kosten voraussichtlich deutlich unter<br />

dem von dem Zahnarzt A. genannten Betrag liegen werden.<br />

6. Dafür, dass der Beklagte sich dieses für ihn günstige Beweisergebnis nicht wenigstens hilfsweise zu Eigen<br />

gemacht hat, ist nichts ersichtlich. Das Berufungsgericht durfte dieses Beweisergebnis bei seiner<br />

Entscheidungsfindung deshalb nicht als unerheblich bewerten. Die Nichtberücksichtigung des für den Beklagten<br />

günstigen Beweisergebnisses bedeutet, dass das Berufungsgericht erhebliches Vorbringen des Beklagten<br />

übergangen und damit dessen verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)<br />

verletzt hat.<br />

7. b) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das<br />

Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung des Beweisergebnisses zu einer anderen Beurteilung der<br />

Höhe des der Klägerin zuerkannten Ersatzanspruchs gekommen wäre.<br />

8. 3. Bei der neuen Verhandlung und Entscheidung wird das Berufungsgericht Gelegenheit haben, der im<br />

angefochtenen Urteil nicht erörterten Frage eines etwaigen Mitverschuldens der Klägerin nachzugehen, die das<br />

Landgericht bejaht hat. Gegebenenfalls wird das Berufungsgericht auch die von dem Beklagten in der<br />

Nichtzulassungsbeschwerdebegründung aufgezeigten Bedenken gegenüber der Beweiswürdigung hinsichtlich<br />

der therapeutischen Aufklärung und der Absicht der Klägerin, die Behandlung durchführen zu lassen, zu<br />

berücksichtigen haben.<br />

Galke Diederichsen Pauge Stöhr von Pentz<br />

Vorinstanzen: LG Düsseldorf, Entscheidung vom 30.08.2007 - 3 O 606/04 - OLG Düsseldorf, Entscheidung vom<br />

05.11.2008 - I18 U 7/08<br />

BGH, Urteil vom 06.10.2009 - VI ZR 24/09 - OLG Braunschweig, LG Braunschweig<br />

Die Revision der Haftpflichtversicherung gegen die Insolvenzverwalterin der Klinik wird zurückgewiesen.<br />

Beweislasterleichterungen sind keine Sanktion für grobes ärztliches Behandlungsverschulden, sondern<br />

dienen der „Waffengleichheit von Arzt und Patient“.<br />

Trifft eine Geburtskomplikation aufgrund grob fehlerhafter zu später Schnittentbindungsentscheidung<br />

des Gynäkologen ein, so ist im Nachgang das Organisationsverschulden durch zu spätes Eintreffen des<br />

Anästhesisten (45 Min.) nicht mehr kausal für den Verlauf.<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 6. 10.2009 durch den<br />

Vorsitzenden Richter Galke, die Richter Zoll und Wellner sowie die Richterin Diederichsen und den Richter Pauge<br />

für Recht erkannt:<br />

Die Revision gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 18. 12.2008 wird auf<br />

Kosten der Klägerin zurückgewiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

1. Die Klägerin, bei der der Gynäkologe Dr. B. haftpflichtversichert ist, macht aus übergegangenem Recht<br />

gegenüber dem Beklagten als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Belegklinik Dr. Bo. GmbH den<br />

gesamtschuldnerischen Ausgleichsanspruch geltend.<br />

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2. Am 8. 08.1997 wurde die Schwangere N. A. von Dr. B. in die geburtshilfliche Abteilung der Belegklinik der<br />

Insolvenzschuldnerin wegen prätibialer Ödeme eingewiesen. Am 9. 08.1997 gegen 4.00 Uhr morgens hatte N. A.<br />

einen Blasensprung. Gegen 9.15 Uhr legte die Hebamme E. einen Wehentropf an und kontrollierte die kindliche<br />

Herzfrequenz mittels eines CTG. Da die Herzfrequenz schon kurz nach Beginn der Aufzeichnungen bei 200<br />

s/min. lag, verabreichte die Hebamme gegen 9.45 Uhr der Schwangeren Isoptin. Daraufhin sank die Frequenz auf<br />

165 s/min. bis kurz vor 10.00 Uhr und bis 11.00 Uhr auf etwas unter 160 s/min. Dr. B. untersuchte die<br />

Schwangere gegen 11.00 Uhr. Dabei sah er die CTG-Kurve nicht ein. Ohne weitere medizinische Maßnahmen zu<br />

veranlassen, verließ er die Klinik. Um die Mittagszeit begann N. A. aus der Scheide zu bluten. Da die Herztöne<br />

des Kindes gegen 13.15 Uhr auf 70 s/min. absanken, rief die Hebamme E. um 14.15 Uhr Dr. B. an, der um 14.20<br />

Uhr eine sofortige Kaiserschnittentbindung anordnete. Um 14.25 Uhr verständigte E. den Anästhesisten N., der<br />

gegen 15.00 Uhr im Krankenhaus eintraf. Die Narkose zur Durchführung der Notsectio wurde um 15.20 Uhr<br />

eingeleitet. Um 15.24 Uhr erfolgte die Geburt des Mädchens H. A., das als Folge einer geburtsassoziierten<br />

hypoxisch-ischämischen Hirnschädigung unter einem schweren psychoneurologischen Restschadensyndrom<br />

leidet. Es besteht ein fokales cerebrales Anfallsleiden. H. A. kann weder allein essen noch trinken und muss über<br />

eine Sonde ernährt werden. Die Mutter N. A. musste wegen einer Uterusruptur und der Folgen einer vorzeitigen<br />

Plazentaablösung in die Frauenklinik in W. verlegt werden, wo die Gebärmutter entfernt werden musste.<br />

3 Die Insolvenzschuldnerin hatte im Rahmen des Belegarztvertrages mit Dr. N. vereinbart, dass er wegen der<br />

räumlichen Entfernung zu seinem Wohnort während der Bereitschaftszeit innerhalb von 45 Minuten nach<br />

Alarmierung in der Klinik eintreffen müsse. Dr. B. kannte die Vereinbarung. Er erklärte sich am 23. 01.1995<br />

trotzdem damit einverstanden, dass Dr. N. als Facharzt für Anästhesie die gesamte operative und postoperative<br />

anästhesiologische Betreuung seiner Patienten in der Belegklinik der Insolvenzschuldnerin auf Dauer übernimmt.<br />

4. N. A. und H. A. haben Dr. B. und die Insolvenzschuldnerin auf materiellen Schadensersatz und Zahlung eines<br />

Schmerzensgeldes in Anspruch genommen (Az.: 4 O 2113/00 Landgericht Braunschweig). Die Klage gegen die Insolvenzschuldnerin<br />

hat das Landgericht durch rechtskräftig gewordenes Teilurteil vom 5. 07.2001 abgewiesen. Danach ist die<br />

Insolvenzschuldnerin nach Streitverkündung dem Rechtsstreit gegen Dr. B. beigetreten. Mit Grundurteil vom 13.<br />

06.2002 hat das Landgericht die Klage gegen Dr. B. dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Das<br />

Oberlandesgericht Braunschweig hat mit Urteil vom 16. 01.2003 (Az.: 1 U 70/02) die Berufung gegen die Verurteilung zur<br />

Zahlung von Schmerzensgeld an H. A. zurückgewiesen und festgestellt, dass Dr. B. verpflichtet ist, ihr sämtliche<br />

künftigen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder<br />

andere Dritte übergegangen sind oder übergehen. Am 24. 05.2005 haben die Parteien einen Vergleich gemäß §<br />

278 Abs. 6 ZPO abgeschlossen, aufgrund dessen Dr. B. u. a. ein Schmerzensgeld von 500.000 € an H. A. zu<br />

zahlen hat.<br />

5. Im Streitfall hat das Landgericht der Klage auf Ausgleich der von der Klägerin erbrachten Zahlungen teilweise<br />

stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts teilweise<br />

abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Die Anschlussberufung, mit der die Klägerin Ersatz von<br />

Rechtsverfolgungskosten begehrt hat, hat es zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen<br />

Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

6. Das Berufungsgericht verneint einen Anspruch auf Gesamtschuldnerausgleich für die Klägerin, weil nicht<br />

erwiesen sei, dass das späte Eintreffen des Anästhesisten Dr. N. in der Belegklinik der Insolvenzschuldnerin<br />

schadensursächlich geworden sei. Der Senat neige zwar dazu, einen groben Organisationsfehler der<br />

Insolvenzschuldnerin anzunehmen. Nach dem medizinischen Standard sei nämlich bei einer Notsectio die<br />

Einhaltung einer Zeit von 20 bis 30 Minuten zwischen der Entscheidung zur Sectio bis zur Entbindung (EEZeit)<br />

erforderlich. Bei der vereinbarten Anreisezeit von maximal 45 Minuten für den Anästhesisten werde dieser<br />

Zeitraum nicht eingehalten. Beweiserleichterungen wegen eines groben Behandlungsfehlers fänden für den<br />

Anspruch auf selbständigen Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 Abs. 1 BGB zwischen grob fehlerhaft<br />

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handelnden Personen oder Einrichtungen jedoch keine Anwendung. Die Figur des groben Behandlungsfehlers sei<br />

entwickelt worden, um zur Waffengleichheit zwischen Patient und Arzt im Arzthaftungsprozess beizutragen. Sie<br />

sei keine Sanktion für ärztliches Behandlungsverschulden, sondern diene der Ausgleichung der durch den groben<br />

Behandlungsfehler zu Lasten des Patienten verschlechterten Beweissituation. Im Streitfall komme hinzu, dass der<br />

Versicherungsnehmer der Klägerin, Dr. B., aufgrund der groben Fehlerhaftigkeit der Behandlung und der<br />

Unterlassung der möglichen weitergehenden Befunderhebungen und Dokumentationen die Beweissituation zur<br />

Frage der Schadenskausalität und für die Abgrenzung etwaiger Verursachungsbeiträge verschlechtert habe. Es<br />

spreche viel dafür, dass bei der Abwägung der beidseitigen Verschuldens- und Verursachungsanteile (§ 254 BGB) die<br />

Mitverantwortung der Insolvenzschuldnerin hinter dem überwiegenden Verschulden des Dr. B. zurücktrete. Dr. B.<br />

habe die Gebärende trotz erkennbarer schwerster Komplikationen letztlich sich selbst überlassen. Ein schwerer<br />

Behandlungsfehler sei schon darin zu sehen, dass Dr. B. aufgrund der Nachlässigkeit bei der Visite die absolut<br />

kontraindizierte Gabe von Isoptin durch die Hebamme nicht bemerkt habe. Zusätzlich zu den bereits festgestellten<br />

Fehlern sei auch noch zu berücksichtigen, dass der Schwangeren am Vortag bei der Aufnahme kontraindikativ<br />

das Medikament Lasix verabreicht worden sei.<br />

7. Soweit die Klägerin ihren Anspruch nach § 426 Abs. 2 BGB i.V.m. § 67 VVG a.F. auf den übergegangenen<br />

Anspruch der Geschädigten gegen die Insolvenzschuldnerin stütze, müsse sie die rechtskräftige Abweisung der<br />

Klage durch Teilurteil des Landgerichts B. vom 5. 07.2001 - 4 O 2113/00 - gegen sich gelten lassen. Das<br />

Klagebegehren und der zugrunde liegende Lebenssachverhalt seien identisch mit dem des rechtskräftig<br />

entschiedenen Vorprozesses.<br />

8. Zur Klärung der Frage, ob der Grundsatz der Beweiserleichterung aufgrund eines groben ärztlichen<br />

Behandlungsfehlers auch auf den selbständigen Anspruch auf Gesamtschuldnerausgleich (§ 426 Abs. 1 BGB) zugunsten<br />

eines Behandlers Anwendung findet, der einen der Behandlungsseite zuzuordnenden Mitschädiger in Anspruch<br />

nimmt, hat das Berufungsgericht die Revision zugelassen.<br />

II.<br />

9. Die Revision der Klägerin bleibt erfolglos.<br />

10. 1. Für den ausgleichsberechtigten Gesamtschuldner sind in der Regel drei Anspruchsgrundlagen in Betracht<br />

zu ziehen, zum einen der Regressanspruch aus § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB, der gleichzeitig mit der Gesamtschuld<br />

entsteht, zum andern der zur Bestärkung des Regressrechts des Ausgleichsberechtigten kraft Gesetzes<br />

übergehende Anspruch des Gläubigers gegen die anderen Gesamtschuldner nach § 426 Abs. 2 BGB und des<br />

Weiteren außerhalb der Gesamtschuld stehende vertragliche oder gesetzliche Ansprüche z.B. aus<br />

Geschäftsführung ohne Auftrag oder Bereicherung zwischen dem ausgleichsberechtigten und den anderen<br />

Gesamtschuldnern. Diese Ansprüche können in Anspruchskonkurrenz zu § 426 Abs. 1 BGB und dem gemäß §<br />

426 Abs. 2 BGB übergegangenen Anspruch eine dritte Anspruchsgrundlage bilden, ihnen kommt vor allem die<br />

Wirkung zu, das Maß der offenen Regel des § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB abweichend von der kopfteiligen Haftung<br />

zu bestimmen (vgl. BGH, Urteil vom 15. 01.1988 - V ZR 183/86 - NJW 1988, 1375, 1376; Erman/Ehmann, BGB, 12. Aufl., § 426 Rn. 14 und 32). Der gemäß § 426 Abs. 2<br />

BGB übergegangene Anspruch und der selbständige Regressanspruch aus § 426 Abs. 1 BGB wie auch der unter<br />

Umständen hinzutretende dritte Anspruch aus eigenem Recht sind selbständige Ansprüche, die auf<br />

unterschiedlichen Rechtsgründen beruhen, verschiedene Voraussetzungen haben und in Anspruchskonkurrenz<br />

zueinander stehen (vgl. BGHZ 59, 97, 102 f.). Unabhängig davon können sich die konkurrierenden Regressansprüche<br />

gegenseitig beeinflussen. So wird zwar in der Regel der Anspruch aus § 426 Abs. 1 BGB von den Einreden und<br />

Einwendungen gegen den übergegangenen Anspruch nicht berührt (vgl. BGH, Urteil vom 9. 07.2009 - VII ZR 109/08 - WM 2009, 1854 Rn. 10 ff. zur<br />

Einrede der Verjährung; Erman/Ehmann, aaO, Rn. 33; Soergel/Wolf, BGB, 13. Aufl., § 426 Rn. 53). Jedoch geht der Anspruch aus fremdem Recht nur<br />

insoweit über als der Ausgleichsberechtigte gemäß § 426 Abs. 1 Satz 1 Regress verlangen kann, womit die Höhe<br />

der Ansprüche aneinander angepasst wird.<br />

11. a) Außerhalb der Gesamtschuld stehende vertragliche oder gesetzliche Ansprüche gegen die<br />

Insolvenzschuldnerin werden von der Klägerin nicht geltend gemacht und sind ersichtlich nicht gegeben.<br />

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12. b) Der Streitfall wirft auch nicht die Frage auf, ob die für den Patienten geltenden Beweiserleichterungen bei<br />

Geltendmachung eines übergeleiteten Anspruchs im Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 Abs. 2 BGB<br />

Anwendung finden (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 14. 07.2005 - III ZR 391/04 - VersR 2005, 1443 und BGHZ 163, 53 zur Beweislast bei der Haftung wegen eines voll beherrschbaren Risikos;<br />

OLG Hamm, GesR 2005, 70; OLG Stuttgart, Urteil vom 18. 04.2006 - 1 U 127/04 - rechtskräftig durch Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch den erkennenden Senat vom 10. 07.2007 - VI ZR<br />

94/06 und OLG Stuttgart, Urteil vom 19. 10.2004 - 1 U 87/03 - rechtskräftig durch Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch den erkennenden Senat vom 31. 05.2005 - VI ZR 300/04 ;<br />

Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 6. Aufl., B V Rn. 256; Frahm/Nixdorf/Walter, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl., Rn. 139; Schramm, Der Schutzbereich der Norm im Arzthaftungsrecht, Diss. 1992, S. 268 ff.;<br />

verneinend für den Fall der Überleitung eines Anspruchs wegen vorsätzlicher Körperverletzung gegen den das Opfer falsch behandelnden Arzt OLG Köln, VersR 1989, 294 = AHRS 6551/14). Da die<br />

Klage der Geschädigten gegen die Insolvenzschuldnerin durch das rechtskräftige Teilurteil des Landgerichts<br />

Braunschweig vom 5. 07.2001 (Az.: 4 O 2113/00) abgewiesen worden ist, kann die Klägerin wegen der<br />

Rechtskraftwirkung nach § 325 Abs. 1 ZPO einen übergeleiteten Anspruch gegen die Insolvenzschuldnerin nicht<br />

geltend machen. Dies stellt die Revision nicht in Frage. Dagegen ist rechtlich auch nichts zu erinnern.<br />

13. c) Hier ist nicht zu entscheiden, ob die für die Arzthaftung anerkannte Umkehrung der Beweislast bei grobem<br />

Behandlungsfehler bei dem Gesamtschuldnerausgleich unter Entschädigern Platz greift. Unter den besonderen<br />

Umständen des Streitfalls hat das Berufungsgericht im Ergebnis mit Recht auch für den Ausgleichsanspruch nach<br />

§ 426 Abs. 1 BGB die Beweislastumkehr zu Gunsten der Klägerin für die Schadensursächlichkeit eines groben<br />

Organisationsverschuldens der Insolvenzschuldnerin verneint. Die vom Berufungsgericht offen gelassene Frage,<br />

ob die Organisation des Bereitschaftsdienstes des Anästhesisten durch die Insolvenzschuldnerin grob fehlerhaft<br />

gewesen ist, bedarf deshalb keiner weiteren Klärung.<br />

14. aa) Die beweisrechtlichen Konsequenzen aus einem grob fehlerhaften Behandlungsgeschehen folgen nicht -<br />

wie die Revision insoweit in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht fälschlich meint - aus dem Gebot der<br />

prozessrechtlichen Waffengleichheit (vgl. BVerfGE 52, 131, 156). Sie knüpfen vielmehr daran an, dass die nachträgliche<br />

Aufklärbarkeit des tatsächlichen Behandlungsgeschehens wegen des besonderen Gewichts des<br />

Behandlungsfehlers und seiner Bedeutung für die Behandlung in einer Weise erschwert ist, dass der Arzt nach<br />

Treu und Glauben - also aus Billigkeitsgründen - dem Patienten den vollen Kausalitätsnachweis nicht zumuten<br />

kann. Die Beweislastumkehr soll einen Ausgleich dafür bieten, dass das Spektrum der für die Schädigung in<br />

Betracht kommenden Ursachen gerade durch den Fehler besonders verbreitert oder verschoben worden ist (ständige<br />

Rechtsprechung so etwa Senat, BGHZ 72, 132, 136; 132, 47, 52; 159, 48, 55; Urteile vom 7. 06.1983 - VI ZR 284/81 - VersR 1983, 983; vom 28. 06.1988 - VI ZR 217/87 - VersR 1989, 80, 81; vom 4. 10.1994 -<br />

VI ZR 205/93 - VersR 1995, 46, 47; vom 16. 04.1996 - VI ZR 190/95 - VersR 1996, 976, 979; und vom 11. 06.1996 - VI ZR 172/95 - VersR 1996, 1148, 1150; Steffen in Festschrift für Brandner 1996 S. 327,<br />

335 f.). Unter dem Gesichtspunkt der gleichmäßigen Beweislastrisikoverteilung kann ferner die Mitverursachung von<br />

Unklarheiten in der Ursachenaufklärung durch den Patienten wegen der damit verbundenen Erschwerung der<br />

Aufklärung des Behandlungsgeschehens sogar die Beweislastumkehr wegen des groben Behandlungsfehlers<br />

ausschließen. Voraussetzung ist, dass der Patient durch sein Verhalten eine selbständige Komponente für den<br />

Heilungserfolg vereitelt und dadurch in gleicher Weise wie der grobe Behandlungsfehler des Arztes dazu<br />

beigetragen hat, dass der Verlauf des Behandlungsgeschehens nicht mehr aufgeklärt werden kann (vgl. Senat, BGHZ 159,<br />

aaO; KG VersR 1991, 928 mit Nichtannahmebeschluss des Senats vom 19. 02.1991 - VI ZR 224/90; OLG Braunschweig, VersR 1998, 459 mit Nichtannahmebeschluss des Senats vom 20. 01.1998 - VI ZR<br />

161/97). Bei der Frage der Beweislastumkehr im Rechtsstreit über den Gesamtschuldnerausgleich sind im Verhältnis<br />

zwischen mehreren Mitschädigern diese Gesichtspunkte in gleicher Weise maßgebend.<br />

15. bb) Nach diesen Grundsätzen kann der Klägerin eine Beweislastumkehr nicht zugutekommen. Hätte nämlich<br />

Dr. B. die für ihn gebotenen Maßnahmen durchgeführt, wäre die Verzögerung der Sectio durch die lange Anreise<br />

des Anästhesisten nicht ursächlich geworden. Dr. B. war die Vereinbarung zwischen dem Anästhesisten Dr. N.<br />

und der Insolvenzschuldnerin bekannt, ihn traf vorderhand die persönliche Verantwortung für die Patientin N. A.,<br />

die er in das Krankenhaus eingewiesen hatte. Er hätte bei seiner Visite um 11.00 Uhr das CTG einsehen müssen,<br />

dessen Inhalt ihm Veranlassung gegeben hätte, die Hebamme zu den näheren Umständen zu befragen. Hierbei<br />

wäre ihm die fehlerhafte Verabreichung von Isoptin, die geeignet war, einen eventuell bedenklichen Zustand des<br />

Kindes zu verschleiern, mitgeteilt worden. Keinesfalls durfte Dr. B. die Gebärende trotz erkennbarer schwerster<br />

Komplikationen sich selbst überlassen. Da unstreitig die technischen Voraussetzungen für eine<br />

Mikroblutuntersuchung der Schwangeren in der Klinik der Streithelferin nicht gegeben waren, hätte die Geburt<br />

durch eine Schnittentbindung sofort beendet werden müssen. Dass eine Schnittentbindung zu diesem Zeitpunkt<br />

die hypoxische Schädigung des Kindes selbst dann verhindert hätte, wenn die Zeit zwischen der Entscheidung<br />

zur Entbindung bis zu deren Durchführung tatsächlich 64 Minuten gedauert hätte, wird auch von der Klägerin<br />

nicht in Zweifel gezogen.<br />

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16. Im Rechtsstreit der Geschädigten gegen den Versicherungsnehmer der Klägerin hat das Oberlandesgericht<br />

Braunschweig deshalb im Urteil vom 16. 01.2003 (Az.: 1 U 70/02) einen für die Schädigung der H. A. ursächlichen<br />

Behandlungsfehler des Dr. B. bejaht. Im Streitfall waren die Akten des Rechtsstreits gegen Dr. B. Gegenstand der<br />

mündlichen Verhandlung, wobei die Klägerin die der Verurteilung zugrunde liegenden Tatsachen nicht in Frage<br />

gestellt hat. Der Versicherungsnehmer der Klägerin hat mithin die Notsectio erst aufgrund seines pflichtwidrigen<br />

Verhaltens erforderlich gemacht, obwohl ihm bekannt war, dass Dr. N. eine längere Wegezeit benötigen würde,<br />

um in das Krankenhaus zu kommen. Es handelte sich keineswegs um einen plötzlich auftretenden, nicht<br />

kalkulierbaren Notfall, vielmehr hat einen solchen Dr. B. durch seine Nachlässigkeit erst herbeigeführt, so dass<br />

ihn der weit überwiegende Verursachungsanteil an dem weiteren tragischen Verlauf der Geburt trifft, dem<br />

gegenüber das Organisationsverschulden der Insolvenzschuldnerin nicht mehr zum Tragen kommt. Eine<br />

rechtliche Verpflichtung des Beklagten, sich am Ersatz des Schadens zu beteiligen, besteht danach schon<br />

deshalb nicht, weil ein Gesamtschuldverhältnis nicht gegeben ist.<br />

III.<br />

17. Damit erweist sich die Revision der Klägerin als unbegründet und ist mit der Kostenfolge aus § 97 ZPO<br />

zurückzuweisen.<br />

Galke Zoll Wellner Diederichsen Pauge<br />

Vorinstanzen: LG Braunschweig, Entscheidung vom 26.04.2007 - 4 O 3529/04 OLG Braunschweig, Entscheidung<br />

vom 18.12.2008 - 1 U 40/07<br />

Berufsgericht für Heilberufe 1/09 vom 03.06.2009 BG-H 1/09.MZ<br />

Verurteilung eines Orthopäden vor dem Berufsgericht zu einer Geldstrafe und Erteilung eines Verweis<br />

wegen unzureichender Aufklärung (§ ( BÄO) und unzureichender Dokumentation (§ 10 MBO).<br />

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 18. 12.2008 VI R 34/07<br />

1. Ein Fahrzeug, das aufgrund seiner objektiven Beschaffenheit und Einrichtung typischerweise so gut wie<br />

ausschließlich nur zur Beförderung von Gütern bestimmt ist, unterfällt nicht der Bewertungsregelung des § 8<br />

Abs. 2 Satz 2 EStG (1 %Regelung).<br />

2. Ob ein Arbeitnehmer ein solches Fahrzeug auch für private Zwecke eingesetzt hat, bedarf der Feststellung im<br />

Einzelnen. Die Feststellungslast obliegt dem FA. Dieses kann sich nicht auf den sog. Beweis des ersten<br />

Anscheins berufen.<br />

Gründe<br />

I.<br />

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH, betreibt ein Unternehmen für ... . Ihrem Gesellschafter-<br />

Geschäftsführer A stellte die Klägerin zwei Firmenfahrzeuge zur Verfügung, einen Opel Astra und einen Opel<br />

Combo. Letzterer ist ein zweisitziger Kastenwagen, dessen fensterloser Aufbau mit Materialschränken und –<br />

fächern sowie Werkzeug ausgestattet und mit einer auffälligen Beschriftung versehen ist.<br />

Nach einer Lohnsteuer-Außenprüfung erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt FA) für die Streitjahre<br />

2001 und 2002 gegen die Klägerin Haftungsbescheide wegen der auf die private Nutzung des Opel Astra<br />

entfallenden Lohnsteuer. Auf den Einspruch der Klägerin änderte das FA nach entsprechendem Hinweis die<br />

angefochtenen Bescheide, indem es nunmehr für beide Fahrzeuge einen privaten Nutzungswert von 1 % des<br />

Listenpreises sowie zusätzlich für den Opel Combo 0,03 % des Listenpreises pro Kilometer der Entfernung<br />

zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ansetzte.<br />

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab.<br />

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Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.<br />

Die Klägerin beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Haftungsbescheide dahingehend<br />

zu ändern, dass wegen der Überlassung des Opel Combo von einer Besteuerung nach der 1 %Regelung<br />

abgesehen wird.<br />

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.<br />

II.<br />

Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Klage teilweise stattzugeben (§ 126 Abs. 3<br />

Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung FGO). Entgegen der Auffassung des FG kommt § 8 Abs. 2 Satz 2 des<br />

Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht zur Anwendung, soweit die Nutzung des Opel Combo für private Fahrten<br />

betroffen ist.<br />

Gemäß § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG haftet der Arbeitgeber für die Lohnsteuer, die er einzubehalten und abzuführen<br />

hat. Die Lohnsteuer wird bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit erhoben, soweit der Arbeitslohn von einem<br />

inländischen Arbeitgeber gezahlt wird (§ 38 Abs. 1 Satz 1 EStG). Der Haftungstatbestand ist, soweit es um die private<br />

Nutzung des Opel Combo geht, teilweise nicht erfüllt.<br />

a) Zum Arbeitslohn gehören nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 8 Abs. 1 EStG alle geldwerten Vorteile, die für<br />

eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten Dienst gewährt werden. Auch die unentgeltliche bzw. verbilligte<br />

Überlassung eines Dienstwagens durch den Arbeitgeber an den Arbeitnehmer für dessen Privatnutzung führt zu<br />

einer Bereicherung des Arbeitnehmers und damit zum Lohnzufluss (Urteile des Bundesfinanzhofs BFH- vom 6. 11.2001 VI R 62/96, BFHE 197, 142,<br />

BStBl II 2002, 370; vom 7. 11.2006 VI R 19/05, BFHE 215, 256, BStBl II 2007, 116; VI R 95/04, BFHE 215, 252, BStBl II 2007, 269; vom 4. 04.2008 VI R 68/05, BFHE 221, 17, BStBl II 2008, 890).<br />

Gemäß § 8 Abs. 2 Satz 2 EStG gilt ab dem Veranlagungszeitraum 1996 für die Nutzung eines betrieblichen<br />

Kraftfahrzeugs zu privaten Fahrten die in § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG getroffene Regelung entsprechend; diese<br />

Nutzung ist daher für jeden Kalendermonat mit 1 % des inländischen Listenpreises im Zeitpunkt der<br />

Erstzulassung zuzüglich der Kosten für Sonderausstattungen einschließlich der Umsatzsteuer anzusetzen<br />

(1 %Regelung). Dieser Wert erhöht sich gemäß § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG für jeden Kalendermonat um 0,03 % des<br />

genannten Listenpreises für jeden Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (Zuschlag), wenn<br />

das Fahrzeug für solche Fahrten genutzt werden kann.<br />

b) Das Einkommensteuergesetz definiert den Begriff "Kraftfahrzeug" weder in § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 noch in § 8<br />

Abs. 2 Satz 2 EStG. Nach dem Wortlaut der Vorschriften wird von den Regelungen jedwedes zum<br />

Betriebsvermögen des Arbeitgebers rechnendes "Kraftfahrzeug" erfasst. Nach der Rechtsprechung des X. Senats<br />

des BFH, der sich der erkennende Senat anschließt, ist es nach Sinn und Zweck jedoch geboten, bestimmte<br />

Arten von Kraftfahrzeugen, namentlich auch LKW, von der Anwendung der 1 %Regelung auszunehmen (BFHUrteil vom<br />

13. 02.2003 X R 23/01, BFHE 201, 499, BStBl II 2003, 472; vgl. auch Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen BMF- vom 21. 01.2002, BStBl I 2002, 148, Tz. 1 am Ende). Unter dem<br />

Begriff LKW werden üblicherweise solche Kraftfahrzeuge erfasst, die nach ihrer Bauart und Einrichtung<br />

ausschließlich oder vorwiegend zur Beförderung von Gütern dienen (BFHEntscheidungen in BFHE 201, 499, BStBl II 2003, 472; vom 21. 08.2006<br />

VII B 333/05, BFHE 213, 281, BStBl II 2006, 721, jeweils m.w.N.).<br />

Im Streitfall ist der Opel Combo, wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist, kraftfahrzeugsteuer- und<br />

verkehrsrechtlich als LKW klassifiziert. Zwar ist nach der BFH-Entscheidung in BFHE 201, 499, BStBl II 2003, 472<br />

diese Klassifizierung für die Feststellung des sachlichen Anwendungsbereichs des § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG<br />

unmaßgeblich. Der Senat lässt offen, ob dieser Auffassung nach Aufhebung des § 23 Abs. 6a der<br />

Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung(vgl. dazu BFHBeschluss in BFHE 213, 281, BStBl II 2006, 721; Strodthoff, Kraftfahrzeugsteuer, § 2 Rz 4; § 8 Rz 18i) gefolgt<br />

werden kann. Denn jedenfalls ist das Fahrzeug der Klägerin als Werkstattwagen aufgrund seiner objektiven<br />

Beschaffenheit und Einrichtung typischerweise so gut wie ausschließlich nur zur Beförderung von Gütern<br />

bestimmt. Ein Fahrzeug dieser Art wird allenfalls gelegentlich und ausnahmsweise auch für private Zwecke<br />

eingesetzt. Insbesondere die Anzahl der Sitzplätze (2), das äußere Erscheinungsbild, die Verblendung der hinteren<br />

Seitenfenster und das Vorhandensein einer Abtrennung zwischen Lade- und Fahrgastraum machen deutlich,<br />

dass das Fahrzeug für private Zwecke nicht geeignet ist (vgl. zu den Abgrenzungsmerkmalen Strodthoff, a.a.O., § 8 Rz 17a; 18h am Ende).<br />

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c) Nach diesen Grundsätzen ist im Streitfall die Vorschrift des § 8 Abs. 2 Satz 2 EStG nicht anwendbar. Ob ein<br />

Arbeitnehmer in einem solchen Fall das Fahrzeug für private Zwecke eingesetzt hat, ist im Einzelnen<br />

festzustellen; die Bewertung richtet sich nach § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG. Die Feststellungslast trifft das FA. Zwar<br />

spricht nach der Rechtsprechung des Senats bei Überlassung eines Dienstwagens an einen Arbeitnehmer<br />

aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung der Beweis des ersten Anscheins für eine auch private Nutzung des<br />

Dienstwagens (vgl. BFHUrteile in BFHE 215, 256, BStBl II 2007, 116, m.w.N.; vom 15. 03.2007 VI R 94/04, BFH/NV 2007, 1302). Diese Grundsätze kommen jedoch<br />

nicht zur Anwendung, wenn es sich um ein Fahrzeug handelt, das typischerweise nicht zum privaten Gebrauch<br />

geeignet ist.<br />

Im Streitfall liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass A das Fahrzeug tatsächlich privat genutzt hat.<br />

Die Revision richtet sich nicht gegen die Anwendung der Zuschlagsregelung gemäß § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG.<br />

BGH VIII ZR 132/07. vom 14.07.2009.<br />

Revision der Patientin wird abgewiesen, weil der Streitwert unter 20.000 € liegt und ohne<br />

Erfolgsaussichten ist.<br />

in dem Rechtsstreit Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. 07.2009 durch den Vorsitzenden<br />

Richter Ball, den Richter Dr. Frellesen, die Richterin Dr. Milger, den Richter Dr. Achilles und die Richterin Dr.<br />

Fetzer beschlossen:<br />

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil der 5. Zivilkammer des<br />

Landgerichts Arnsberg vom 27. 03.2007 wird auf ihre Kosten als unzulässig verworfen, weil der Wert der von der<br />

Klägerin mit einer Revision geltend zu machenden Beschwer zwanzigtausend Euro nicht übersteigt (§ 26 Nr. 8 EGZPO, §§<br />

544, 97 Abs. 1 ZPO).<br />

Streitwert: 16.600 €<br />

Gründe:<br />

1. Bei der Bemessung der Beschwer der Klägerin ist zwar neben der Abweisung des unbezifferten<br />

Schmerzensgeldantrages auch der Wert des daneben verfolgten Feststellungsantrags anzusetzen (§ 5 ZPO). Der<br />

Wert dieses weiteren Klagantrags ist jedoch lediglich mit 1.600 € (80 % von 2.000 €) zu bemessen. Zur Erheblichkeit und<br />

zur Dauer der behaupteten Beeinträchtigungen fehlen konkrete Angaben; eine Glaubhaftmachung ist ebenfalls<br />

nicht erfolgt (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 25. 07.2007 - V ZR 118/02, WM 2002, 1899, unter II). Zudem sind alle erkennbaren immateriellen Folgen<br />

bereits von Klagantrag Ziffer 1 (unbeziffertes Schmerzensgeld) erfasst und haben daher bei der Bestimmung der Beschwer<br />

außer Betracht zu bleiben (vgl. BGH, Urteil vom 20. 03.2003 - VI ZR 325/99, NJW 2001, 3414, unter II 2, m.w.N.). Die von der Klägerin befürchteten<br />

materiellen Lasten werden sich in Grenzen halten, da die Kosten für etwaige Behandlungen und Therapien<br />

überwiegend von den Sozialversicherungsträgern zu tragen sind.<br />

2. Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die Nichtzulassungsbeschwerde auch in der Sache keinen Erfolg<br />

hätte.<br />

Ball Dr. Frellesen Dr. Milger Dr. Achilles Dr. Fetzer<br />

Vorinstanzen: AG Menden, Entscheidung vom 30.10.2006 - 3 C 557/04 - LG Arnsberg, Entscheidung vom<br />

27.03.2007 - 5 S 148/06 –<br />

BGH, Urteil vom 09.06.2009 - Xa ZR 99/06 - OLG Celle<br />

BGB § 651g Abs. 1. Der Sozialversicherungsträger, der es schuldhaft versäumt hat, auf ihn<br />

übergegangene reisevertragliche Schadensersatzansprüche innerhalb eines Monats nach der<br />

vorgesehenen Beendigung der Reise gegenüber dem Reiseveranstalter geltend zu machen, ist auch dann<br />

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mit seinen Ansprüchen ausgeschlossen, wenn der Reisende bei ihm verbliebene Ansprüche rechtzeitig<br />

geltend gemacht hat (Fortführung von BGHZ 159, 350).<br />

LG Hannover Der XaZivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 9. 06.2009 durch<br />

den Richter Prof. Dr. MeierBeck, die Richterin Mühlens und die Richter Dr. Lemke, Gröning und Dr. Berger für<br />

Recht erkannt:<br />

Die Revision gegen das Urteil des 11. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 27. 07.2006 wird auf Kosten<br />

der Klägerin zurückgewiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

1. Die klagende Krankenkasse nimmt die beklagte Reiseveranstalterin aus übergegangenem Recht ihrer<br />

Versicherten wegen eines Reisemangels auf Ersatz von Heilbehandlungskosten und auf Feststellung in<br />

Anspruch, dass die Beklagte ihr auch zukünftig noch entstehenden Schaden ersetzen muss.<br />

2. Die bei der Klägerin versicherten Eheleute T. buchten bei der Beklagten für die Zeit vom 18. März bis 2.<br />

04.2004 eine Reise nach Mexiko. Zum gebuchten Leistungsumfang gehörte eine MexikoRundreise per Bus.<br />

Während der Rundreise wurden die Reisenden am 24. 03.2004 bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt, als der<br />

Reisebus von der Fahrbahn abkam. Die Beklagte organisierte daraufhin ein Sanitätsflugzeug, mit dem die<br />

Reisenden nach Deutschland zurücktransportiert wurden.<br />

3. Mit Schreiben vom 29. 03.2004 minderte die Beklagte den Reisepreis um 100% und erstattete ihn zugleich<br />

durch Übersendung eines Schecks. Mit weiterem Schreiben vom 7. 04.2004 bat sie die Eheleute um Mitteilung<br />

noch nicht ausgeglichener materieller Schäden. Die Beklagte zahlte ihnen in der Folgezeit Schmerzensgeld und<br />

ersetzte Haushaltsführungskosten. Während die Reisende T. keine Ansprüche anmeldete, machte ihr Ehemann<br />

mit Schreiben vom 13. 05.2004 bei der Beklagten eigene Ansprüche geltend, ohne dass ihm eine frühere<br />

Anmeldung möglich war.<br />

4. Die klagende Krankenversicherung nahm die Beklagte erstmals unter dem 8. 09.2004 durch Übersendung<br />

einer Rechnung über Heilbehandlungskosten für den Reisenden T. in Anspruch. Hinsichtlich der Reisenden T.<br />

meldete die Klägerin ihre Ansprüche erstmals unter dem 2. 02.2005 an. Für die nach dem Rücktransport der<br />

Eheleute in Deutschland durchgeführte Heilbehandlung entstanden in der Zeit vom 28. März bis zum 30. 09.2004<br />

Kosten in Höhe von insgesamt 136.649,67 €, welche die Klägerin getragen hat und mit ihrer Klage geltend macht.<br />

5. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben; das Berufungsgericht hat sie auf die Berufung der Beklagten<br />

abgewiesen. Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin die erhobenen<br />

Schadensersatzansprüche weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

6. Die Revision hat keinen Erfolg. Zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, dass reisevertragliche<br />

Gewährleistungsansprüche der Klägerin aus übergegangenem Recht durch Versäumung der Ausschlussfrist für<br />

die Anmeldung (§ 651g Abs. 1 BGB) verloren gegangen sind und übergegangene Ansprüche aus deliktischer Haftung nicht<br />

bestehen.<br />

7. I. Das Berufungsgericht hat sein Urteil (veröffentlicht in RRa 2006, 212) im Wesentlichen wie folgt begründet:<br />

8. Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 22. 06.2004 (BGHZ 159, 350) müsse der<br />

Sozialversicherungsträger, auf den ein Schadensersatzanspruch des Reisenden nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X<br />

übergegangen sei, seinen Anspruch innerhalb der Ausschlussfrist des § 651g Abs. 1 BGB selbst gegenüber dem<br />

Reiseveranstalter anmelden. Diese Frist habe die Klägerin versäumt. Selbst wenn, was der Bundesgerichtshof<br />

offengelassen habe, die rechtzeitige Anmeldung des übergegangenen Anspruchs durch den<br />

Sozialversicherungsträger entbehrlich sein sollte, wenn der Reisende selbst rechtzeitig bei ihm verbliebene<br />

Teilansprüche geltend mache, stehe der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung von Heilbehandlungskosten für die<br />

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Reisende T. nicht zu. Die Klägerin behaupte selbst nicht, dass diese jemals Ansprüche bei der Beklagten<br />

angemeldet habe.<br />

9. Auch die Anspruchsanmeldung durch den Ehemann vom 13. 05.2004 habe die Klägerin nicht von ihrer<br />

Anmeldeobliegenheit befreien können. Verfolge der Reisende wie im Streitfall ausschließlich seine eigenen<br />

Ansprüche, bedinge das gerade nicht auch die Anmeldung anderer Ansprüche und gebe dem Reiseveranstalter<br />

mithin auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass nach Ablauf der Ausschlussfrist noch weitere, bislang nicht geltend<br />

gemachte Ansprüche Dritter auf ihn zukommen könnten. Im Gegenteil müsse die beschränkte Geltendmachung<br />

dem Reiseveranstalter ein Hinweis darauf sein, das ein Sozialversicherungsträger für die Heilbehandlungskosten<br />

aufkomme und deshalb mit Ansprüchen auf ihn zutreten könnte. Melde sich der Sozialversicherungsträger aber<br />

nicht, könne der Reiseveranstalter davon ausgehen, dass Ansprüche auch nicht geltend gemacht würden. Da die<br />

Ausschlussfrist dazu diene, dem Reiseveranstalter sichere Kenntnis der auf ihn zukommenden Ansprüche zu<br />

verschaffen, habe die Beklagte aufgrund der Umstände sicher davon ausgehen können, mit<br />

Heilbehandlungskosten nicht konfrontiert zu werden.<br />

10. Die Klägerin könne auch nicht mit Erfolg geltend machen, dass die Beklagte des Schutzes des § 651g BGB<br />

nicht bedürfe, weil die gesetzgeberischen Gründe für diese Vorschrift im Streitfall nicht vorlägen. Der Umstand,<br />

dass die schnellere Abwicklung von Gewährleistungsansprüchen Hauptziel des Gesetzgebers gewesen sei,<br />

bedeute nicht, dass die Ausschlussfrist deshalb bei unstreitigem Reisemangel nicht zum Tragen kommen könne.<br />

Sie gelte nach dem Wortlaut des Gesetzes ausnahmslos für alle Ansprüche nach den §§ 651c bis 651f BGB. Die<br />

Berufung auf die Ausschlussfrist in Fällen, in denen Sachaufklärung betrieben und der Versicherer eingeschaltet<br />

worden sei, sei schließlich auch nicht rechtsmissbräuchlich.<br />

11. Übergegangene Ansprüche der Klägerin aus § 831 BGB bestünden nicht, da das Busunternehmen als<br />

Leistungsträger der Beklagten wegen fehlender Abhängigkeits- und Weisungsgebundenheit nicht als deren<br />

Verrichtungsgehilfe angesehen werden könne. Auch habe die Klägerin keine durchgreifenden Anhaltspunkte<br />

dafür aufgezeigt, dass die Beklagte eine eigene Verkehrssicherungspflicht verletzt haben und deshalb deliktisch<br />

haften könnte.<br />

12. II. Diese Beurteilung hält den Angriffen der Revision stand.<br />

13. 1. Der Klägerin stehen vertragliche Ansprüche aus übergegangenem Recht gegen die Beklagte nicht zu.<br />

14. a) Ohne Rechtsfehler hat das Berufungsgericht angenommen, dass die Klägerin, auf die schon zum Zeitpunkt<br />

des Unfalls gemäß § 116 Abs. 1 SGB X die Gewährleistungsansprüche der Reisenden übergegangen waren, ihre<br />

Ansprüche selbst innerhalb der Ausschlussfrist bei der Beklagten hätte anmelden müssen. Denn die Obliegenheit<br />

des "Reisenden" nach § 651g Abs. 1 Satz 1 BGB, die Ansprüche innerhalb der Monatsfrist geltend zu machen,<br />

trifft den jeweiligen Anspruchsinhaber (BGHZ 159, 350, 354) und damit auch den Zessionar, auf den die Ansprüche durch<br />

Abtretung oder gesetzlichen Forderungsübergang übergegangen sind.<br />

15. b) Dem Berufungsgericht ist auch darin beizutreten, dass die rechtzeitige Anmeldung der übergegangenen<br />

Ansprüche durch den Zessionar auch dann nicht entbehrlich ist, wenn der Reisende rechtzeitig eigene<br />

Schadensersatzansprüche erhoben hat (ebenso OLG Koblenz, Urt. v. 16.05.2008 - 10 U 1165/07; vgl. auch Palandt/Sprau, BGB, 68. Aufl., § 651g Rdn. 2;<br />

MünchKomm./Tonner, BGB, 5. Aufl. § 651g Rdn. 26; krit.: Erman/Seiler, BGB, 12. Aufl., § 651g Rdn. 2; a.A. Führich, Urteilsanm. zu BGH, Urt. v. 22.06.2004 - X ZR 171/03, LMK 2004, 204; Brüning, Probleme<br />

des Reisevertrags- und Reiseversicherungsrechts, Diss. Hamburg 2008, S. 68 f.).<br />

16. aa) Sinn und Zweck der Ausschlussfrist ist es, dem Reiseveranstalter Gewissheit darüber zu verschaffen, ob<br />

und in welchem Umfang Gewährleistungsansprüche auf ihn zukommen, damit er unverzüglich die notwendigen<br />

Beweissicherungsmaßnahmen treffen, etwaige Regressansprüche gegen seine Leistungsträger geltend machen<br />

und gegebenenfalls seinen Versicherer benachrichtigen kann (vgl. BGHZ 90, 363, 367, 369; 97, 255, 262; 102, 80, 86; 145, 343, 349; Urt. v. 11.01.2005 - X<br />

ZR 163/02, NJW 2005, 1420). Wie der Bundesgerichtshof bereits im Urteil vom 22. 06.2004 (BGHZ 159, 350, 354) ausgeführt hat,<br />

erlangt der Reiseveranstalter sichere Kenntnis der auf ihn zukommenden Gewährleistungsansprüche allerdings<br />

nur durch eine Anmeldung des Anspruchsinhabers. Daher hat der Bundesgerichtshof jedenfalls in jenem Fall, in<br />

dem lediglich eine vom Reisenden vorgenommene Anmeldung des für ihn fremden, weil auf den<br />

Sozialversicherungsträger übergegangenen Teilanspruchs auf Ersatz der Heilbehandlungskosten in Frage<br />

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gestanden hat, die eigene rechtzeitige Anmeldung des Anspruchsinhabers aus übergegangenem Recht für<br />

unentbehrlich erachtet.<br />

17. Der Schutzzweck der Ausschlussfrist des § 651g Abs. 1 Satz 1 BGB, dem Reiseveranstalter möglichst bald<br />

Sicherheit hinsichtlich der auf ihn zukommenden Ansprüche zu verschaffen, kann indes gleichermaßen nicht<br />

hinreichend erfüllt sein, wenn lediglich der Reisende die ihm selbst zustehenden Ansprüche geltend macht. Denn<br />

damit steht für den Reiseveranstalter noch keineswegs sicher fest, ob weitere Ansprüche aufgrund<br />

übergegangenen Rechts gegen ihn erhoben werden und in welchem Umfang sich hierdurch seine<br />

Inanspruchnahme entwickeln könnte. Während für den Reiseveranstalter bei einer Anspruchsanmeldung durch<br />

einen Dritten offenbleiben kann, ob der Anspruchsinhaber selbst überhaupt einen Anspruch erheben wird (vgl. BGHZ<br />

159, 350, 355), kann bei der Anmeldung lediglich eigener Ansprüche durch den Reisenden für den Reiseveranstalter<br />

unklar bleiben, welche weiteren Forderungen Dritter noch auf ihn zukommen können. Auch hier sind<br />

Fallgestaltungen denkbar, bei denen der Reiseveranstalter zunächst noch keinen hinreichenden Anlass hat, sich<br />

umfassend um die Aufklärung des Sachverhalts und um die Beweissicherung zu kümmern, etwa weil die Höhe<br />

der von dem Reisenden selbst angemeldeten Forderungen gering ist oder schon Kulanzgründe deren<br />

Begleichung nahelegen oder im Verhältnis zur Höhe der angemeldeten Ansprüche die Durchsetzung von<br />

Regressforderungen unwirtschaftlich erscheint. Das von der Rechtsprechung als schützenswert angesehene<br />

Interesse des Reiseveranstalters, seine Überprüfungs- und Beweissicherungstätigkeiten nicht vergeblich in Gang<br />

zu setzen (BGHZ 145, 343, 349; 159, 350, 355), ist auch bei solchen Fallgestaltungen anzuerkennen. Müsste der<br />

Reiseveranstalter nach der Anmeldung von Forderungen eines Anspruchsinhabers zeitlich unbegrenzt mit der<br />

Geltendmachung weiterer Ansprüche in unbekannter Höhe durch ihm bislang unbekannte Anspruchsinhaber<br />

rechnen, würde der von § 651g Abs. 1 Satz 1 BGB verfolgte Schutzzweck insoweit verfehlt.<br />

18. bb) Überdies würde es zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit führen, wenn die Entscheidung, ob der<br />

Inhaber eines Anspruchs aus übergegangenem Recht sich auf die Anmeldung des Reisenden berufen kann,<br />

davon abhängig wäre, ob dem Reisenden (noch) eigene Forderungen in einer Höhe zustehen, die ohnehin das<br />

Erfordernis einer schnellen Beweissicherung begründen. Diese Unsicherheit bestünde nicht nur bei dem vom<br />

Normzweck geschützten Reiseveranstalter, sondern auch auf Seiten des Anspruchsinhabers aus<br />

übergegangenem Recht, der im Einzelfall zu prüfen hätte, ob bereits die Anmeldung des Reisenden rechtzeitig<br />

und von ihrem Inhalt geeignet wäre, eine eigene fristgemäße Anmeldung entbehrlich zu machen. Auch der als<br />

Auslegungsmaßstab heranzuziehende Normzweck des § 651g Abs. 1 Satz 1 BGB, eine notwendige<br />

Beweissicherung sicherzustellen, rechtfertigt es nicht, bei der Gesetzesanwendung jeweils im Einzelfall zu fragen,<br />

ob die Einhaltung der gerade auch der Rechtssicherheit dienenden Ausschlussfrist durch den Zessionar<br />

ausnahmsweise entbehrlich ist.<br />

19. cc) Der Zessionar wird durch die für ihn bestehende Pflicht, seinen Anspruch innerhalb der Frist des § 651g<br />

Abs. 1 BGB anzumelden, auch nicht im Hinblick darauf unzumutbar belastet, dass er gegebenenfalls erst bei<br />

Abrechnung seiner Leistungen und damit erst nach Ablauf der Ausschlussfrist von seinem Anspruch gegen den<br />

Reiseveranstalter Kenntnis erlangt. Auch für ihn gilt die der Vermeidung von Härtefällen dienende Regelung in §<br />

651g Abs. 1 Satz 3 BGB, wonach der Anspruchsinhaber nach Ablauf der Monatsfrist seine Ansprüche noch<br />

geltend machen kann, wenn er ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert war.<br />

20. c) Entgegen der Auffassung der Revision scheitert eine schuldhafte Versäumung der Ausschlussfrist des §<br />

651g Abs. 1 BGB auch nicht daran, dass die Klägerin die Frist nicht gekannt hat und nicht hat kennen müssen.<br />

21. Die zum Schutz des Verbrauchers bei Reisen bestehende Pflicht des Reiseveranstalters nach § 6 Abs. 2 Nr. 8<br />

BGBnfoV, einen Vertragspartner bei Vertragsschluss über die nach § 651g Abs. 1 BGB einzuhaltende Frist zu<br />

belehren, erstreckt sich nur auf den Reisenden, nicht jedoch auf den ihm Leistungen gewährenden Dienstherrn<br />

oder Sozialversicherungsträger. Daher lässt sich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach<br />

zugunsten eines Reisenden eine widerlegbare Vermutung besteht, dass dieser die Ausschlussfrist nicht gekannt<br />

und damit nicht schuldhaft versäumt hat, wenn der Reiseveranstalter ihn pflichtwidrig nicht belehrt hat (vgl. BGH, Urt. v.<br />

12.06.2007 - X ZR 87/06, NJW 2007, 2549, 2552), von vornherein nicht auf Dritte übertragen, die gegen den Reiseveranstalter aus<br />

übergegangenem Recht mit eigenständigen Forderungen vorgehen.<br />

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22. Sonstige Gründe für eine unverschuldete Unkenntnis der Klägerin von der Ausschlussfrist werden auch von<br />

der Revision nicht geltend gemacht.<br />

23. d) Auch das von der Revision herangezogene und als Anerkenntnis gewertete eigene Verhalten der Beklagten<br />

gegenüber den Reisenden, für die sie von sich aus die erforderlichen Rettungsmaßnahmen einschließlich der<br />

Erstversorgung übernommen hat, denen sie den Reisepreis erstattet hat und die sie von sich aus um<br />

Bekanntgabe der noch nicht ausgeglichenen Schäden gebeten hat, begründet keine ausnahmsweise<br />

Entbehrlichkeit einer Anmeldung der Ansprüche durch die Klägerin. Die Annahme der Revision, dass es auch<br />

zugunsten des Sozialversicherungsträgers wirke, wenn der Reisende seinen Anspruch nicht mehr anmelden<br />

müsse, verkennt, dass die dem Geschädigten verbleibenden Ansprüche und die auf einen<br />

Sozialversicherungsträger übergegangenen Ansprüche selbständige Forderungen sind, die unterschiedliche<br />

Schicksale erleiden können. Zu Recht hat das Berufungsgericht in dem Umstand, dass die Beklagte ihre<br />

vertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Reisenden ernst genommen und sich umgehend um deren Belange<br />

und eine Schadensregulierung gekümmert hat, noch keine rechtsgeschäftliche Erklärung gegenüber weiteren<br />

Anspruchsgegnern gesehen. Ohnehin hat die Klägerin nicht behauptet, eine rechtzeitige Anmeldung eigener<br />

Ansprüche wegen einer Kenntnis vom Verhalten der Beklagten den Reisenden gegenüber unterlassen zu haben.<br />

Damit ist auch für die Annahme rechtsmissbräuchlicher Berufung auf den Fristablauf kein Raum. Denn<br />

Voraussetzung für rechtsmissbräuchliches Verhalten ist, dass derjenige, zu dessen Gunsten eine Verjährungs-<br />

oder Ausschlussfrist eingreift, durch sein Verhalten dem Anspruchsberechtigten gegenüber einen<br />

Vertrauenstatbestand dahingehend geschaffen hat, dass er auf die Einhaltung der Frist verzichte (vgl. zur ähnlichen<br />

Problematik treuwidrigen Berufens auf eine Fristversäumung bei der ehemals in § 12 Abs. 3 VVG geregelten Ausschlussfrist Prölss/Martin, VVG, 27. Aufl., § 12 Rdn. 52). Im Streitfall kann die<br />

Revision auf kein entsprechendes Verhalten der Beklagten gegenüber der Klägerin verweisen.<br />

24. 2. Ebenfalls ohne Erfolg wendet sich die Revision dagegen, dass das Berufungsgericht eine deliktsrechtliche<br />

Haftung der Beklagten unter dem Gesichtspunkt der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht (§ 823 Abs. 1 BGB)<br />

verneint hat.<br />

25. Das Berufungsgericht hat dabei die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zugrunde gelegt,<br />

wonach den Reiseveranstalter bei der Vorbereitung und Durchführung der von ihm veranstalteten Reisen eigene<br />

Verkehrssicherungspflichten treffen. Der Reiseveranstalter hat diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die<br />

ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der jeweiligen Berufsgruppe für<br />

ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schaden zu bewahren, und die ihm den Umständen nach<br />

zuzumuten sind. Dabei gehört es zu den Grundpflichten eines Reiseveranstalters, die Personen, deren er sich zur<br />

Ausführung seiner vertraglichen Pflichten bedient, hinsichtlich ihrer Eignung und Zuverlässigkeit sorgfältig<br />

auszuwählen und seine Leistungsträger und deren Leistung regelmäßig den jeweiligen Umständen entsprechend<br />

zu überwachen (BGHZ 103, 298, 305; BGH, Urt. v. 12.03.2002 - X ZR 226/99, NJWRR 2002, 1056; Urt. v. 18.07.2006 - X ZR 142/05, RRa 2006, 206).<br />

26. Das Berufungsgericht hat zutreffend erkannt, dass an diesen Grundsätzen gemessen der Beklagten ein<br />

Organisationsverschulden nicht anzulasten ist. Denn auch unter Berücksichtigung der der revisionsrechtlichen<br />

Beurteilung zugrunde zu legenden Behauptung der Klägerin, der Busfahrer sei wegen Übermüdung von der<br />

Fahrbahn abgekommen, erweist sich die Annahme des Berufungsgerichts als rechtsfehlerfrei, es lasse sich nicht<br />

feststellen, dass das Unfallgeschehen durch eine Kontrolle des Fahrpersonals in der konkreten Situation oder<br />

durch von der Beklagten zu erwartende Kontrollen vorausgehender Fahrt- und Ruhezeiten zu verhindern<br />

gewesen wäre. Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts zu dem<br />

sechsstündigen Ausflugsprogramm am Vortage des Unfalls, an dem der Busfahrer angemessene Lenkzeiten<br />

nicht überschritten hat, und zu dem Ablauf der Reise am Tage des Unfalls, der sich rund eine Stunde nach einer<br />

längeren Mittagspause ereignet hat, sind für die Beklagte keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich gewesen, dass<br />

der Fahrer hätte übermüdet sein können. Insoweit konzediert auch die Revision für den Unglückstag eine<br />

„minimale Belastung― des Fahrers. Sonstige konkrete, auf eine Übermüdung des Busfahrers hindeutende<br />

Umstände, die für einen verständigen und sorgfältigen Reiseveranstalter nahegelegen und durch entsprechende<br />

Kontrollen hätten aufgedeckt werden können, waren nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht zu<br />

erkennen und werden auch von der Revision nicht aufgezeigt. Insbesondere ist hinsichtlich der von der Revision<br />

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aus dem Unfallgeschehen gefolgerten Vermutung, der Fahrer müsse die gebotene Nachtruhe nicht eingehalten<br />

oder gesundheitliche Probleme gehabt haben, nicht ersichtlich, woher der Reiseleiter der Beklagten derartige<br />

Erkenntnis gewinnen und daraus auf eine Übermüdung des Fahrers hätte schließen können. Zu Recht hat das<br />

Berufungsgericht insoweit angenommen, dass die beklagte Reiseveranstalterin, die umsichtig dem Busfahrer in<br />

demselben Hotel wie den Reisenden eine Übernachtungsmöglichkeit zur Verfügung gestellt hat, nicht hat davon<br />

ausgehen müssen, dass der Fahrer am Folgetag übermüdet sein könnte. Zu der von der Revision für geboten<br />

erachteten Belehrung des - nicht von ihr angestellten - Fahrers über die Notwendigkeit, die Nachtruhe<br />

einzuhalten, war die Beklagte nicht verpflichtet.<br />

27. III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.<br />

MeierBeck Mühlens Lemke Gröning Berger Vorinstanzen: LG Hannover, Entscheidung vom 12.09.2005 - 20 O<br />

57/05 - OLG Celle, Entscheidung vom 27.07.2006 - 11 U 263/05 –<br />

BGH VI ZB 2/09. vom 19.05.2009.<br />

Die Klage des Patienten hat Erfolg: Fehlleitungen im Gericht gehen nicht zu seinen Lasten.<br />

in dem Rechtsstreit Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. 05.2009 durch die Vizepräsidentin Dr.<br />

Müller, den Richter Zoll, die Richterin Diederichsen, den Richter Pauge und die Richterin von Pentz beschlossen:<br />

Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 4. Zivilsenats des Thüringer Oberlandesgerichts<br />

vom 22. 12.2008 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 321.000 € festgesetzt.<br />

Gründe:<br />

I.<br />

1. Der Kläger begehrt Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen eines behaupteten ärztlichen<br />

Behandlungsfehlers. Das Landgericht hat die gegen die Beklagte zu 2 gerichtete Klage durch Teilurteil vom 18.<br />

09.2008 abgewiesen. Das Urteil ist den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 23. 09.2008 zugestellt worden.<br />

Mit am 23. 10.2008 beim Berufungsgericht eingegangenem Schriftsatz haben die Prozessbevollmächtigten des<br />

Klägers gegen dieses Teilurteil Berufung eingelegt. Auf den am 21. 11.2008 eingegangenen Antrag der<br />

Prozessbevollmächtigten des Klägers hat der Vorsitzende des Berufungsgerichts die Berufungsbegründungsfrist<br />

bis 19. 12.2008 verlängert. Am 19. 12.2008 ging die Berufungsbegründung per Telefax ordnungsgemäß in der<br />

gemeinsamen Posteingangsstelle des Justizzentrums Jena ein. Durch ein justizinternes Versehen gelangte sie<br />

nicht zur Geschäftsstelle des Berufungsgerichts, sondern wurde an das Amtsgericht weitergeleitet und dort in<br />

einer Akte abgelegt. Mit Beschluss vom 22. 12.2008 hat das Berufungsgericht die Berufung des Klägers gegen<br />

das Teilurteil des Landgerichts Erfurt als unzulässig verworfen. Gegen diesen Beschluss wendet sich der Kläger<br />

mit der Rechtsbeschwerde, mit der er die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Zurückverweisung<br />

der Sache an das Berufungsgericht beantragt.<br />

II.<br />

2. 1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch<br />

im Übrigen zulässig, weil gemäß § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine<br />

Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (vgl. BVerfG NJWRR 2002, 1004).<br />

3. 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht durfte die Berufung nicht mit der<br />

Begründung als unzulässig verwerfen, das Rechtsmittel sei nicht rechtzeitig begründet worden. Der Kläger hat die<br />

Begründungsfrist gewahrt. Seine Berufungsbegründung ging am 19. 12.2008 und damit am letzten Tag der vom<br />

Vorsitzenden des Berufungsgerichts wirksam verlängerten Berufungsbegründungsfrist bei der gemeinsamen<br />

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Posteingangsstelle und damit beim Berufungsgericht ein. Der Umstand, dass sie zunächst nicht zur zuständigen<br />

Geschäftsstelle gelangte, kann sich nicht zu Lasten des Klägers auswirken.<br />

Müller Zoll Diederichsen Pauge von Pentz<br />

Vorinstanzen: LG Erfurt, Entscheidung vom 18.09.2008 - 10 O 178/07 - OLG Jena, Entscheidung vom<br />

22.12.2008 - 4 U 850/08 –<br />

BGH VI ZR 56/08 Verkündet am: 19.05.2009.<br />

SGB VII §§ 108, 135, 2 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2. Hat der Unfallversicherungsträger die Versicherung des Unfalls<br />

nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII angenommen und ist die Entscheidung gegenüber den Beteiligten<br />

unanfechtbar geworden, ist der Zivilrichter nach § 108 SGB VII daran gebunden. Der Haftungsfall darf<br />

keinem weiteren Unternehmer nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII zugeordnet werden.<br />

BGH, Urteil vom 19. 05.2009 - VI ZR 56/08 - OLG Koblenz<br />

LG Koblenz Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 19. 05.2009 durch<br />

die Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Zoll, die Richterin Diederichsen, den Richter Pauge und die Richterin<br />

von Pentz für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision der Beklagten wird das Teil- und Grundurteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz<br />

vom 8. 02.2008 aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das<br />

Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

1. Die Klägerin verlangt Ersatz ihres materiellen und immateriellen Schadens infolge eines Unfalls in einem<br />

Kindergarten, dessen Träger die beklagte Kirchengemeinde ist.<br />

2. Die Klägerin, eine gelernte Zahntechnikerin, begann im 09.2003 wegen eines Asthmaleidens eine von der<br />

Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elektrotechnik (künftig: BGFE) finanzierte Umschulung zur Erzieherin. Im<br />

04.2004 absolvierte sie im Rahmen der Ausbildung ein Praktikum im Kindergarten der Beklagten. Als auf dem<br />

Spielplatz des Kindergartens eine 1993 errichtete Markisenkonstruktion zusammenbrach, deren tragende<br />

Holzpfosten in Bodennähe verfault waren, wurde die Klägerin durch herabfallende Teile verletzt. Dem<br />

Rechtsanwalt der Klägerin teilte die BGFE am 31. 03.2005 mit: "Sachstandsmitteilung/Zuständigkeit … nach<br />

aktuellem Stand sind wir nach § 2 Abs. 1 Nr. 15 c SGB VII der zuständige Kostenträger, da die Verletzte … zum<br />

Unfallzeitpunkt ein Praktikum im Rahmen einer Umschulung gemäß § 3 Berufskrankheitenverordnung …<br />

absolvierte".<br />

3. Der Klage auf Schmerzensgeld von mindestens 10.000 €, Schadensersatz von 6.571,18 € und Feststellung der<br />

Ersatzpflicht für künftige Schäden hat das Landgericht im Wesentlichen stattgegeben. Dagegen haben die<br />

Beklagte Berufung und die Klägerin Anschlussberufung eingelegt. Die Berufung der Beklagten hat das<br />

Berufungsgericht mit einem Teil- und Grundurteil zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen<br />

Revision verfolgt die Beklagte das Ziel der Klageabweisung weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

4. Das Berufungsgericht, dessen Urteil in r+s 2009, 171 veröffentlicht ist, hat die Berufung zurückgewiesen,<br />

soweit sie sich gegen die dem Grunde nach zugesprochenen Ansprüche der Klägerin und die Feststellung der<br />

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Ersatzpflicht der Beklagten für künftige materielle und immaterielle Schäden, soweit die Ansprüche nicht auf Dritte<br />

übergegangen sind, gerichtet hat. Zur Begründung hat es ausgeführt:<br />

5. Dem Grunde nach seien Ansprüche aus § 836 BGB gegen die Beklagte gegeben. Die Markisenkonstruktion sei<br />

ein mit dem Grundstück verbundenes Werk. Es spreche bereits der Beweis des ersten Anscheins für dessen<br />

Fehlerhaftigkeit, da die tragenden Holzpfosten in Erdnähe verfault waren und teilweise mit den Fingern zerbröselt<br />

werden konnten. Das Umkippen der Konstruktion beruhe nicht auf einem außergewöhnlichen Geschehensablauf.<br />

Das nach § 836 BGB vermutete Verschulden habe die Beklagte nicht widerlegt. Sie habe insbesondere nicht<br />

substantiiert dargetan, welche Maßnahmen sie zum Schutz des Holzes gegen Witterungseinflüsse ergriffen habe.<br />

6. Eine Haftungsprivilegierung der Beklagten als Unternehmerin gemäß § 104 SGB VII scheide aus. Dabei sei der<br />

Umstand, dass die BGFE ihre Einstandspflicht unter Hinweis auf § 2 Abs. 1 Nr. 15 c SGB VII anerkannt habe,<br />

ohne Bedeutung. Selbst wenn darin eine unanfechtbare Entscheidung im Sinne des § 108 SGB VII zu sehen sei,<br />

erstrecke sich die Bindungswirkung nicht auf die Frage, ob ein weiterer Unternehmer hafte oder ein<br />

Haftungsprivileg in Anspruch nehmen könne. Es sei anerkannt, dass ein Schadensereignis mehreren Betrieben<br />

zugerechnet werden könne. Der streitgegenständliche Unfall sei jedoch kein Arbeitsunfall im Betrieb der<br />

Beklagten, weil die Klägerin dort weder nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 SGB VII noch nach § 2 Abs. 2 Satz 1<br />

SGB VII versichert gewesen sei. Sie sei nicht "für den Unfallbetrieb" der Beklagten, sondern "für die Schule" tätig<br />

gewesen, weil das Praktikum der Überprüfung ihrer Eignung für den von ihr eingeschlagenen Ausbildungsweg<br />

gedient habe. Die Praktikantenausbildung werde durch inhaltliche Vorgaben von der Schule gelenkt, deshalb sei<br />

die Klägerin nicht in die betriebliche Organisation des Unfallbetriebs der Beklagten eingegliedert gewesen.<br />

II.<br />

7. Das Urteil hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.<br />

A.<br />

8. Soweit die Revision rügt, das Berufungsurteil umfasse nicht die von der Klägerin mit der Anschlussberufung in<br />

zweiter Instanz geltend gemachten weiteren Ansprüche, weshalb insoweit eine Entscheidung zum Grunde dieser<br />

Ansprüche nicht gegeben sei und widersprechende Entscheidungen künftig nicht auszuschließen seien, vermag<br />

sich der erkennende Senat dieser Sichtweise nicht anzuschließen. Nach dem Wortlaut der Entscheidungsgründe<br />

des Berufungsurteils hat das Berufungsgericht alle zum Entscheidungszeitpunkt rechtshängigen Ansprüche dem<br />

Grunde nach für gerechtfertigt gehalten. Das Berufungsgericht hat mithin über die Anträge der Berufung und der<br />

Anschlussberufung dem Grunde nach entschieden. Bei dem unter Einbeziehung der Urteilsgründe gebotenen<br />

Verständnis umfasst somit die Urteilsformel sowohl die mit der Berufung angegriffenen als auch die mit der<br />

Anschlussberufung gestellten Ansprüche.<br />

B.<br />

9. Das Urteil begegnet aber im Übrigen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.<br />

10. I. Die Revision wendet sich nicht dagegen, dass das Berufungsgericht die Anspruchsvoraussetzungen nach<br />

§§ 836 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB bejaht hat. Dies ist rechtlich auch nicht zu beanstanden (vgl. OLG Celle, VersR 1985, 345 mit<br />

NABeschluss des Senats vom 13. 11.1984 - VI ZR 20/84).<br />

11. II. Jedoch hat das Berufungsgericht bei der Prüfung, ob die Beklagte gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII von<br />

dieser Haftung befreit ist, den Umfang der Bindungswirkung des § 108 Abs. 1 SGB VII verkannt. Zwar geht das<br />

Berufungsgericht im Ansatz zutreffend davon aus, dass die Zivilgerichte grundsätzlich von Amts wegen die<br />

Bindungswirkung des § 108 SGB VII zu beachten haben, weil diese ihrer eigenen Sachprüfung - auch der des<br />

Revisionsgerichts - Grenzen setzt (Senat, BGHZ 158, 394, 397; Urteile vom 19. 10.1993 - VI ZR 158/93 - VersR 1993, 1540, 1541; 12. 06.2007 - VI ZR 70/06 - VersR 2007, 1131,<br />

1132; vom 20. 11.2007 - VI ZR 244/06 - VersR 2008, 255, 256 und vom 22. 04.2008 - VI ZR 202/07 - VersR 2008, 820, 821). Jedoch hat es fälschlicherweise<br />

angenommen, dass es auf die Bindung an die versicherungsrechtliche Zuordnung des Schadensfalls unter<br />

Hinweis auf § 2 Abs. 1 Nr. 15 c SGB VII an die BGFE im zivilrechtlichen Haftungsprozess nicht ankomme, weil<br />

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der Zivilrichter unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt einen Unfall als versicherten Arbeitsunfall einem<br />

weiteren Unternehmer zurechnen dürfe.<br />

12. 1. Diese Sichtweise des Berufungsgerichts beruht auf der früheren, inzwischen aufgegebenen<br />

Rechtsprechung des Senats, wonach die Zivilgerichte durch § 108 SGB VII nicht grundsätzlich gehindert waren,<br />

einen Arbeitsunfall einem weiteren Unternehmer zuzurechnen mit der Folge, dass auch diesem Unternehmer eine<br />

Haftungsprivilegierung zugute kommen konnte (grundlegend BGHZ 24, 247, 248 ff. und Urteil vom 11. 07.1972 - VI ZR 21/71 - VersR 1972, 945, 946; daran anknüpfend<br />

BGHZ 129, 195, 198 f. und Urteile vom 1. 07.1975 - VI ZR 87/74 - VersR 1975, 1002; vom 7. 06.1977 - VI ZR 99/76 - VersR 1977, 959; vom 6. 12.1977 - VI ZR 79/76 - VersR 1978, 150, 151; vom 29. 01.1980 -<br />

VI ZR 125/79 - VersR 1980, 578; vom 22. 06.1982 - VI ZR 240/79 - VersR 1983, 31, 32; vom 3. 05.1983 - VI ZR 68/81 - VersR 1983, 728; vom 3. 04.1984 - VI ZR 288/82 - VersR 1984, 652 f.; vom 15. 05.1990<br />

- VI ZR 266/89 - VersR 1990, 995, 996; vom 26. 06.1990 - VI ZR 233/89 - VersR 1990, 1161, 1162). Insofern vertritt der erkennende Senat im Hinblick auf die<br />

geänderte Rechtslage diese Rechtsauffassung nicht mehr (Senatsurteil vom 22. 04.2008 - VI ZR 202/07 - VersR 2008, 820, 821 m.w.N.). Die<br />

Zivilgerichte sind nunmehr durch § 108 SGB VII hinsichtlich der Frage, ob ein Versicherungsfall vorliegt, in<br />

welchem Umfang Leistungen zu erbringen sind und ob der Unfallversicherungsträger zuständig ist, an<br />

unanfechtbare Entscheidungen der Sozialbehörden und Sozialgerichte gebunden. Das gilt unabhängig davon, ob<br />

sie diese Entscheidungen für richtig halten (Senat, Urteil vom 22. 04.2008 - VI ZR 202/07 - aaO m.w.N.).<br />

13. a) Für die Frage, ob Unfälle unter den sozialrechtlichen Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3, 6 SGB VII<br />

fallen, ist in der Regel maßgebend, dass zwischen der Verrichtung und der versicherten Tätigkeit im Zeitpunkt des<br />

Unfalls ein sachlicher Zusammenhang besteht (vgl. BTDrs. 13/2204, S. 77), während ein rein örtlicher oder zeitlicher<br />

Zusammenhang nicht genügt (vgl. KassKomm Sozialversicherungsrecht/Ricke, Stand: 60. Lfg. 2009, § 8 Rn. 10). Der sachliche Zusammenhang<br />

zwischen der versicherten Tätigkeit und der den Unfall verursachenden Verrichtung ist wertend zu ermitteln.<br />

Maßgebliches Kriterium hierfür ist die Handlungstendenz des Versicherten (BSG, NZS 2006, 100 f.; 154, 155 jeweils m.w.N.). Ergibt die<br />

wertende Betrachtung, dass die Verrichtung mit mehreren versicherten Tätigkeiten in einem inneren<br />

Zusammenhang steht und somit die Merkmale mehrerer Versicherungsschutztatbestände erfüllt sind (BSG, NZS 2007, 38<br />

zu § 2 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 5 a SGB VII; NJW 2009, 937 zu § 2 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 13 a SGB VII; KassKomm/Ricke, aaO, § 2 Rn. 4, § 8 Rn. 10, § 133 Rn. 8, § 135 Rn. 2; Brackmann/Kruschinsky, SGB VII,<br />

12. Aufl., Stand: 172. Lfg. 2008, § 2 Rn. 820; so schon zur RVO BSG, BSGE 5, 168, 175; 56, 279, 282), führt dies allerdings nicht zu einem mehrfachen<br />

Versicherungsschutz und zur Zuständigkeit mehrerer Unfallversicherungsträger. Das verhindern seit der<br />

Regelung der Unfallversicherung im Sozialgesetzbuch VII die Konkurrenzregelungen für die "Versicherung nach<br />

mehreren Vorschriften" in § 135 SGB VII. Nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift soll es auch dann, wenn der<br />

Arbeitsunfall von zwei verschiedenen Unfallversicherungsträgern anzuerkennen und zu entschädigen wäre, keine<br />

Doppelzuständigkeiten geben. Dem entspricht der zwingende Charakter der Zuständigkeitsregeln im<br />

Sozialgesetzbuch VII, mit denen verwaltungspraktischen Bedürfnissen sowohl auf Seiten der<br />

Unfallversicherungsträger als auch des Verletzten Rechnung getragen wird, für den damit der Ansprechpartner für<br />

seinen Versicherungsfall feststeht (BSG, NZS 2007, 38, 39). § 135 SGB VII hat mit seiner umfassenden Regelung der<br />

Konkurrenzen beim Zusammentreffen mehrerer Versicherungstatbestände in dieser Form kein Vorbild in der<br />

Reichsversicherungsordnung, sondern ist im Zuge der Einordnung des Rechts der gesetzlichen<br />

Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch VII neu geschaffen worden (vgl. BSG, NJW 2009, 937, 939). Zuvor hatte das<br />

Bundessozialgericht unter Geltung der Reichsversicherungsordnung die damals bestehende Regelungslücke<br />

ausgefüllt, indem es, wenn mehrere Versicherungstatbestände in Frage kamen, die Zuständigkeit des<br />

Unfallversicherungsträgers nach dem Schwerpunkt der Tätigkeit unter Berücksichtigung der Handlungstendenz<br />

des Verletzten bestimmte (BSGE 5, 168, 174 f.; anknüpfend an RVA, EuM Bd. 18, S. 101, 103 f.; Bd. 40, S. 185, 186). Aufgrund der Regelung in § 135<br />

SGB VII besteht hierfür inzwischen kein Bedarf mehr (BSG, NJW 2009, 937, 939 entgegen LSG RheinlandPfalz, Breith. 2007, 408, 412; BereiterHahn/Mehrtens,<br />

Gesetzliche Unfallversicherung, 5. Aufl., Stand: 02.2009, § 135 Rn. 4; Quabach in jurisPKSGB VII, § 135 Rn. 21; Hauck/NoftzGraeff, SGB VII, Stand: 38. Lfg. 2009, § 135 Rn. 3). Einzig in § 135<br />

Abs. 6 SGB VII wird auf das Schwerpunktkriterium noch abgestellt (vgl. BSG, NZS 2007, 38, 39).<br />

14. b) Für die bisherige Rechtslage war folgendes kennzeichnend:<br />

15. Das Reichsgericht hatte für die zivilrechtliche Haftung die Auffassung vertreten, dass eine bindende<br />

Bestimmung des Unternehmers im sozialrechtlichen Verfahren, dem der geschädigte Beschäftigte<br />

versicherungsrechtlich zuzuordnen sei, für die Zivilgerichte die Annahme ausschließe, dass noch ein anderer<br />

Unternehmer sei und auch diesem eine Haftungsprivilegierung zugute komme (RGZ 111, 159, 160 f.; 171, 393, 397; anders noch RGZ 97, 202,<br />

206).<br />

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16. Demgegenüber hat der erkennende Senat zur Vermeidung von Privilegierungslücken die Auffassung<br />

vertreten, dass der Zivilrichter durch die Zuordnung des Unfalls zu einem Unternehmer im Sozialverfahren nicht<br />

gehindert sei, einen versicherten Arbeitsunfall für einen weiteren Unternehmer anzunehmen (grundlegend BGHZ 24, 247, 248 ff.<br />

und BGHZ 129, 195, 198 f. m.w.N.). Indessen hat er für die Frage der Versicherung des Nothelfers nach § 539 Abs. 1 Nr. 9 a<br />

RVO die Bindungswirkung der unanfechtbaren sozialrechtlichen Entscheidung für den Zivilrichter stets bejaht (BGHZ<br />

129, 195; v. Gerlach, DAR 1996, 205, 207 ff.; H. Müller, VersR 1995, 1209 ff.). Dementsprechend hat der erkennende Senat im Urteil vom 24.<br />

01.2006 (BGHZ 166, 42) auch für eine nach der neuen Regelung in § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII versicherte Nothilfe die<br />

Bindungswirkung der unanfechtbaren sozialrechtlichen Entscheidung im zivilrechtlichen Haftungsprozess<br />

angenommen und die Möglichkeit der Zuordnung des Versicherungsfalls zu einem anderen Unternehmen nach §<br />

2 Abs. 1 Nr. 1 oder Abs. 2 Satz 1 SGB VII mit der Begründung abgelehnt, dass eine weitere Zuordnung in diesen<br />

Fällen nicht in Frage komme, weil der Versicherungsschutz für Verletzungen, für die eine Berufsgenossenschaft<br />

ihre Leistungspflicht aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen Hilfeleistungen unter dem Gesichtspunkt der<br />

öffentlichen Unfallfürsorge anerkannt hat, subsidiär sei zum Versicherungsschutz nach anderen Vorschriften (BGHZ<br />

166, 42, 45). Die Feststellung des Sozialversicherungsträgers oder des Sozialgerichts, dass die Einstandspflicht der<br />

Unfallversicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII (früher § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO) gegeben sei, schließe somit die<br />

Entscheidung mit ein, dass die Versicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 oder § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII im<br />

betreffenden Fall ausgeschlossen sei (BGHZ 166, 42, 45).<br />

17. Mit dem Urteil vom 22. 04.2008 - VI ZR 202/07 - (aaO) hat der erkennende Senat für den Fall, dass der<br />

Unfallversicherungsträger die Versicherung des Unfalls nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII angenommen hat und die<br />

Entscheidung gegenüber den Beteiligten unanfechtbar geworden ist, eine Zuordnung des Unfalls zu einem<br />

weiteren Unternehmer nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII ebenfalls abgelehnt, weil der Zivilrichter nach § 108 SGB<br />

VII gebunden sei. Nach der Konkurrenzregelung in § 135 Abs. 1 Nr. 7 SGB VII geht die Versicherung nach § 2<br />

Abs. 1 Nr. 1 SGB VII der nach § 2 Abs. 2 SGB VII vor. Im Hinblick auf die Regelung in § 135 Abs. 1 Nr. 7 SGB VII<br />

muss nun nicht mehr geprüft werden, ob die Aufgaben dem Stamm- oder Fremdbetrieb des Tätigen zuzuordnen<br />

sind, bei deren Verrichtung es zum Unfall gekommen ist (Wannagat/Waltermann, Sozialgesetzbuch VII, 18. Lfg. 2009, § 104 Rn. 12, § 108 Rn. 4). Die<br />

entsprechenden Kriterien (BSG, BSGE 5, 168, 174; 57, 91, 93; SozR 2200 § 539 RVO Nr. 25, S. 71; NZA 1986, 410; SozR 32200 § 539 RVO Nr. 25, S. 86 f.; SozR 32200 § 539 RVO Nr.<br />

28 S. 105 f.; VersR 1999, 1517, 1518; Spellbrink in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 2, § 24 Rn. 36 ff.) spielen nur noch dann eine Rolle, wenn es<br />

um die Abgrenzung einer nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII versicherten Tätigkeit von einer privaten, nicht<br />

versicherten Tätigkeit geht (vgl. BSG, NZS 2006, 100 f.; 154 f.; 375 f.). Frühere Absprachen der Unfallversicherungsträger, mit denen<br />

Konkurrenzfragen bei Tätigkeiten, die mehreren Unternehmen dienten, geregelt worden sind, werden vom<br />

Schrifttum als "gegenstandslos" betrachtet (Lauterbach/Schwerdtfeger, Unfallversicherung, 4. Aufl. Stand 172. Lfg. 2008, § 135 Rn. 4, § 2 Rn. 720; Bereiter/HahnMehrtens,<br />

aaO, § 2 Rn. 34.31). - 11 -<br />

18. aa) Soweit gegen dieses Verständnis des § 135 SGB VII eingewendet wird, dass die Regelung zum<br />

Unterabschnitt "Gemeinsame Vorschriften über die Zuständigkeit" gehöre und bei Vorliegen mehrerer<br />

Versicherungstatbestände lediglich die Leistungszuständigkeit und nicht den Versicherungsschutz regle (vgl. Lemcke, r+s<br />

2008, 309), kann dieser formale Gesichtspunkt nicht überzeugen. Eine solche Beschränkung des Regelungsgehalts<br />

legen weder der Wortlaut der Vorschrift noch die Gesetzesmaterialien nahe (vgl. BTDrs. 13/2208, S. 108; zur Frage des Regelungsgehalts des §<br />

135 SGB VII im Einzelnen Meike Lepa, Haftungsbeschränkungen bei Personenschäden nach dem Unfallversicherungsrecht, 2004, S. 69, 71). Die Vorschrift enthält nicht nur<br />

Zuständigkeitsregelungen. Vielmehr sind an die einzelnen Tatbestände sowohl leistungsrechtliche - weil sich die<br />

Leistungsgrundlagen im Rahmen der Satzungsermächtigungen unterscheiden können (vgl. Quabach in jurisPKSGB VII, § 135 Rn. 49)-<br />

als auch beitragsrechtliche - weil das nach der Konkurrenzregelung mit dem Versicherungsfall belastete<br />

Unternehmen gemäß § 162 SGB VII Nachteile im Beitragsausgleichsverfahren hat (vgl. KassKomm/Ricke, aaO, § 135 Rn. 2)-<br />

Konsequenzen geknüpft. Auch andere Vorschriften des Unterabschnitts regeln nicht nur Fragen der<br />

Zuständigkeit. So bestimmt sich etwa nach § 136 Abs. 3 SGB VII, wer Unternehmer im Sinne der §§ 104 ff. SGB<br />

VII ist.<br />

19. bb) Auch kommt es auf Seiten des Schädigers nicht zu unbilligen "Privilegierungslücken", wenn der<br />

Arbeitsunfall im Haftungsprozess nicht einem weiteren Unternehmer zugeordnet werden kann. Zwar kommt die<br />

Haftungsfreistellung des Unternehmers des Fremdbetriebs und der dort Beschäftigten nach den §§ 104, 105 SGB<br />

VII nicht mehr in Betracht, doch hat sich inzwischen die Rechtslage mit der Haftungsprivilegierung nach § 106<br />

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Abs. 3 Alt. 3 SGB VII geändert (vgl. zur früheren Rechtslage: Senat, BGHZ 8, 330 und BGHZ 24, 247 und zur Rechtslage nach Inkrafttreten des SGB VII: BSG, NJOZ 2008, 3465,<br />

3469 ff.; Meike Lepa, aaO, S. 67 f.).<br />

20. Danach ist ein Beschäftigter gegenüber dem Betriebsfremden ebenso haftungsbefreit wie der Unternehmer<br />

des Unfallbetriebs, wenn er mit dem Geschädigten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte tätig und selbst<br />

versichert war (vgl. Senat, BGHZ 148, 209, 211 ff.; 148, 214, 217 ff. und Urteil vom 20. 11.2007 - VI ZR 244/06 - aaO, 256). Konzeptionell bedeutet die<br />

Erweiterung der Haftungsbeschränkung über den Unternehmer und seine Repräsentanten hinaus auf alle im<br />

Betrieb tätigen Personen eine Weiterentwicklung von der reinen Haftungsbeschränkung aufgrund von<br />

Beitragszahlungen zu einer Haftungsbeschränkung aufgrund der bestehenden Gefahrengemeinschaft und des<br />

der gesetzlichen Unfallversicherung innewohnenden sozialen Schutzprinzips im Grundverhältnis Unternehmer<br />

(=Arbeitgeber) und Beschäftigter (= Arbeitnehmer)(vgl. BSG, NJOZ 2008, 3465, 3469; Meike Lepa, aaO, S. 49 f.; Waltermann, NJW 2002, 1225, 1227). Auch wenn<br />

Haftungsfälle verbleiben werden, für die kein Haftungsprivileg eingreift, so wenn beispielsweise der nicht auf der<br />

gemeinsamen Betriebsstätte tätige Unternehmer die Pflicht zur Gefahrensicherung in seinem<br />

Organisationsbereich verletzt hat (vgl. KassKomm/Ricke, aaO, § 106 Rn. 13) oder die Voraussetzungen für das Zusammenwirken auf<br />

einer gemeinsamen Betriebsstätte fehlen (vgl. Meike Lepa, aaO, S. 68), muss dies im nunmehr geltenden System in Kauf<br />

genommen werden. Hierfür spricht auch, dass im Sozialgesetzbuch VII eine § 1739 RVO entsprechende<br />

Vorschrift fehlt, wonach bei Arbeitsunfällen die Teilung der Entschädigung unter mehreren<br />

Unfallversicherungsträgern vorgesehen war (vgl. Senat, BGHZ 24, 247, 249). Hierdurch zeigt sich, dass die Beschränkung der<br />

Zuordnung eines Arbeitsunfalls zu einem bestimmten Unternehmen mit Hilfe der Konkurrenzregelungen des §<br />

135 SGB VII dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Aus der Regelung in § 174 SGB VII folgt nichts anderes,<br />

da diese lediglich die Lastenteilung bei Berufskrankheiten betrifft (vgl. BTDrs. 13/2204, S. 114; Münch in jurisPKSGB VII, § 174 Rn. 6; Wolber, SozVers<br />

1997, 121 und 1999, 225; Schlaeger, BG 2009, 144).<br />

21. Somit ist der Zivilrichter an die Zuordnung des Unfalls zu einem bestimmten Unternehmen durch die<br />

Sozialbehörden oder das Sozialgericht gebunden, wenn die Feststellung unanfechtbar geworden ist.<br />

22. 2. Hiernach wird das Berufungsgericht festzustellen haben, ob es sich bei dem Schreiben der BGFE vom 31.<br />

05.2005 um eine gegenüber der Beklagten bindende Entscheidung im Sinne von § 108 SGB VII handelt. Das<br />

bedarf tatsächlicher Feststellungen, weil die Bestandskraft der Entscheidung voraussetzt, dass die Beklagte an<br />

dem Verfahren in der gebotenen Weise beteiligt worden ist, denn ihre Rechte dürfen durch die Bindungswirkung<br />

nach § 108 SGB VII nicht verkürzt werden.<br />

23. a) Um das rechtliche Gehör von Personen, für die der Ausgang des Verfahrens rechtsgestaltende Wirkung<br />

hat, zu gewährleisten, bestimmt § 12 Abs. 2 SGB X, dass sie auf ihren Antrag zu dem Verfahren hinzuzuziehen<br />

sind. Für die Anwendung dieser Vorschrift reicht es aus, dass der Bescheid ihre Rechtsstellung berührt oder<br />

berühren kann. Die Rechtsstellung des Schädigers ist einerseits berührt, wenn ein Unfall nicht als<br />

Versicherungsfall anerkannt wird, weil er dann für den Personenschaden des Geschädigten grundsätzlich selbst<br />

aufkommen muss (Senat, Urteil vom 20. 11.2007 - VI ZR 244/06 - VersR 2008, 255; dazu Konradi, BG 2008, 245 ff.). Die Rechtsstellung wird aber auch<br />

dadurch berührt, dass der Unfall als Versicherungsfall für einen anderen Unternehmer anerkannt wird, weil die im<br />

sozialrechtlichen Verfahren getroffene Zuordnung eine weitere Zuordnung unter einem anderen<br />

Versicherungstatbestand ausschließt. Die sozialrechtliche Entscheidung wirkt mithin zu Lasten desjenigen, dem<br />

die Zuordnung des Unfalls als Arbeitsunfall die Möglichkeit der Haftungsprivilegierung nach den §§ 104, 105 SGB<br />

VII eröffnen könnte (vgl. Senatsurteil, BGHZ 129, 195, 201 zur Rechtslage nach der RVO).<br />

24. b) Diese Voraussetzungen liegen bei der Beklagten vor. Ist der Unfall bindend als Versicherungsfall der BGFE<br />

zugeordnet, scheidet eine Haftungsprivilegierung für die Beklagte und ihre Bediensteten nach den §§ 104, 105<br />

SGB VII von vornherein aus. Ist die Beklagte nicht in der gebotenen Weise an dem Verfahren zwischen der BGFE<br />

und der Klägerin beteiligt gewesen, was mangels entsprechender Feststellungen revisionsrechtlich zu unterstellen<br />

ist, ist das sozialrechtliche Verfahren mit einem Fehler behaftet, mit der Folge, dass der Bescheid an die Klägerin<br />

der Beklagten gegenüber nicht bindend geworden ist. Das Berufungsgericht ist dann an einer Entscheidung über<br />

die Klage gehindert (Senat, BGHZ 129, 195, 202; 158, 394, 397 f.; Urteil vom 20. 11.2007 - VI ZR 244/06 - aaO, 257). Nach § 108 Abs. 2 SGB VII hat es sein<br />

Verfahren auszusetzen, bis eine Entscheidung nach Abs. 1 ergangen ist. Die Bestandskraft eines etwaigen<br />

Bescheides gegenüber der Klägerin tritt gegenüber der Beklagten erst ein, wenn sie auf Anfrage erklärt, an einer<br />

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Wiederholung des Verfahrens kein Interesse zu haben, oder wenn sie keine Erklärung abgibt (vgl. BSGE 55, 160, 163).<br />

Andernfalls wäre das Verwaltungsverfahren auf ihren Antrag zu wiederholen und die Beteiligung nachzuholen<br />

(Senat, Urteil vom 12. 06.2007 - VI ZR 70/06 - aaO; Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht/Rolfs 9. Aufl., § 108 SGB VII Rn. 5), wodurch der in einem etwaigen Verstoß<br />

gegen § 12 Abs. 2 Satz 2 SGB X liegende Verfahrensmangel gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 6 SGB X geheilt würde (vgl. v.<br />

Wulffen/v. Wulffen SGB X, 5. Aufl., § 12 Rn. 13). Dann könnte die Entscheidung auch der Beklagten gegenüber unanfechtbar werden<br />

und Bindungswirkung im vorliegenden Haftpflichtprozess haben. Bis dahin hätte das Berufungsgericht das<br />

Verfahren gemäß § 108 Abs. 2 SGB VII - gegebenenfalls unter Fristsetzung - auszusetzen (Senat, BGHZ 129, 195, 202; Urteil vom<br />

12. 06.2007 - VI ZR 70/06 - aaO; Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht/Rolfs aaO). Die Aussetzung steht nicht im Ermessen des Berufungsgerichts (vgl.<br />

Senat, Urteil vom 22. 04.2008 - VI ZR 202/07 - aaO). Eine eigenständige Prüfung, ob die Beklagte grundsätzlich zivilrechtlich haftet, aber<br />

nach § 104 SGB VII haftungsprivilegiert ist, ist dem Berufungsgericht vor Abschluss des sozialrechtlichen<br />

Verfahrens grundsätzlich verwehrt (Senat, Urteil vom 20. 11.2007 - VI ZR 244/06 - aaO).<br />

25. c) Die Aussetzung ist auch nicht schon deshalb entbehrlich, weil die Beklagte im Streitfall durch die<br />

Entscheidung der BGFE in ihrer Rechtsstellung nicht nachteilig betroffen würde (vgl. Senat, Urteil vom 17. 06.2008 - VI ZR 257/06 - VersR<br />

2008, 1260, 1261). Ob den von der Revision ins Auge gefassten nicht näher bezeichneten "Mitarbeitern und Organen" der<br />

Beklagten als Erstschädiger bei persönlicher Haftung eine Haftungsprivilegierung zugute käme und die Beklagte,<br />

wie die Revision meint, als Zweitschädiger nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld von der Haftung<br />

frei würde (vgl. etwa Senatsurteile BGHZ 61, 51, 55; 94, 173, 176; 155, 205, 212 ff.; 157, 9, 14; vom 13. 03.2007 - VI ZR 178/05 - VersR 2007, 948, 949 und vom 22. 01.2008 - VI ZR 17/07 - VersR<br />

2008, 642, 643), lässt sich schon deshalb nicht beantworten, weil auch hierfür vorrangig zu klären ist, welchem Betrieb<br />

der Unfall als Arbeitsunfall zuzuweisen ist. Außerdem fehlen zur Frage der persönlichen Haftung der Mitarbeiter<br />

der Beklagten mangels des erforderlichen Sachvortrags hinreichende Feststellungen des Berufungsgerichts.<br />

C.<br />

26. Das Berufungsurteil war deshalb aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das<br />

Berufungsgericht zurückzuverweisen.<br />

Müller Zoll Diederichsen Pauge von Pentz<br />

Vorinstanzen: LG Koblenz, Entscheidung vom 20.02.2007 - 1 O 50/05 - OLG Koblenz, Entscheidung vom<br />

08.02.2008 - 8 U 397/07 –<br />

BGH VI ZR 39/09. vom 18.05.2009.<br />

Der Antrag des Klägers auf Beiordnung eines Notanwalts für das Verfahren über die<br />

Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom<br />

15. 01.2009 wird zurückgewiesen. Die Klage des Patienten wird abgewiesen, dessen eigener Anwalt die<br />

Weiterverfolgung vor dem BGH ablehnte.<br />

in dem Rechtsstreit Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 18. 05.2009 durch die Vizepräsidentin Dr.<br />

Müller, die Richter Zoll und Wellner, die Richterin Diederichsen und den Richter Stöhr<br />

Gründe:<br />

I.<br />

1. Der Kläger begehrt von den Beklagten Schmerzensgeld, materiellen Schadensersatz und die Feststellung der<br />

weiteren Verpflichtung des Beklagten zum Ersatz materieller und immaterieller Schäden wegen behaupteter<br />

Folgen einer Injektionsbehandlung mit dem Lokalanästhetikum Xylonest. Das Landgericht hat die Klage mit Urteil<br />

vom 28. 03.2007 abgewiesen. Die hiergegen eingelegte Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht nach<br />

einer weiteren Beweisaufnahme durch ergänzende Anhörung des Sachverständigen Dr. K. und Einholung eines<br />

mündlichen Sachverständigengutachtens des Chefarztes der Klinik für Dermatologie, Allergologie und<br />

Umweltmedizin des katholischen Klinikums T. zurückgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen<br />

richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers, die am 11. 02.2009 durch den Prozessvertreter des<br />

Klägers eingelegt worden ist. Mit eigenem Schreiben vom 27. 04.2009 beantragt der Kläger die Beiordnung eines<br />

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eim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalts und die Verlängerung der Frist zur Begründung der<br />

Nichtzulassungsbeschwerde, weil sein Prozessbevollmächtigter die Sache nicht mehr weiterführen wolle, da sie<br />

keine Aussicht auf Erfolg habe.<br />

II.<br />

2. 1. Der Antrag auf Beiordnung eines Notanwalts gemäß § 78b ZPO, um welchen es sich bei dem Begehren des<br />

Klägers handelt, setzt voraus, dass die Partei trotz zumutbarer Anstrengungen einen zu ihrer Vertretung bereiten<br />

Rechtsanwalt nicht findet und die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht mutwillig oder aussichtslos erscheint. Der<br />

Kläger hat schon nicht dargetan, dass ein anderer beim Bundesgerichtshof zugelassener Rechtsanwalt zu seiner<br />

Vertretung nicht bereit sei. Darauf, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung nach Auffassung des derzeitigen<br />

Prozessvertreters des Klägers aussichtslos erscheint, kommt es deshalb nicht an.<br />

3. 2. Dem Antrag des Klägers auf Verlängerung der Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde ist<br />

bereits entsprochen worden.<br />

Müller Zoll Wellner Diederichsen Stöhr<br />

Vorinstanzen: LG Mönchengladbach, Entscheidung vom 28.03.2007 - 6 O 110/04 - OLG Düsseldorf,<br />

Entscheidung vom 15.01.2009 - I8 U 66/07<br />

BGH VI ZA 1+2/08. vom 17.03.2009.<br />

Der Antrag des Beklagten auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Rechtsbeschwerde gegen den<br />

Beschluss des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 23. 11.2007 wird abgelehnt.<br />

Der Antrag des Beklagten auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen<br />

das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 23. 11.2007 wird abgelehnt.<br />

Gründe:<br />

1. Beide Anträge des Beklagten auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe waren abzulehnen, weil die beabsichtigte<br />

Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 114 Abs. 1 ZPO).<br />

2. Die Einlegung einer Rechtsbeschwerde gegen die Ablehnung der Prozesskostenhilfe im Berufungsverfahren<br />

wäre unstatthaft, weil das Gesetz weder eine Rechtsbeschwerde gegen einen die Bewilligung von<br />

Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschluss vorsieht noch das Beschwerdegericht die Rechtsbeschwerde<br />

zugelassen hat (vgl. § 127 Abs. 2, § 574 Abs. 1 ZPO). Soweit der Beklagte geltend macht, der angefochtene Beschluss, durch den<br />

das Oberlandesgericht die Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren weiterhin versagt hat, sei erst nach<br />

Durchführung der Beweisaufnahme erfolgt, weist der Senat darauf hin, dass das Oberlandesgericht die<br />

beantragte Prozesskostenhilfe bereits durch Beschluss vom 8. 08.2007 abgelehnt hat. Dieser Beschluss wurde<br />

vor der Beweisaufnahme erlassen, die erst am 18. 10.2007 durchgeführt wurde.<br />

3. Der Prozesskostenhilfeantrag für die Durchführung einer Nichtzulassungsbeschwerde hat schon deswegen<br />

keine Aussicht auf Erfolg, weil die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das<br />

Berufungsgericht nur zulässig ist, wenn der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20.000 €<br />

übersteigt (§ 26 Nr. 8 EGZPO). Im Streitfall beträgt die Beschwer des Beklagten jedoch nur 2.341,74 € (Schmerzensgeld: 2.000 €, 66,74 €<br />

Behandlungskosten, 25 € vorgerichtliche Mahnkosten und eine weitere Zahlung von 250 €, vgl. Urteil des Landgerichts NürnbergFürth vom 8. 02.2007, S. 2; Berufungsurteil S. 2, 5 f.).<br />

Müller Wellner Pauge Stöhr von Pentz<br />

Vorinstanzen: LG NürnbergFürth, Entscheidung vom 08.02.2007 - 4 O 9823/02 - OLG Nürnberg, Entscheidung<br />

vom 23.11.2007 - 5 U 516/07 –<br />

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BGH VI ZR 39/08 Verkündet am: 10.03.2009.<br />

Zur Frage der Haftung des zum Notfalldienst verpflichteten niedergelassenen Arztes, an dessen Stelle ein<br />

anderer Arzt tätig wird. Die Klage des Patienten hat Erfolg, der Praxisinhaber kann auch für Fehler eines<br />

Arztes einstehen müssen, die er als Vertreter im Rahmen des ärztlichen Notdienstes begangen hat.<br />

BGH, Urteil vom 10. 03.2009 - VI ZR 39/08 - OLG Köln<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 14. 01.2008<br />

aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das<br />

Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

1. Die Kläger verlangen von den Beklagten Schadensersatz wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung, die zum<br />

Tod ihres Ehemannes bzw. Vaters (künftig: Patient) geführt habe.<br />

2. Die Klägerin zu 1 rief am Morgen des 6. 08.2000 gegen 3.13 Uhr in der Gemeinschaftspraxis der Beklagten zu<br />

2 und 3 an, weil ihr Ehemann an starken Schmerzen litt. Der Anrufbeantworter verwies sie an den ärztlichen<br />

Notfalldienst. Der Beklagte zu 1, der für die Beklagten zu 2 und 3 den Notfalldienst übernommen hatte, suchte<br />

den Patienten um 3.50 Uhr zu Hause auf. Er diagnostizierte eine Gastroenteritis, verordnete Buscopan und<br />

verabreichte 2 ml MCP. Das Formular für das Rezept und der "Notfall/Vertretungsschein" wiesen den<br />

Praxisstempel der Beklagten zu 2 und 3 auf. Der Beklagte zu 1 übermittelte die Unterlagen für die vorgenommene<br />

Behandlung an die Praxis der Beklagten zu 2 und 3. Diese rechneten die ärztlichen Leistungen bei der<br />

kassenärztlichen Vereinigung als Praxisleistungen ab. An den Beklagten zu 1 entrichteten sie ein entsprechendes<br />

Honorar. Der Patient erlitt am Nachmittag des folgenden Tages einen Herzinfarkt, an dessen Folgen er am 22.<br />

11.2000 verstarb.<br />

3. Die Kläger machen geltend, der Beklagte zu 1 habe aufgrund unzureichender Anamnese und Untersuchung<br />

die Anzeichen für den Herzinfarkt verkannt. Hierfür müssten auch die Beklagten zu 2 und 3 einstehen, weil der<br />

Beklagte zu 1 den Notfalldienst als ihr Erfüllungs- bzw. Verrichtungsgehilfe übernommen habe.<br />

4. Das Landgericht hat der Klage auf Schmerzensgeld, Erstattung der Begräbniskosten und Feststellung der<br />

Ersatzpflicht von gegenwärtigen und künftigen Unterhaltsschäden stattgegeben. Gegen das Urteil haben die<br />

Kläger, die das zugesprochene Schmerzensgeld für zu gering erachten, und die Beklagten Berufung eingelegt.<br />

Das Berufungsgericht hat unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Klage gegen die Beklagten zu 2 und<br />

3 durch Teilurteil abgewiesen. Dagegen wenden sich die Kläger mit ihrer vom erkennenden Senat zugelassenen<br />

Revision.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

5. Das Berufungsgericht hat die Auffassung vertreten, dass eine Haftung der Beklagten zu 2 und 3 schon deshalb<br />

nicht gegeben sei, weil ein Behandlungsvertrag lediglich mit dem Beklagten zu 1 zustande gekommen sei. Durch<br />

die Verweisung an den Notfalldienst hätten die Beklagten zu 2 und 3 klar zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht<br />

in eine vertragliche Beziehung zu Anrufern treten wollten. Die öffentlich-rechtliche Verpflichtung des<br />

niedergelassenen Arztes zum Notfalldienst begründe keine zivilrechtlichen Pflichten gegenüber einem Anrufer.<br />

Die Bestellung eines Vertreters im Sinne von § 1 Abs. 2 der Notfalldienstordnung für den Notfalldienst könne auch<br />

nicht als Vollmacht zum Abschluss eines Behandlungsvertrages des Patienten mit den vertretenen Ärzten<br />

verstanden werden. Bei der Abrechnung der Kosten gegenüber der kassenärztlichen Vereinigung handle es sich<br />

um eine interne Abrechnungsmodalität im Verhältnis zum Kostenträger. Eine deliktische Haftung der Beklagten zu<br />

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2 und 3 scheide aus, da der Beklagte zu 1 nicht im zivilrechtlichen Sinn als Vertreter tätig geworden und somit<br />

auch nicht Verrichtungshilfe der Beklagten zu 2 und 3 gewesen sei (§ 831 BGB).<br />

II.<br />

6. Das Berufungsurteil hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.<br />

A.<br />

7. 1. Es unterliegt allerdings nicht schon deshalb der Aufhebung, weil es die Berufungsanträge nicht wörtlich<br />

wiedergibt. Insoweit hat das Berufungsgericht auf das Sitzungsprotokoll vom 5. 12.2007 Bezug genommen und im<br />

Berufungsurteil noch ausreichend deutlich gemacht, was die Parteien mit ihren Rechtsmitteln erstreben (vgl. Senat, BGHZ<br />

156, 216, 218; Zöller/Heßler, ZPO, 27. Aufl., § 540 Rn. 8).<br />

8. 2. Auch der Erlass des Teilurteils begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Zutreffend hält das Berufungsgericht<br />

als Voraussetzung für ein Teilurteil für erforderlich, dass über selbständige prozessuale und entscheidungsreife<br />

Ansprüche geurteilt wird, für die nicht die Gefahr eines Widerspruchs zur Schlussentscheidung entstehen kann (vgl.<br />

Senat zur subjektiven Klagehäufung, Urteil vom 12. 01.1999 - VI ZR 77/98 - VersR 1999, 734 und zur objektiven Klagehäufung Urteil vom 5. 12.2000 - VI ZR 275/99 - VersR 2001, 610). Im Streitfall<br />

besteht die Gefahr eines Widerspruchs schon deshalb nicht, weil die von den Klägern geltend gemachten<br />

Ansprüche nur auf deliktische Anspruchsgrundlagen gestützt werden können. Die Kläger begehren<br />

Schmerzensgeld, Beerdigungskosten, die von ihnen aufgewendeten Kosten für ein Sachverständigengutachten<br />

zur Vorbereitung des Prozesses und die Feststellung der Ersatzpflicht für künftigen materiellen Schaden, welcher<br />

nur in Form von entgangenem Unterhalt in Frage käme. Hinsichtlich des materiellen Schadens kommt somit als<br />

Anspruchsgrundlage nur § 844 BGB in Betracht, wobei es sich bei den Sachverständigenkosten um<br />

Schadensfolgekosten handelt. Da sich der Schadensfall im Jahr 2000 ereignet hat, können die Kläger auch den<br />

Schmerzensgeldanspruch nur auf § 847 BGB a.F. (Art. 229 § 5 Satz 1 EGBGB) stützen. Die Frage der deliktischen Haftung<br />

des Beklagten zu 1 kann, ohne dass ein Widerspruch zur Klageabweisung hinsichtlich der Beklagten zu 2 und 3<br />

entsteht, beantwortet werden.<br />

B.<br />

9. 1. Da nur deliktische Ansprüche Gegenstand des Rechtsstreits sind, kommt es nicht darauf an, ob der Beklagte<br />

zu 1 als rechtsgeschäftlicher Vertreter und Erfüllungsgehilfe für die Beklagten zu 2 und 3 tätig geworden ist.<br />

10. 2. In Betracht kommt entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts die Haftung der Beklagten zu 2 und 3<br />

nach § 831 BGB. Diese ist nicht schon deshalb zu verneinen, weil der Beklagte zu 1 nicht rechtsgeschäftlicher<br />

Vertreter der Beklagten zu 2 und 3 gewesen sei.<br />

11. a) Voraussetzung für die Stellung des Verrichtungsgehilfen ist nicht, dass er den Geschäftsherrn<br />

rechtsgeschäftlich vertritt. Vielmehr kann eine Verrichtung jede entgeltliche oder unentgeltliche Tätigkeit sein, die<br />

in Abhängigkeit von einem anderen zu leisten ist. Rein tatsächliche Handlungen bilden in gleicher Weise ihren<br />

Gegenstand wie die Vornahme von Rechtsgeschäften. Verrichtungsgehilfe im Sinne von § 831 BGB ist, wer von<br />

den Weisungen des Geschäftsherrn abhängig ist. Ihm muss von einem anderen, in dessen Einflussbereich er<br />

allgemein oder im konkreten Fall ist und zu dem er in einer gewissen Abhängigkeit steht, eine Tätigkeit<br />

übertragen worden sein (vgl. Senat, Urteil vom 14. 02.1989 - VI ZR 121/88 - VersR 1989, 522, 523). Das dabei vorausgesetzte Weisungsrecht<br />

braucht nicht ins Einzelne zu gehen. Verrichtungsgehilfe kann vielmehr jemand auch dann sein, wenn er auf<br />

Grund eigener Sachkunde und Erfahrung zu handeln hat. Entscheidend ist nur, dass die Tätigkeit in einer<br />

organisatorisch abhängigen Stellung vorgenommen wird. Hierfür genügt es, dass der Geschäftsherr dem Gehilfen<br />

die Arbeit entziehen bzw. diese beschränken sowie Zeit und Umfang seiner Tätigkeit bestimmen kann (vgl. BGHZ 45, 311,<br />

313; Soergel/Krause BGB, 13. Aufl. § 831 Rn. 19). Für die Frage der Abhängigkeit kommt es auf die konkreten Bedingungen an, unter<br />

denen die schadenstiftende Tätigkeit geleistet wurde. So kann ein an sich Selbständiger derart in einen fremden<br />

Organisationsbereich eingebunden sein, dass er als Verrichtungsgehilfe einzustufen ist (BGH, Urteile vom 12. 06.1997 - I ZR 36/95 -<br />

VersR 1998, 862, 863 "Testesser"; vom 5. 10.1979 - I ZR 140/77 - VersR 1980, 66 und vom 29. 06.1956 - I ZR 129/54 - NJW 1956, 1715 f.).<br />

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12. b) Der erkennende Senat hat nach diesen Grundsätzen bei einem Arzt, der mit der Verwaltung der Praxis<br />

eines anderen Arztes während dessen vorübergehender Abwesenheit beauftragt war, eine Stellung als<br />

Verrichtungsgehilfe des vertretenen Arztes angenommen. Daran ändert es nichts, dass im Einzelfall der Patient<br />

nach eigener Entschließung und ärztlicher Erkenntnis des vor Ort tätigen Arztes zu behandeln ist (Senat, Urteile vom 16.<br />

10.1956 - VI ZR 308/55 - NJW 1956, 1834, 1835 = AHRS 0485/2 und vom 20. 09.1988 - VI ZR 296/87 - VersR 1988, 1270, 1272, insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 105, 189; OLG Stuttgart, VersR 1992, 55,<br />

56 und MedR 2001, 311, 314; OLG Oldenburg, VersR 2003, 375, 376; Palandt/Sprau, BGB 68. Aufl., § 831 Rn. 6; allgemein zum Vertreter im Notfalldienst vgl. Ratzel/Lippert, Kommentar zur<br />

Musterberufsordnung der deutschen Ärzte - MBO - 4. Aufl. § 26 Rn. 13; Rieger, Lexikon des Arztrechts 1984, Rn. 1290). Ob die Stellung des Beklagten zu 1 im<br />

Notfalldienst der eines solchen Praxisvertreters vergleichbar war, lässt sich derzeit mangels ausreichender<br />

tatsächlicher Feststellungen nicht beurteilen.<br />

13. c) Zwar waren die Beklagten zu 2 und 3 nach § 1 Abs. 1 und 2 der Gemeinsamen Notfalldienstordnung der<br />

Ärztekammer N. und der Kassenärztlichen Vereinigung N. 1998 (NFDO 1998), die im Streitfall zur Anwendung kommt (zu<br />

den Rechtsgrundlagen für den Notfalldienst BGHZ 120, 184, 186 m.w.N.; BGH, Urteil vom 25. 01.1990 - III ZR 283/88 - BGHR BGB § 839 Abs. 1 Satz 1 Notfalldienst 1 = juris Rn. 4; BSGE 44, 252, 254; Urteil<br />

vom 12. 10.1994 - 6 RKa 29/93 - RegNr. 21737 juris Rn. 9 ff.; BVerwGE 65, 362, 363), grundsätzlich zur Erfüllung des Notfalldienstes persönlich<br />

verpflichtet. Sie konnten sich aber von einem anderen Arzt, der entweder Vertragsarzt oder Arzt mit einem<br />

erfolgreichen Abschluss einer allgemeinmedizinischen Weiterbildung oder einer Weiterbildung in einem anderen<br />

Fachgebiet oder der in das Vertreterverzeichnis gemäß § 5 Abs. 2 NFDO 1998 aufgenommen worden war,<br />

vertreten lassen. Von der zuletzt genannten Möglichkeit haben sie Gebrauch gemacht. Als zum Notfalldienst<br />

originär eingeteilte Ärzte hatten sich die Beklagten zu 2 und 3 allerdings zu vergewissern, dass der Beklagte zu 1<br />

als Vertreter die persönlichen und fachlichen Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Vertretung erfüllt, und<br />

sie hatten die für den Notfalldienst zuständige Stelle zu benachrichtigen (§ 1 Abs. 3 NFDO 1998). Der Notfallarzt hatte den<br />

Notfalldienst in der Notfallpraxis zu versehen (§ 8 Abs. 2 NFDO 1998). Demzufolge hielt sich der Beklagte zu 1 dort auf, als<br />

die Klägerin zu 1 anrief. Er benutzte die Rezeptvordrucke und Formulare mit dem Praxisstempel der Beklagten zu<br />

2 und 3. Den Notfalleinsatz rechneten die Beklagten zu 2 und 3 gegenüber der kassenärztlichen Vereinigung als<br />

Leistung der Praxis ab und entrichteten an den Beklagten zu 1 ein Honorar (vgl. § 4 Abs. 3 des Honorarverteilungsmaßstabes der<br />

kassenärztlichen Vereinigung N. vom 30. 11.1996 i.d.F. vom 13. 05.2000, Rheinisches Ärzteblatt 2000, 75 ff.).<br />

14. Dagegen haben die Beklagten zu 2 und 3 vorgetragen, dass zwischen ihnen und dem Beklagten zu 1 ein<br />

persönlicher Kontakt nicht stattgefunden habe, weil die Organisation der Vertretung im Notfalldienst von der<br />

kassenärztlichen Vereinigung selbständig und ohne konkrete Informationen an die Mitglieder des Notfalldienstes<br />

erfolge. Das könnte eine Qualifizierung der Beklagten zu 2 und 3 als Geschäftsherren im Sinne des § 831 BGB in<br />

Frage stellen. Indessen fehlt es hierzu an tatsächlichen Feststellungen, weil es derer nach der Rechtsauffassung<br />

des Berufungsgerichts bisher nicht bedurfte.<br />

15. d) Wäre der Beklagte zu 1 Verrichtungsgehilfe, würde das Berufungsgericht zu prüfen haben, ob der in diesem<br />

Fall den Beklagten zu 2 und 3 gemäß § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB obliegende Entlastungsbeweis geführt ist (vgl.<br />

Senatsurteil vom 14. 03.1978 - VI ZR 273/76 - VersR 1978, 542). Auch hierzu fehlen die erforderlichen Feststellungen. Die Beklagten zu 2 und<br />

3 haben geltend gemacht, sie hätten darauf vertrauen dürfen, dass die persönlichen und fachlichen<br />

Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Vertretung beim Beklagten zu 1 schon infolge der gemäß § 5 NFDO<br />

1998 erfolgten Aufnahme des Beklagten zu 1 in das Vertreterverzeichnis vorliegen, weil die kassenärztliche<br />

Vereinigung den Beklagten zu 1 ausgesucht und ihn berechtigt habe, niedergelassene Ärzte im Notfalldienst zu<br />

vertreten.<br />

16. 3. Gegebenenfalls wird sich das Berufungsgericht mit der Frage der Verjährung zu befassen haben. Auch<br />

hierzu fehlen die erforderlichen Feststellungen.<br />

III.<br />

17. Nach alledem war das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur weiteren Sachaufklärung an das<br />

Berufungsgericht zurückzuverweisen.<br />

Müller Zoll Wellner Diederichsen Stöhr<br />

Vorinstanzen: LG Köln, Entscheidung vom 02.05.2007 - 25 O 250/03 - OLG Köln, Entscheidung vom<br />

14.01.2008 - 5 U 119/07 –<br />

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Landgericht Dortmund 1 S 38/08 vom 10.02.2009: Das Honorar eines medizinischen Sachverständigen-<br />

Gutachtens ist auch zu zahlen, wenn dieses für den Auftraggeber negativ ausfällt.<br />

In dem Rechtsstreit des Herrn … Beklagter und Berufungskläger<br />

Gegen<br />

Dr. …. Kläger und Berufungsbeklagter<br />

Prozessbevollmächtigte Rechtsanwälte Rauh, Rauh, Stotko, Bahnhofstr. 63, 58452 <strong>Witten</strong><br />

hat die 1. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10.02.2009 durch<br />

den Vorsitzenden Richter am Landgericht Müller und die Richterinnen am Landgericht Scholz und Kersting für<br />

Recht erkannt:<br />

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Dortmund vom 26.09.2007 (AZ 411 C 4373/07)<br />

wird kostenpflichtig zurückgewiesen.<br />

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

Die Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Amtsgericht dem Kläger den geltend gemachten Anspruch auf<br />

Zahlung eines Honorars für das von ihm angefertigte medizinische Gutachten zugesprochen. Insoweit wird<br />

zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung<br />

verwiesen.<br />

Der Kläger hatte in erster Instanz substantiiert vorgetragen, er habe vor Erteilung des Gutachtenauftrags lediglich<br />

eine kostenfreie Vorprüfung der Rechtslage zugesagt und dem Beklagten erläutert, dass eine Erfolgsaussicht<br />

aufgrund eines Behandlungsfehlers nur auf eine fehlende ordnungsgemäße Einwilligung des Beklagten in die<br />

Operation gestützt werden könne; der Beklagte habe zunächst immer wieder beteuert, keine Aufklärung erhalten<br />

zu haben; daraufhin sei die unbedingte Beauftragung erfolgt. Erst in der Folgezeit habe der Beklagte dann doch<br />

eine entsprechende Einwilligungserklärung vorgelegt, so dass der Kläger seine ursprünglich positive<br />

Einschätzung habe revidieren müssen. Die Richtigkeit des vorgenannten Sachvortrags hat der Beklagte in erster<br />

Instanz nicht bestritten. Selbst wenn die von ihm behauptete Honorarvereinbarung getroffen worden wäre – wobei<br />

die Kammer allerdings die Auffassung des Amtsgerichts teilt, dass dieses nicht hinreichend substantiiert dargetan<br />

worden ist – hätte es der Beklagten durch Vorenthaltung wichtiger Informationen und somit durch eine<br />

Obliegenheitsverletzung verursacht, dass ein für ihn überflüssiges weil negatives Gutachten erstattet worden ist.<br />

Soweit der Beklagte nunmehr auf das in dem arzthaftungsverfahren eingeholte Gutachten verweist, ist sein<br />

Vorbringen ebenfalls unerheblich. Vorliegend geht es um Vergütung aus einem Dienstvertrag; geschuldet werden<br />

die Dienste und nicht ein bestimmter Erfolg. Selbst bei einer Schlechtleistung bestehen keine<br />

Minderungsansprüche, sondern kann allenfalls ein Schadensersatz verlangt werden. Die hierfür notwendigen<br />

Voraussetzungen sind vom Beklagten jedoch nicht dargetan worden, zumal auch der Ausgang des Verfahrens 4<br />

O 307/06 LG Dortmund noch offen ist.<br />

Soweit der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer sich erneut auf Angaben Dritter über ein<br />

bestimmtes Kostenvolumen für ein Gutachten berufen hat, ist dies unerheblich, es hat sich insoweit nicht um<br />

Zusagen seines Vertragspartners – des Klägers – gehandelt, sondern um Angaben von Personen, von denen<br />

mangels entsprechender Darlegung nicht auszugehen ist, dass diese vom Kläger autorisiert gewesen wären,<br />

Zusagen über eine Kostenbegrenzung zu machen.<br />

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708<br />

Nr. 10 ZPO.<br />

Müller – Scholz - Kersting<br />

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Bundessozialgericht, BSG, Urteil vom 28.01.2009 - B 6 KA 5/ 08 R<br />

Kassenärztliche Vereinigung - keine Hinderung der Steigerung des Honorars von Praxen mit<br />

unterdurchschnittlichem Umsatz innerhalb von fünf Jahren bis zum Durchschnittsumsatz ihrer<br />

Fachgruppe durch Honorarverteilung - Zulässigkeit des Ausschlusses unterdurchschnittlicher Praxen<br />

von jeglicher Wachstumsmöglichkeit für einen begrenzten Zeitraum - Prüfung des Erreichens des<br />

Durchschnittsumsatzes einschließlich der Honorarverteilungsregelungen der Folgequartale<br />

1. Tatbestand: Im Streit steht die Höhe vertragsärztlichen Honorars für die Quartale III/ 2003 bis II/ 2004.<br />

2. Die Klägerin ist seit 1992 als Anästhesistin zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen; sie erbringt nahezu<br />

ausschließlich Leistungen auf Überweisung für Patienten einer Praxis für Kiefer- und Gesichtschirurgie. Mit<br />

Honorarbescheiden vom 14. 1. 2004 (für das Quartal III/ 2003), vom 20. 4. 2004 (Quartal IV/ 2003), vom 14. 7. 2004 (Quartal I/ 2004) und<br />

vom 14. 10. 2004 (Quartal II/ 2004) setzte die beklagte Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) die Honoraransprüche der<br />

Klägerin fest. Dabei wandte sie die Honorarbegrenzungen in Gestalt individueller Punktzahlvolumina (IPZ) an, die in<br />

§ 12 ihres Honorarverteilungsmaßstabes (HVM) in der ab 1. 7. 2003 geltenden Fassung geregelt waren.<br />

3. Diese im Zusammenhang mit der Aufhebung der Bestimmungen zum Praxisbudget im Einheitlichen<br />

Bewertungsmaßstab für ärztliche Leistungen (EBMÄ) eingeführten Regelungen sahen die Bildung von IPZ für die<br />

meisten Arztgruppen einschließlich der Gruppe der Anästhesisten und für den ganz überwiegenden Teil der<br />

Leistungen vor. Für die Bildung der IPZ in den sogenannten Startquartalen (den Quartalen III/ 2003 bis II/ 2004) wurde auf das -<br />

um 3 % reduzierte - praxisindividuelle Honorar aus dem Jahr 2002 zurückgegriffen. Bei Praxen, die in den Jahren<br />

2001 und 2002 keinen Statuswechsel vollzogen hatten, wurden auch die Quartale des Jahres 2001<br />

berücksichtigt; in diesen Fällen wurde von dem Honorar des entsprechenden "Bestquartals" ausgegangen. Für<br />

Leistungen innerhalb der IPZ wurde ein Punktwert von 4, 5 Cent angestrebt; darüber hinausgehende<br />

Mehrleistungen wurden mit 0, 05 Cent vergütet. Für die Weiterentwicklung der Vergütung nach Ablauf der<br />

Startquartale (sogenannte Folgequartale ab III/ 2004) traf § 12. 4. 3 HVM gesonderte Regelungen, nach denen sich ein<br />

Honorarwachstum im Wesentlichen nach dem Maß der Überschreitung oder Unterschreitung der IPZ und nach<br />

dem Abrechnungsverhalten der übrigen Ärzte der Fachgruppe richtete. Die erreichbare Zugewinnmenge im<br />

Vergleich zum entsprechenden Quartal des Vorjahres wurde zudem auf 10 % der durchschnittlichen<br />

Punktzahlanforderung je Arzt innerhalb der Fachgruppe begrenzt.<br />

4. Auf der Grundlage dieser HVM-Regelungen umfassten die IPZ der Klägerin Punktzahlvolumina von weniger als<br />

einem Drittel des Fachgruppendurchschnitts. Die Klägerin erhob gegen die jeweiligen Honorarbescheide, gegen<br />

die Mitteilungen der Punktzahlvolumina für die Quartale III/ 2003 und IV/ 2003 sowie gegen die Ablehnung ihres<br />

Härtefallantrags durch Bescheid vom 14. 1. 2004 erfolglos Widerspruch (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 14. 4. 2005) und Klage<br />

(Urteil des Sozialgerichts vom 13. 9. 2006). Auch ihre Berufung ist ohne Erfolg geblieben.<br />

5. Im Urteil des Landessozialgerichts (LSG) ist ausgeführt, die Beklagte sei nicht gehalten gewesen, bei der -<br />

grundsätzlich zulässigen - Bildung von Individualbudgets die Gruppe der Anästhesisten auszunehmen; dies folge<br />

bereits aus dem Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses vom 19. 12. 2002 (DÄ 2003, A218). Geklärt sei,<br />

dass Individualbudgets auch Leistungen umfassen dürften, die zu einem maßgeblichen Teil auf Überweisung<br />

erbracht würden. Die Klägerin könne sich auch nicht mit Erfolg auf eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung,<br />

etwa gegenüber Radiologen, berufen. Ebenso wenig ergebe sich ein Anspruch darauf, von der Budgetierung<br />

ausgenommen zu werden, unter dem Gesichtspunkt, dass es sich bei der Praxis der Klägerin um eine kleine<br />

Praxis mit unterdurchschnittlichem Honorarvolumen handele. Zwar müsse der HVM generell Wachstumsraten in<br />

einer Größenordnung zulassen, die es einer Praxis mit unterdurchschnittlichem Umsatz noch gestatte, den<br />

durchschnittlichen Umsatz in absehbarer Zeit - innerhalb von fünf Jahren - zu erreichen. Die hier maßgebenden<br />

Regelungen über die Bildung eines IPZ ermöglichten für die Startquartale kein effektives Wachstum in diesem<br />

Sinne. Gleichwohl sei der HVM der Beklagten rechtmäßig, da es dieser im Rahmen des ihr zustehenden<br />

Gestaltungsspielraums nicht verwehrt sei, bei der erstmaligen Einführung von IPZ zunächst Startquartale ohne<br />

Wachstumsmöglichkeit zu bilden, auf deren Grundlage sich die Weiterentwicklung der IPZ vollziehe. Dass in den<br />

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Startquartalen keine effektive Steigerung des IPZ möglich gewesen sei, sei bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit<br />

der für die Folgequartale geltenden Regelungen zu berücksichtigen; diese seien jedoch nicht Gegenstand des<br />

anhängigen Verfahrens.<br />

6. Nicht zu beanstanden sei auch die Ablehnung des Härtefallantrags. Weder seien die Punktzahlanforderungen<br />

der Klägerin gerade in den Bemessungsquartalen besonders gering noch sei eine Erhöhung der IPZ aus<br />

Sicherstellungsgründen geboten gewesen. Entscheidend sei, dass die Klägerin zur Begründung ihres<br />

Härtefallantrags einen Anstieg der Anästhesien auf das Doppelte geltend gemacht habe und ein solcher Anstieg<br />

bei weitem nicht eingetreten sei. Aus diesem Grund könnten auch keine hohen Anforderungen an die Begründung<br />

des ablehnenden Bescheides gestellt werden (Urteil vom 13. 11. 2007).<br />

7. Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung von Bundesrecht, insbesondere des Gebots der<br />

leistungsproportionalen Verteilung des Honorars sowie des Grundsatzes der Honorarverteilungsgerechtigkeit. Aus<br />

dem Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses vom 19. 12. 2002 könne keine Berechtigung oder gar<br />

Verpflichtung hergeleitet werden, auch für die Fachgruppe der Anästhesisten Individualbudgets einzuführen.<br />

Speziell für diese Fachgruppe seien Honorarverteilungsregelungen zur effektiven Begrenzung des<br />

Leistungsumfangs auf Arztgruppenebene ungeeignet, da der Umfang der zu erbringenden Anästhesien<br />

ausschließlich von der Leistungsanforderung durch die Operateure abhängig sei, mit denen die Anästhesisten<br />

langfristig vertraglich verbunden seien. Diese Verknüpfung bedinge, dass die konkrete Leistungsmenge der<br />

einzelnen Anästhesisten typischerweise erheblichen Schwankungen unterliege, insbesondere im Falle des<br />

Hinzukommens oder des Wegfalls eines zuweisenden Operateurs. Die Rechtmäßigkeit der HVM-Regelungen<br />

dürfe unter diesen Umständen nicht auf der Basis einer unzutreffenden Prämisse - gleich bleibende<br />

Punktzahlanforderungen bei etablierten Ärzten - geprüft werden.<br />

8. Das LSG habe sich nicht mit den Besonderheiten der Fachgruppe der Anästhesisten auseinander gesetzt. So<br />

verkenne es, dass eine Kompensation der Individualbudgetierung durch höhere Punktwerte linear nur auf<br />

Arztgruppenebene eintrete. Der einzelne Anästhesist erhalte faktisch eine Pauschalvergütung unabhängig von<br />

Leistungssteigerungen und -minderungen. Die HVM-Regelungen erfüllten bezogen auf die Anästhesisten nicht<br />

die förderungswürdigen Ziele, die eine Abweichung vom Grundsatz der leistungsproportionalen Vergütung<br />

rechtfertigten. Insbesondere könnten die überwiegend nicht schmerztherapeutisch, sondern im Bereich der<br />

Betreuung ambulanter Operationen tätigen Anästhesisten ihre Leistungsmenge gerade nicht effektiv steuern.<br />

9. Das LSG hätte den Streitgegenstand zudem nicht eng fassen dürfen, sondern eine Gesamtschau der<br />

Wirkungsweise und Auswirkungen der Honorarbegrenzungsregelungen vornehmen müssen. Eine Beschränkung<br />

auf die streitbefangenen Startquartale führe zu Wertungswidersprüchen, weil die Beklagte in den Folgequartalen<br />

sehr hohe Wachstumsraten für unterdurchschnittliche Praxen zubilligen müsse, um den Vorgaben des<br />

Bundessozialgerichts (BSG) Rechnung zu tragen; damit würden ihr erhebliche Gestaltungsspielräume genommen.<br />

Unabhängig davon sei der Ausschluss jeglichen Wachstums in den vier Startquartalen rechtswidrig, da<br />

"effektives" Wachstum bedinge, dass eine Praxis kontinuierlich wachsen könne. Der im HVM vorgesehenen<br />

"Weiterentwicklung" im Anschluss an die Startphase stehe entgegen, dass gerade kleine Praxen es sich<br />

wirtschaftlich nicht leisten könnten, über einen längeren Zeitraum gering vergütete Mehrleistungen zu erbringen.<br />

In Anbetracht der Sachkosten führe jede über das IPZ hinausgehende Operation zu einem Honorarverlust in<br />

Höhe von rund 80 Euro.<br />

10. Die Verweigerung der Härtefallanpassung durch die Beklagte beruhe auf einem Verstoß gegen den<br />

Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit sowie gegen die Begründungspflicht des § 35 Abs 1 SGB X. Aus<br />

der Urteilsbegründung gehe nicht hervor, welchen Prüfungsmaßstab das LSG seiner Entscheidung zugrunde<br />

gelegt habe. Es habe sich an Stelle einer einzelfallbezogenen Ermessensprüfung mit der Prüfung begnügt, ob<br />

durch die verweigerte Härtefallanpassung Sicherstellungsprobleme entstünden.<br />

11. Die Klägerin beantragt, die Urteile des Schleswig-holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. 11. 2007 und<br />

des Sozialgerichts Kiel vom 13. 9. 2006 aufzuheben, die Honorarbescheide vom 14. 1. 2004, vom 20. 4. 2004,<br />

vom 14. 7. 2004 und vom 14. 10. 2004 sowie den ihren Härtefallantrag ablehnenden Bescheid vom 14. 1. 2004 -<br />

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jeweils in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. 4. 2005 - abzuändern und die Beklagte zu<br />

verpflichten, sie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.<br />

12. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.<br />

13. Die Rechtsprechung des BSG, wonach Praxen die Möglichkeit haben müssten, in gewissem Umfang ihre<br />

Fallzahlen steigern zu können, könne nicht auf Honorarbegrenzungsmodelle übertragen werden, bei denen - wie<br />

vorliegend - nicht isoliert an der Fallzahl angesetzt, sondern umfassend der Honoraranspruch der einzelnen<br />

Praxis durch ein Individualbudget begrenzt werde. Dass der Umfang der zu erbringenden Anästhesien nicht durch<br />

die Fachgruppe gesteuert werden könne, könne sich zwar mittelbar im Rahmen der Honorarverteilung auswirken,<br />

müsse aber bei der Honorarverteilung nicht berücksichtigt werden; ob und in welcher Form sich Anästhesisten<br />

gegenüber Operateuren vertraglich verpflichteten, stelle ihre Entscheidung dar. Es sei erforderlich gewesen, bei<br />

der Erstfestlegung der Volumina für bereits etablierte Praxen kein Wachstum zuzulassen, da andernfalls der<br />

vorgesehene Zielpunktwert kaum noch zu kalkulieren gewesen wäre. Der HVM hindere keine Praxis daran, zu<br />

wachsen und dadurch Honorarsteigerungen zu erlangen. Die Regelung sei bewusst so ausgestaltet worden, dass<br />

keine Praxis im Vorhinein sicher sein könne, ob sie am Wachstum teilnehme; dadurch bestehe kein planbarer<br />

Ansatz für eine Leistungsmengensteigerung. Gerade kleine Praxen hätten aber ausreichende<br />

Entwicklungsmöglichkeiten, weil sie leichter von den Wachstumsmöglichkeiten profitieren könnten.<br />

14. Entscheidungsgründe: Die Revision der Klägerin ist begründet. Das LSG hat die für die angefochtenen<br />

Bescheide maßgeblichen Regelungen des HVM der Beklagten zu Unrecht als rechtmäßig angesehen. Diese<br />

Vorschriften berücksichtigen nicht in erforderlichem Umfang die Belange unterdurchschnittlich abrechnender<br />

Praxen.<br />

15. 1. Nicht zu beanstanden ist allerdings entgegen der Ansicht der Klägerin, dass die Beklagte in ihrem HVM<br />

Honorarbegrenzungsregelungen in Form von Individualbudgets normiert und in deren Regelungsbereich auch die<br />

Fachgruppe der Anästhesisten einbezogen hat.<br />

16. Rechtsgrundlage für Regelungen über Honorarbegrenzungen durch sog individuelle Leistungsbudgets ist § 85<br />

Abs 4 Satz 1 bis 3 SGB V (in der bis zum 31. 12. 2003 bzw. in der ab 1. 1. 2004 geltenden Fassung). Danach haben die KVen die<br />

Gesamtvergütung nach Maßgabe des HVM an die Vertragsärzte zu verteilen; bei der Verteilung sind Art und<br />

Umfang der Leistungen der Vertragsärzte zu Grunde zu legen. Bei der Ausgestaltung des HVM haben die KVen<br />

einen Gestaltungsspielraum (stRspr des Senats, vgl BSGE 94, 50 = SozR 42500 § 72 Nr. 2, jeweils RdNr 50 mwN; BSG SozR 42500 § 85 Nr. 40 RdNr 17); diese<br />

Gestaltungsfreiheit geht typischerweise mit Rechtssetzungsakten einher und wird erst dann rechtswidrig<br />

ausgeübt, wenn die jeweilige Gestaltung in Anbetracht des Zwecks der konkreten Ermächtigung unvertretbar oder<br />

unverhältnismäßig ist (BSG SozR 42500 § 85 Nr. 40 aaO mwN). Der HVM muss jedoch mit der Ermächtigungsgrundlage in Einklang<br />

stehen und insbesondere das in § 85 Abs 4 Satz 3 SGB V angesprochene Gebot der leistungsproportionalen<br />

Verteilung des Honorars (vgl BVerfGE 33, 171, 184 = SozR Nr. 12 zu Art 12 GG S Ab 15 R; BSGE 81, 213, 217 = SozR 32500 § 85 Nr. 23 S 152) sowie den aus Art 12<br />

Abs 1 iVm Art 3 Abs 1 GG herzuleitenden Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit beachten (s ua BSGE 75, 187, 191<br />

f = SozR 32500 § 72 Nr. 5 S 9; zuletzt BSG, Urteil vom 28. 11. 2007, B 6 KA 23/ 07 R = SozR 42500 § 85 Nr. 36 RdNr 10).<br />

17. In Anwendung dieser Maßstäbe hat der Senat auch sog Individualbudgets für rechtmäßig erklärt, die nach<br />

Abrechnungsergebnissen der jeweiligen Arztpraxis aus vergangenen Zeiträumen bemessen wurden und deren<br />

gesamtes Leistungsvolumen umfassen (BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 10 ff; BSG SozR<br />

42500 § 85 Nr. 6 RdNr 9, 11; BSGE 94, 50 = SozR 42500 § 72 Nr. 2, jeweils RdNr 53, 55; BSG SozR 42500 § 87<br />

Nr. 10 RdNr 21, 25; BSGE 96, 53 = SozR 42500 § 85 Nr. 23, jeweils RdNr 23; BSG SozR 42500 § 85 Nr. 32<br />

RdNr 16; zuletzt BSG SozR 42500 § 106 Nr. 18 S 145). Die KVen sind berechtigt, die Individualbudgets oder<br />

individuelle Bemessungsgrenzen so auszugestalten, dass die Restvergütungsquote auf null sinkt (BSGE 92, 10 =<br />

SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 12; zuletzt BSG SozR 42500 § 106 Nr. 18 S 145).<br />

18. Es kann dahingestellt bleiben, ob sich die Beklagte bereits aufgrund des Beschlusses des Erweiterten<br />

Bewertungsausschusses vom 19. 12. 2002 (DÄ 2003, A218), durch den die Praxisbudgets mit Ablauf des 30. 6. 2003<br />

außer Kraft gesetzt wurden, verpflichtet fühlen musste, auch die - bislang den Praxisbudgets unterworfene -<br />

Fachgruppe der Anästhesisten in die Honorarbegrenzungsregelungen einzubeziehen. Denn nach der<br />

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Rechtsprechung des Senats ist es jedenfalls zulässig, derartige Individualbudgets auch für solche Fachgruppen<br />

einzuführen, die vorwiegend oder ausschließlich auf Überweisung tätig werden (vgl zB BSGE 97, 170 = SozR 42500 § 87 Nr. 13, jeweils RdNr<br />

50 - Laborärzte; BSG SozR 32500 § 85 Nr. 24 S 164 - Laborärzte), ebenso für Leistungen, die überweisungsgebunden und einer<br />

Mengenausweitung grundsätzlich nicht zugänglich sind (BSG SozR 42500 § 85 Nr. 40 RdNr 18; BSGE 94, 50 = SozR 42500 § 72 Nr. 2, jeweils RdNr 50; BSGE<br />

93, 258 = SozR 42500 § 85 Nr. 12, jeweils RdNr 15 und RdNr 30; BSG SozR 32500 § 85 Nr. 48 S 409).<br />

19. Zwar ist einziger und damit zugleich wesentlicher Leistungsbereich der Fachgruppe der Anästhesisten - mit<br />

Ausnahme vorwiegend schmerztherapeutisch tätiger Ärzte, zu denen die Klägerin aber nicht gehört - die<br />

anästhesistische Begleitung ambulanter Operationen (vgl BSG SozR 42500 § 85 Nr. 40 RdNr 21). Damit besteht naturgemäß eine<br />

starke Abhängigkeit der Anästhesisten von den zuweisenden Operateuren. Der Senat hat jedoch bereits<br />

entschieden, dass die Berechtigung zur Einführung von Honorarbegrenzungsregelungen ungeachtet des<br />

Umstandes besteht, dass die Menge der von einer Arztgruppe erbrachten Leistungen vorwiegend vom<br />

Überweisungsverhalten der anderen Vertragsärzte abhängig ist (BSGE 97, 170 = SozR 42500 § 87 Nr. 13, jeweils RdNr 50). Die Zuordnung<br />

zu einem Honorarkontingent wird nicht einmal ohne Weiteres dadurch rechtswidrig, dass die Leistungsmengen<br />

erkennbar durch andere Ärzte und deren Überweisungsaufträge ausgeweitet werden (BSGE 94, 50 = SozR 42500<br />

§ 72 Nr. 2, jeweils RdNr 50). Nichts anderes trägt aber die Klägerin vor, wenn sie geltend macht, von einem<br />

Mengenzuwachs infolge des Eintritts eines weiteren Behandlers in der zuweisenden Praxis betroffen zu sein.<br />

20. Speziell für die Fachgruppe der Anästhesisten hat der Senat zudem bereits mit Urteil vom 29. 8. 2007 (B 6 KA<br />

43/ 06 R = SozR 42500 § 85 Nr. 40 RdNr 28) klargestellt, dass sich weder den gesetzlichen Vorschriften noch den<br />

Bestimmungen des EBMÄ entnehmen lässt, dass die vertragsärztlichen Leistungen der Fachärzte für<br />

Anästhesiologie vollständig von Mengen steuernden Regelungen der Honorarverteilung, wie sie die Zuordnung zu<br />

fachgruppen- oder leistungsbezogenen Kontingenten darstellt, freigestellt werden müssten.<br />

21. Hieran hält der Senat auch nach erneuter Prüfung bezogen auf ein Individualbudget fest. Die von der Klägerin<br />

angeführten Gesichtspunkte - insbesondere die geltend gemachten Schwankungen der Leistungsmenge in<br />

Abhängigkeit von den zuweisen Operateuren - gebieten keine abweichende Entscheidung. Abgesehen davon,<br />

dass die Anästhesisten den Umfang der Leistungsmenge durch entsprechende vertragliche Gestaltungen mit<br />

Operateuren sehr wohl (mit) steuern können, kann davon ausgegangen werden, dass sich auftretende<br />

Schwankungen im Laufe eines längeren Betrachtungszeitraums - wie hier von bis zu zwei Jahren - mehr oder<br />

weniger ausgleichen.<br />

22. So lässt die Umsatzstatistik der Klägerin über die gesamte Dauer ihrer Tätigkeit stark schwankende<br />

Fallzahlen in Form eines quartalsweisen Auf und Ab erkennen; zudem ergeben die unterschiedlichen Fallzahlen<br />

ein vergleichsweise willkürliches Muster. Die Umsatzstatistik belegt auch keineswegs die Behauptung der<br />

Klägerin, ihre Fallzahlen durch das Hinzutreten eines weiteren Zuweisers drastisch gesteigert zu haben, denn die<br />

zum 1. 1. 2003 eingetretene "Verdoppelung" der Zahl der zuweisenden Operateure hat sich nicht entsprechend in<br />

den Fallzahlen niedergeschlagen. So ist es lediglich im Quartal IV/ 2003 zu einem gravierenden Anstieg der<br />

Fallzahlen gekommen, während sich die - weiterhin schwankenden - Fallzahlen in den übrigen streitbefangenen<br />

Quartalen weitgehend auf einem Niveau bewegen, das die Klägerin bereits in früheren Quartalen erreicht hatte.<br />

23. 2. Die für die Beurteilung des Rechtsstreits maßgeblichen Regelungen des HVM der Beklagten entsprechen<br />

jedoch nicht den Grundsätzen, die in der Rechtsprechung des Senats zur Berücksichtigung der Belange<br />

unterdurchschnittlich abrechnender Praxen entwickelt worden sind. Zu dieser Gruppe gehört auch die Praxis der<br />

Klägerin, da die ihr in den strittigen Quartalen zugewiesenen Punktzahlen weniger als ein Drittel des<br />

Fachgruppendurchschnitts betrugen.<br />

24. a) In der Rechtsprechung des Senats ist wiederholt klargestellt worden, dass umsatzmäßig<br />

unterdurchschnittlich abrechnende Praxen die Möglichkeit haben müssen, zumindest den durchschnittlichen<br />

Umsatz der Arztgruppe zu erreichen (BSGE 83, 52, 58 f = SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 206 ff; BSG SozR 32500 §<br />

85 Nr. 27 S 195; BSG SozR 32500 § 85 Nr. 48 S 411; BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 19;<br />

BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18 ff; BSGE 94, 50 = SozR 42500 § 72 Nr. 2, jeweils RdNr<br />

53; BSG SozR 42500 § 87 Nr. 10 RdNr 21; BSG, Beschluss vom 19. 7. 2006, B 6 KA 1/ 06 B, RdNr 10 - juris;<br />

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BSG SozR 42500 § 85 Nr. 32 RdNr 16, sowie das weitere Urteil vom 28. 3. 2007, B 6 KA 10/ 06 R = MedR 2007,<br />

560 = USK 200726; Beschluss vom 28. 11. 2007, B 6 KA 45/ 07 B, RdNr 8; zuletzt Beschluss vom 6. 2. 2008, B 6<br />

KA 64/ 07 B, RdNr 9 - juris; vgl auch BSGE 96, 53 = SozR 42500 § 85 Nr. 23, jeweils RdNr 28; BSG SozR 42500<br />

§ 85 Nr. 6, RdNr 16, 19; BSGE 89, 173, 182 = SozR 32500 § 85 Nr. 45 S 378). Dem Vertragsarzt muss die<br />

Chance bleiben, durch Qualität und Attraktivität seiner Behandlung oder auch durch eine bessere Organisation<br />

seiner Praxis neue Patienten für sich zu gewinnen und so legitim erweise seine Position im Wettbewerb mit den<br />

Berufskollegen zu verbessern (BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18; BSGE 92, 10 = SozR<br />

42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 19).<br />

25. Auch wenn es sich bei Praxen mit unterdurchschnittlichem Umsatzniveau typischerweise insbesondere um<br />

solche handeln wird, die neu gegründet worden sind (vgl ua BSG SozR 32500 § 85 Nr. 27 S 195; BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 19), ist<br />

deren Erwähnung in der Senatsrechtsprechung lediglich beispielhaft zu verstehen; nichts anderes gilt für den<br />

Begriff der "im Aufbau" befindenden Praxen (vgl ua BSG SozR 42500 § 85 Nr. 32 RdNr 16). Die grundsätzliche Verpflichtung zur<br />

Gewährleistung einer gewissen Wachstumsmöglichkeit beschränkt sich nicht allein auf diese, sondern erfasst alle<br />

Praxen, deren Umsatz den durchschnittlichen Umsatz der Fachgruppe unterschreitet. Bereits in seinem<br />

grundlegenden Urteil vom 21. 10. 1998 (B 6 KA 71/ 97 R, BSGE 83, 52, 60 = SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 209) hat<br />

der Senat klargestellt, dass der Umstand einer dauerhaften Festschreibung einer ungünstigen Erlössituation als<br />

Folge unterdurchschnittlicher Umsätze für alle kleinen Praxen - nicht nur für neu gegründete - berücksichtigt<br />

werden und ein HVM so ausgestaltet werden muss, dass auch solche Vertrags (zahn)-ärzte mit<br />

unterdurchschnittlicher Patientenzahl, die nicht mehr als Praxisneugründer angesehen werden können, nicht<br />

gehindert werden, durch Erhöhung der Patientenzahl zumindest einen durchschnittlichen Umsatz zu erzielen (in<br />

diesem Sinne ua auch BSG SozR 42500 § 85 Nr. 32 RdNr 16, sowie das weitere Urteil vom 28. 3. 2007, B 6 KA 10/ 06 R = MedR 2007, 560 = USK 200726; BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils<br />

RdNr 18: "aber nicht nur"; BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 19; BSG SozR 42500 § 87 Nr. 10 RdNr 21: "jeder Arzt"; zuletzt BSG, Beschluss vom 6. 2. 2008, B 6 KA 64/ 07 B, RdNr 9 - juris;<br />

vgl auch Clemens in Wenzel [Hrsg], Handbuch des Fachanwalts Medizinrecht, 2. Aufl 2009, Kap 11 RdNr 268).<br />

26. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Senat seine Rechtsprechung damit begründet hat, das über lange<br />

Jahre hinweg relativ konstante Umsatzniveau einer etablierten Praxis stelle einen zuverlässigen Indikator des von<br />

dem Vertrags (zahn)-arzt gewünschten oder erreichbaren Ausmaßes seiner Teilnahme an der Vertrags (zahn)ärztlichen<br />

Versorgung dar (BSGE 83, 52, 57 f = SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 206 f), denn diese typisierende<br />

Betrachtung stellt darauf ab, dass das erreichte Umsatzniveau das Ergebnis einer bewussten Entscheidung des<br />

Praxisinhabers ist. Ist dies hingegen nicht der Fall, ist auch Inhabern bislang unterdurchschnittlicher Praxen die<br />

Möglichkeit zu eröffnen, ein anderes, höheres Umsatzniveau anzustreben und zu erreichen.<br />

27. Ob sich die Wachstumsmöglichkeit allein auf eine Erhöhung der Zahl der von den Vertragsärzten behandelten<br />

Fälle bzw. Patienten beziehen muss (so die bisherige Rechtsprechung des Senats, vgl BSGE 83, 52, 58 = SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 207 f; BSG SozR 32500 § 85 Nr. 27 S 195;<br />

BSG SozR 32500 § 85 Nr. 48 S 411; BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 19; BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18; BSGE 94, 50 = SozR 42500 § 72 Nr. 2, jeweils RdNr<br />

53; BSG SozR 42500 § 85 Nr. 32 RdNr 16; Beschluss vom 28. 11. 2007, B 6 KA 45/ 07 B, RdNr 8), oder ob eine Steigerungsmöglichkeit auch in der Form<br />

gewährt werden kann oder muss, dass anstelle eines Fallzahlzuwachses (oder zumindest gleichberechtigt daneben) auch<br />

Fallwertsteigerungen zu berücksichtigen sind, die etwa auf einer Veränderung in der Morbidität des behandelten<br />

Patientenstamms oder einer Veränderung der Behandlungsausrichtung beruhen (siehe hierzu auch Engelhard in Hauck/ Noftz, SGB V, Stand<br />

12.2003, § 85 RdNr 254f; vgl ferner Clemens, aaO, RdNr 268), kann offen bleiben, denn die Klägerin hat in den strittigen Quartalen sowohl<br />

ihre Fallzahl wie auch ihren Umsatz gesteigert.<br />

28. Die danach allen Praxen mit unterdurchschnittlichen Umsätzen einzuräumende Möglichkeit, durch<br />

Umsatzsteigerung jedenfalls bis zum Durchschnittsumsatz der Fachgruppe aufzuschließen (BSGE 83, 52, 58 =<br />

SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 206 f; BSG SozR 32500 § 85 Nr. 27 S 195; BSG SozR 42500 § 85 Nr. 6 RdNr 19;<br />

BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 19; BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr<br />

18; BSG SozR 42500 § 85 Nr. 32 RdNr 16), bedeutet jedoch nicht, dass diese Praxen von jeder Begrenzung des<br />

Honorarwachstums verschont werden müssten (BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5 RdNr 20; BSGE 92, 233 =<br />

SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18). Derartiges ist allein den neu gegründeten Praxen einzuräumen, solange<br />

diese sich noch in der Aufbauphase befinden (BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18); diese<br />

Praxen sind für die Zeit des Aufbaus von der Wachstumsbegrenzung völlig freizustellen (BSG, aaO, RdNr 19).<br />

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29. Im Hinblick auf die mit der Einführung individueller Leistungsbudgets verfolgten Ziele der<br />

Punktwertstabilisierung und der Gewährleistung von Kalkulationssicherheit ist es vielmehr auch<br />

unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen zumutbar, dass ihr pro Jahr zulässiges Honorarwachstum beschränkt<br />

wird. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass diese Begrenzung nicht zu eng ist (BSGE 92, 10 =<br />

SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 20; BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18). Daher sind<br />

Wachstumsraten in einer Größenordnung zuzulassen, die es noch gestattet, den durchschnittlichen Umsatz in<br />

absehbarer Zeit zu erreichen (BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 20; BSGE 92, 233 = SozR<br />

42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18). Absehbar in diesem Sinne ist ein Zeitraum von fünf Jahren (BSGE 92, 10 =<br />

SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 20; BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18; BSG SozR<br />

42500 § 85 Nr. 32 RdNr 16, sowie das weitere Urteil vom 28. 3. 2007, B 6 KA 10/ 06 R = MedR 2007, 560 = USK<br />

200726).<br />

30. Im Gegensatz zur sog "Aufbauphase" bei neu gegründeten Praxen ist dieser Fünf-Jahres-Zeitraum nicht in<br />

dem Sinne statisch, dass er ab einem fixen Zeitpunkt - dem der Praxisneugründung oder -übernahme - beginnt<br />

und durch Zeitablauf endet. Ebenso wenig erschöpft sich die Verpflichtung in der Gewährung einer einmaligen<br />

Wachstumsmöglichkeit, die nach Ablauf des Zeitraums nicht mehr eingeräumt werden muss; vielmehr besteht sie<br />

solange fort, bis die Praxis den Durchschnittsumsatz erreicht hat. Dementsprechend sind Zeitraum und<br />

Wachstumsmöglichkeit dynamisch auf die jeweilige, zur gerichtlichen Überprüfung anstehende<br />

Honorarbegrenzungsregelung zu beziehen. Alle für die betroffene Praxis maßgeblichen HVM-Regelungen,<br />

insbesondere Honorarbegrenzungsregelungen, müssen so viel Spielraum zulassen, dass der<br />

Durchschnittsumsatz innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren erreicht werden kann.<br />

31. Schon daraus folgt, dass bei der rechtlichen Prüfung auch die HVM-Regelungen mit in den Blick zu nehmen<br />

sind, die für nachfolgende, prozessual nicht streitbefangene, jedoch innerhalb des Fünf-Jahres-Zeitraums<br />

liegende Folgequartale Geltung beanspruchen. Denn nur auf diesem Wege kann - sofern nicht bereits die im<br />

streitbefangenen Zeitraum maßgeblichen Regelungen das erforderliche Wachstum ermöglichen - festgestellt<br />

werden, ob die Vorgaben der Senatsrechtsprechung eingehalten werden. Sollte die Prüfung ergeben, dass auch<br />

die nachfolgend maßgeblichen Regelungen es unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen nicht ermöglichen,<br />

den Durchschnittsumsatz innerhalb des maßgeblichen Zeitraums zu erreichen, begründet dies zugleich die<br />

Rechtswidrigkeit der für den streitbefangenen Zeitraum geltenden Regelung.<br />

32. Die Einbeziehung der für den nachfolgenden Zeitraum maßgeblichen HVM-Regelungen in die Prüfung ist erst<br />

recht dann unabdingbar, wenn der HVM - wie hier - Bestimmungen der Art enthält, die ein Wachstum für einen<br />

begrenzten Zeitraum völlig ausschließen. Zwar ist es rechtlich nicht geboten, unterdurchschnittlich abrechnenden<br />

Praxen außerhalb der Aufbauphase eine Wachstumsmöglichkeit zu jeder Zeit - dh in jedem einzelnen Abschnitt<br />

(bzw. Abrechnungszeitraum) innerhalb des Fünf-Jahres-Zeitraums - einzuräumen; lediglich Neugründer müssen die<br />

Gelegenheit erhalten, ihren Umsatz sofort zu steigern (siehe oben). Auch wenn der Senat ausgeführt hat, dass der<br />

HVM es dem einzelnen Vertragsarzt mit unterdurchschnittlichem Umsatz nicht nur überhaupt, sondern auch "in<br />

effektiver Weise" ermöglichen muss, den durchschnittlichen Umsatz der Fachgruppe zu erreichen (BSGE 92, 10 =<br />

SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 20; BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18; zuletzt BSG,<br />

Beschluss vom 6. 2. 2008, B 6 KA 64/ 07 B, RdNr 9 - juris), erfordert eine "effektive" Möglichkeit keine<br />

kontinuierliche Steigerungsmöglichkeit, sondern ist auf das Ergebnis - das Erreichen des Durchschnittsumsatzes -<br />

ausgerichtet. Somit sind - für Praxen außerhalb der Aufbauphase - auch HVM-Regelungen nicht grundsätzlich<br />

ausgeschlossen, die ein Honorarwachstum innerhalb eines gewissen Zeitraums vollständig unterbinden.<br />

33. Dies gilt für unterdurchschnittlich abrechnende Praxen wie die der Klägerin jedoch nur unter der<br />

Voraussetzung, dass sie jedenfalls in der nach Ablauf des Moratoriums verbleibenden restlichen Zeit noch die<br />

"effektive", dh realistische, Möglichkeit haben, den Durchschnittsumsatz zu erreichen. Mit dem Grundsatz der<br />

Honorarverteilungsgerechtigkeit nicht im Einklang stehen daher nicht allein Regelungen, die den für ein<br />

Wachstum verbleibenden Zeitraum derart einschränken, dass nicht erreichbare Steigerungsraten erforderlich<br />

wären, um zum Durchschnitt aufzuschließen, sondern bereits solche, die für die Folgezeit<br />

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Wachstumsbeschränkungen normieren, welche ein Erreichen des Durchschnittsumsatzes innerhalb des Fünf-<br />

Jahres-Zeitraums realistischer Weise nicht erwarten lassen.<br />

34. b) Letzteres ist vorliegend der Fall. Die für die Zeit nach Beendigung der "Startphase" geltenden Regelungen<br />

in § 12. 4. 3 des HVM der Beklagten ermöglichen es unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen nicht, in den<br />

verbleibenden vier Jahren den Durchschnittsumsatz zu erreichen. Theoretisch ist zwar im jeweiligen Folgequartal<br />

eine Erhöhung des IPZ um bis zu 10 % der durchschnittlichen Punktzahlanforderung je Arzt der Arztgruppe<br />

möglich, doch hängt dies von weiteren Faktoren ab. Der einzelne Arzt hat nur begrenzten Einfluss darauf, ob und<br />

in welchem Umfang er von dieser Wachstumsmöglichkeit profitiert, da das Ausmaß der Möglichkeit der<br />

"Weiterentwicklung" nicht primär vom eigenen Abrechnungsverhalten abhängig ist, sondern sich maßgeblich nach<br />

dem der übrigen Ärzte der Fachgruppe richtet. Die im Falle einer Überschreitung des individuellen<br />

Gesamtvolumens bestehende Möglichkeit einer sockelwirksamen Anhebung hängt, wie dies der HVM in § 12. 4. 3<br />

Buchst a Satz 3 selbst formuliert, "jedoch von den Überschreitungen aller Praxen sowie von den für Zuwächse<br />

der Volumina zur Verfügung stehenden Punktzahlmenge" ab.<br />

35. Bereits die für ein Wachstum aller Praxen einer Arztgruppe pro Jahr insgesamt zur Verfügung stehende<br />

Punktzahlmenge ist gemäß § 12. 4. 3 Buchst a. a. 2 Satz 3 HVM auf zwei Prozent der "Summe der individuellen<br />

Gesamtvolumen" (dh des Gesamtpunktzahlvolumens) in der Arztgruppe beschränkt; sie wird zusätzlich dadurch verringert, dass<br />

sie ggf. durch eine von allen Praxen der Arztgruppe zu zahlende "Wachstumsumlage" zu finanzieren ist. Hinzu<br />

kommt, dass gemäß § 12. 4. 3 Buchst a. a. 3 HVM die zur Verteilung anstehende "Zugewinnmenge" nach einem<br />

bestimmten Modus verteilt wird. Danach erhält zunächst die Praxis mit der höchsten prozentualen Überschreitung<br />

ein Prozent Zuwachs ihres individuellen Gesamtvolumens zugesprochen. Im Folgeschritt wird die<br />

Zugewinnmenge um die zugesprochene Punktzahl vermindert sowie die rechnerische prozentuale Überschreitung<br />

der begünstigten Praxis um einen Prozentpunkt reduziert. Danach wiederholt sich das Verfahren bei derjenigen<br />

Praxis, die nun die höchste prozentuale Überschreitung aufweist; dies kann weiterhin die erstgenannte Praxis<br />

sein. Dieses Verfahren wird so lange fortgesetzt, bis die vorgesehene "Zugewinnmenge" aufgebraucht ist.<br />

Innerhalb des Verfahrens wird eine Praxis dann nicht mehr berücksichtigt, wenn sie einen absoluten<br />

Punktzahlzuwachs von 10 % der durchschnittlichen Punktzahlanforderung erreicht hat.<br />

36. Für unter dem (Punktzahl) Durchschnitt der Fachgruppe liegende Praxen wie die der Klägerin ist angesichts dieser<br />

Vorgaben ein Erreichen des Durchschnittsumsatzes ausgeschlossen. Schon rein rechnerisch besteht angesichts<br />

einer auf zwei Prozent des Gesamtpunktzahlvolumens beschränkten "Zugewinnmenge" bei gleichmäßigem<br />

Verhalten aller Praxen auch nur eine Zuwachsmöglichkeit in entsprechender Höhe; Aussicht auf einen<br />

zehnprozentigen Zuwachs hätte ein Fünftel aller Praxen dann, wenn alle übrigen Praxen ihren Umsatz überhaupt<br />

nicht gesteigert hätten. Das eine wie das andere ist jedoch unrealistisch.<br />

37. Unterdurchschnittlich abrechnende Praxen hätten im Übrigen nur dann eine reale Chance auf Gewährung<br />

einer signifikanten Punktzahlerhöhung, wenn entweder etablierte, zumindest durchschnittlich abrechnende<br />

Praxen ihre Leistungsmenge nicht ebenfalls signifikant steigerten, oder dann, wenn zum einen ihr Umsatz nicht<br />

allzu weit vom durchschnittlichen Umsatz der Arztgruppe entfernt ist und sie zum anderen weit<br />

überdurchschnittliche Umsatzzuwächse aufweisen. Nach der Rechtsprechung des Senats muss eine<br />

Wachstumsmöglichkeit jedoch allen unterdurchschnittlichen Praxen offenstehen. Ausweislich der Umsatzstatistik<br />

betrug das Honorar der Klägerin in den strittigen Quartalen nicht einmal ein Drittel des Fachgruppendurchschnitts.<br />

Hinzu kommt, dass ihre Praxis - fachgruppentypisch - kein konstantes Wachstum aufweist, sondern sowohl die<br />

Fallzahl als auch der Umsatz stärkeren Schwankungen unterliegen.<br />

38. Die von der Beklagten hervorgehobene "Bevorzugung" unterdurchschnittlich abrechnender Praxen - bei<br />

gleicher betragsmäßiger Überschreitung erwerben sie eine höhere Prozentualität und damit auch eine günstigere<br />

Position im Verteilungsverfahren als größere Praxen - ergibt sich eher zufällig durch rechnerische Effekte und<br />

stellt keine systematische Besserstellung dieser Praxen dar. Selbst wenn dies der Fall wäre, fehlte es dieser<br />

Regelung an der erforderlichen Effektivität. Denn wie die Beklagte in ihrem Berechnungsbeispiel (in "Nordlicht" - Offizielles<br />

Mitteilungsblatt der KÄV Schleswig-Holstein, Heft 3/ 2003 S 19) selbst veranschaulicht, hat eine unterdurchschnittlich abrechnende Praxis nur<br />

dann Aussicht auf einen Zuwachs, wenn sie zugleich besonders hohe Zuwachsraten aufweist. Hinzu kommt, dass<br />

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auch die der Praxis prozentual zugeteilte Zugewinnmenge an das bisherige IPZ anknüpft, mit der Folge, dass<br />

eine größere Praxis eine betragsmäßig höhere Zugewinnmenge erhält als eine kleinere Praxis (so auch LSG Schleswig-Holstein,<br />

Urteil vom 22. 1. 2008, L 4 KA 15/ 07 - juris, dort RdNr 34 = GesR 2008, 359, 360) und hierdurch die zur Verfügung stehende "Zugewinnmenge"<br />

stärker reduziert.<br />

39. Somit hätte es einer Sonderregelung für unterdurchschnittliche Praxen im HVM der Beklagten bedurft, welche<br />

deren Belange und die Vorgaben des Senats angemessen berücksichtigt. Nach der Rechtsprechung des Senats<br />

müssen Regelungen über die Bemessungsgrundlage für solche Vertrags (zahn)-ärzte, die wegen<br />

unterdurchschnittlicher Fallzahlen bzw. -umsätze im Bemessungszeitraum das durchschnittliche<br />

Punktzahlvolumen ihrer Fachgruppe (noch) nicht erreicht haben, im HVM selbst normiert werden (BSGE 83, 52, 60 =<br />

SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 209; ebenso BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 23). Der HVM der<br />

Beklagten enthält zwar in § 12. 4 Abs 4 bestimmte Sonderregelungen, jedoch erfassen diese nur veränderte oder<br />

neue Praxisstrukturen, Neugründungen oder Praxisübernahmen. Hingegen fehlen - abgesehen von einer<br />

Definition der "unterdurchschnittlichen Praxis" - jegliche spezifischen Regelungen für die Fallgruppe der<br />

unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen; für diese gilt somit die allgemeine Regelung.<br />

40. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts wirkt sich dieser Umstand auch auf die Rechtmäßigkeit der<br />

streitbefangenen Honorarbescheide aus, da die Rechtmäßigkeit der ihnen zugrunde liegenden, für die<br />

Startquartale geltenden HVM-Regelungen aus den oben (unter 2. a) dargestellten Gründen nicht isoliert betrachtet<br />

werden kann, sondern vielmehr ein Junktim zwischen der Zulässigkeit einer Einbeziehung unterdurchschnittlicher<br />

Praxen in das während der Startphase geltende Moratorium und ausreichenden Wachstumsmöglichkeiten in der<br />

Folgezeit besteht. Wie dargelegt, muss schon bei Inkrafttreten einer - Wachstumsmöglichkeiten zeitlich begrenzt<br />

ausschließenden - HVM-Regelung feststehen und somit normativ geregelt sein, dass und wie<br />

unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen in der Folgezeit ermöglicht wird, den Durchschnitt zu erreichen.<br />

41. c) Es steht der Beklagten im Rahmen ihrer Gestaltungsfreiheit bei der von ihr vorzunehmenden Neuregelung<br />

allerdings frei, wie sie die Belange unterdurchschnittlich abrechnender Praxen angemessen berücksichtigt. So<br />

könnte sie das Moratorium für diese Praxen außer Kraft setzen und ihnen durchgehend ausreichende<br />

Wachstumsmöglichkeiten gewähren. Rechtlich nicht zu beanstanden wäre es aber auch, wenn sie zwar die<br />

Wachstumsmöglichkeiten auch dieser Praxen zeitlich begrenzt aussetzte, ihnen jedoch in der - im Hinblick auf die<br />

erfolgte Verkürzung des für ein Wachstum zur Verfügung stehenden Zeitraums besonders bedeutsamen -<br />

Folgezeit ausreichende Weiterentwicklungsmöglichkeiten einräumte, die es ihnen realistischer Weise<br />

ermöglichten, innerhalb der verbleibenden vier Folgejahre zum Durchschnitt der Fachgruppe aufzuschließen.<br />

42. 3. Demgegenüber hat es die Beklagte im Ergebnis zu Recht abgelehnt, das Honorar der Klägerin im Wege<br />

einer Härtefallentscheidung zu erhöhen. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats muss der HVM eine mehr<br />

oder weniger allgemein gehaltene Härteklausel enthalten (BSGE 83, 52, 61 = SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 210;<br />

BSG SozR 32500 § 85 Nr. 27 S 196; BSGE 94, 50 = SozR 42500 § 72 Nr. 2, jeweils RdNr 53; BSG SozR 42500<br />

§ 87 Nr. 10 RdNr 21, 29; BSGE 96, 53 = SozR 42500 § 85 Nr. 23, jeweils RdNr 38). Enthält er keine oder nur eine<br />

zu eng gefasste, so ist eine generelle Härteklausel auf Grund gesetzeskonformer Auslegung stillschweigend als<br />

im HVM enthalten anzunehmen (vgl BSGE 96, 53 = SozR 42500 § 85 Nr. 23, jeweils RdNr 38 mwN; zur Unbeachtlichkeit des Fehlens einer ausdrücklichen allgemeinen Härteklausel<br />

s auch BSG, Urteil vom 9. 12. 2004, B 6 KA 84/ 03 R = USK 2004146 S 1062 f; BSG SozR 42500 § 87 Nr. 10 RdNr 30).<br />

43. Vorliegend fehlt es jedoch bereits an Ansatzpunkten für die Annahme eines Härtefalles. Nach der<br />

Rechtsprechung des Senats können hierzu überraschende Änderungen in der Versorgungsstruktur in einer<br />

bestimmten Region oder eine Änderung in der Behandlungsausrichtung der Praxis im Vergleich zum<br />

Bemessungszeitraum gehören (BSGE 83, 52, 61 = SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 210; BSG SozR 32500 § 85 Nr. 27<br />

S 196; zu weiteren Konstellationen siehe Clemens, aaO, RdNr 271). Derartiges ist jedoch nicht erkennbar. Selbst<br />

wenn man auch den von der Klägerin vorgetragenen Umstand des Hinzutretens eines weiteren Operateurs in der<br />

zuweisenden Praxis dem Grunde nach als Härtegesichtspunkt berücksichtigen würde, fehlte es an tatsächlichen<br />

Auswirkungen, da es - wie bereits oben ausgeführt - nicht zu einer gravierenden Veränderung der Fallzahlen<br />

gekommen ist.<br />

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44. Die Entscheidung der Beklagten über den Hilfsantrag leidet auch nicht unter einem Begründungsmangel. Bei<br />

der Prüfung dieser Ermessensentscheidung sind die Gerichte nicht darauf beschränkt, nur die Gründe in der<br />

Form zu würdigen, wie sie gemäß § 35 Abs 1 Satz 3 SGB X in der schriftlichen Begründung der Bescheide ihren<br />

Niederschlag gefunden haben (BSG SozR 42500 § 87 Nr. 10 RdNr 33). Wenn die bei Erlass der Bescheide von der Behörde<br />

tatsächlich angestellten Erwägungen lediglich unvollständig oder unklar in ihrer Begründung wiedergegeben<br />

wurden, können sie auch noch im Laufe des anschließenden Gerichtsverfahrens in den Tatsacheninstanzen<br />

präzisiert oder ergänzt werden (BSG, aaO). Im Übrigen lässt sich jedenfalls der Widerspruchsbegründung entnehmen,<br />

dass die ablehnende Entscheidung (auch) darauf beruht, dass es überhaupt nicht zu einer gravierenden<br />

Fallzahlsteigerung gekommen ist.<br />

45. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG iVm einer entsprechenden<br />

Anwendung der §§ 154 ff Verwaltungsgerichtsordnung. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits, soweit<br />

sie unterlegen ist.<br />

BGH VI ZR 204/08. vom 29.12.2008.<br />

Der Wert der Beschwer des Beklagten durch das Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Potsdam<br />

vom 12. 06.2008 wird auf 7.647,21 € festgesetzt (2.147,21 € Klage, 2.500 € Widerklageantrag 1, 3.000 € Widerklageantrag 2)<br />

Gründe:<br />

I.<br />

1. Das Landgericht hat im Berufungsurteil vom 12. 06.2008 den Streitwert der Klage auf 7.647,71 € festgesetzt.<br />

Es folgte dabei den Angaben der Parteien in der Klageschrift bzw. in der Widerklageschrift. Die Berufung des in<br />

erster Instanz verurteilten Beklagten, dessen Widerklage abgewiesen worden ist, blieb erfolglos. Das<br />

Berufungsgericht hat die Revision gegen das Berufungsurteil nicht zugelassen. Dagegen wendet sich der<br />

Beklagte mit der Nichtzulassungsbeschwerde. Er beantragt den Wert der Beschwer für die Widerklage auf<br />

mindestens 20.000 € festzusetzen und begründet dies damit, dass die Widerklage auch auf die Feststellung der<br />

künftigen materiellen und immateriellen Schäden aus der Zahnbehandlung durch den Kläger gerichtet ist. Zwar<br />

habe er in der Berufungsinstanz für den Schmerzensgeldanspruch einen Mindestbetrag von 3.000 € genannt.<br />

Dabei habe er jedoch nur die bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz eingetretenen<br />

immateriellen Beeinträchtigungen berücksichtigt. Im Hinblick auf die Folgen der die Schadensersatzpflicht<br />

begründenden Behandlung durch den Kläger, die bis zu seinem Lebensende fortbestünden, sei der Streitwert der<br />

Widerklage mit mindestens 20.000 € festzusetzen, sodass die Beschwer unter Einbeziehung der Klageforderung<br />

20.000 € übersteige.<br />

II.<br />

2. Das Vorbringen des Beklagten rechtfertigt keine Heraufsetzung des Wertes der Beschwer.<br />

3. Maßgebend für die Bewertung der Beschwer der Nichtzulassungsbeschwerde ist der Zeitpunkt der letzten<br />

mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht (Senatsbeschlüsse vom 8. 02.2000 - VI ZR 283/99 - VersR 2000, 869; vom 10. 06.2008 - VI ZR 316/07 - juris und<br />

vom 27. 08.2008 - VI ZR 78/07 - juris; BGH, Urteil vom 6. 10.1977 - II ZR 4/77 - MdR 1978, 210; Beschlüsse vom 25. 04.1989 - XI ZR 18/89 - NJW 1989, 2755; vom 31. 01.2001 - XII ZB 121/00 - NJW 2001,<br />

1652 und vom 3. 05.2001 - III ZR 9/01 - juris). Beim Feststellungsbegehren mit einer Schadensersatzklage ist maßgeblich das<br />

Schadensbild, das der Kläger dem Tatsachengericht als Grundlage der festzustellenden Ersatzansprüche und<br />

damit der Ermessensausübung bei der Festsetzung der Beschwer gemäß den §§ 2 und 3 ZPO unterbreitet. In<br />

Fällen, in denen, wie im vorliegenden Fall, das Berufungsgericht bei der Festsetzung der Beschwer einen weiten<br />

Beurteilungsspielraum hat, beschränkt sich die Überprüfung auf die Frage, ob das Berufungsgericht von dem ihm<br />

eingeräumten Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat. Vorliegend sind die Parteien in der Berufungsinstanz<br />

davon ausgegangen, dass die Bewertung der Beschwer durch die mit der Berufung weiterverfolgten Anträge mit<br />

insgesamt 7.647,71 € an sich nicht zu beanstanden ist. Die nach § 26 Nr. 8 EGZPO für die Zulässigkeit der<br />

Nichtzulassungsbeschwerde erforderliche Beschwer ist nicht danach zu bemessen, in welcher Höhe der<br />

Beschwerdeführer die Klageforderung in der Revisionsinstanz beziffern will, sondern danach, welche Beschwer<br />

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aus dem Berufungsurteil er geltend machen kann und will. Verlangt der Kläger ein angemessenes<br />

Schmerzensgeld, so ist für seine Beschwer als Rechtsmittelkläger die geäußerte Größenvorstellung maßgebend.<br />

Gibt er einen Mindestbetrag an, so ist die Beschwer danach zu bestimmen, inwieweit der Urteilsausspruch der<br />

Vorinstanz dahinter zurückbleibt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 30. 09.2003 - VI ZR 78/03 - VersR 2004, 219 und vom 16. 07.2008 - VI ZR 213/07). Nach diesen<br />

Kriterien ist der Beklagte durch die Zurückweisung der Berufung insgesamt in Höhe von 7.647,71 € beschwert.<br />

Müller Wellner Diederichsen Stöhr Zoll<br />

Vorinstanzen: AG Zossen, Entscheidung vom 09.01.2007 - 7 C 4/05 - LG Potsdam, Entscheidung vom<br />

12.06.2008 - 11 S 48/07 –<br />

BSG Az. B 6 KA 37/07 R Urteil vom 10.12.2008<br />

Betonung der ärztlichen Schweigepflicht bei Abrechnung von Leistungen über Abrechnungsstellen. Das<br />

bedeutet, dass die Abrechnung von Leistungen, die im Quartal III/2009 oder später erbracht werden,<br />

unmittelbar mit der KÄV erfolgen muss, sofern nicht bis zu diesem Zeitpunkt gesetzliche Regelungen<br />

geschaffen werden, welche zur Einschaltung externer Abrechnungsstellen berechtigen.<br />

Tatbestand<br />

Streitig ist, ob die Erstellung einer Abrechnung für vertragsärztliche Leistungen über eine private<br />

Abrechnungsstelle erfolgen darf. Die Klägerin ist Trägerin eines im Bezirk der beklagten Kassenärztlichen<br />

Vereinigung (KÄV) gelegenen und zur Versorgung von Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

zugelassenen Krankenhauses. Seit dem Jahr 1997 erstellt sie die Abrechnung der bei gesetzlich<br />

Krankenversicherten sowie bei Berechtigten der freien Heilfürsorge vorgenommenen ambulanten<br />

Notfallbehandlungen mit Hilfe der Beigeladenen zu 1., einem Zusammenschluss mehrerer privatärztlicher<br />

Verrechnungsstellen zu einem Dienstleistungsunternehmen in der Rechtsform einer GmbH. Hierzu nimmt die<br />

Klägerin die im Rahmen einer Notfallbehandlung anfallenden Patientendaten über einen sog Notfallschein auf und<br />

lässt die Patienten eine jederzeit widerrufliche Einverständniserklärung zur Bearbeitung dieser Daten durch eine<br />

privatärztliche Verrechnungsstelle gegenzeichnen. Die Notfallscheine reicht sie an die Beigeladene zu 1. weiter.<br />

Deren Mitarbeiter erfassen alle für die Abrechnung erforderlichen Daten auf einem computerlesbaren Datenträger<br />

und ordnen - soweit erforderlich - die erbrachten medizinischen Leistungen den jeweils einschlägigen<br />

Gebührenziffern des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für ärztliche Leistungen zu. Anschließend legt die<br />

Klägerin die über die Beigeladene zu 1. erstellten Abrechnungen quartalsweise zusammen mit von ihr<br />

unterzeichneten Abrechnungs-Sammelerklärungen bei der Beklagten vor. Mit Schreiben vom 10.12.2004 teilte die<br />

Beklagte mit, dass vertragsärztliche Leistungen nur noch unmittelbar zwischen Leistungserbringer und KÄV<br />

abgerechnet werden könnten. Eine Abrechnungserstellung über eine privatärztliche Verrechnungsstelle sei<br />

datenschutzrechtlich nicht zulässig und werde ab dem Quartal I/2005 zurückgewiesen. Zudem vereinbarte die<br />

Beklagte mit den Verbänden der Krankenkassen mit Wirkung zum 1.1.2006 eine Ergänzung des<br />

Honorarverteilungsvertrags (HVV), der zufolge die Rechnungslegung von den Leistungserbringern "persönlich -<br />

ohne die Einschaltung von Dritten, insbesondere sog Verrechnungsstellen, - vorzunehmen" sei und die "aufgrund<br />

unzulässiger Datenverarbeitung erstellte Abrechnung" nicht verwendet werden dürfe und zurückgewiesen werde (§<br />

4 Nr. 1 Abs 2 HVV) .<br />

Das von der Klägerin angerufene Sozialgericht (SG) hat die Beklagte mit Beschluss vom 22.4.2005 (S 14 KA 54/05 ER - bestätigt<br />

durch Beschluss des Landessozialgerichts vom 13.9.2005 - L 11 B 16/05 KA ER) , vorläufig zur Abrechnung verpflichtet und im<br />

Hauptsacheverfahren festgestellt, dass die Beklagte zur Entgegennahme und Bescheidung der mit Hilfe der<br />

Beigeladenen zu 1. erstellten vertragsärztlichen Abrechnungen für ambulante Notfallbehandlungen verpflichtet ist<br />

(Urteil vom 30.8.2006) . Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das LSG zurückgewiesen (Urteil 2 vom 13.6.2007) . Zur<br />

Begründung hat das LSG ausgeführt, die Beklagte dürfe die Abrechnungen der Klägerin nicht ablehnen. Eine<br />

solche Berechtigung könne nicht aus den §§ 284 ff SGB V hergeleitet werden. Dort sei lediglich spezialgesetzlich<br />

geregelt, welche Sozialdaten Krankenkassen und KVen ohne eine entsprechende Einwilligung der Patienten<br />

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erheben, speichern und verarbeiten dürften. Liege aber - wie hier - eine Einwilligung der Betroffenen vor, sei nach<br />

§ 4 Abs 1 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG), § 67b Abs 1 Satz 1 SGB X eine Erstellung der Abrechnung durch<br />

externe Dritte datenschutzrechtlich zulässig.<br />

Die Beklagte könne auch aus der Regelung in § 4 Nr. 1 Abs 2 HVV keine Berechtigung dafür herleiten, die<br />

Abrechnungen der Klägerin zurückzuweisen. Zwar sei nach dem Wortlaut dieser Bestimmung eine<br />

Rechnungslegung durch Dritte ausdrücklich ausgeschlossen; es fehle im SGB V aber an einer<br />

Ermächtigungsgrundlage für die Aufnahme einer solchen Vorschrift in einen HVV. Eine Befugnis hierzu ergebe<br />

sich insbesondere nicht aus dem in § 75 Abs 1 Satz 1 SGB V normierten Auftrag der KVen, eine den gesetzlichen<br />

und vertraglichen Bestimmungen entsprechende vertragsärztliche Versorgung zu gewährleisten. Auch wenn<br />

hierzu eine sorgfältige und wahrheitsgemäße Abrechnung der erbrachten vertragsärztlichen Leistungen gehöre,<br />

sei nicht ersichtlich, inwiefern dies durch die Einschaltung einer externen Abrechnungsstelle gefährdet sein<br />

könnte.<br />

Schließlich sei auch nicht erkennbar, dass - über die Einwilligung des Patienten hinaus - für die Abrechnung<br />

vertragsärztlicher Leistungen mit Hilfe einer externen Datenverarbeitung eine gesonderte gesetzliche Grundlage<br />

erforderlich sei. Jedenfalls aus § 73 Abs 1b SGB V, der ua einen Datenaustausch zwischen den mit- und<br />

weiterbehandelnden Ärzten und sonstigen Leistungserbringern desselben Patienten ermögliche, könne dies nicht<br />

hergeleitet werden. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift lasse sich nicht auf alle Fälle einer<br />

Datenverarbeitung mit Einwilligung des Patienten ausdehnen. Ebenso wenig könne dem<br />

krankenversicherungsrechtlichen Sachleistungsprinzip aus § 2 Abs 2 Satz 1 SGB V entnommen werden, dass<br />

ohne gesonderte gesetzliche Grundlage eine Einverständniserklärung des Patienten für die Weitergabe seiner<br />

Daten unzulässig sei. Aus diesem Prinzip folge zwar, dass eine vertragsärztliche Behandlung nicht von der<br />

vorherigen Unterzeichnung einer datenschutzrechtlichen Einwilligungserklärung abhängig gemacht werden dürfe.<br />

Eine entsprechende Beeinflussung der Patienten in der Notfallaufnahme der Klägerin sei aber nicht ersichtlich;<br />

die diesbezüglichen Bedenken der Beklagten seien unberechtigt.<br />

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 2, 75 Abs 1 SGB V durch das Berufungsgericht. Das<br />

LSG verkenne, dass eine Beteiligung privater Abrechnungsstellen an der Erstellung vertragsärztlicher<br />

Abrechnungen gesetzlich nicht vorgesehen sei. Insoweit werde in § 4 Nr. 1 Abs 2 HVV ein die vertragsärztliche<br />

Vergütung betreffender Sachverhalt geregelt, der durch den Sicherstellungsauftrag der KVen und die<br />

Vertragsabschlusskompetenz zwischen der Beklagten und den Landesverbänden der Krankenkassen aus § 85<br />

Abs 4 Satz 2 SGB V gedeckt sei. Ferner folge aus dem Sachleistungsprinzip, dass sowohl die Weitergabe von<br />

Patientendaten an Dritte als auch die Einholung einer Einverständniserklärung hierzu einer gesetzlichen<br />

Grundlage bedürfe, die im SGB V jedoch fehle. Im Übrigen könne sich das von den Notfallpatienten der Klägerin<br />

abgegebene Einverständnis zur Weitergabe ihrer nach § 35 SGB I geschützten Sozialdaten nur auf die in dieser<br />

Norm ausdrücklich aufgeführten Leistungsträger beziehen. Zu diesen Leistungsträgern zähle die Beigeladene als<br />

eine private Abrechnungsstelle nicht. Vor diesem Hintergrund könne dahingestellt bleiben, ob die abgegebenen<br />

Einverständniserklärungen den gesetzlichen Anforderungen aus § 67b Abs 2 SGB X genügten.<br />

Die Beklagte beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13.6.2007 und des<br />

Sozialgerichts Düsseldorf vom 30.8.2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Klägerin und die<br />

Beigeladene zu 1. beantragen, die Revision zurückzuweisen.<br />

Die Klägerin hält das Berufungsurteil für zutreffend. Die Regelung in § 4 Nr. 1 Abs 2 HVV sei darauf ausgerichtet,<br />

die Einschaltung privater Abrechnungsstellen bei der Erstellung vertragsärztlicher Abrechnungen zu unterbinden.<br />

Zu Abrechnungsfragen weise die Regelung aber keinen Bezug auf und dürfe daher nicht in einem<br />

Honorarverteilungsvertrag normiert werden.<br />

Die Beigeladene zu 1. macht geltend, dass durch diese Regelung ohne rechtfertigenden Grund in die Freiheit der<br />

Berufsausübung gemäß Art 12 Abs 1 GG eingegriffen werde. Die Klägerin werde gezwungen, entsprechend<br />

sachkundiges Personal zur Abrechnung von Notfallbehandlungen anzustellen. Dies greife in deren<br />

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unternehmerische Freiheit ein, über die Personal- und Organisationsstruktur im Unternehmen selbst zu<br />

entscheiden. Die übrigen Beteiligten äußern sich im Revisionsverfahren nicht.<br />

Entscheidungsgründe<br />

Die Revision der Beklagten ist begründet. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen ist die Beklagte<br />

grundsätzlich nicht verpflichtet, Abrechnungen über erbrachte ambulante Notfallbehandlungen auch dann<br />

entgegenzunehmen und inhaltlich zu bescheiden, wenn die Rechnungslegung durch eine externe<br />

Abrechnungsstelle - sei es in Form privatärztlicher oder gewerblicher Abrechnungsstellen - erfolgt ist. Vielmehr ist<br />

sie berechtigt, solche Abrechnungen zurückzuweisen. Die von den Vorinstanzen zu Recht für zulässig erachtete<br />

Feststellungsklage (§ 55 Abs 1 Nr. 1 SGG) ist mithin abzuweisen.<br />

Die Beklagte ist gemäß § 106a Abs 1 iVm Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB V - zum 1.1.2004 eingefügt durch Art 1<br />

Nr. 83 des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14.11.2003 (BGBl I, 2190) -<br />

gesetzlich berechtigt und verpflichtet, die Rechtmäßigkeit der Abrechnungen in der vertragsärztlichen Versorgung<br />

zu prüfen sowie die sachliche und rechnerische Richtigkeit der Abrechnungen der Vertragsärzte festzustellen.<br />

Dies gilt auch für die Abrechnung von Notfallbehandlungen, die durch nicht an der vertragsärztlichen Versorgung<br />

teilnehmende Krankenhäuser erbracht werden. Wie der Senat in ständiger Rechtsprechung (vgl ua SozR 32500 § 120 Nr. 7 S 37;<br />

SozR 42500 § 75 Nr. 2 RdNr 5 f) entschieden hat, werden die in Notfällen von Nichtvertragsärzten und Krankenhäusern<br />

erbrachten Notfallleistungen im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung durchgeführt und sind aus der<br />

Gesamtvergütung zu honorieren. Die Rechtsgrundlage des Vergütungsanspruchs für Nichtvertragsärzte und<br />

Krankenhäuser ergibt sich demnach dem Grunde und der Höhe nach aus den Vorschriften des Vertragsarztrechts<br />

über die Honorierung vertragsärztlicher Leistungen. Aus der Zuordnung dieser Notfallleistungen zur<br />

vertragsärztlichen Versorgung folgt nach der Rechtsprechung des Senats (aaO; zuletzt Urteile vom 17.9.2008, B 6 KA 46/07 R - zur<br />

Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen - und B 6 KA 47/07 R, jeweils RdNr 18) , dass sich die Honorierung dieser Behandlungen nach den<br />

Grundsätzen richtet, die für die Leistungen der Vertragsärzte und der zur Teilnahme an der vertragsärztlichen<br />

Versorgung ermächtigten Personen und Institutionen gelten. Diese Gleichstellung der in Notfällen tätigen<br />

Krankenhäuser mit Vertragsärzten bewirkt nicht allein die Anwendung der für Vertragsärzte geltenden<br />

Honorarregelungen im engeren Sinne. Vielmehr gelten auch die übrigen für die Erbringung und Abrechnung von<br />

Leistungen maßgeblichen Bestimmungen des Vertragsarztrechts - einschließlich derjenigen über die Berichtigung<br />

von vertragsärztlichen Abrechnungen - entsprechend.<br />

Gegenstand des Berichtigungsverfahrens ist es, die Abrechnung des Vertragsarztes oder des Krankenhauses auf<br />

ihre Übereinstimmung mit den gesetzlichen, vertraglichen oder satzungsrechtlichen Vorschriften des<br />

Vertragsarztrechts - mit Ausnahme des Wirtschaftlichkeitsgebots - zu überprüfen (vgl § 3 Abs 1 und 2 iVm § 4 der Richtlinien der<br />

Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Spitzenverbände der Krankenkassen zum Inhalt und zur Durchführung der Abrechnungsprüfungen der KVen und der Krankenkassen , DÄ 2004, A2555<br />

bzw. A3135). Während bislang das Richtigstellungsverfahren von Amts wegen oder auf Antrag einer Krankenkasse<br />

durchgeführt werden konnte (vgl BSGE 89, 90, 93 f = SozR 32500 § 82 Nr. 3 S 6 und stRspr, zB BSG SozR 45520 § 32 Nr. 2 RdNr 10 und BSG SozR 45533 Nr. 40 Nr. 2 RdNr 11;<br />

zuletzt BSG, Urteil vom 7.2.2007 - B 6 KA 32/05 R , RdNr 11 = USK 200714) , ist die Beklagte nach dem seit dem 1.1.2004 geltenden Recht -<br />

unabhängig von einer weiterhin möglichen Antragstellung - zu einem Tätigwerden von Amts wegen verpflichtet.<br />

Bei Fehlern hinsichtlich der sachlich-rechnerischen Richtigkeit berichtigt sie die Honoraranforderung. Dies kann<br />

auch im Wege nachgehender Richtigstellung erfolgen (s die vorstehenden Nachweise). Zu den Vorschriften des<br />

Vertragsarztrechts, die Gegenstand einer Prüfung nach § 106a SGB V sind, gehören auch die<br />

bereichsspezifischen Vorschriften zur Datenerhebung, -verarbeitung und nutzung im Rahmen der<br />

vertragsärztlichen Abrechnung. Denn diese Datenverarbeitungsvorschriften definieren ebenfalls Anforderungen<br />

an eine "formal richtige Abrechnung der erbrachten Leistungen" (§ 3 Abs 1 Satz 2 AbrPrRL) bzw. an die "rechtliche<br />

Ordnungsmäßigkeit der Leistungsabrechnung" (§ 6 Abs 1 Satz 1 AbrPrRL) .<br />

Die KVen sind auf der Grundlage von § 106a Abs 2 Satz 1 SGB V berechtigt, Abrechnungen von Leistungen in<br />

der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung, die unter Weitergabe der hierfür erforderlichen Behandlungs- und<br />

Patientendaten an eine externe Abrechnungsstelle angefertigt wurden, als in ihrer Gesamtheit nicht<br />

ordnungsgemäß zu behandeln und von einer Berücksichtigung bei der Honorarverteilung auszuschließen. Solche<br />

Abrechnungen sind "rechtlich nicht ordnungsgemäß" bzw. "formal unrichtig" im Sinne der Vorschriften zur<br />

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Abrechnungsprüfung. Denn für eine Übermittlung von Patientendaten an externe Abrechnungsstellen fehlt - von<br />

wenigen, hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen - bislang die hierfür erforderliche gesetzliche<br />

Grundlage. Eine solche bereichsspezifische Rechtsgrundlage für die Datenweitergabe ist auch nicht entbehrlich,<br />

wenn die betroffenen Patienten formal in die Datenweitergabe eingewilligt haben.<br />

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist das Grundrecht auf informationelle<br />

Selbstbestimmung nicht schrankenlos gewährleistet. Vielmehr muss der Einzelne solche Beschränkungen seines<br />

Rechts hinnehmen, die durch überwiegende Allgemeininteressen gerechtfertigt sind; diese Beschränkungen<br />

bedürfen jedoch einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage (stRspr des BVerfG, vgl BVerfGE 65, 1, 43 f; BVerfGE 115, 320, 345; BVerfG SozR<br />

41300 § 25 Nr. 1 RdNr 20; zuletzt BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 25.2.2008, 1 BvR 3255/07- juris RdNr 21 = NJW 2008, 1435 f; s auch BSGE 59, 172, 181 = SozR 2200 § 368 Nr. 9 S 39) .<br />

Ebenso ist anerkannt, dass die zwangsweise Erhebung von personenbezogenen Daten, wie sie insbesondere in<br />

der gesetzlichen Krankenversicherungen durchgeführt wird, nicht unbeschränkt statthaft ist (vgl BVerfGE 65, 1, 45) . Gerade<br />

in der gesetzlichen Krankenversicherung wird der Zwang der Versicherten, ihre Gesundheitsdaten offenlegen zu<br />

müssen, noch dadurch verstärkt, dass sie dem System der gesetzlichen Krankenversicherung in der Regel<br />

aufgrund des Bestehens von Versicherungspflicht - begrifflich also aufgrund einer Zwangsversicherung, die bei<br />

Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen unabhängig vom Willen des Versicherten eintritt (vgl Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V,<br />

Stand: 03.2003, K § 5 RdNr 58) - angehören (siehe hierzu ua BVerfGE 115, 25, 42 ff = SozR 4- 2500 § 27 Nr. 5; BSGE 98, 129 = SozR 42400 § 35a Nr. 1, jeweils RdNr 44). Im Übrigen<br />

ist schon angesichts der Gefahren der modernen Datenverarbeitung ein Schutz gegen Zweckentfremdung durch<br />

Weitergabe- und Verwertungsverbote erforderlich (BVerfGE 65, 1, 46).<br />

Diesen Vorgaben entsprechend sind die bereichsspezifischen datenschutzrechtlichen Regelungen im<br />

Sozialgesetzbuch - im SGB X wie im SGB V - im Ergebnis als "Verbotsnorm mit Erlaubnisvorbehalt" ausgestaltet<br />

worden (Bieresborn in von Wulffen, SGB X, 6. Aufl 2008, § 67b RdNr 3; Rombach in Hauck/Noftz, SGB X, Stand: 03.2002, K § 67a RdNr 3 und K § 67d RdNr 25 f; Eul in Schulin, Handbuch des<br />

Sozialversicherungsrechts, Band 1, Krankenversicherungsrecht, 1994, § 48 RdNr 6; kritisch in Bezug auf die Terminologie Simitis, Kommentar zum BDSG, 5. Aufl 2003, § 4 RdNr 3) . Die<br />

Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der bereichsspezifischen Normen belegt, dass der Gesetzgeber dem<br />

Sozialdatenschutz gerade in der gesetzlichen Krankenversicherung hohe Bedeutung beimisst. Der Gesetzgeber<br />

sah sich verpflichtet, die erforderlichen Grundlagen für die Verarbeitung personenbezogener Daten im<br />

Zusammenhang mit Leistungsabrechnungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu schaffen<br />

(vgl BSGE 95, 199 = SozR 42500 § 106 Nr. 11, jeweils RdNr 27) ; mit den in den §§ 284 ff SGB V normierten Regelungen sollte dem Recht der<br />

Versicherten auf informationelle Selbstbestimmung im Rahmen der krankenversicherungsrechtlichen<br />

Datenverwendung und verarbeitung Rechnung getragen werden (BSG SozR 32500 § 295 Nr. 1 S 7). Im Bericht des Ausschusses<br />

für Arbeit und Sozialordnung zum GesundheitsReformgesetz (GRG) wird betont, die datenschutzrechtlichen<br />

Überlegungen müssten davon ausgehen, dass nicht nur ein besonders großer Kreis von Menschen betroffen sein<br />

werde, sondern dass darüber hinaus die Verarbeitung personenbezogener Gesundheitsdaten, die zu einem guten<br />

Teil der ärztlichen Schweigepflicht unterlägen, von besonderer Sensibilität sei; es sei geboten, die Grundlagen für<br />

die Erfassung, Verwendung, Übermittlung und Löschung von personenbezogenen Daten gesetzlich zu regeln<br />

(BTDrucks 11/3480, S 29 - zu "Transparenz") . Die Erfassung, Verwendung, und Übermittlung von Leistungs- und Gesundheitsdaten<br />

werde ausschließlich für die im Gesetz bezeichneten Zwecke zugelassen und im Umfang auf das für den<br />

jeweiligen Zweck unerlässliche Minimum beschränkt (BTDrucks aaO , S 67 zu §§ 292 bis 312 SGB V; s auch BSGE 95, 199 = SozR 42500 § 106 Nr. 11 RdNr 27).<br />

Auch in den Begründungen zu den Einzelvorschriften wird wiederholt auf die datenschutzrechtliche Notwendigkeit<br />

bzw. Unverzichtbarkeit einer Regelung hingewiesen (vgl BTDrucks aaO, ua S 68 zu 292 Abs 2, S 69, 70 zu § 304 und zu § 305 und S 70 zu § 306 SGB V) .<br />

Die nachfolgenden Gesetzesänderungen und die hierzu gegebenen Begründungen lassen ebenfalls den hohen<br />

Stellenwert datenschutzrechtlicher Belange erkennen (vgl auch BSG SozR 32500 § 295 Nr. 1 S 7). So wurde anlässlich der Änderung<br />

des § 301 SGB V durch das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) betont, dass die von den Krankenhäusern an die<br />

Krankenkassen zu übermittelnden Daten aus datenschutzrechtlichen Gründen enumerativ aufgeführt würden<br />

(Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP, BTDrucks 12/3608, S 124 - zu § 301 Abs 1 SGB V) und dass in § 301 Abs 5 Satz 1 SGB V die<br />

datenschutzrechtlich notwendige Klarstellung getroffen würde, dass der ermächtigte Krankenhausarzt befugt sei,<br />

die für die Abrechnung der von ihm erbrachten ambulanten Leistungen erforderlichen Unterlagen seinem<br />

Krankenhausträger zur Verfügung zu stellen (aaO, S 125 - zu § 301 Abs 5 SGB V). In der Gesetzesbegründung zum<br />

GKVGesundheitsreformgesetz 2000 - GKVGRG 2000 - (BTDrucks 14/1245 S 101 - zu § 284 SGB V) wurde ausgeführt, die<br />

Zulässigkeit der Verwendung von Patientendaten werde in den §§ 284 ff SGB V sehr differenziert geregelt. Ein<br />

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abschließender Katalog umfasse die Zwecke bzw. die Aufgaben, für die die Krankenkassen Daten über ihre<br />

Versicherten und die Leistungserbringer in der GKV erheben, verarbeiten und nutzen dürften, sowie zu welchen<br />

Zwecken die Daten zusammengeführt werden dürften. Bezüglich der Änderung des - die Einschaltung von<br />

Rechenzentren durch Apotheken ermächtigenden - § 300 SGB V wurde klargestellt, dass die Einbindung von<br />

Rechenzentren auf die im Sozialgesetzbuch geregelten Zwecke zu begrenzen sei und dem informationellen<br />

Selbstbestimmungsrecht der Versicherten und Leistungserbringer Rechnung zu tragen habe; die Vorschrift<br />

schließe es damit aus, dass die Rechenzentren die bei ihnen auflaufenden Daten auch anderweitig verarbeiten,<br />

nutzen und wirtschaftlichen Vorteil daraus ziehen könnten (aaO, S 105 - zu § 300 SGB V) .<br />

Auch das Bundessozialgericht (BSG) hat in seiner Rechtsprechung wiederholt die Bedeutung der ärztlichen<br />

Schweigepflicht wie auch des Sozialdatenschutzes, insbesondere in Bezug auf sensible Gesundheitsdaten,<br />

hervorgehoben. In den entschiedenen Fällen ging es um die - aus Sicht des Leistungserbringers - umgekehrte<br />

Fallkonstellation, nämlich um die Frage, ob eine Offenbarung von Patientendaten gegenüber den Institutionen des<br />

Vertragsarztrechts unter Berufung auf die ärztliche Schweigepflicht verweigert werden darf. So wurde erst durch<br />

die Entscheidung des BSG vom 22.6.1983 (BSGE 55, 150 = SozR 2200 § 368 Nr. 8) geklärt, dass eine Offenbarung von<br />

Patientengeheimnissen durch Leistungserbringer (dort zur Durchführung des Gutachterverfahrens nach dem BundesmantelvertragZahnärzte) zulässig ist,<br />

wenn dies zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der vertragsärztlichen Versorgung erforderlich ist und eine<br />

gesetzliche Offenbarungspflicht besteht. In seiner grundlegenden Entscheidung vom 19.11.1985 (BSGE 59, 172 = SozR 2200 §<br />

368 Nr. 9 - zur Herausgabe von Röntgenaufnahmen zum Zweck der Qualitätsprüfung - bestätigt durch BVerfG SozR 2200 § 368 Nr. 10) hat das BSG klargestellt, dass der<br />

gesetzlichen Regelung über die vertragsärztliche Versorgung der Versicherten die Befugnis zugrunde liegt,<br />

Patientendaten innerhalb des vertragsärztlichen Versorgungssystems insoweit zu offenbaren, als ärztliche<br />

Behandlung in Anspruch genommen wird und die an der Leistungserbringung Beteiligten für ihren<br />

Leistungsbeitrag auf die Information angewiesen sind (zuletzt BSG, Urteil vom 17.2.2004, SozR 41200 § 66 Nr. 1 RdNr 19). Es hat zugleich aber<br />

darauf hingewiesen, dass die daraus herzuleitende Offenbarungsbefugnis des Arztes beschränkt sei, und betont,<br />

dass das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt eine wesentliche Bedingung für eine<br />

erfolgreiche Behandlungsei (BSGE 59, 172, 179 = SozR 2200 § 368 Nr. 9 S 36). Dem Versicherten werde dementsprechend<br />

grundsätzlich das Recht eingeräumt, unter den an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzten frei zu<br />

wählen, also den Arzt auszusuchen, der sein Vertrauen genieße; dieses Vertrauensverhältnis wäre gestört, dürfte<br />

der Arzt alle Patientendaten offenbaren. Dem Vertragsarztrecht könne daher nur die Befugnis entnommen<br />

werden, Patientendaten innerhalb der Zuständigkeiten des vertragsärztlichen Versorgungssystems und auch in<br />

diesem engen Bereich lediglich insoweit mitzuteilen, als dies die Leistungserbringung erforderlich mache (BSG aaO).<br />

Schließlich ist die Sensibilität von Gesundheitsdaten auch in Urteilen anderer Gerichte betont worden. So hat der<br />

Bundesgerichtshof (BGH) in seinem Urteil vom 10.7.1991 (BGHZ 115, 123 = NJW 1991, 2955 - zur Nichtigkeit einer Forderungsabtretung an privatärztliche<br />

Verrechnungsstellen) hervorgehoben, dass die häufig über intimste Dinge Auskunft gebenden Abrechnungsunterlagen<br />

einen besonders wirksamen Schutz verdienten. Dieser sei grundsätzlich nur gewährleistet, wenn die<br />

Honorarabrechnung in einem von vornherein und sicher für den Patienten überschaubaren Bereich erfolge; dies<br />

sei aber in der Regel allein die Praxis des Arztes einschließlich der für die Abrechnung zuständigen Mitarbeiter.<br />

Auch der Bayerische Verfassungsgerichtshofs hat in seinem Urteil vom 6.4.1989 (NJW 1989, 2939) die besondere<br />

Schutzwürdigkeit von medizinischen Daten eines Krankenhauspatienten - gerade auch im Verhältnis zu den<br />

Interessen privater (Mikrofilm)Unternehmer - bekräftigt. Aus alledem wird deutlich, dass die Zulässigkeit einer<br />

Weitergabe von Sozialdaten an Dritte im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung von einer ausdrücklichen<br />

gesetzlichen Ermächtigung abhängt (s auch Lang, Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Patienten und die ärztliche Schweigepflicht in der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung; Frankfurter Studien zum Datenschutz, Veröffentlichungen der Forschungsstelle für Datenschutz an der JohannWolfgang GoetheUniversität, Frankfurt/Main, Band 9 S 93; Didong in<br />

jurisPKSGB V, § 294 RdNr 7) .<br />

Für eine Übermittlung von Patientendaten durch Leistungserbringer wie Krankenhäuser an externe<br />

Abrechnungsstellen fehlt - von wenigen Ausnahmen abgesehen - derzeit jedoch eine gesetzliche Grundlage. Die<br />

gesetzlichen Bestimmungen erscheinen insoweit allerdings als lückenhaft. So finden die datenschutzrechtlichen<br />

Bestimmungen des SGB I wie des SGB X nach zutreffender Ansicht (Didong in jurisPKSGB V, § 294 RdNr 7; Waschull in Krauskopf, Soziale<br />

Krankenversicherung - Pflegeversicherung, Stand 03.2008, § 294 SGB V RdNr 5; Kullmann, MedR 2001, S 343; Kamps/Kiesecker, MedR 1997, S 216; Mrozynski, NZS 1996, 545, 551; Lang, aaO S 66; im<br />

Sinne einer engen Auslegung auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 30.11.2005, L 10 KA 29/05 = GesR 2006, 456 = MedR 2006, 616 = Breith 2006, 904; offengelassen von BSGE 59, 8 172, 179 = SozR<br />

2200 § 368 Nr. 9 S 37) auf Leistungserbringer keine Anwendung, da sie allein den Schutz der Sozialdaten im<br />

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Verwaltungsverfahren der Sozialleistungsträger regeln (Seewald in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand 1.10.2008, § 35 SGB I RdNr 4) . §<br />

35 SGB I als Grundsatzbestimmung des sozialrechtlichen Datenschutzes (Seewald, aaO, RdNr 2) , welche bestimmt, dass<br />

jeder Anspruch darauf hat, dass die ihn betreffenden Sozialdaten im Sinne des § 67 Abs 1 SGB X nicht unbefugt<br />

erhoben, verarbeitet oder genutzt werden (Sozialgeheimnis), gilt allein für Sozialleistungsträger und die weiteren in § 35<br />

Abs 1 Satz 4 SGB I aufgeführten Stellen; die Aufzählung ist enumerativ und nicht analogiefähig (Paulus in jurisPK SGB I, § 35<br />

RdNr 21; ebenso Seewald, aaO, RdNr 15) . Nichts anderes gilt für die dieses Sozialgeheimnis konkretisierenden Normen in §§ 67 bis<br />

85 SGB X. Aber auch das SGB V enthält in den §§ 284 ff (nahezu) ausschließlich Bestimmungen, die sich mit<br />

datenschutzrechtlichen Anforderungen an die Erhebung, Speicherung, Verarbeitung und Nutzung von Daten<br />

durch Krankenkassen und KVen befassen, hingegen (nahezu) keine Regelungen, welche die Weitergabe von<br />

Patientendaten durch Leistungserbringer zum Gegenstand haben.<br />

Der Umstand, dass die Datenweitergabe durch Leistungserbringer nur punktuell gesetzlich normiert ist, zwingt zu<br />

dem Schluss, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, dass sensible personenbezogene Daten<br />

ausschließlich zwischen den Leistungserbringern und den in § 35 SGB I näher bezeichneten Institutionen - also<br />

innerhalb der vom Gesetz vorgegebenen Bahnen - ausgetauscht werden. Dies bestätigt zudem die Annahme,<br />

dass der Gesetzgeber insbesondere die mögliche Einschaltung externer Abrechnungsstellen durch<br />

Leistungserbringer - über die ausdrücklich im Gesetz geregelten Fälle hinaus - weder beabsichtigt noch in<br />

Betracht gezogen hat. Den Leistungserbringern, die kraft Gesetzes und durch Verträge in die Erbringung der<br />

gemäß § 2 Abs 2 Satz 1 SGB V den Leistungsträgern - dh den Krankenkassen - obliegenden Sach- und<br />

Dienstleistungen eingeschaltet sind, werden durch das für sie maßgebliche Recht ausdrücklich oder inzident<br />

bestimmte Abrechnungswege vorgegeben. So hat etwa der Vertragszahnarzt gemäß § 29 Abs 3 Satz 1 SGB V<br />

die kieferorthopädische Behandlung mit der Kassenzahnärztlichen Vereinigung abzurechnen; eine entsprechende<br />

Regelung gilt gemäß der Vorgabe des § 87 Abs 1a Satz 7 SGB V iVm der entsprechenden<br />

bundesmantelvertraglichen Bestimmung für die Abrechnung der Festzuschüsse beim Zahnersatz. Zwar fehlen<br />

ausdrückliche gesetzliche Regelungen der Art, dass ein Vertragsarzt - entsprechend ein Krankenhausträger bei<br />

Notfallbehandlungen - seine Leistungen mit der KÄV abzurechnen hat; eine solche findet sich lediglich für den<br />

Sonderfall der Abrechnung der den ermächtigten Krankenhausärzten für ihre ambulante Tätigkeit zustehenden<br />

Vergütung (§ 120 Abs 1 Satz 3 SGB V) . Jedoch setzt das Gesetz an zahlreichen Stellen eine Abrechnung zwischen<br />

Vertragsarzt und KÄV als selbstverständlich voraus, etwa bei der Honorarverteilung (§ 85 Abs 4 SGB V) , der Zuweisung<br />

von Regelleistungsvolumina (§ 87b Abs 5 Satz 3 SGB V) , der Abrechnungsprüfung (§ 106a SGB V) oder bei den<br />

Datenübermittlungspflichten der KVen (etwa § 295 Abs 2 SGB V) .<br />

Von den gesetzlich normierten oder als selbstverständlich vorausgesetzten Abrechnungswegen darf nur dann<br />

abgewichen werden, wenn dies - wie etwa in § 17 Abs 3 Satz 2 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) - ausdrücklich<br />

gesetzlich bestimmt ist. Danach kann ein zur Berechnung wahlärztlicher Leistungen berechtigter Arzt des<br />

Krankenhauses eine Abrechnungsstelle mit der Abrechnung der Vergütung für die wahlärztlichen Leistungen<br />

beauftragen (oder die Abrechnung dem Krankenhausträger überlassen); Zweck dieser aus der Pflegesatzverordnung übernommenen<br />

Vorschrift (BTDrucks 14/6893 S 46 - zu § 17 KHEntgG) ist es, dem liquidationsberechtigten Krankenhausarzt die Wahl des<br />

Abrechnungsverfahrens zu überlassen (Fraktionsentwurf zum GSG, BTDrucks 12/3608 S 47, 141 zu § 7 Abs 3 Satz 2 Bundespflegesatzverordnung in der ab 1.1.1993<br />

geltenden Fassung, dem § 22 Abs 3 BPflV in der vom 1.1.1995 bis 31.12.2004 geltenden Fassung entsprach) .<br />

Diese vorgegebenen Abrechnungswege verlaufen nahezu ausschließlich von den Leistungserbringern zu den<br />

Krankenkassen und/oder zu den KVen sowie zwischen Krankenkassen und KVen. Entsprechend normiert das<br />

Gesetz insbesondere in den für die Krankenkassen bzw. die KVen maßgeblichen §§ 284, 285 SGB V strenge<br />

Anforderungen an die Erfassung, Nutzung und Übermittlung der Daten. Namentlich § 285 SGB V enthält<br />

detaillierte Regelungen, welche die Übermittlung von Sozialdaten sogar innerhalb der KVen nur unter engen<br />

Voraussetzungen zulassen. Solange die Abrechnung innerhalb dieser Bahnen verläuft, bedarf es keiner die<br />

Leistungserbringer betreffenden ergänzenden Regelungen zum Datenschutz, da die Berücksichtigung<br />

datenschutzrechtlicher Belange durch entsprechende Regelungen beim Datenempfänger gewährleistet ist.<br />

Dass eine Datenübermittlung zwischen Leistungserbringern und anderen Stellen als Krankenkassen oder KVen<br />

ebenso wie die Zwischenschaltung Dritter in den Abrechnungsweg eine seltene Ausnahme darstellt, zeigen auch<br />

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die wenigen gesetzlich normierten Fälle, in denen dies zugelassen wird. Die für Apotheken (§ 300 Abs 2 SGB V) und für<br />

"sonstige Leistungserbringer" (§ 302 Abs 2 Satz 2 ff SGB V) sowie für Hebammen und Entbindungspfleger (§ 301a Abs 2 iVm § 302 Abs 2 SGB<br />

V) geltenden Sonderregelungen, welche die genannten Leistungserbringer ermächtigen, zur Erfüllung ihrer<br />

Verpflichtungen (externe) Rechenzentren unter Beachtung weitreichender datenschutzrechtlicher Vorgaben und nach<br />

Information der Aufsichtsbehörde zu beauftragen (vgl § 80 SGB X) , können nicht als Beleg für die grundsätzliche<br />

Zulässigkeit der Einschaltung externer Abrechnungsstellen herangezogen werden (vgl auch OLG Hamm, Urteil vom 17.11.2006, 19 U 81/06<br />

= BB 2007, 2763, das § 302 SGB V als "Ausnahmenorm" bezeichnet; aA wohl Siegmann/Binder, BB 2007, S 2765, 2766, die das Fehlen einer § 302 SGB V vergleichbaren Regelung für Pflegeleistungen als<br />

planwidrige Regelungslücke ansehen) . Sie stützen vielmehr die gegenteilige Annahme. Der mit dem GRG in das SGB V<br />

eingefügte § 300 Abs 2 SGB V soll es den Apotheken ermöglichen, mit den Krankenkassen über Rechenzentren<br />

abzurechnen (Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zum GRG, BTDrucks 11/2237 S 238 zu § 308).<br />

Mit dieser Regelung wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass die Apotheken zeitgleich durch § 300 Abs 1<br />

SGB V in der ab 1.1.1989 geltenden Fassung verpflichtet wurden, die bundeseinheitlich zu verwendenden<br />

Kennzeichen für Fertigarzneimittel maschinenlesbar auf das Verordnungsblatt zu übertragen, seinerzeit aber nicht<br />

alle Apotheken über die hierzu erforderliche technische Ausstattung verfügten (s Eul in Schulin, aaO, § 48 RdNr 152) . Im Übrigen<br />

kodifiziert die Vorschrift eine seit Jahrzehnten bestehende Praxis der Abrechnung über ApothekenRechenzentren<br />

(vgl etwa das 1954 als Abrechnungsstelle Bremer Apotheker gegründete Norddeutsche Apotheken- Rechenzentrum e.V. , www.narzavn.de/v07/ueberuns_historie.php). 10<br />

Vergleichbares gilt für die mit dem GKVGRG 2000 erfolgte Erstreckung der Regelung durch § 302 Abs 2 Satz 2<br />

SGB V auf sonstige Leistungserbringer (vgl Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum GKVGRG 2000, BTDrucks 14/1245 S 106 - zu § 302 SGB<br />

V) .<br />

Die Annahme, dass die Einschaltung Dritter in den Datenfluss durch die Leistungserbringer weder gesetzlich<br />

vorgesehen noch generell gewollt ist, bestätigt zudem ein Vergleich der für Krankenkassen und KVen geltenden<br />

Vorschriften über die Datenverwendung und Informationsgrundlagen (§§ 284 ff SGB V) mit den für Leistungserbringer<br />

geltenden Bestimmungen (§§ 294 ff SGB V) . In den §§ 284 bis 293 SGB V werden die Informationsgrundlagen,<br />

insbesondere die Datenerhebungsbefugnisse der Krankenkassen und KVen geregelt und spiegelbildlich dazu in<br />

den §§ 294 bis 303 SGB V die entsprechenden Pflichten der Leistungserbringer zur Datenübermittlung (BSGE 90, 1, 5 f =<br />

SozR 32500 § 112 Nr. 3 S 24) . Hierbei fällt auf, dass die §§ 284 ff SGB V umfangreiche Regelungen zum Datenschutz,<br />

insbesondere in Form von Nutzungsbeschränkungen, enthalten, während die für Leistungserbringer<br />

maßgeblichen Bestimmungen sich (weitgehend) darauf beschränken, diese zur Datenweitergabe zu verpflichten und zu<br />

berechtigen (vgl auch Mrozynski, NZS 1996, 545, 546) . So schafft etwa § 295 SGB V lediglich die datenschutzrechtliche Grundlage<br />

für die Aufzeichnung und Übermittlung von Sozialdaten durch die Vertragsärzte (Didong in jurisPKSGB V, § 295 RdNr 6) , ohne dies<br />

mit besonderen datenschutzrechtlichen Vorgaben zu verbinden . Auch die für Krankenhäuser maßgebliche<br />

Vorschrift des § 301 SGB V beschränkt sich hierauf. Diese unterschiedliche Regelungsdichte ist nur dann<br />

nachvollziehbar, wenn davon ausgegangen wird, dass die Krankenkassen bzw. die KVen die allein in Betracht<br />

kommenden Empfänger und Nutzer der von den Leistungserbringern zu übermittelnden Sozialdaten sind. Würde<br />

eine Datenübermittlung an Dritte, namentlich an externe Abrechnungsstellen, als zulässig erachtet, bedürfte es<br />

auch insoweit detaillierter datenschutzrechtlicher Regelungen, die den für die Krankenkassen und KVen<br />

geltenden (mindestens) entsprächen; auch hieran fehlt es jedoch. Eine Intention des Gesetzgebers, an private Dritte<br />

geringere datenschutzrechtliche Anforderungen zu stellen als an Körperschaften des öffentlichen Rechts wie<br />

Krankenkassen und KVen (§ 4 Abs 1, § 77 Abs 5 SGB V) , die als Teil der mittelbaren Staatsverwaltung immerhin staatlicher<br />

Aufsicht unterworfen sind, ist weder erkennbar noch wäre dies nachvollziehbar. Im Gegenteil belegen die<br />

gesetzlich normierten Ausnahmefälle, dass der Gesetzgeber dann, wenn er ausnahmsweise die Einschaltung<br />

Dritter in den Datenfluss zulässt, auch diese adäquaten datenschutzrechtlichen Beschränkungen unterwirft. Die in<br />

den § 300 Abs 2 Satz 2 und 3, § 302 Abs 2 Satz 3 und 4 SGB V gesetzlich normierten, durch das GKVGRG 2000<br />

eingefügten datenschutzrechtlichen Anforderungen dienen der Klarstellung, dass die Einbindung von<br />

Rechenzentren auf die im Sozialgesetzbuch geregelten Zwecke zu begrenzen ist und dem informationellen<br />

Selbstbestimmungsrecht der Versicherten und Leistungserbringer Rechnung zu tragen hat (Gesetzentwurf zum GKVGRG 2000,<br />

BTDrucks 14/1245, S 105 - zu § 300 SGB V zu Buchst b) . Dass der Gesetzgeber die Übermittlung von Daten generell beschränken und bei<br />

nicht vermeidbarer Übermittlung zumindest strengen Anforderungen unterwerfen wollte, belegt auch § 73 Abs 1b<br />

SGB V. Die durch das GKVGRG 2000 eingefügte Bestimmung soll 11 insbesondere die Dokumentationsbefugnis<br />

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des Hausarztes erweitern; dieser ist berechtigt, relevante Patientendaten bei anderen Ärzten wie auch bei<br />

anderen seine Patienten behandelnden Leistungserbringern zu erheben und diese Daten anderen<br />

Leistungserbringern zur Verfügung zu stellen (Gesetzentwurf zum GKVGRG 2000, BTDrucks 14/1245 S 69 - zu Buchst b) . Hierzu regelt die<br />

Vorschrift in den Sätzen 1 bis 3 detailliert den Datenfluss zwischen dem Hausarzt und den übrigen beteiligten<br />

Leistungserbringern sowie die Verarbeitung und Nutzung der Patientendaten durch den Hausarzt. Es ist kein<br />

Sachgrund dafür erkennbar, dass der Gesetzgeber in den gesetzlich zugelassenen Fällen einer Einbeziehung<br />

anderer Datenempfänger als Krankenkassen oder KVen, insbesondere bei einer Einschaltung von<br />

Rechenzentren, detaillierte datenschutzrechtliche Vorgaben für erforderlich hält, in allen übrigen nicht normierten<br />

Fällen jedoch eine Datenübermittlung an Dritte ohne Weiteres zulassen wollte. All dies verdeutlicht, dass der<br />

Gesetzgeber wegen der Sensibilität gesundheitsbezogener Daten deren Weitergabe an Personen und<br />

Institutionen, für die der strenge Sozialdatenschutz gemäß §§ 67 ff SGB X bzw. gemäß den bereichsspezifischen<br />

Vorschriften des SGB V nicht gilt, von einer ausdrücklichen gesetzlichen Gestattung abhängig macht. Der<br />

dargestellten gesetzlichen Konzeption einer auf das Unerlässliche beschränkten Weitergabe von<br />

Gesundheitsdaten kann auch nicht entgegengehalten werden, dass sowohl hinsichtlich einer gesetzlichen<br />

Befugnis zur Datenübermittlung als auch bezüglich der dabei zu beachtenden datenschutzrechtlichen<br />

Anforderungen auf die Regelungen des BDSG zurückgegriffen werden kann. Nach § 1 Abs 3 Satz 1 BDSG<br />

gehen, soweit andere Rechtsvorschriften des Bundes auf personenbezogene Daten einschließlich deren<br />

Veröffentlichung anzuwenden sind (sogenanntes bereichsspezifisches Datenschutzrecht), diese den Vorschriften des BDSG vor. Für den<br />

Umgang mit - vorliegend allein in Rede stehenden - Sozialdaten iS des § 67 Abs 1 Satz 1 SGB X findet das<br />

BDSG nur noch Anwendung, soweit die Vorschriften des Sozialgesetzbuchs ausdrücklich auf dieses Gesetz<br />

verweisen (vgl BSGE 90, 162, 169 f = SozR 32500 § 284 Nr. 1 S 8 f; Bieresborn in von Wulffen, SGB X, 6. Aufl 2008, Vor § 67 RdNr 18) . So bestimmt § 67b Abs 1 Satz 1<br />

SGB X ausdrücklich - wenn auch explizit nur für die in § 35 Abs 1 SGB I genannten Stellen , dass eine<br />

Verarbeitung von Sozialdaten und deren Nutzung nur zulässig sind, soweit die nachfolgenden Vorschriften oder<br />

eine andere Rechtsvorschrift in diesem Gesetzbuch es erlauben. Damit wird bestimmt, dass die Befugnis zur<br />

Datenverarbeitung ausschließlich im Sozialgesetzbuch geregelt wird (Rombach in Hauck/Noftz, SGB X, Stand: 08.2002, K § 67b RdNr 2) . Eine<br />

entsprechende Regelung trifft § 67d Abs 1 SGB X für die Übermittlung von Sozialdaten. Auch in der Begründung<br />

zum 2. SGBÄnderungsgesetz (BTDrucks 12/5187 S 36 f - zu § 67a Abs 2 Satz 2 Nr. 2 SGB X) wird klargestellt, dass das BDSG und die<br />

Landesdatenschutzgesetze nicht zu den Rechtsvorschriften iS des § 67a Abs 2 Satz 2 Nr. 2 SGB X gehören,<br />

welche eine Datenerhebung zulassen, da der Sozialdatenschutz allein den Regelungen des Sozialgesetzbuches<br />

unterliegt (s auch BSGE 90, 1, 5 = SozR 32500 § 112 Nr. 3 S 23; Rombach in Hauck/Noftz, SGB X, Stand: 08.2002, K § 67a RdNr 92) . Dass das BDSG im<br />

Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches keine Anwendung finden kann und soll, folgt auch daraus, dass der<br />

Gesetzgeber detaillierte bereichsspezifische Regelungen in das Sozialgesetzbuch aufgenommen hat. Er ist damit<br />

einer Forderung des BVerfG nachgekommen, welches ausgeführt hat, dass ein Zwang zur Abgabe<br />

personenbezogener Daten voraussetze, dass der Gesetzgeber den Verwendungszweck bereichsspezifisch<br />

bestimme (BVerfGE 65, 1, 46). Die bereichsspezifischen Regelungen 12 im SGB V sind zwar oftmals Bestimmungen des<br />

BDSG nachgebildet, nehmen aber nicht lediglich auf diese Bezug. Zudem steht schon die Bedeutung, die der<br />

Gesetzgeber dem Datenschutz im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung beimisst, der Annahme<br />

entgegen, dass dieser zwar die Datenverwendung durch Sozialleistungsträger detaillierten bereichspezifischen<br />

Beschränkungen unterwerfen wollte, hinsichtlich der übrigen Personen und Institutionen, die in die Verwendung<br />

und Übermittlung von Gesundheitsdaten eingeschaltet werden, jedoch von einer hilfsweisen Anwendung der<br />

unspezifischen Regelungen des BDSG ausgegangen werden muss (aA Mrozynski, Kommentar zum SGB I, 3. Aufl 2003, § 35 RdNr 3, der davon<br />

ausgeht, dass die Anwendung der Vorschriften des BDSG nur soweit ausgeschlossen ist, als die Regelungen der §§ 35 SGB I, 67 ff SGB X reichen) .Angesichts der als<br />

abschließend zu verstehenden bereichsspezifischen Regelungen ist eine entsprechende oder ergänzende<br />

Anwendung des BDSG im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches daher ausgeschlossen. Somit kommt<br />

insbesondere ein Rückgriff auf die nach den allgemeinen Regelungen des BDSG für eine Datenverarbeitung in<br />

privaten Unternehmen (§§ 4 Abs 1, 4a iVm § 28 Abs 6 BDSG) mögliche Einwilligung als Ermächtigungsgrundlage für eine<br />

Datenverarbeitung und Datenweitergabe nicht in Betracht. Zwar sieht auch § 67d iVm § 67b Abs 1 SGB X eine<br />

Einwilligung als Ermächtigungsgrundlage vor (vgl Bieresborn, aaO, § 67d RdNr 3), doch findet diese Regelung nur auf die in § 35<br />

Abs 1 SGB I genannten Stellen Anwendung. § 4 Abs 1 iVm § 4a BDSG bzw. § 67d iVm § 67b Abs 1 SGB X ("… oder<br />

der Betroffene eingewilligt hat") können auch nicht analog - im Sinne eines rechtlichen Grundsatzes der Art, dass unabhängig<br />

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von einer gesetzlichen Ermächtigung eine Datennutzung und übermittlung stets zulässig ist, sofern eine<br />

Einwilligung desjenigen vorliegt, um dessen geschützte Daten es geht - auf Leistungserbringer angewandt<br />

werden. Dem steht schon entgegen, dass es der Gesetzgeber an anderer Stelle für erforderlich gehalten hat, die<br />

Zulässigkeit einer auf eine Einwilligung gestützten Datenübermittlung durch Leistungserbringer ausdrücklich zu<br />

regeln. Dies gilt etwa für die bei der Abrechnung von Wahlleistungen im Krankenhaus mögliche Einschaltung<br />

einer externen Abrechnungsstelle (§ 17 Abs 3 Satz 6 KHEntgG) , für den Datenaustausch zwischen Hausarzt und anderen<br />

Leistungserbringern (§ 73 Abs 1b Satz 1 und 2 SGB V) , für die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von Daten bei Teilnahme<br />

an strukturierten Behandlungsprogrammen bei chronischen Krankheiten (§ 137f Abs 3 Satz 2 SGB V) sowie für die<br />

Abweichung von Vorschriften des SGB X zur Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten im<br />

Rahmen von Modellvorhaben (§ 63 Abs 3a Satz 2 SGB V) . Nach alledem kann hier dahingestellt bleiben, ob die von der<br />

Klägerin formularmäßig verwendeten Einwilligungserklärungen den Anforderungen des BDSG entsprechen und<br />

welche Folgerungen sich ergäben, wenn dies nicht der Fall wäre. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass<br />

schon die Einwilligung in die Erhebung, Nutzung und Verarbeitung "normaler" Daten voraussetzt, dass sie auf<br />

einer freien Entscheidung des Betroffenen beruht (vgl § 4a Abs 1 Satz 1 BDSG, § 67b Abs 2 Satz 2 SGB X). Der Betroffene muss<br />

tatsächlich die Möglichkeit haben, selbst darüber zu befinden, ob und unter welchen Bedingungen die sich auf<br />

seine Person beziehenden Angaben benutzt werden dürfen (Simitis, aaO, § 4a RdNr 2). Daran fehlt es jedoch, wenn sich der<br />

Betroffene in einer Situation befindet, die ihm keine Möglichkeit zu einer eigenen, selbstständigen Stellungnahme<br />

lässt, die Einwilligung also nur dazu dienen würde, einen scheinbar von ihm gebilligten Vorgang rechtlich<br />

abzusichern (Simitis, aaO, RdNr 21 mwN). 13 Insbesondere gilt dies in Fällen, in denen Leistungen auf dem Spiel stehen, die<br />

für den Betroffenen unentbehrlich sind (Simitis, aaO, RdNr 3, 4) . Dass Personen, die medizinischer Notfallbehandlung<br />

bedürfen, sich häufig in einer Situation befinden werden, in der sie in ihrer freien Willensbildung deutlich<br />

eingeschränkt sind, spricht ebenfalls dafür, eine Datennutzung kraft Einwilligung jedenfalls im Bereich der<br />

gesetzlichen Krankenversicherung nicht pauschal, sondern nur in ausdrücklich normierten Fällen zuzulassen.<br />

Patienten sind - insbesondere in Notfallsituationen - zumindest subjektiv oftmals nicht frei in ihrer Entscheidung<br />

für oder gegen die Einwilligung. Sie können den berechtigten Eindruck haben, im Interesse einer schnellen und<br />

guten (Notfall)Versorgung die ihnen von dem Leistungserbringer vorgelegte Erklärung unterschreiben zu sollen. Auch<br />

in unterversorgten ländlichen Gebieten oder bei der Inanspruchnahme besonders spezialisierter Fachärzte dürfte<br />

eine freie Entscheidungsmöglichkeit allenfalls theoretischer Natur sein. Vor einer solchen zumindest subjektiven<br />

Zwangslage sind die Patienten geschützt, solange keine gesetzliche Regelung existiert, welche die<br />

Datenweitergabe durch Leistungserbringer im Krankenversicherungsrecht grundsätzlich zulässt - und den<br />

Patienten damit zumutet, einem Wunsch des Leistungserbringers nach Einwilligung in eine Datenweitergabe ggf<br />

ausdrücklich zu widersprechen. Die dargestellten Grundsätze gelten - solange und soweit abweichende<br />

gesetzliche Regelungen nicht bestehen - für alle Personen und Institutionen, die Leistungen der ambulanten<br />

Krankenbehandlung erbringen. Auf den Teilnahmestatus im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung -<br />

Zulassung, Ermächtigung, Einbeziehung in die Notfallversorgung - kommt es insoweit nicht an. Die Grundsätze<br />

sind somit ebenfalls maßgeblich, wenn Ärzte oder Zahnärzte auf der Grundlage von § 95b Abs 3 SGB V im Notfall<br />

oder aufgrund sog "Systemversagens" weiterhin von Versicherten in Anspruch genommen werden können (vgl hierzu<br />

BSGE 98, 294 = SozR 42500 § 95b Nr. 1, jeweils RdNr 26 f). Dasselbe gilt, soweit der Sicherstellungsauftrag ausnahmsweise durch die<br />

Krankenkassen wahrzunehmen ist (§ 72a Abs 3 bis 6 SGB V). Welche Anforderungen bei der Weitergabe von Patientendaten<br />

im Rahmen der besonderen hausärztlichen Versorgung (§ 73b SGB V), einer besonderen ambulanten ärztlichen<br />

Versorgung (§ 73c SGB V) oder bei integrierten Versorgungsformen (§ 140a SGB V) zu beachten sind, bedarf hier keiner<br />

Entscheidung. Es liegt allerdings wegen des Fehlens spezifischer Datenschutzregelungen in diesen Vorschriften<br />

über besondere Versorgungsformen außerhalb des Sicherstellungsauftrags der KÄV nahe, dass insoweit<br />

dieselben Grundsätze maßgeblich sein sollen. Die mit den dargestellten Bindungen der Weitergabe von sensiblen<br />

Patientendaten verbundenen Einschränkungen der Organisation der Abrechnung bei den Leistungserbringern<br />

und den von ihnen eingeschalteten Dienstleistern sind diesen zumutbar. Soweit damit der Schutzbereich des Art<br />

12 Abs 1 GG berührt wird, handelt es sich um zulässige Berufsausübungsregelungen (vgl BVerfG NJW 1991, 2952, 2953 -<br />

zu einem landesrechtlichen Verbot der externen Verarbeitung medizinischer Patientendaten eines Krankenhauses) . Ungeachtet des grundsätzlichen Verbots der<br />

Weitergabe von Patientendaten an externe Abrechnungsstellen ist die Beklagte jedoch gehalten, durch die<br />

Beigeladene zu 1. 14 erstellte Abrechnungen der Klägerin für eine Übergangsfrist von sechs Monaten - dh bis<br />

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Mitte 2009 - weiterhin entgegenzunehmen und zu bescheiden. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist im Falle<br />

der Unvereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz in bestimmten Fällen ausnahmsweise ihre weitere<br />

Anwendung für eine Übergangszeit zulässig (stRspr, vgl etwa BVerfGE 84, 239, 284; 92, 53, 73; 117, 1, 70; zuletzt BVerfG, Beschluss vom 13.2.2008, 2 BvL 1/06 = NJW<br />

2008, 1868, 1875) . Dies kann insbesondere aus Gründen der Rechtssicherheit (vgl BVerfGE 92, 53, 73 = SozR 32200 § 385 Nr. 6 S 23) sowie<br />

dann geboten sein, wenn die (Verfassungs) Rechtslage bis zur Entscheidung des Gerichts noch nicht geklärt war (vgl<br />

BVerfGE 84, 239, 284; BVerfG, Beschluss vom 13.2.2008, aaO). Diese Grundsätze sind hier entsprechend anzuwenden. Die Notwendigkeit,<br />

den Beteiligten eine Reaktionszeit einzuräumen, folgt in der hier zu beurteilenden Konstellation daraus, dass die<br />

Einschaltung privater Abrechnungsstellen zur Erstellung vertragsärztlicher Abrechnungen in der Vergangenheit<br />

immer wieder praktiziert worden ist, ohne dass KVen oder Aufsichtsbehörden das beanstandet hätten; die<br />

Zulässigkeit dieser Vorgehensweise war bislang nicht abschließend geklärt. Dem steht nicht entgegen, dass die<br />

Klägerin bereits mit Schreiben der Beklagten vom 10.12.2004 und bekräftigt durch die zum 1.1.2006 in Kraft<br />

getretene Regelung in § 4 Nr. 1 ihres HVV in zutreffender Weise auf die Rechtslage hingewiesen worden ist. Im<br />

Hinblick auf die von der Klägerin erwirkten Entscheidungen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (Beschlüsse<br />

des SG Düsseldorf vom 22.4.2005 bzw. des LSG Nordrhein-Westfalen vom 13.9.2005), mit denen ihr eine Weiterführung der bisherigen Praxis bis "zur<br />

endgültigen Klärung durch ein entsprechendes Hauptsacheverfahren" gewährt wurde, durfte sie bisher davon<br />

absehen, Vorkehrungen nicht unerheblichen Umfangs für eine unmittelbare Abrechnung mit der Beklagten zu<br />

schaffen. In Anbetracht dessen dürfen die KVen, soweit sie bislang mit Hilfe externer Abrechnungsstellen erstellte<br />

Abrechnungen bearbeitet haben, diese Praxis daher nicht abrupt mit Bekanntwerden dieser Entscheidung<br />

beenden. Leistungserbringer, die - wie nach ihrem nicht in Zweifel zu ziehenden Vortrag die Klägerin - seit Jahren<br />

keine personellen Kapazitäten für die Abrechnung von Notfallbehandlungen nach den grundlegend anderen<br />

Vergütungsregelungen in der ambulanten Versorgung mehr vorhalten, müssen sich auf die nunmehr geklärte<br />

Rechtslage (insbesondere durch Schaffung personeller und räumlicher Kapazitäten sowie durch Beschaffung entsprechender Software und Schulung der Mitarbeiter) einstellen<br />

können, ohne Gefahr zu laufen, tatsächlich korrekt erbrachte Leistungen nicht vergütet zu erhalten. Als<br />

angemessene Frist dafür, dass sich die Leistungserbringer auf die ausschließliche Direktabrechnung mit der<br />

zuständigen KÄV einstellen können, sieht der Senat einen Zeitraum von zwei Quartalen an. Das bedeutet, dass<br />

die Abrechnung von Leistungen, die im Quartal III/2009 oder später erbracht werden, unmittelbar mit der KÄV<br />

erfolgen muss, sofern nicht bis zu diesem Zeitpunkt gesetzliche Regelungen geschaffen werden, welche zur<br />

Einschaltung externer Abrechnungsstellen berechtigen.<br />

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG iVm § 154 Abs<br />

1 und 3, § 159 und § 162 Abs 3 Verwaltungsgerichtsordnung. Die unterlegene Klägerin und die sie unterstützende<br />

Beigeladene zu 1. haben die Kosten des Rechtsstreits zu gleichen Teilen zu tragen. Eine Erstattung der<br />

außergerichtlichen Kosten der übrigen Beigeladenen ist nicht veranlasst, weil diese sich nicht am Verfahren<br />

beteiligt und insbesondere keine Anträge gestellt haben (vgl BSGE 96, 257 = SozR 41300 § 63 Nr. 3, jeweils RdNr 16) .<br />

BGH VI ZR 277/07 Verkündet am: 09.12.2008.<br />

Ein zum Heilbehandlungsarzt der Berufsgenossenschaften bestellter Arzt darf nur bei den in § 35 des<br />

Vertrags Ärzte/Unfallversicherungsträger 2001 im Einzelnen aufgeführten Verletzungen über die<br />

Einleitung der besonderen berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung entscheiden.<br />

Steht - wie hier - fest, dass ein Arzt dem Patienten durch fehlerhaftes und rechtswidriges Handeln einen<br />

Schaden zugefügt hat, so muss der Arzt beweisen, dass der Patient den gleichen Schaden auch bei<br />

rechtmäßigem und fehlerfreiem ärztlichem Handeln erlitten hätte.<br />

SGB VII § 34 Abs. 3. GG Art. 34; BGB § 839 (Fe)<br />

BGH, Urteil vom 9. 12.2008 - VI ZR 277/07 - OLG Karlsruhe<br />

LG Karlsruhe<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 9. 12.2008 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr<br />

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für Recht erkannt:<br />

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 14.<br />

11.2007 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

1. Der Kläger begehrt von dem beklagten Facharzt für Chirurgie Schadensersatz, weil dieser als<br />

Heilbehandlungsarzt der Berufsgenossenschaft (künftig: HArzt) fehlerhaft gehandelt habe.<br />

2. Am 12. 07.2001 erlitt der am 21. 05.1947 geborene Kläger bei einem Arbeitsunfall eine Handverletzung. Sein<br />

Hausarzt überwies ihn an den Beklagten, der den Kläger am 16. 07.2001 untersuchte, Röntgenbilder fertigte und<br />

in seinem HArztBericht vermerkte: "Diagnose: Zerrung re. Handgelenk, Frakturausschluss. Art meiner<br />

Erstversorgung: Anlage ZLV [ZinkLeimVerband], Schonung … Allgemeine Heilbehandlung: ja, durch mich …". Als<br />

sich der Kläger am 19. 07.2001 wieder vorstellte, sah der Beklagte die Verletzung als ausgeheilt an. Der Kläger<br />

suchte am 15. 08.2002 erneut den Beklagten und schließlich die Orthopädische Universitätsklinik Heidelberg auf.<br />

In deren Arztbrief vom 17. 10.2002 wird beschrieben, dass sowohl auf dem Röntgenbild vom 16. 07.2001 als<br />

auch auf aktuellen MRT- und Röntgenbildern eine perilunäre Luxation des rechten Handgelenks erkennbar sei.<br />

Weiter heißt es: "Aufgrund der jetzt alten Verletzung ist eine rekonstruktive Maßnahme nicht Erfolg<br />

versprechend". Der Kläger kann seinen Beruf als Getränkeausfahrer nicht mehr ausüben und erhält eine Rente<br />

nach den Bestimmungen des VII. Buches Sozialgesetzbuch.<br />

3. Das Landgericht, dessen Urteil in Medizinrecht 2006, 728 veröffentlicht ist, hat die Klage abgewiesen, weil der<br />

Beklagte in Ausübung eines öffentlichen Amtes gehandelt habe (Art. 34 GG, § 839 BGB). Das Oberlandesgericht hat dieses<br />

Urteil aufgehoben und der Klage stattgegeben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebt der<br />

Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

4. Das Berufungsgericht (sein Urteil ist abgedruckt in Medizinrecht 2008, 368) hat die Haftung des Beklagten bejaht.<br />

5. Die Beweisaufnahme habe ergeben, dass der Kläger die perilunäre Luxation am 12. 07.2001 erlitten habe.<br />

Dass der Beklagte die Luxation auf dem Röntgenbild vom 16. 07.2001 nicht erkannt habe, stelle einen als<br />

Behandlungsfehler zu wertenden Diagnosefehler dar, der zu der fehlerhaften Behandlung (ZinkLeimVerband statt Reposition und<br />

Operation), zu den gesundheitlichen Beeinträchtigungen und zur Berufsunfähigkeit des Klägers geführt habe. Die<br />

Beweisaufnahme habe aber nicht ergeben, dass bei einer ordnungsgemäßen Behandlung dieselben Schäden<br />

eingetreten wären. Das gehe zu Lasten des Beklagten, der in einem solchen Fall des rechtmäßigen<br />

Alternativverhaltens die Beweislast trage. Deshalb komme es nicht mehr darauf an, dass sich überdies die<br />

Beweislast für die Ursächlichkeit des Fehlers für den Primärschaden umkehre, weil ein grober Behandlungsfehler<br />

vorliege.<br />

6. Im Übrigen sei die Klage begründet sowohl hinsichtlich eines Schadensersatzanspruchs wegen entgangenen<br />

Verdiensts in Höhe von 3.786,07 € für die Zeit vom 1.1.2003 bis 30.6.2005 als auch hinsichtlich eines Anspruchs<br />

auf Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 €.<br />

7. Der Beklagte hafte persönlich. Eine Haftung der Berufsgenossenschaft (Art. 34 GG, § 839 BGB) komme nicht in Betracht.<br />

Die Rechtsprechung zum Durchgangsarzt (künftig: DArzt) sei auf den HArzt nicht übertragbar. Die Beteiligung des<br />

HArztes an der besonderen berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung sei nach §§ 30, 35 des Vertrags<br />

Unfallversicherungsträger/Ärzte auf besondere Arten von Verletzungen minderer Schwere begrenzt. Der HArzt<br />

entscheide zwar darüber, ob bei diesen Verletzungen die allgemeine Heilbehandlung ausreiche oder ob eine<br />

besondere Heilbehandlung notwendig sei. Die allgemeine Heilbehandlung dürfe er wie jeder Vertragsarzt, die<br />

besondere (berufgenossenschaftliche) Heilbehandlung dagegen nur in einzeln aufgezählten leichteren Fällen selbst<br />

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durchführen. In den übrigen Fällen müsse er den DArzt einschalten. Diesem sei generell die Aufgabe übertragen,<br />

die Entscheidung für eine allgemeine oder eine besondere Heilbehandlung zu treffen. Verstoße ein HArzt gegen<br />

seine Pflicht zur Vorstellung des Patienten und behandle er diesen selbst, so treffe er keine Entscheidung in<br />

Ausübung einer Amtspflicht des Unfallversicherungsträgers (künftig: Berufsgenossenschaft, BG). Vielmehr habe er dem Patienten<br />

gegenüber Pflichten aus einem privatrechtlichen Behandlungsvertrag. Der Beklagte habe im zu entscheidenden<br />

Fall objektiv fehlerhaft die Behandlung des Klägers übernommen, da er gegen seine Pflicht zur Vorstellung des<br />

Patienten beim DArzt verstoßen und nicht erkannt habe, dass eine Verletzung nach dem<br />

Verletzungsartenverzeichnis vorgelegen habe. Zugleich habe er seine Pflichten aus dem Behandlungsvertrag mit<br />

dem Kläger verletzt und hafte diesem deshalb nach §§ 823 Abs. 1, 847 BGB a.F., ohne den Kläger auf die BG<br />

verweisen zu können.<br />

II.<br />

8. Das angefochtene Urteil hält einer rechtlichen Prüfung stand.<br />

9. 1. Ohne Rechtsverstoß geht das Berufungsgericht nach sachverständiger Beratung davon aus, dass sich der<br />

Beklagte bei der ärztlichen Behandlung des Klägers fehlerhaft verhalten und diesen dadurch geschädigt hat.<br />

10. a) Auch die Revision stellt einen Diagnosefehler nicht in Frage. Der Beklagte erkannte auf dem Röntgenbild<br />

vom 16. 07.2001 die perilunäre Luxation nicht, sondern ging fälschlich von einer Zerrung des rechten<br />

Handgelenks aus. Deshalb war die konservative Behandlung zur Behandlung der perilunären Luxation, die<br />

zunächst eine unblutige Reposition und sodann eine Operation erfordert hätte, verfehlt.<br />

11. b) Diese Fehler haben Funktionsbeeinträchtigungen am Handgelenk, ständige Schmerzen und die<br />

Berufsunfähigkeit des Klägers als Getränkeausfahrer verursacht. Dass sich aus den Feststellungen des<br />

Berufungsgerichts ergeben mag, auch bei richtiger Diagnose und Behandlung werde lediglich in 70 % der Fälle<br />

ein über den jetzigen Zustand hinausgehender Erfolg erreicht, führt entgegen der Ansicht der Revision nicht zu<br />

Zweifeln an der Kausalität des Fehlverhaltens des Beklagten für den Schaden des Klägers. Ob Reposition und<br />

Operation zu einem besseren oder zum selben Ergebnis geführt hätten, betrifft nicht die Kausalität der tatsächlich<br />

durchgeführten konservativen Behandlung für den eingetretenen Schaden, sondern einen hypothetischen<br />

Kausalverlauf bei rechtmäßigem Alternativverhalten, für den der Beklagte beweispflichtig ist (vgl. Senat, Urteil vom 15. 03.2005 - VI<br />

ZR 313/03 - VersR 2005, 836, 837 m.w.N.). Steht - wie hier - fest, dass ein Arzt dem Patienten durch fehlerhaftes und rechtswidriges<br />

Handeln einen Schaden zugefügt hat, so muss der Arzt beweisen, dass der Patient den gleichen Schaden auch<br />

bei rechtmäßigem und fehlerfreiem ärztlichem Handeln erlitten hätte (vgl. Senat, Urteil vom 5. 04.2005 - VI ZR 216/03 - VersR 2005, 942 m.w.N.;<br />

Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl., Rn. B 230, C 151 m.w.N.). Dass das Berufungsgericht diesen dem Beklagten obliegenden Nachweis<br />

als nicht geführt angesehen hat, weil bei hypothetisch richtiger Behandlung in (nur) 30 % der Fälle ein Ergebnis wie<br />

beim Kläger eintritt, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.<br />

12. 2. Für den durch den Diagnose- und Behandlungsfehler verursachten Gesundheitsschaden des Klägers haftet<br />

vertraglich (positive Vertragsverletzung) wie deliktisch (§§ 823 Abs. 1, 847 a.F. BGB; Art. 229 § 5 Satz 1, 8 Abs. 1 EGBGB) der Beklagte persönlich. Eine<br />

Haftung der BG aus Art. 34 GG, § 839 Abs. 1 BGB hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler verneint, denn<br />

der Beklagte handelte nicht in Ausübung eines ihm von der BG übertragenen öffentlichen Amtes.<br />

13. a) Nach Art. 34 Satz 1 GG haftet anstelle eines Bediensteten, soweit dieser in Ausübung des ihm anvertrauten<br />

öffentlichen Amts gehandelt hat, der Staat oder die Körperschaft, in dessen Dienst er steht. Die persönliche<br />

Haftung des Bediensteten ist in diesem Fall ausgeschlossen. Ob sich das Handeln einer Person als Ausübung<br />

eines öffentlichen Amts darstellt, bestimmt sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs danach,<br />

ob die eigentliche Zielsetzung, in deren Sinn der Betreffende tätig wurde, hoheitlicher Tätigkeit zuzurechnen ist<br />

und ob zwischen dieser Zielsetzung und der schädigenden Handlung ein so enger äußerer und innerer<br />

Zusammenhang besteht, dass die Handlung ebenfalls als noch dem Bereich hoheitlicher Betätigung angehörend<br />

angesehen werden muss. Dabei ist nicht auf die Person des Handelnden, sondern auf seine Funktion, das heißt<br />

auf die Aufgabe, deren Wahrnehmung die im konkreten Fall ausgeübte Tätigkeit dient, abzustellen (vgl. BGH, Urteil vom 22.<br />

06.2006 - III ZR 270/05 - VersR 2006, 1684 m.w.N.). Nach diesen Grundsätzen hat der Beklagte bei Stellung der Diagnose nicht in<br />

Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes gehandelt und haftet daher persönlich.<br />

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14. Die ärztliche Heilbehandlung von Kranken ist regelmäßig nicht Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne<br />

von Art. 34 GG (vgl. BGHZ 63, 265, 270 f.). Anderes kann dann gelten, wenn der Arzt eine dem Hoheitsträger selbst<br />

obliegende Aufgabe erledigt und ihm insoweit ein öffentliches Amt anvertraut ist. So ist etwa die ärztliche<br />

Behandlung von Soldaten durch Truppenärzte im Rahmen der gesetzlichen Heilfürsorge Wahrnehmung einer<br />

dem Dienstherrn obliegenden hoheitlichen Aufgabe und damit Ausübung eines öffentlichen Amtes (BGHZ 108, 230).<br />

Dagegen ist die ärztliche Behandlung nach einem Arbeitsunfall keine der BG obliegende Aufgabe. Das hat der<br />

Bundesgerichtshof unter Geltung der Reichsversicherungsordnung ausgesprochen. Aufgabe der BG gemäß §<br />

557 Abs. 2 RVO sei lediglich, "alle Maßnahmen zu treffen", durch die eine möglichst bald nach dem Arbeitsunfall<br />

einsetzende, schnelle und sachgemäße Heilbehandlung "gewährleistet" werde. Die Heilbehandlung als solche<br />

stelle dagegen keine der BG obliegende Pflicht dar (vgl. Senat, BGHZ 126, 297, 301; Urteil vom 20. 09.1988 - VI ZR 37/88 - VersR 1988, 1273; vgl. auch Urteil vom<br />

24. 11.1970 - VI ZR 215/68 - VersR 1971, 251 ff.; BGHZ 63, 265, 271 f.). Nach Inkrafttreten von § 34 Abs. 1 SGB VII, der § 557 Abs. 2 RVO<br />

ersetzte, hat sich daran nichts geändert (vgl. Senat, Beschluss vom 4. 03.2008 - VI ZR 101/07 - juris). Auch nach dieser Bestimmung haben<br />

"die Unfallversicherungsträger ... alle Maßnahmen zu treffen, durch die eine möglichst frühzeitig nach dem<br />

Versicherungsfall einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung und, soweit erforderlich, besondere<br />

unfallmedizinische oder Berufskrankheiten-Behandlung gewährleistet wird". Der Arzt, der die Heilbehandlung<br />

durchführt, übt deshalb kein öffentliches Amt aus und haftet für Fehler persönlich (Benz in Hauck, SGB VII, § 28 Rn. 15; KassKomm/Ricke,<br />

Sozialversicherungsrecht, Stand: 1. 10.2008, § 34 SGB VII Rn. 3). Insoweit bestehen keine wesentlichen Unterschiede zur Tätigkeit des<br />

Vertragsarztes (Kassenarztes), dessen Verhältnis zu den gesetzlich Krankenversicherten privatrechtlicher Natur ist (vgl. § 76<br />

Abs. 4 SGB V, früher § 368d Abs. 4 RVO).<br />

15. b) Allerdings wird nach diesen Grundsätzen die Tätigkeit eines DArztes nicht in vollem Umfang dem<br />

Privatrecht zugeordnet.<br />

16. aa) Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat bereits in seinem Urteil vom 9. 12.1974 (BGHZ 63, 265, 272 ff.)<br />

dargelegt, dass die Berufsgenossenschaften verpflichtet seien, alle Maßnahmen zu treffen, durch die eine<br />

schnelle und sachgemäße Heilbehandlung gewährleistet werde (§ 557 Abs. 2 Satz 1 RVO), und Verletzte, bei denen dies<br />

angezeigt sei, in besondere berufsgenossenschaftliche Heilbehandlung zu nehmen (§ 1 der Bestimmungen des früheren<br />

Reichsversicherungsamtes vom 19. 06.1936 - RABl IV S. 195). Deshalb erfülle der DArzt bei der Entscheidung, ob im Einzelfall ein Verletzter<br />

in die berufsgenossenschaftliche Heilbehandlung übernommen werden solle, eine der Berufsgenossenschaft<br />

obliegende Pflicht. Das spreche dafür, diese Entscheidung als Ausübung eines öffentlichen Amtes zu betrachten.<br />

Dem hat sich der erkennende Senat angeschlossen (vgl. Senat, BGHZ 126, 297, 300).<br />

17. bb) Daran hat sich durch die gesetzliche Neuregelung nichts geändert. Die Möglichkeit einer Fürsorge der<br />

Krankenkasse (§ 565 RVO) ist zwar seit dem 1. 01.1991 entfallen, weil gemäß § 11 Abs. 5 (früher: Abs. 4) SGB V Leistungen<br />

auf Grund von Arbeitsunfällen nur noch von der BG zu erbringen sind (vgl. BSG, SGb 1999, 417, 418; Frahm/Nixdorf, Arzthaftungsrecht, 3. Aufl., Rn.<br />

5; Jung, Festschrift 50 Jahre BSG, S. 533, 538). Aber der früheren Entscheidung, ob ein Verletzter in die berufsgenossenschaftliche<br />

Heilbehandlung übernommen werden sollte, entspricht die nunmehr gemäß § 34 Abs. 1 SGB VII zu treffende<br />

Entscheidung, ob es erforderlich ist, eine besondere unfallmedizinische oder Berufskrankheiten-Versorgung<br />

einzuleiten. Insoweit stellen die BG die Heilverfahrensarten "allgemeine Heilbehandlung" und "besondere<br />

Heilbehandlung" zur Verfügung (vgl. BereiterHahn/Mehrtens, SGB VII, § 34 Rn. 4). Das ergibt sich aus dem von dem Hauptverband der<br />

gewerblichen Berufsgenossenschaften, dem Bundesverband der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften,<br />

dem Bundesverband der Unfallkassen einerseits und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung andererseits über<br />

die Durchführung der Heilbehandlung, die Vergütung der Ärzte sowie die Art und Weise der Abrechnung der<br />

ärztlichen Leistungen gemäß § 34 Abs. 3 SGB VII abgeschlossen Vertrag in der ab 1. 05.2001 gültigen alten<br />

Fassung (künftig: Vertrag 2001; seit 1. 04.2008 aktuelle Fassung - künftig: Vertrag 2008). Gemäß § 12 Abs. 1 Vertrag 2001 wird Heilbehandlung<br />

grundsätzlich als allgemeine Heilbehandlung gewährt. Das ist gemäß § 10 Vertrag 2001 "die ärztliche Versorgung<br />

einer Unfallverletzung, die nach Art und Schwere weder eines besonderen personellen, apparativtechnischen<br />

Aufwandes noch einer besonderen unfallmedizinischen Qualifikation des Arztes bedarf". Sie darf nach § 6 Abs. 3<br />

Nr. 1 Vertrag 2001 von allen Ärzten geleistet werden, die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen oder<br />

von den BG zugelassen sind, und entspricht - bezogen auf Art und Schwere der Verletzung - der bis 31. 12.1990<br />

maßgeblichen Fürsorge der Krankenkasse (Wannagat/Jung, Sozialgesetzbuch, § 34 SGB VII Rn. 14). Dagegen ist besondere<br />

Heilbehandlung gemäß § 11 Vertrag 2001 die "fachärztliche Behandlung einer Unfallverletzung, die wegen Art<br />

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und Schwere besondere unfallmedizinische Qualifikation verlangt". Sie darf nach § 6 Abs. 3 Nr. 2 Vertrag 2001<br />

nur durch von der BG zugelassene oder besonders beauftragte Ärzte geleistet werden; die freie Arztwahl ist<br />

eingeschränkt (§ 28 Abs. 4 Satz 2 SGB VII; vgl. Wannagat/Jung, aaO, § 28 SGB VII Rn. 5). Ob die allgemeine oder die besondere Heilbehandlung<br />

erforderlich ist, entscheidet grundsätzlich der DArzt (§ 27 Abs. 1 Vertrag 2001) nach Art und Schwere der Verletzung (vgl. § 28 Abs. 4<br />

SGB VII). Bei dieser Entscheidung erfüllt er eine der BG obliegende Aufgabe und übt damit ein öffentliches Amt aus<br />

(vgl. Senat, Beschluss vom 4. 03.2008 - VI ZR 101/07 - juris). Ist seine Entscheidung über die Art der Heilbehandlung fehlerhaft und wird der<br />

Verletzte dadurch geschädigt, haftet in diesem Fall für Schäden nicht der DArzt persönlich, sondern die BG (Art. 34<br />

GG, § 839 BGB). Das entspricht der einhelligen Ansicht auch in der Literatur. Streit besteht lediglich hinsichtlich der<br />

Frage, ob der DArzt auch bei Untersuchung zur Diagnosestellung, bei der Diagnosestellung und bei<br />

Überwachung des Heilerfolges ein öffentliches Amt ausübt (vgl. Frahm/Nixdorf, aaO; HK AKM/Lissel, Nr. 1540 Rn. 28; Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des<br />

Arztrechts, 3. Aufl., § 40 Rn. 33; Ratzel/Luxenburger/Lissel, Medizinrecht, § 36 Rn. 27; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 10. Aufl., Rn. 7; Benz in Hauck, SGB VII, K § 26 Rn. 51 und K § 28 Rn. 15;<br />

BereiterHahn/Mehrtens, SGB VII, § 28 Rn. 6 und § 34 Rn. 8.1; Brackmann/Krasney, SGB VII, § 34 Rn. 7; Noeske/Franz, Erläuterungen zum Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger, Zu § 27 Rn. 1.1;<br />

Plagemann/RadtkeSchwenzer, Unfallversicherung, 2. Aufl., Kap. 5 Rn. 18; Schmitt, SGB VII, 3. Aufl., § 34 Rn. 13). Diese Frage bedarf im Streitfall jedoch keiner<br />

Entscheidung.<br />

18. c) Die genannten Grundsätze sind nämlich nicht in gleicher Weise auf den HArzt zu übertragen.<br />

19. aa) In den in § 35 Vertrag 2001 genannten Fällen obliegt allerdings auch einem HArzt die Entscheidung, ob<br />

und in welcher Weise der Verletzte in die besondere Heilbehandlung der BG übernommen werden soll. Damit<br />

korrespondiert § 12 Abs. 1 Vertrag 2001, wonach eine besondere Heilbehandlung vom DArzt, vom HArzt ("DArzt light",<br />

vgl. Pfeifer, ZMGR 2006, 125, 128 in Fn. 30) oder von der BG eingeleitet wird. Hiernach macht es haftungsrechtlich keinen<br />

Unterschied, ob die Entscheidung vom DArzt oder vom HArzt getroffen wird. Insoweit erfüllt auch letzterer eine<br />

Aufgabe der BG und übt damit ein öffentliches Amt aus (LG Karlsruhe, MedR 2006, 728; HK AKM/Lissel, Nr. 2370 Rn. 29; Ratzel/Luxenburger/Lissel, aaO, § 36<br />

Rn. 31; Rieger, Lexikon des Arztrechts, 1984, Rn. 816; Wolber, Die Sozialversicherung 1982, 263, 265). Die gegenteilige Auffassung, die das generell verneint<br />

(Pfeifer, aaO, 128 ff.; Schmitt, Leistungserbringung durch Dritte im Sozialrecht, S. 299 und 308), überzeugt nicht. Nach allgemeinen Grundsätzen ist<br />

regelmäßig nicht auf die Person des Handelnden, sondern auf seine Funktion abzustellen, also auf die Aufgabe,<br />

deren Wahrnehmung die im konkreten Fall ausgeübte Tätigkeit dient (vgl. BGH, Urteil vom 22. 06.2006 - III ZR 270/05 - aaO). Diese ist in<br />

den Fällen des § 12 Vertrag 2001 dieselbe. Unerheblich ist, dass die Beteiligung eines Arztes am HArztVerfahren<br />

(dazu BSGE 97, 47) geringeren Anforderungen unterliegt als beim DArztVerfahren. Damit korrespondiert ein kleineres<br />

Aufgabengebiet (vgl. BSGE 37, 267, 269). Der HArzt soll in erster Linie zugelassene DÄrzte entlasten, die allein eine<br />

flächendeckende besondere Heilbehandlung nicht gewährleisten könnten (Noeske/Franz, aaO, Zu § 30). Das entscheidende<br />

Instrument zur Steuerung (vgl. § 12 Abs. 2 Vertrag 2001) und zum Controlling (vgl. § 29 Vertrag 2001) des berufsgenossenschaftlichen<br />

Heilverfahrens (Benz in Hauck, SGB VII, K § 34 Rn. 24) ist das DArztVerfahren. Deshalb sind durch einen Arbeitsunfall Verletzte<br />

grundsätzlich dem DArzt vorzustellen, nicht dem HArzt (§ 26 Abs. 1 Vertrag 2001).<br />

20. bb) Dieser kann ausschließlich in den in § 35 Vertrag 2001 genannten Fällen eine besondere Heilbehandlung<br />

einleiten (§ 12 Abs. 1 Vertrag 2001) und von einer Vorstellung beim DArzt absehen, diesen also "ersetzen" (§ 33 Vertrag 2001). § 35<br />

Vertrag 2001 ordnet an, dass der HArzt eine besondere Heilbehandlung nicht "durchführen" darf, wenn keine der<br />

dort oder eine der im Verletzungsartenverzeichnis (Anhang 1 zum Vertrag 2001) genannten Verletzungen vorliegen. Er darf<br />

auch nicht über die Einleitung der besonderen Heilbehandlung in diesen Fällen entscheiden (Noeske/Franz, aaO, Zu § 30), weil<br />

ihm diese Aufgabe nicht übertragen worden ist. Darauf haben auch die Landesverbände der gewerblichen<br />

Berufsgenossenschaften in einem Rundschreiben vom 7. 11.2003 hingewiesen (abgedruckt bei Noeske/Franz, aaO, Anlage Zu § 58, Seite A<br />

2). Deutlich ergibt sich dies nunmehr aus dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 Vertrag 2008. Nach dieser Bestimmung ist<br />

der HArzt zur Einleitung der besonderen Heilbehandlung ausschließlich "in den Fällen des § 35" berechtigt;<br />

insoweit liegt keine Änderung von § 12 Vertrag 2001, sondern eine redaktionelle Klarstellung vor (vgl. DÄ 2008, A 285).<br />

Handelt es sich um eine im Verletzungsartenverzeichnis genannte Verletzung, muss der HArzt den Verletzten an<br />

ein am Verletzungsartenverfahren beteiligtes Krankenhaus und den dortigen DArzt überweisen (§§ 35, 37 Vertrag 2001).<br />

Dem HArzt ist in solchen Fällen also nicht die der BG obliegende Entscheidung übertragen, ob und in welcher<br />

Weise der Verletzte in die besondere Heilbehandlung übernommen werden soll. Vielmehr gleicht er insoweit<br />

einem Vertragsarzt in der gesetzlichen Krankenversicherung, der den Verletzten unter den in § 26 Vertrag 2001<br />

genannten Voraussetzungen beim DArzt vorstellen muss. Eine Entscheidungskompetenz ist dem Vertragsarzt<br />

und auch dem HArzt damit - anders als dem DArzt - nicht eingeräumt. Dass bei einem Verstoß gegen die<br />

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Vorstellungspflicht die Entscheidung über die Einleitung der besonderen Heilbehandlung faktisch verhindert wird,<br />

hat nicht zur Folge, dass der HArzt dabei dem Verletzten gegenüber in Ausübung eines von der BG übertragenen<br />

öffentlichen Amtes handelt.<br />

21. d) Über eine solche Fallgestaltung ist hier zu entscheiden. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass der<br />

Kläger eine in Nr. 15.4 des damaligen Verletzungsartenverzeichnisses ausdrücklich genannte Verletzung erlitten<br />

hatte (vgl. Anhang 1 zum Vertrag 2001; vgl. heute Nr. 8). Es handelt sich also nicht um einen Fall, in welchem dem HArzt eine<br />

Entscheidung für die BG übertragen war. Der Beklagte handelte daher nicht in Ausübung eines öffentlichen<br />

Amtes für die BG. Eine Haftung der BG gemäß Art. 34 GG, § 839 BGB kommt bei einer solchen Fallgestaltung<br />

nicht in Betracht.<br />

22. 3. Ebenfalls nicht zu einer Haftung der BG führen Fehler des Beklagten bei der Diagnosestellung oder der von<br />

ihm durchgeführten allgemeinen Heilbehandlung. Teilweise wird allerdings eine Haftung der BG für die Folgen<br />

eines Diagnosefehlers dann bejaht, wenn die Diagnose der Entscheidung des Arztes dient, ob die besondere<br />

Heilbehandlung einzuleiten sei, weil eine einheitliche Aufgabe nicht in haftungsrechtlich unterschiedlich zu<br />

beurteilende Tätigkeitsbereiche aufgespalten werden dürfe (HK AKM/Lissel, Nr. 2370 Rn. 29; das wird auch in Bezug auf den DArzt vertreten: HK AKM/Lissel,<br />

Nr. 1540 Rn. 28; Olzen, aaO, 135; Ratzel/Luxenburger/Lissel, aaO, § 36 Rn. 27; Wank, SGb 1995, 316, 317; dem folgend OLG Schleswig, GesR 2007, 207; LG Karlsruhe, MedR 2006, 728). Eine<br />

solche Fallgestaltung liegt hier nicht vor. Der Beklagte ist vielmehr im Bereich der allgemeinen Heilbehandlung<br />

tätig geworden. Er hatte durch §§ 35, 37 Vertrag 2001 bei der Verletzung des Klägers keine<br />

Entscheidungskompetenz eingeräumt erhalten und durfte nicht für die BG tätig werden. - 14 -<br />

23. Soweit nach einer in Teilen der Literatur und der Rechtsprechung vertretenen Ansicht noch weitergehend die<br />

gesamte Tätigkeit eines DArztes bis zur Entscheidung über das "Ob und Wie", also etwa auch die Erstversorgung<br />

(§ 27 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII) und die Diagnosestellung, als Ausübung eines öffentlichen Amtes angesehen wird (vgl. Kreft in LM Art. 34 GG<br />

Nr. 99a Bl. 71 f.; K. Müller SGb 1975, 511 f.; Pfeifer, aaO, 126 f.; Stein/Itzel/Schwall, Praxishandbuch des Amts- und Staatshaftungsrechts, Rn. 618; Wolber, aaO, 264; OLG Schleswig, aaO), nimmt<br />

der Senat Bezug auf seinen Beschluss vom 4. 03.2008 (- VI ZR 101/07 - juris): Wenn in BGHZ 126, 297, 301 von einer<br />

Zäsur durch die Entscheidung über das "Ob und Wie" die Rede ist, durch welche die (anschließende) ärztliche<br />

Behandlung dem Privatrecht unterfällt, versteht sich dies als inhaltliches Abgrenzungskriterium, nicht als<br />

zeitliches; ein Nebeneinander der Pflichtenkreise bei der Erstbehandlung und möglicherweise auch bei der<br />

Diagnosestellung ist daher nicht ausgeschlossen. Gleiches gilt für den HArzt.<br />

24. 4. Ohne Erfolg beanstandet die Revision schließlich, das Berufungsgericht habe die Klage teilweise abweisen<br />

müssen, weil bei fehlerfreier Behandlung die Verletzung zwar nicht ohne Folgen ausgeheilt, aber jedenfalls eine<br />

Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 % zurückgeblieben wäre. Ob sich das Berufungsgericht eine solche<br />

Überzeugung gebildet und entsprechende Feststellungen getroffen hat, kann dabei offen bleiben.<br />

25. a) Selbst wenn dem Vortrag der Revision zu folgen wäre, wäre eine teilweise Abweisung des<br />

Feststellungsantrages nicht geboten. Zwar führt die Rechtskraft eines Feststellungsurteils, in dem die<br />

Schadensersatzpflicht des in Anspruch genommenen Schädigers festgestellt worden ist, dazu, dass<br />

Einwendungen, die sich auf Tatsachen stützen, welche schon zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung<br />

vorgelegen haben, nicht mehr berücksichtigt werden dürfen, soweit sie das Bestehen des festgestellten<br />

Anspruchs betreffen. Der Einwand der Revision, der Diagnose- und Behandlungsfehler des Beklagten sei für eine<br />

Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers von 30 % nicht kausal gewesen, stellt aber nicht den Grund des<br />

festgestellten Schadensersatzanspruchs in Frage, sondern betrifft die haftungsausfüllende Kausalität zwischen<br />

dem durch den Diagnose- und Behandlungsfehler verursachten Gesundheitsschaden und möglichen<br />

Folgeschäden des Klägers (§ 287 ZPO). Einwendungen wären insoweit in einem Folgeprozess zu klären (vgl. Senat, Urteile vom<br />

24. 01.1995 - VI ZR 354/93 - VersR 1995, 469 ff.; vom 28. 06.2005 - VI ZR 108/04 - VersR 2005, 1159, 1160).<br />

26. b) Konkrete Rügen in Bezug auf den Leistungsantrag erhebt die Revision nicht. Wo das Gesetz dem Tatrichter<br />

ein Ermessen einräumt (§ 847 BGB a.F., § 287 ZPO), kann das Revisionsgericht lediglich überprüfen, ob das Ermessen<br />

ausgeübt worden ist, ob die Grenzen der Ermessensausübung eingehalten wurden und ob alle wesentlichen<br />

Umstände Beachtung gefunden haben (vgl. Senat, Urteil vom 8. 06.1976 - VI ZR 216/74 - VersR 1976, 967; Zöller/Gummer, ZPO, 27. Aufl., § 546 Rn. 14). Fehler<br />

dieser Art in Bezug auf das festgesetzte Schmerzensgeld (§ 847 a.F. BGB) beanstandet die Revision nicht; solche sind<br />

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auch nicht ersichtlich. Die Revision zeigt ferner keinen tatsächlichen Vortrag dazu auf, dass der Verdienstentgang<br />

des Klägers vom 1. 01.2003 bis 30. 06.2005 bei richtiger Behandlung geringer gewesen wäre.<br />

27. 5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.<br />

Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr<br />

Vorinstanzen: LG Karlsruhe, Entscheidung vom 03.02.2006 - 4 O 587/05 - OLG Karlsruhe, Entscheidung vom<br />

14.11.2007 - 7 U 101/06 –<br />

BGH VI ZR 198/07 Verkündet am: 18.11.2008.<br />

Verurteilung des Arztes, der keine Behandlungsfehler, aber eine unzureichende Risikoaufklärung<br />

durchführte. Er hatte bei der Aufklärung nur ein „Schlaganfallrisiko“, jedoch kein „erhöhtes<br />

Schlaganfallrisiko“ erwähnt. BGB § 823 Aa; ZPO § 531 Abs. 2. Wird der Einwand der hypothetischen<br />

Einwilligung erst im zweiten Rechtszug erhoben, handelt es sich grundsätzlich um ein neues<br />

Verteidigungsmittel im Sinne des § 531 Abs. 2 ZPO.<br />

BGH, Urteil vom 18. 11.2008 - VI ZR 198/07 - OLG Oldenburg , LG Aurich<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 18. 11.2008 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Wellner, die Richterin Diederichsen und die Richter Stöhr und Zoll für<br />

Recht erkannt:<br />

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 4.<br />

07.2007 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand<br />

1. Die Klägerin macht gegen die Beklagte als Trägerin eines Krankenhauses materiellen und immateriellen<br />

Schadensersatz nach einer digitalen Subtraktionsangiographie des Kopfes (künftig: DSA) geltend.<br />

2. Die Klägerin musste sich 1975 einer Gehirnoperation unterziehen und erlitt 1987 einen Schlaganfall. Seitdem<br />

war sie rechtsseitig gelähmt. Im Jahr 2002 traten beidseitige Ponsblutungen (Gehirnblutungen) auf. Im 09.2003 verstarb<br />

eine Nichte der Klägerin infolge einer Aneurysmenruptur. Am 20. 11.2003 wurde die Klägerin "wegen vor<br />

dreieinhalb Wochen für einen Tag bestehender Kopfschmerzen links im Hinterhaupt- und Scheitelbereich und in<br />

einem ambulanten CCT beschriebenen Blutung rechts paramedian im Ponsbereich" stationär in die neurologische<br />

Abteilung des Krankenhauses der Beklagten aufgenommen. Am 26. 11.2003 führte der Radiologe Dr. V. mit der<br />

Klägerin ein Aufklärungsgespräch für eine DSA, die er am Folgetag vornahm. Hierbei erlitt die Klägerin Infarkte im<br />

Bereich des Thalamus beidseits sowie im Hirnstamm. Seitdem leidet sie an weiteren erheblichen<br />

Gesundheitsbeeinträchtigungen.<br />

Das Landgericht hat einen Behandlungsfehler verneint, aber eine fehlerhafte Risikoaufklärung angenommen. Es<br />

hat daher ein Schmerzensgeld in Höhe von € 25.000 zuerkannt sowie dem Feststellungsantrag stattgegeben. Das<br />

Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen<br />

Revision verfolgt die Beklagte ihren Klagabweisungsantrag weiter.<br />

Entscheidungsgründe<br />

I.<br />

4. Nach Auffassung des Berufungsgerichts, dessen Urteil in VersR 2008, 124 f. veröffentlicht ist, steht der<br />

Klägerin der zugesprochene Schadensersatz gemäß den §§ 280, 249, 253 BGB, §§ 823, 249, 253 BGB zu, weil<br />

die Einwilligung der Klägerin in den Eingriff mangels hinreichender Aufklärung unwirksam gewesen sei.<br />

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5. Zwar stehe fest, dass der Zeuge Dr. V. eine Risikoaufklärung vorgenommen und dabei das Schlaganfallrisiko<br />

als Komplikationsmöglichkeit genannt habe. Zudem sei davon auszugehen, dass er das Schlaganfallrisiko nicht<br />

verharmlost habe. Die Aufklärung sei aber nicht ordnungsgemäß gewesen, da der aufklärende Arzt die Klägerin<br />

nicht darüber informiert habe, dass das Schlaganfallrisiko in ihrem Fall erhöht gewesen sei, weil sie bereits vor<br />

der Untersuchung unstreitig einen Schlaganfall erlitten hatte. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr.<br />

S. sei das Risiko, dass bei einer zerebralen angiographischen Untersuchung eine Komplikation auftrete, doppelt<br />

so hoch, wenn der Patient bereits zuvor einen Schlaganfall erlitten habe, so dass das Risiko vorübergehender<br />

zerebral ischämischer Komplikationen auf 2 - 4 %, das Risiko permanenter Komplikationen, insbesondere von<br />

Schlaganfällen, auf 1 % ansteige. Zwar müsse der Arzt nicht generell über die statistische Wahrscheinlichkeit<br />

einer Komplikation aufklären. Das entbinde ihn aber nicht von der Verpflichtung, auf eine signifikante Erhöhung<br />

eines Risikos hinzuweisen. Eine solche sei hier anzunehmen. Zwar habe sich das Risiko einer permanenten<br />

Schädigung lediglich um 0,5 % auf 1 % erhöht. Doch habe es sich für die Klägerin verdoppelt und könne nicht<br />

mehr als sehr selten, sondern müsse vielmehr mit "selten" oder gar "gelegentlich" bewertet werden.<br />

7. Der erstmals in zweiter Instanz von den Beklagten geäußerte Einwand einer hypothetischen Einwilligung sei<br />

gemäß § 531 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Zwar deute der unstreitige Sachverhalt darauf hin, dass sich die<br />

Klägerin auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung für den Eingriff entschieden hätte. Dies könne jedoch offen<br />

bleiben. Denn das neue Vorbringen sei jedenfalls verspätet. Allerdings sei diese Frage höchstrichterlich nicht<br />

geklärt und darum die Revision zuzulassen.<br />

II.<br />

8. Das angefochtene Urteil hält den Angriffen der Revision im Ergebnis stand.<br />

9. 1. Die uneingeschränkt eingelegte Revision ist zulässig (§ 543 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Das Berufungsgericht hat zwar<br />

ausgeführt, die Revision werde zugelassen, weil bislang eine Entscheidung des Revisionsgerichts zu der Frage<br />

nicht vorliege, ob bei unstreitigem Sachverhalt der Einwand einer hypothetischen Einwilligung in den ärztlichen<br />

Eingriff erstmals in zweiter Instanz erhoben werden könne. Darin liegt aber keine Beschränkung der Revision auf<br />

eine bestimmte Rechtsfrage, was unzulässig wäre (vgl. BGH, BGHZ 101, 276, 278; 111, 158, 166; Urteil vom 7. 07.1983 - III ZR 119/82 - VersR 1984, 38; Beschlüsse<br />

vom 17. 12.1980 - IVb ZB 499/80 - FamRZ 1981, 340; vom 4. 12.2007 - XI ZR 144/06 - NJW 2008, 1312, 1313). Das Berufungsgericht hat vielmehr nur erläutert,<br />

warum es die Revision zugelassen hat.<br />

10. 2. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht zu der Überzeugung gelangt ist, dass die Klägerin<br />

nicht ausreichend über ihr Schlaganfallrisiko aufgeklärt wurde.<br />

11. a) Zwar muss nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats die Aufklärung nicht über jede, noch so<br />

entfernt liegende Gefahrenmöglichkeit erfolgen. Der Patient muss nur "im Großen und Ganzen" wissen, worin er<br />

einwilligt. Dazu muss er über die Art des Eingriffs und seine nicht ganz außerhalb der Wahrscheinlichkeit<br />

liegenden Risiken informiert werden, soweit diese sich für einen medizinischen Laien aus der Art des Eingriffs<br />

nicht ohnehin ergeben und für seine Entschließung von Bedeutung sein können. Dies bedeutet nicht, dass die<br />

Risiken in allen erdenkbaren Erscheinungsformen aufgezählt werden müssen. Es muss aber eine allgemeine<br />

Vorstellung von der Schwere des Eingriffs und den spezifisch mit ihm verbundenen Risiken vermittelt werden,<br />

ohne diese zu beschönigen oder zu verschlimmern (vgl. Senatsurteile BGHZ 90, 103, 106, 108; 144, 1, 5).<br />

12. Bei einem spezifisch mit der Therapie verbundenen Risiko hängt die Erforderlichkeit der Aufklärung aber nicht<br />

davon ab, wie oft das Risiko zu einer Komplikation führt ("Komplikations- oder Risikodichte"). Entscheidend ist vielmehr die<br />

Bedeutung, die das Risiko für die Entschließung des Patienten haben kann. Kommt eine besonders schwere<br />

Belastung für seine Lebensführung in Betracht, so ist die Information über ein solches Risiko für die Einwilligung<br />

des Patienten auch dann von Bedeutung, wenn sich das Risiko sehr selten verwirklicht (vgl. Senatsurteile BGHZ 90, 103, 107; 144, 1, 5<br />

f.; vom 2. 11.1993 - VI ZR 245/92 - VersR 1994, 104, 105).<br />

13. Die Aufklärung hat patientenbezogen und damit den Umständen des konkreten Falles entsprechend zu<br />

erfolgen (vgl. Senatsurteile vom 4. 11.1975 - VI ZR 226/73 - VersR 1976, 293, 294; vom 22. 04.1980 - VI ZR 37/79 - VersR 1981, 456, 457). Der Aufklärungsumfang wird<br />

hierbei einerseits durch das Gewicht der medizinischen Indikation bestimmt, das sich wiederum aus der<br />

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Notwendigkeit des Eingriffs, seiner zeitlichen Dringlichkeit und den Heilungschancen ergibt, andererseits ist<br />

insbesondere die Schwere der Schadensfolgen für die Lebensführung des Patienten im Fall der<br />

Risikoverwirklichung mitbestimmend (vgl. Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl. 2006, C Rn. 49). Bei diagnostischen Eingriffen ohne therapeutischen Eigenwert - wie der DSA<br />

- sind deshalb grundsätzlich strengere Anforderungen an die Aufklärung des Patienten über damit verbundene Risiken zu stellen (vgl. Senatsurteil vom 15. 05.1979 - VI ZR 70/77 - VersR 1979, 720, 721; OLG<br />

Düsseldorf VersR 1984, 643, 645 (Angiographie) mit Nichtannahmebeschluss des BGH vom 3. 04.1984 - VI ZR 173/83 ; OLG Stuttgart VersR 1988, 832, 833 (Angiographie); OLG Koblenz NJWRR 2002, 816,<br />

818 (Angiographie); Geiß/Greiner, aaO; Katzenmeier, Arzthaftungsrecht, 2002, S. 328; Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 68 Rn. 12). Bei ihnen bedarf es einer<br />

besonders sorgfältigen Abwägung zwischen der diagnostischen Aussagekraft, den Klärungsbedürfnissen und den<br />

besonderen Risiken für den Patienten (vgl. Senatsurteil vom 4. 04.1995 - VI ZR 95/94 - VersR 1995, 1055, 1056).<br />

14. b) Nach diesen Grundsätzen war es im Streitfall erforderlich, die Klägerin nicht nur über das bei einer DSA<br />

grundsätzlich bestehende Schlaganfallrisiko aufzuklären, sondern ihr auch mitzuteilen, dass dieses Risiko für sie<br />

durch ihre Vorgeschichte erhöht war.<br />

15. In dem vom Zeugen Dr. V. geführten Aufklärungsgespräch wurde aber nicht auf das erhöhte<br />

Schlaganfallrisiko der Klägerin wegen des bereits erlittenen Schlaganfalls hingewiesen. Auch in dem von der<br />

Klägerin unterzeichneten Formularaufklärungsbogen war dieses nur undeutlich angesprochen, wenn es heißt,<br />

dass sehr selten Hirndurchblutungsstörungen durch abgelöste und in das Gehirn verschleppte<br />

Gefäßwandablagerungen eintreten könnten, wodurch es ausnahmsweise zu einem Schlaganfall mit bleibenden<br />

Schäden kommen könne. Dies weist zwar auf das grundsätzlich bestehende Schlaganfallrisiko hin. Auch der<br />

weitere Hinweis, dass das Risiko bei bereits bestehenden Nerven/und/oder schweren Gefäßschäden erhöht sei,<br />

macht aber das bei der Klägerin wegen des erlittenen früheren Schlaganfalls bestehende besondere Risiko nicht<br />

ausreichend klar.<br />

16. Unter diesen Umständen ist die Würdigung des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden, dass die Klägerin<br />

nicht vollständig aufgeklärt worden ist. Es kommt insoweit entscheidend darauf an, ob ihr alle spezifischen Risiken<br />

aufgezeigt worden sind, die für ihre Einwilligung in den Eingriff ernsthaft ins Gewicht fallen könnten. Deshalb hat<br />

das Berufungsgericht zu Recht angenommen, dass die Klägerin auch darüber hätte aufgeklärt werden müssen,<br />

dass bei ihr ein erhöhtes Risiko bestand, bei der zerebralen Angiographie einen weiteren Schlaganfall zu erleiden.<br />

Im Hinblick auf die besonders schwere Belastung für die Lebensführung der Klägerin bei Verwirklichung eines<br />

weiteren Schlaganfalls konnte die Information über das bei ihr bestehende besondere Risiko für ihre Einwilligung<br />

ernsthaft ins Gewicht fallen. Nur wenn ihr das bei ihr bestehende individuelle Risiko bekannt war, hatte sie alle<br />

notwendigen Informationen für die Entscheidung, ob sie die diagnostische Maßnahme für die ihr vorgeschlagene<br />

Klärung ihrer atypischen Hirnblutung vornehmen ließ.<br />

17. 3. Die Revision hat auch keinen Erfolg, soweit sie zur Überprüfung des Senats stellt, ob der vom<br />

Berufungsgericht herangezogene Sachverständige fachlich geeignet war, sich zum Inhalt eines radiologischen<br />

Aufklärungsgesprächs zu äußern.<br />

18. Die Auswahl des Sachverständigen steht im Ermessen des Gerichts. Es liegt jedoch eine fehlerhafte<br />

Ermessensausübung vor, wenn das Gericht einen Sachverständigen aus einem falschen Sachgebiet ausgewählt<br />

hat (§ 404 Abs. 1 Satz 1 ZPO; vgl. Senatsurteil vom 16. 03.1999 - VI ZR 34/98 - VersR 1999, 716; BGH, Urteil vom 25. 02.1953 - II ZR 172/52 - NJW 1953, 659 f.; BAG, Urteil vom 20. 10.1970 - 2 AZR<br />

497/69 - AP Nr. 4 zu ZPO § 286; ZöllerGreger, ZPO, 26. Aufl., § 404 Rn. 1). Grundsätzlich ist bei der Auswahl auf die Sachkunde in dem<br />

medizinischen Fachgebiet abzustellen, in das der Eingriff fällt (vgl. OLG Hamm VersR 2001, 249 mit Nichtannahmebeschluss des Senats vom 20. 10.2000 -<br />

VI ZR 129/00; Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 2. Aufl., S. 686 m.w.N.). Hierfür können die fachärztlichen Weiterbildungsordnungen<br />

herangezogen werden (vgl. OLG Naumburg, Urteil vom 13. 03.2003 - 1 U 34/02 - juris Rn. 45 = OLGR Naumburg 2003, 348 (nur Leitsatz); LSG Niedersachsen, Urteil vom 23. 04.1997 - L 5<br />

Ka 89/95 - juris Rn. 25; Stegers/Hansis/Alberts/Scheuch, Sachverständigenbeweis im Arzthaftungsrecht, 2. Aufl., Rn. 62). Soweit ein Eingriff mehrere Fachbereiche<br />

berührt, kommt es darauf an, welchem Fachbereich die konkrete Beweisfrage zuzuordnen ist.<br />

19. Die DSA gehört zur radiologischen Diagnostik und damit zum Weiterbildungsgebiet der diagnostischen<br />

Radiologie, insbesondere Neuroradiologie (vgl. Masuhr/Neumann, Neurologie, 6. Aufl., S. 140; Weiterbildungsordnung (WBO) der Landesärztekammer Baden-Württemberg,<br />

Stand 1. 10.2003, S. 31 f.). Diese Diagnostik ist zugleich eine unerlässliche Erkenntnisquelle für die neurologische oder<br />

neurochirurgische Behandlung (vgl. Delank/Gehlen, Neurologie, 11. Aufl., S. 81). Ihre Indikationsstellung, Methodik und<br />

Befundbewertung gehören daher auch zur neurologischen Weiterbildung (zum Beispiel: WBO der Landesärztekammer Baden-Württemberg, aaO,<br />

S. 58). Der vorliegende Fall berührt somit beide Fachgebiete.<br />

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20. Unter diesen Umständen ist die - in beiden Tatsacheninstanzen von den Parteien nicht beanstandete -<br />

Auswahl eines Facharztes für Neurologie und Neurochirurgie als Sachverständigen nicht ermessensfehlerhaft,<br />

obgleich die DSA von einem Radiologen durchgeführt worden ist und der Sachverständige nicht selbst als<br />

verantwortlicher Arzt zerebrale Angiographien vorgenommen hat. Das Berufungsgericht hat darauf abgestellt,<br />

dass es hier nicht um Fehler des Arztes bei der Durchführung der Untersuchung, sondern um Risiken geht, die<br />

mit einer zerebralen Angiographie verbunden sind. Diese Risiken beträfen vorrangig Schädigungen des Gehirns,<br />

so dass die Beantwortung der Beweisfrage in den Fachbereich eines Facharztes für Neurologie und<br />

Neurochirurgie und damit in den des Sachverständigen Dr. S. falle. Dies lässt einen Ermessensfehler des<br />

Tatrichters nicht erkennen, zumal auch ein den Auftrag für radiologische Untersuchungen erteilender Neurologe<br />

oder Neurochirurg Zweck, Ablauf und Risiken der radiologischen Diagnostik abwägen muss (vgl. OLG Düsseldorf VersR 1984, 643<br />

mit Nichtannahmebeschluss des Senats vom 3. 04.1984 - VI ZR 173/83). Im Übrigen haben die Parteien nicht in Zweifel gezogen, dass das Risiko<br />

eines Schlaganfalls im Rahmen einer zerebralen Angiographie erhöht ist, wenn der Patient bereits zuvor einen<br />

Schlaganfall erlitten hatte.<br />

21. 4. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision jedenfalls im Ergebnis auch stand, soweit das<br />

Berufungsgericht das Vorbringen der Beklagten zu einer hypothetischen Einwilligung als neues Vorbringen nicht<br />

zugelassen hat (§ 531 Abs. 2 ZPO).<br />

22. a) Zu Recht geht das Berufungsgericht davon aus, dass der Einwand der Behandlungsseite, die Patientin<br />

hätte sich dem Eingriff auch bei zutreffender Aufklärung über dessen Risiken unterzogen, grundsätzlich beachtlich<br />

ist (st. Rspr.; vgl. Senatsurteile BGHZ 90, 103, 111; vom 17. 04.2007 - VI ZR 108/06 - VersR 2007, 999, 1000). Den Arzt trifft insoweit die Behauptungs- und<br />

Beweislast. Erst wenn sich die Behandlungsseite auf eine hypothetische Einwilligung berufen hat, muss der<br />

Patient darlegen, dass er sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung in einem Entscheidungskonflikt darüber befunden<br />

hat, ob er den tatsächlich durchgeführten Eingriff vornehmen lassen sollte (vgl. Senatsurteile vom 9. 11.1993 - VI ZR 248/92 - VersR 1994, 682,<br />

684; vom 9. 07.1996 - VI ZR 101/95 - VersR 1996, 1239, 1240; vom 10. 10.2006 - VI ZR 74/05 - VersR 2007, 66, 68; Geiß/Greiner, aaO, C Rn. 138 f.; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 10. Aufl., Rn. 444).<br />

Wird der Einwand der hypothetischen Einwilligung erst im zweiten Rechtszug erhoben, handelt es sich<br />

grundsätzlich um ein neues Verteidigungsmittel im Sinne des § 531 Abs. 2 ZPO.<br />

23. b) Im Streitfall wurde dieser Einwand erst im zweiten Rechtszug erhoben. Der erstinstanzliche Prozessvortrag<br />

der Beklagten, die Klägerin habe nach ordnungsgemäßer Aufklärung eingewilligt, erfasste entgegen der Ansicht<br />

der Revision das für die hypothetische Einwilligung erforderliche Vorbringen nicht. Er ließ es nicht, wie die<br />

Revision meint, "anklingen", so dass sich der zweitinstanzliche Vortrag nur als Konkretisierung des<br />

erstinstanzlichen darstellen würde. Bei dem rechtmäßigen Alternativverhalten beruft sich der Schädiger nämlich<br />

darauf, dass im Falle seines rechtswidrigen Verhaltens der Schaden auch bei normgerechtem Verhalten<br />

eingetreten wäre (MünchKomm/BGBOetker, aaO, § 249 Rn. 211 ff.; Staudinger/Schiemann, BGB, 2005, § 249 Rn. 102). Dem Beklagtenvortrag muss daher zu<br />

entnehmen sein, dass er sich nicht auf die behauptete ordnungsgemäße Aufklärung, sondern auf eine fiktive<br />

Einwilligungssituation bezieht.<br />

24. c) Die Beklagte hatte indes Anlass, sich schon in der ersten Instanz zumindest hilfsweise auf eine<br />

hypothetische Einwilligung zu berufen. Eine Partei muss schon im ersten Rechtszug die Angriffs- und<br />

Verteidigungsmittel vorbringen, deren Relevanz für den Rechtsstreit ihr bekannt ist oder bei Aufwendung der<br />

gebotenen Sorgfalt hätte bekannt sein müssen und zu deren Geltendmachung sie dort imstande ist (vgl. Senat, BGHZ 159,<br />

245, 253; Musielak/Ball, ZPO, 6. Aufl., § 531 Rn. 19; Rimmelspacher, NJW 2002, 1897, 1904; Gehrlein, MDR 2003, 421, 428; BTDrs. 14/4722 S. 101 f.). Die Beklagte hätte daher<br />

bereits aufgrund des Beweisbeschlusses vom 28. 04.2006 in Betracht ziehen müssen, dass das Landgericht<br />

ihrem Sachvortrag zu einer ordnungsgemäßen Aufklärung nicht folgen würde. Darin wurde dem<br />

Sachverständigen u.a. die Frage gestellt, ob der Zeuge Dr. V. auf eine Risikoerhöhung habe hinweisen müssen.<br />

Jedenfalls nach Erhalt des Sachverständigengutachtens war deutlich, dass eine Verurteilung wegen einer nicht<br />

erfolgten Aufklärung über das bei der Klägerin bestehende erhöhte Risiko im Raum stand und es geboten war,<br />

sich zumindest hilfsweise mit rechtmäßigem Alternativverhalten zu verteidigen. Der Beklagten oblag es mithin,<br />

sich - falls sie dies wollte - bereits im ersten Rechtszug auf das neue Verteidigungsmittel zu berufen, ohne dass<br />

es dafür eines Hinweises nach § 139 Abs. 2 Satz 1 ZPO bedurfte.<br />

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25. d) Bei dieser Sachlage hat das Berufungsgericht das neue Verteidigungsmittel der Beklagten gemäß § 531<br />

Abs. 2 Nr. 3 ZPO im Ergebnis zu Recht nicht zugelassen. Im Streitfall waren nämlich die der hypothetischen<br />

Einwilligung zugrunde liegenden Tatsachen zwischen den Parteien streitig, worauf die Revisionserwiderung mit<br />

Recht hingewiesen hat. In einem solchen Fall findet die Präklusionsvorschrift des § 531 Abs. 2 ZPO Anwendung,<br />

ohne dass es auf die vom Berufungsgericht vertretene und inzwischen durch eine Entscheidung des Großen<br />

Senats für Zivilsachen des Bundesgerichtshofs (vgl. Beschluss vom 23. 06.2008 - GSZ 1/08 - NJW 2008, 3434) überholte Streitfrage<br />

ankommt, ob bei unstreitigem Sachverhalt der Einwand einer hypothetischen Einwilligung in den ärztlichen<br />

Eingriff erstmals in zweiter Instanz erhoben werden kann.<br />

26. Zwar meint das Berufungsgericht, der "unstreitige" Parteivortrag deute darauf hin, dass die Voraussetzungen<br />

einer hypothetischen Einwilligung vorgelegen hätten, weil die Klägerin während des gesamten Rechtsstreits nicht<br />

zur Kenntnis genommen habe, dass bei ihr nach den Erläuterungen des Sachverständigen Dr. S. eine eindeutige<br />

Indikation für den diagnostischen Eingriff bestanden habe. Dabei verkennt es jedoch die Besonderheiten der<br />

hypothetischen Einwilligung und der Darlegung eines Entscheidungskonflikts durch den Patienten. Nach den<br />

oben unter 4 a) dargelegten Grundsätzen hatte die Klägerin keinen Anlass, ihren Entscheidungskonflikt<br />

substantiiert darzulegen und plausibel zu machen, bevor sich die Beklagte auf eine hypothetische Einwilligung<br />

berufen hatte. Zudem ist nicht entscheidend, wie sich ein "vernünftiger" Patient voraussichtlich verhalten hätte,<br />

vielmehr kommt es allein auf die persönliche Entscheidungssituation der Klägerin aus damaliger Sicht an (vgl.<br />

Senatsurteil vom 9. 11.1993 - VI ZR 248/92 - VersR 1994, 682, 684 m.w.N.). Die Revisionserwiderung hat insoweit darauf verwiesen, dass die<br />

Klägerin in ihrer Berufungserwiderung vorgetragen hat, sie hätte niemals in die Operation eingewilligt, wenn man<br />

sie über das erhöhte Risiko bezüglich eines Schlaganfalls aufgeklärt hätte. Unter diesen Umständen kommt es<br />

aus Rechtsgründen nicht darauf an, ob der Vortrag der Klägerin zur Darlegung eines Entscheidungskonflikts<br />

ausgereicht hätte, zumal dies grundsätzlich erst nach einer Anhörung der Klägerin beurteilt werden konnte (vgl.<br />

Senatsurteil vom 17. 04.2007 - VI ZR 108/06 - aaO).<br />

27. 5. Nach allem hat das Berufungsgericht im Ergebnis richtig entschieden. Die Revision der Beklagten ist mithin<br />

mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.<br />

Müller Wellner Diederichsen Stöhr Zoll<br />

Vorinstanzen: LG Aurich, Entscheidung vom 03.11.2006 - 4 O 1106/05 - OLG Oldenburg, Entscheidung vom<br />

04.07.2007 - 5 U 106/06<br />

VI ZR 47/08 vom 16.09.2008: Die Klage eines Patienten auf Schmerzensgeld wird beim BGH abgewiesen. Wenn<br />

der Anwalt das Mandat ablehnt und ein Notanwalt nicht rechtzeitig beigezogen werden kann, verbleibt trotzdem<br />

die Prüfung auf Aussichtslosigkeit.<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 16. 09.2008 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller und die<br />

Richter Wellner, Pauge, Stöhr und Zoll beschlossen:<br />

Der Antrag des Klägers auf Beiordnung eines Rechtsanwalts für das Verfahren über die<br />

Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 14.<br />

02.2008 wird zurückgewiesen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aussichtslos erscheint.<br />

Gründe:<br />

1. Der Kläger, bei dem 1984 Morbus Bechterew diagnostiziert wurde, erhält seit 1986 zur<br />

Schmerzlinderung das Kortisonpräparat Prednisolon. Diese Medikamentation hat bei ihm zu Diabetes Mellitus,<br />

einer Gastritis sowie einer Infektion mit Helicobacter pylori geführt. Am 7. 06.1998 wurde ein Mediainfarkt<br />

festgestellt, der vermutlich durch Blutgerinnsel im Halswirbelbereich als Folge des Morbus Bechterew ausgelöst<br />

worden war. Am 30. 06.1998 wurde der Kläger in der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie der<br />

Beklagten zu 1 aufgenommen. Dort wurden eine ausgeprägte Wirbelsäulenkrümmung, eine extreme<br />

Verschiebung des Kopfes sowie eine Hirnnervenlähmung festgestellt. Am 6. 08.1998 wurde bei ihm eine dorsale<br />

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Spondylodese vorgenommen, wobei zur Stabilisierung ein Knochenspan aus seinem Becken verwendet wurde.<br />

Die Operation führte der Beklagte zu 6 aus. Da sich eine Liquorfistel und eine Infektion einstellten, musste der<br />

implantierte Span in einer zweiten Operation, die der Beklagte zu 5 ausführte, wieder entfernt werden. Am 10.<br />

09.1998 wurde der Kläger entlassen. Sein Zustand hatte sich zunächst deutlich gebessert, verschlechterte sich<br />

jedoch alsbald wieder. Am 27. 04.1999 wurde er stationär im Poliklinikum für Unfall- und<br />

Wiederherstellungschirurgie der Beklagten zu 1 aufgenommen und am 27. 05.1999 in die Klinik für Neurologie der<br />

Beklagten zu 1 verlegt, wo Morbus Parkinson ausgeschlossen wurde und von dem Beklagten zu 7 eine zervikale<br />

Myelopathie diagnostiziert wurde. Am 3. 06.1999 erfolgte die Rückverlegung in die chirurgische Abteilung, wo der<br />

Kläger von den Beklagten zu 2, 3, 5 und 6 behandelt wurde. Am 16. 06.1999 wurde operativ eine Flexoren- und<br />

Adduktorentenotomie am linken und rechten Bein durchgeführt, um die spastische Beugehaltung zu korrigieren<br />

und die Pflege des Klägers zu erleichtern. Die Operation führte die Beklagte zu 4 durch.<br />

Der Kläger, der gehunfähig ist und dessen Arme und Beine weitestgehend bewegungsunfähig sind, führt<br />

diesen Zustand auf Behandlungsfehler der Beklagten zu 2 bis 7 zurück. Er macht geltend, die Operationen seien<br />

kontraindiziert gewesen; bezüglich der 1998 durchgeführten Eingriffe sei er nicht hinreichend aufgeklärt worden.<br />

In der Zeit vom 27. 04.1999 bis zur Operation am 16. Juni sei keine ausreichende medikamentöse bzw.<br />

physiotherapeutische Behandlung erfolgt. Dadurch hätten sich Druckulcera gebildet. Die Operation am 16.<br />

06.1999 sei gegen seinen Willen und den seiner Ehefrau (seiner Betreuerin) erfolgt, kontraindiziert gewesen und fehlerhaft<br />

ausgeführt worden. Durch heftiges Ziehen seien dabei Hüft- und Schultergelenk beschädigt und Knochen<br />

gebrochen worden. Die Operation habe zu einer Tetraparese geführt.<br />

Der Kläger begehrt Ersatz materiellen und immateriellen Schadens. Das Landgericht hat die Klage nach<br />

Beweisaufnahme abgewiesen. Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Das Oberlandesgericht hat die<br />

Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Dagegen wendet sich der Kläger mit der in zulässiger Weise<br />

eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde. Sein Prozessbevollmächtigter hat das Mandat sodann niedergelegt. Die<br />

- notariell u.a. mit den Rechtsangelegenheiten bevollmächtigte - Ehefrau des Klägers hat am 23. 06.2008, dem<br />

letzten Tag der Begründungsfrist, einen Antrag auf Beiordnung eines Notanwalts zur Begründung der<br />

Nichtzulassungsbeschwerde gestellt und geltend gemacht, der Kläger habe sich um einen anderen beim<br />

Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt bemüht, jedoch nur Absagen erhalten, von denen sie z.T. Kopien<br />

eingereicht hat. Sie verweist hinsichtlich der Erfolgsaussicht u.a. auf die Berufungsbegründung und ein an die<br />

Rechtsschutzversicherung gerichtetes Anwaltsschreiben.<br />

II.<br />

Die Beiordnung eines Rechtsanwalts gemäß § 78 b ZPO ist abzulehnen, wenn die Beschwerde gegen die<br />

Nichtzulassung der Revision aussichtslos ist, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht<br />

gegeben oder nicht dargetan sind (Senatsbeschluss vom 25. 03.2003 - VI ZR 355/02 - VersR 2003, 1555). Dies ist hier der Fall.<br />

Die Rechtsverfolgung des Klägers erscheint aussichtslos. Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung.<br />

Eine Entscheidung des Revisionsgerichts ist auch nicht zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer<br />

einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Der Kläger will mit der Nichtzulassungsbeschwerde, wie seine<br />

Bezugnahme auf die überreichte Berufungsbegründung erkennen lässt, im Wesentlichen die Beweiswürdigung<br />

des Berufungsgerichts angreifen. Damit kann er im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde keinen Erfolg<br />

haben. Es ist weder dargetan noch ersichtlich, dass das Berufungsgericht Sachvortrag des Klägers oder<br />

Beweisanträge übergangen oder die erhobenen Beweise fehlerhaft gewürdigt hat. Das angefochtene Urteil weicht<br />

auch nicht von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs oder derjenigen der Oberlandesgerichte ab. Dem<br />

von dem Kläger zitierten Senatsurteil vom 26. 06.1990 (VI ZR 289/89 – VersR 1990, 1238) lag ein anderer Sachverhalt zugrunde.<br />

In jenem Fall hatte die Patientin geltend gemacht, ihr sei von ärztlicher Seite dem objektiven medizinischen<br />

Befund zuwider gesagt worden, es bestehe Lebensgefahr und die Operation sei besonders dringlich. Zutreffend<br />

aufgeklärt hätte sie die Operation nicht alsbald und nicht mit der gewählten Methode vornehmen lassen.<br />

Demgegenüber wendet der Kläger vorliegend ein, nicht auf die seinerzeit tatsächlich gegebene Dringlichkeit der<br />

Operation vom 6. 08.1998 hingewiesen worden zu sein. Er legt aber nicht dar, seine Einwilligung in den Eingriff<br />

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aufgrund einer fehlerhaften Aufklärung erteilt zu haben. Bei dieser Sachlage kann dahinstehen, ob der Kläger<br />

ausreichend dargetan hat, keinen zu seiner Vertretung bereiten Rechtsanwalt zu finden.<br />

Müller Wellner Pauge<br />

VI ZR 259/06 Verkündet am: 08.07.2008: Zur Haftung des Gynäkologen für den nach einer erfolglosen<br />

Tubensterilisation mittels Tubenligatur und streitiger Elektrokoagulation entstehenden Schaden. Dem<br />

Patienten wurde Schadensersatz zugesprochen, Privatgutachten sind zu berücksichtigen- auch wenn sie<br />

verspätet eingereicht werden. Ein „ungewolltes Kind“ ist ein Schaden.<br />

BGB § 276 Fc, 823 Aa<br />

BGH, Urteil vom 8. 07.2008 - VI ZR 259/06 - OLG München<br />

LG München II<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 8. 07.2008 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Stöhr und Zoll für Recht erkannt:<br />

Die Revision der Kläger wird als unzulässig verworfen, soweit sie sich gegen die Zurückweisung<br />

der Berufung gegen die Abweisung der Klage auf Herausgabe der Behandlungsunterlagen wendet.<br />

Im Übrigen wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 16. 11.2006<br />

auf die Revision der Kläger aufgehoben.<br />

Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über<br />

die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Kläger sind Eheleute. Sie begehren von den Beklagten Schadensersatz nach einer erfolglosen<br />

Sterilisation der am 27. 10.1967 geborenen Klägerin zu 1. Diese war seit 1994 in gynäkologischer Behandlung bei<br />

dem Beklagten zu 2, der mit dem Beklagten zu 3 eine Gemeinschaftspraxis in P. betreibt. Die dritte<br />

Schwangerschaft der Klägerin wurde, wie schon die beiden vorhergehenden, vom Beklagten zu 2 betreut. Die<br />

Entbindung sollte - wie bei den früheren Schwangerschaften - im Krankenhaus der ehemaligen Beklagten zu 1<br />

durch Kaiserschnitt erfolgen. Beide Beklagte sind in diesem Krankenhaus als Belegärzte tätig. Gleichzeitig mit der<br />

Schnittentbindung am 21. 03.2001 sollte der Beklagte zu 2 vereinbarungsgemäß die Klägerin zu 1 sterilisieren.<br />

Die auf den 20. 03.2001 datierte, von der Klägerin zu 1 unterzeichnete Einverständniserklärung lautet<br />

auszugsweise: "Ich erkläre mich hierdurch an den an mir vorzunehmenden Eingriffen Kaiserschnitt,<br />

Eileiterdurchtrennung zum Zweck einer Untersuchung und Behandlung einverstanden. Ich bin durch Herrn (Name des<br />

Beklagten zu 2) und/oder Herrn (Name des Beklagten zu 3) über alle Risiken und typischen Komplikationen, wie Verletzungen von<br />

Darm, Harnblase, Harnleiter und Blutgefäßen aufgeklärt worden. Ich habe hierzu keine weiteren Fragen und<br />

wünsche somit auch keine weiterführende Aufklärung. Bei der Tubensterilisation ist die Versagerquote: 0,1 %."<br />

Bei der Schnittentbindung am 21. 03.2001, die der Beklagte zu 2 unter Assistenz des Beklagten zu 3 durchführte,<br />

wurde die Klägerin von Zwillingen entbunden. Die Zwillingsschwangerschaft war zuvor nicht bekannt gewesen.<br />

Vier Monate nach der Geburt der Zwillinge wurde die Klägerin zu 1 erneut schwanger. Am 7. 12.2001 wurde sie<br />

wegen einer Schwangerschaftsvergiftung in die Frauenklinik R. eingewiesen. Dort wurde sie - wiederum mit<br />

Kaiserschnitt - von der Tochter M. mit einem Geburtsgewicht von 480 Gramm entbunden. Im Operationsbericht<br />

über die zugleich mit dieser Schnittentbindung durchgeführte Tubenteilresektion und Elektrokoagulation der<br />

Eileiter heißt es, dass die Tuben beidseits im Verlauf ohne Kaliberschwankungen und mit nicht resorbierbaren<br />

Ligaturen jeweils im uterusnahen und mittleren Anteil versehen gewesen seien. Die histologische Untersuchung<br />

der entfernten Tubenanteile ergab ein schmales offenes Lumen der von einem grünen Faden umschlungenen<br />

Tuben. Die Kläger haben Ersatz für alle Kosten, die mit der Geburt der Tochter M. entstanden seien und noch<br />

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entstünden, insbesondere aus Unterhaltsansprüchen des Kindes gegen die Eltern und Kosten für den Umbau des<br />

Elternhauses sowie ein Schmerzensgeld für die Klägerin zu 1 von mindestens 20.000 € verlangt. Die Klage hatte<br />

in den Tatsacheninstanzen keinen Erfolg. Mit ihrer vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgen die<br />

Kläger ihr Begehren aus der Berufung weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Zurückweisung der Berufung im Wesentlichen<br />

ausgeführt, den Beklagten falle kein zum Schadensersatz führender Behandlungs- oder Aufklärungsfehler zur<br />

Last. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe der Beklagte zu 2 am 21. 03.2001 zumindest eine<br />

Tubenligatur vorgenommen; anders seien die bei der Operation vom 11. 12.2001 an beiden Tuben<br />

vorgefundenen Fäden nicht zu erklären. Die Kläger hätten nicht bewiesen, dass die Tuben nicht oder fehlerhaft<br />

koaguliert worden seien. Zwar hätten keine Spuren einer Elektrokoagulation wie Kaliberschwankungen oder<br />

Vernarbungen festgestellt werden können. Aus den fehlenden Spuren könne jedoch nicht der sichere Schluss<br />

gezogen werden, dass keine ordnungsgemäße Koagulation stattgefunden habe. Unter den besonderen<br />

nachgeburtlichen Gegebenheiten könne es zu einer für den Arzt nicht erkennbaren sog. unvollständigen<br />

Koagulation kommen. Auch aus der erneuten Schwangerschaft vier Monate nach dem Eingriff könne nicht auf<br />

einen Behandlungsfehler rückgeschlossen werden. Die Tubensterilisation sei schicksalhaft mit einer<br />

geringfügigen Versagerquote belastet, die sich hier verwirklicht haben könne. Dass der Beklagte zu 2 die<br />

Tubenligatur nicht mit einer Durchtrennung oder einer Teilresektion der Eileiter verbunden habe, sei nicht zu<br />

beanstanden. Es sei vertretbar, wenn er wegen starker Blutungen bei der Schnittentbindung unterlassen habe,<br />

die stark venös gestauten und verdickten Tuben zu durchschneiden, und stattdessen die Elektrokoagulation<br />

gewählt habe. Die Beklagten hafteten auch nicht aus einer unzureichenden therapeutischen oder einer<br />

ungenügenden Einwilligungsaufklärung. Eine Aufklärung der Patientin über die möglichen Sterilisationsmethoden<br />

sei grundsätzlich nicht erforderlich. Ohnehin könne mitunter erst intraoperativ die anzuwendende<br />

Sterilisationsmethode gewählt werden. Der Beklagte zu 2 habe glaubwürdig dargetan, dass er die Klägerin zu 1<br />

am Vortag der Operation über die Versagerquote von 0,1 % sowie darüber aufgeklärt habe, dass bei einer<br />

postpartalen Sterilisation das Versagerrisiko größer sei als bei einer Sterilisation im Intervall. Letztlich könne offen<br />

bleiben, ob die Klägerin zu 1 rechtzeitig und ausreichend aufgeklärt worden sei, denn sie habe keinen<br />

Entscheidungskonflikt plausibel machen können. Insbesondere sei die Einlassung der Klägerin zu 1, bei Kenntnis<br />

der erhöhten Versagerquote hätte sie drei Monate lang verhütet und dann den Erfolg der Sterilisation<br />

endoskopisch überprüfen lassen, wenig plausibel, weil sie in Kenntnis des üblichen Versagerrisikos nicht verhütet<br />

habe.<br />

Das angefochtene Urteil hält den Angriffen der Revision nicht stand.<br />

II.<br />

1. Allerdings ist die uneingeschränkt zugelassene und eingelegte Revision mangels jeglicher Begründung<br />

nicht zulässig, soweit sie sich gegen die Abweisung des Anspruchs auf Herausgabe der Krankenakten wendet (§§<br />

552 Abs. 1, 551 Abs. 3 Satz 1 Ziff. 2 ZPO; vgl. Senat, BGHZ 85, 327 ff.; OLG München NJW 2001, 2806, 2807). Im Übrigen ist die Revision jedoch zulässig und<br />

begründet, auch zum Feststellungsantrag, der auf denselben Grundlagen basiert wie der Leistungsantrag.<br />

2. Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats sind die mit der Geburt eines nicht gewollten<br />

Kindes für die Eltern verbundenen wirtschaftlichen Belastungen, insbesondere die Aufwendungen für dessen<br />

Unterhalt, als ersatzpflichtiger Schaden auszugleichen, wenn der Schutz vor solchen Belastungen Gegenstand<br />

des Behandlungs- oder Beratungsvertrages war. Diese - am Vertragszweck ausgerichtete - Haftung des Arztes<br />

hat der Senat insbesondere bejaht für Fälle fehlgeschlagener Sterilisation aus Gründen der Familienplanung (vgl.<br />

Senat, BGHZ 76, 249, 255; 76, 259, 262; Urteile vom 2. 12.1980 - VI ZR 175/78 - VersR 1981, 278; vom 10. 03.1981 - VI ZR 202/79 - VersR 1981, 730; vom 19. 06.1984 - VI ZR 76/83 - VersR 1984, 864; vom<br />

27. 06.1995 - VI ZR 32/94 - VersR 1995, 1099, 1101), bei fehlerhafter Behandlung mit einem empfängnisverhütenden Mittel (vgl. Senat, Urteil vom<br />

14. 11.2006 - VI ZR 48/06 - VersR 2007, 109), bei fehlerhafter Beratung über die Sicherheit der empfängnisverhütenden Wirkungen<br />

eines vom Arzt verordneten Hormonpräparats (vgl. Senat, Urteil vom 3. 06.1997 - VI ZR 133/92 - VersR 1997, 1422 f.) sowie für Fälle fehlerhafter<br />

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genetischer Beratung vor Zeugung eines genetisch behinderten Kindes (vgl. Senat, BGHZ 124, 128 ff.). Diese Rechtsprechung<br />

des Senats hat das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 12. 11.1997 als verfassungsrechtlich<br />

unbedenklich erachtet (BVerfGE 96, 375 ff.).<br />

Der Senat hat ferner ausgesprochen, dass die Herbeiführung einer ungewollten Schwangerschaft selbst<br />

dann, wenn diese ohne pathologische Begleiterscheinungen verläuft, einen Schmerzensgeldanspruch der Frau<br />

auslösen kann (vgl. Senat, Urteil vom 18. 03.1980 - VI ZR 247/78 - VersR 1980, 558, insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 76, 259 ff.). Demnach kommt es zweifelsfrei<br />

in Frage, dass der Beklagte zu 2, soweit ihm ein Fehler zur Last fällt, der Klägerin zu 1 ein Schmerzensgeld<br />

schuldet. Bei Vorliegen der Voraussetzungen hierzu kann ihn - bei Einbeziehung des Klägers zu 2 in den<br />

Schutzbereich des Behandlungsvertrags (vgl. Senat, BGHZ 143, 389, 393; Urteile vom 3. 06.1997 - VI ZR 133/96 - VersR 1997, 1422 f.; vom 19. 02.2002 - VI ZR 190/01 -<br />

VersR 2002, 767)- auch eine vertragliche Schadensersatzpflicht gegenüber den klagenden Eltern wegen der diesen<br />

erwachsenen und künftig erwachsenden Unterhaltsbelastungen treffen.<br />

Auch an der Haftung des Beklagten zu 3, der zusammen mit dem Beklagten zu 2 eine gynäkologische<br />

Gemeinschaftspraxis betrieben hat, bestehen aus Rechtsgründen jedenfalls auf Grund der bisherigen<br />

Feststellungen keine grundsätzlichen Bedenken (vgl. Senat, BGHZ 165, 36, 39; BGH, BGHZ 154, 88, 93 f.; OLG Koblenz VersR 2005, 655).<br />

3. Das Berufungsgericht hat indessen den Klageanspruch aus tatsächlichen Gründen abgewiesen. Unter<br />

Bezugnahme auf das Gutachten der Sachverständigen konnte es sich nicht davon überzeugen, dass die<br />

Erfolglosigkeit des Sterilisationseingriffs auf einem Fehler bei dessen Durchführung beruhe. Das hält<br />

revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Eine Haftung der Beklagten für den durch die Geburt der Tochter M.<br />

verursachten Schaden der Kläger setzt voraus, dass der Beklagte zu 2 entweder vorwerfbar von einer vertraglich<br />

vereinbarten Behandlung abgewichen ist oder fehlerhaft eine nicht dem medizinischen Standard des Jahres 2001<br />

entsprechende Sterilisationsmethode gewählt oder die vereinbarte bzw. standardgemäße Methode schuldhaft<br />

fehlerhaft ausgeführt und dadurch die weitere Schwangerschaft (mit)verursacht hat.<br />

Das Berufungsgericht ist - sachverständig beraten - davon ausgegangen, dass der Beklagte jedenfalls<br />

eine Tubenligatur durchgeführt habe, meint aber, die Kläger hätten nicht bewiesen, dass der Beklagte zu 2 die<br />

Elektrokoagulation der Eileiter nicht oder nur fehlerhaft durchgeführt habe. Es bestünden zwar erhebliche<br />

Anhaltspunkte dafür, dass keine ordnungsgemäße Koagulation stattgefunden habe, weil makroskopisch in der<br />

Nachoperation und histologisch weder eine Kaliberschwankung noch einschlägige Vernarbungen der Tuben<br />

hätten festgestellt werden können. Auch habe die Sachverständige E. erläutert, es sei nicht sehr wahrscheinlich,<br />

dass eine ordnungsgemäß durchgeführte Koagulation keinerlei Spuren hinterlasse. Andererseits habe sie darauf<br />

hingewiesen, dass aus den fehlenden Spuren wegen der besonderen nachgeburtlichen Gegebenheiten (venöse Stauung<br />

und Ödeme an den Tuben sowie extrem gute Durchblutung des kleinen Beckens) nicht der sichere Schluss auf eine nicht ordnungsgemäße<br />

Koagulation gezogen werden könne.<br />

Diese Erwägungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand, weil die tatsächlichen Feststellungen des<br />

Berufungsgerichts nicht verfahrensfehlerfrei zustande gekommen sind und insbesondere das<br />

Sachverständigengutachten keine ausreichende Grundlage bildet. Auf den Streit der Parteien, ob im konkreten<br />

Fall vertraglich eine Sterilisation mittels Teilresektion der Eileiter vereinbart war, von welcher der Beklagte zu 2<br />

trotz intraoperativ aufgetretener Komplikationen nicht habe abweichen dürfen, kommt es deshalb aus<br />

revisionsrechtlicher Sicht nicht an.<br />

a) Vom Standpunkt des Berufungsgerichts aus, dass der Beklagte zu 2 eine Tubenligatur mit<br />

Elektrokoagulation habe durchführen dürfen, geht es um die Frage, ob letztere ausgeführt worden ist. Hierzu<br />

meint das Berufungsgericht, dass die Kläger einen Behandlungsfehler beweisen müssten. Insoweit bestünden<br />

zwar erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte zu 2 die Elektrokoagulation nicht kunstgerecht<br />

durchgeführt habe, ohne dass jedoch der sichere Schluss gezogen werden könne, dass keine ordnungsgemäße<br />

Koagulation stattgefunden habe. Soweit es sich hierfür auf die Ausführungen der gerichtlichen Sachverständigen<br />

stützt, rügt die Revision, dass diese inhaltlich das von den Klägern vorgelegte Privatgutachten bestätigt habe und<br />

das Berufungsgericht ohnehin dieses Privatgutachten hätte berücksichtigen müssen. Damit hat sie Erfolg.<br />

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Die Sachverständige hat ausgeführt, sie halte eine Sterilisation durch Ligatur ohne Durchtrennung der<br />

Eileiter jedoch mit Elektrokoagulation trotz der postpartal guten Durchblutung des Eingriffsgebiets und des<br />

dadurch bedingten höheren Versagerrisikos an sich für kunstgerecht. Indes könne sie aus dem Fehlen von<br />

sichtbaren Spuren an den Eileitern nur schließen, dass die Elektrokoagulation lediglich oberflächlich oder<br />

überhaupt nicht durchgeführt worden sei. Sie halte es für nicht sehr wahrscheinlich, dass man gar nichts von der<br />

Koagulation sehe. Auf der anderen Seite aber könne aus fehlenden Spuren wegen der postpartal extrem guten<br />

Durchblutung des kleinen Beckens nicht der sichere Schluss gezogen werden, dass keine ordnungsgemäße<br />

Koagulation stattgefunden habe. Diese Ansicht stimmt bei der gebotenen kritischen Würdigung von Gutachten<br />

medizinischer Sachverständiger, welche eine gelegentlich auch kollegenschützende Haltung medizinischer<br />

Sachverständiger berücksichtigen muss (vgl. Senat, BGHZ 172, 254, 259 f.; Urteile vom 27. 09.1977 - VI ZR 162/76 - VersR 1978, 41, 42 f.; vom 19. 01.1993 - VI ZR 60/92 -<br />

VersR 1993, 835, 836; vom 16. 01.2001 - VI ZR 408/99 - VersR 2001, 783), weitgehend mit den Ausführungen des Privatsachverständigen überein.<br />

Nach diesem führt eine exakt vorgenommene Elektrokoagulation immer zu sichtbaren makroskopischen und<br />

histologischen Veränderungen der Eileiter, die hier unstreitig nicht vorhanden waren. Der Eingriff sei wegen der<br />

ödematösen Veränderungen an den Eileitern erschwert, das Legen von Ligaturen allein sei nicht<br />

erfolgversprechend gewesen und habe zwangsläufig zum Versagen des Eingriffs führen müssen, wenn nicht die<br />

Durchtrennung oder Entfernung von Eileitergewebe noch hinzugekommen sei. Das Berufungsgericht hätte bei<br />

seiner Würdigung der Gutachten auch berücksichtigen müssen, dass es nicht um einen medizinischnaturwissenschaftlichen<br />

Nachweis und nicht um eine mathematische, jede Möglichkeit eines abweichenden<br />

Geschehensablaufs ausschließende, von niemandem anzweifelbare Gewissheit ("mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit")<br />

gehen kann (vgl. Senat, BGHZ 159, 254, 255 f.; Urteil vom 8. 07.2008 - VI ZR 247/07 - z.V.b.; BGH, Urteil vom 22. 11.2006 - IV ZR 21/05 - VersR 2007, 1429). Ausreichend ist<br />

vielmehr ein Grad von Gewissheit, der Zweifeln eines besonnenen, gewissenhaften und lebenserfahrenen<br />

Beurteilers Schweigen gebietet; Zweifel, die sich auf lediglich theoretische Möglichkeiten gründen, für die<br />

tatsächliche Anhaltspunkte nicht bestehen, sind hierbei nicht von Bedeutung(vgl. Senat, BGHZ 159, 254, 257; Urteile vom 9. 05.1989 - VI ZR<br />

268/88 - VersR 1989, 758, 759; vom 18. 01.2000 - VI ZR 375/98 - VersR 2000, 503, 505; BGH, BGHZ 53, 245, 256 - Anastasia; Wachsmuth/Schreiber, NJW 1982, 2094, 2098; Geiß/Greiner,<br />

Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl., Rn. E 5). Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hätte der Schluss nahegelegen, dass eine<br />

Elektrokoagulation unterblieben und der Eingriff infolgedessen vorwerfbar unvollständig ausgeführt war.<br />

b) Im Übrigen hat das Berufungsgericht selbst dann, wenn es die gerichtliche Sachverständige anders<br />

hätte verstehen können, gegen seine Pflicht verstoßen, das von den Klägern vorgelegte Privatgutachten zu<br />

berücksichtigen. Es hätte ihr nämlich dann dessen entgegenstehende und von Sachkenntnis getragene Ansicht<br />

vorhalten müssen, wonach bei ödematösen Veränderungen an den Eileitern, wie sie der Beklagte zu 2 für den<br />

Eingriffszeitpunkt selbst behauptet, eine Sterilisation nicht erfolgversprechend mit dem Legen einer Ligatur<br />

erreicht werden könne, das alleinige Legen von Ligaturen zwangsläufig zum Versagen führe und eine exakt<br />

vorgenommene Elektrokoagulation, die immer zu hier nicht festgestellten makroskopischen und histologischen<br />

Veränderungen der Eileiter führe, dann nicht genüge; vielmehr müsse die Durchtrennung der Tuben oder<br />

zusätzlich die Entfernung von Tubengewebe erfolgen, um den Eingriff erfolgversprechend und den Regeln der<br />

ärztlichen Kunst entsprechend zu gestalten.<br />

Das Unterlassen dieses Vorhalts verstößt gegen § 286 Abs. 1 ZPO. Gutachten von Sachverständigen<br />

unterliegen zwar der freien Beweiswürdigung durch das Gericht (§ 286 Abs. 1 ZPO). Der erkennende Senat hat jedoch<br />

wiederholt ausgesprochen, dass der Tatrichter allen Unklarheiten, Zweifeln oder Widersprüchen von Amts wegen<br />

nachzugehen hat; insbesondere hat er Einwendungen einer Partei gegen das Gutachten eines gerichtlichen<br />

Sachverständigen zu berücksichtigen und die Pflicht, sich mit von der Partei vorgelegten Privatgutachten<br />

auseinander zu setzen und auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken, wenn sich ein Widerspruch<br />

zum Gerichtsgutachten ergibt (vgl. Senat, Urteile vom 14. 12.1993 - VI ZR 67/93 - VersR 1994, 480, 482; vom 9. 01.1996 - VI ZR 70/95 - VersR 1996, 647, 648; vom 10. 10.2000 - VI<br />

ZR 10/00 - VersR 2001, 525, 526; vom 13. 02.2001 - VI ZR 272/99 - VersR 2001, 722, 723; vom 23. 03.2004 - VI ZR 428/02 - VersR 2004, 790, 791). Diese Grundsätze hat das<br />

Berufungsgericht nicht beachtet.<br />

Die Anwesenheit des Privatsachverständigen in der mündlichen Verhandlung enthob das Berufungsgericht<br />

nicht seiner hiernach bestehenden Pflicht zur Aufklärung von Widersprüchen. Solange der Privatsachverständige<br />

nicht zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt war, war er lediglich zur Unterstützung der Partei anwesend<br />

und hatte keine Mitwirkungsrechte (vgl. §§ 402, 397 Abs. 2 ZPO). Nach allem ist das angefochtene Urteil im Umfang der<br />

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zulässigen Anfechtung aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Der erkennende Senat vermag derzeit nicht zu beurteilen, ob die<br />

Entscheidung wenigstens im Ergebnis Bestand haben wird, so dass es der Zurückverweisung an das<br />

Berufungsgericht bedarf (§ 563 Abs. 1 ZPO). Bei seiner erneuten Entscheidung wird das Berufungsgericht auch die<br />

weiteren Rügen der Revision zu beachten haben.<br />

a) Soweit die Revision die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Sicherungsaufklärung beanstandet,<br />

macht sie einen (weiteren) Behandlungsfehler (vgl. Senat, Urteile vom 2. 12.1980 - VI ZR 175/78 - VersR 1981, 278 ff.; vom 10. 03.1981 - VI ZR 202/79 - VersR 1981, 730 ff.; vom<br />

25. 01.2000 - VI ZR 68/99 - n.v.) geltend. Hiernach ist davon auszugehen, dass wegen der auch nach fehlerfreier Ausführung<br />

bei jeder der möglichen Sterilisationsmethoden gegebenen - unterschiedlich großen und je nach dem Zeitpunkt<br />

der Sterilisation (postpartal oder im Intervall) unterschiedlichen - Versagerquoten ein deutlicher Hinweis auf diese<br />

Versagermöglichkeiten geboten ist (sog. therapeutische Aufklärung oder Sicherungsaufklärung). Der Beklagte zu 2 hatte darüber hinaus die<br />

Klägerin zu 1 postoperativ (vgl. Senat, BGHZ 163, 209, 217 f.) auf eine Abweichung von der ursprünglich geplanten<br />

Vorgehensweise bei der Sterilisation hinzuweisen und sie von einer hierdurch möglicherweise erfolgten Erhöhung<br />

des Versagerrisikos umfassend in Kenntnis zu setzen. Dass er dieser Pflicht nachgekommen wäre, behauptet er<br />

selbst nicht. Ein (auf die Fälle der Selbstbestimmungsaufklärung beschränkter) Entscheidungskonflikt ist für eine Haftung wegen des in der<br />

Verletzung einer solchen (präoperativen oder postoperativen) Sicherungsaufklärung liegenden Behandlungsfehlers nicht<br />

erforderlich.<br />

b) Zur Kausalität dieses Fehlers für den durch die Geburt des Kindes vermittelten Schaden wird das<br />

Berufungsgericht nicht ohne weitere Feststellungen davon ausgehen können, dass die Kläger, die ein erhöhtes<br />

statistisches Versagerrisiko nach der ordnungsgemäß durchgeführten zweiten Sterilisation mittels Teilresektion<br />

der Eileiter in Kauf genommen haben, dies in gleicher Weise in Kenntnis des erhöhten Versagerrisikos bei einer<br />

postpartalen Sterilisation mittels Tubenligatur und Elektrokoagulation ohne Durchtrennung der Eileiter getan und<br />

auch nach der hier gebotenen nachträglichen Information der Klägerin zu 1 über ein erhöhtes Versagerrisiko<br />

ebenfalls nicht verhütet hätten (vgl. Senat, Urteile vom 2. 12.1980 - VI ZR 175/78 - aaO, 279; vom 10. 03.1981 - VI ZR 202/79 - aaO, 731 f.; vom 28. 03.1989 - VI ZR 157/89 - VersR<br />

1989, 700, 701).<br />

Müller Greiner Wellner Stöhr Zoll<br />

Vorinstanzen: LG München II, Entscheidung vom 22.11.2005 - 1 MO 3224/03 - , OLG München, Entscheidung<br />

vom 16.11.2006 - 1 U 2385/06 -<br />

VI ZR 266/07 vom 10.06.2008: Die Klage der Patientin wird abgewiesen, da sie die Berufung nicht<br />

begründet hat und sich pauschal auf den erstinstanzlichen Vortrag bezieht.<br />

VI ZR 266/07 vom 10. 06.2008 in dem Rechtsstreit<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. 06.2008 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter<br />

Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen, die Richter Pauge und Zoll beschlossen:<br />

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 5. Zivilsenats des<br />

Oberlandesgerichts Köln vom 22. 10.2007 wird zurückgewiesen, weil sie nicht aufzeigt, dass die Rechtssache<br />

grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen<br />

Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 S. 1 ZPO). Das Berufungsurteil verstößt<br />

nicht gegen Art. 103 Abs. 1 GG, § 547 Nr. 6 ZPO. Zwar musste die Klägerin als Patientin medizinische<br />

Sachverhalte nicht im Einzelnen vortragen (vgl. Senat, BGHZ 159, 245, 251; Urteil vom 19. 05.1981 - VI ZR 220/79 - VersR 1981, 752). Sie musste aber in<br />

der Berufung im Einzelnen darlegen, aus welchen Gründen das angefochtene erstinstanzliche Urteil aufzuheben<br />

sein sollte (§ 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO). Die Klägerin war als Berufungsführerin gehalten, die Beurteilung des Streitfalles<br />

durch den Erstrichter zu überprüfen und darauf hinzuweisen, in welchen Punkten und mit welchen Gründen sie<br />

das angefochtene Urteil für unrichtig hielt (vgl. Zöller/Gummer/Heßler, ZPO 26. Aufl., § 520 Rn. 33). Daran hat sie sich nicht gehalten. Im<br />

hier zu entscheidenden Fall war ihrer pauschalen Bezugnahme in der Berufungsbegründung auf ihren<br />

erstinstanzlichen Vortrag und "die dem zugrunde liegenden Gutachten der privaten Sachverständigen" nicht zu<br />

entnehmen, was der gerichtliche Sachverständige außer Acht gelassen haben sollte; die vom<br />

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Privatsachverständigen bemängelte fehlende Diagnostik auf bereits vor den Eingriffen durch die Beklagten<br />

angeblich vorliegenden MortonNeurome war mit keinem Wort erwähnt. Die Berufungsbegründung bemängelte<br />

auch nicht ansatzweise, dass der gerichtliche Sachverständige ohne hinreichendes eigenes Fachwissen an die<br />

Problematik des Morton'schen Neuroms herangegangen sei, wie dies im ersten Rechtszug behauptet worden<br />

war. Hätte die Klägerin die nunmehr durch die Nichtzulassungsbeschwerdebegründung beanstandeten<br />

Versäumnisse gerügt, hätte das Berufungsgericht auf diese im Einzelnen eingehen müssen und bei Unterlassen<br />

gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen. Zumindest hätte die Klägerin in der Berufungsbegründung beanstanden<br />

können und müssen, dass weder der gerichtliche Sachverständige bei seiner Anhörung noch das Landgericht in<br />

seinem Urteil auf die Stellungnahmen des Privatsachverständigen eingegangen seien, obwohl diese angeblich<br />

Widersprüche enthielten, welche die Berufungsbegründung näher aufzuführen gehabt hätte. Ohne solchen<br />

Vortrag der Klägerin in der Berufungsbegründung ist das Berufungsgericht ohne Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1<br />

GG auf die Privatgutachten seinerseits nicht näher eingegangen.<br />

Das angefochtene Urteil ist auch ausreichend mit Gründen versehen. Zwar hat sich das Berufungsgericht<br />

nicht im Einzelnen mit der Frage eines Befunderhebungsfehlers befasst. Die Berufung der Klägerin hat<br />

jedoch ihrerseits die Befunderhebung durch die Beklagten nicht im Einzelnen, sondern wiederum allenfalls<br />

nur mit dem pauschalen Verweis auf den Vortrag der Klägerin erster Instanz zu den behaupteten<br />

Behandlungsfehlern in die Berufung eingeführt. Das genügte nicht, um den Befunderhebungsfehler als<br />

zentrales Angriffsmittel neben den im Einzelnen ausgeführten Angriffen gegen die vom Landgericht als<br />

ausreichend angesehene Eingriffsaufklärung aufzuzeigen, dessen Übergehen eine Anwendung des § 547<br />

Nr. 6 ZPO möglicherweise gestattet hätte (vgl. BGH, BGHZ 39, 333, 339). Von einer weiteren Begründung wird gemäß §<br />

544 Abs. 4 S. 2, 2. Halbs. ZPO abgesehen. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens (§ 97<br />

Abs. 1 ZPO).<br />

Streitwert: 60.127,93 € , Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll<br />

Vorinstanzen: LG Köln, Entscheidung vom 17.01.2007 - 25 O 116/00 - OLG Köln, Entscheidung vom 22.10.2007 -<br />

5 U 33/07 –<br />

BGH III ZR 239/07 Verkündet am: 05.06.2008<br />

GOÄ § 4 Abs. 2a; GOÄ Gebührenverzeichnis Nr. 2997, 2975, 3013, 3126, 2583, 2802<br />

a)Das in § 4 Abs. 2a Satz 1 und 2 GOÄ enthaltene Zielleistungsprinzip findet seine Grenze an dem<br />

Zweck dieser Bestimmung, eine doppelte Honorierung ärztlicher Leistungen zu vermeiden.<br />

b) Die Frage, ob im Sinn des § 4 Abs. 2a Satz 2 GOÄ und des Absatzes 1 Satz 1 und 2 der<br />

Allgemeinen Bestimmungen des Abschnitts L einzelne Leistungen methodisch notwendige<br />

Bestandteile der in der jeweiligen Leistungsbeschreibung genannten Zielleistung sind, kann<br />

nicht danach beantwortet werden, ob sie im konkreten Einzelfall nach den Regeln ärztlicher<br />

Kunst notwendig sind, damit die Zielleistung erbracht werden kann. Vielmehr sind bei Anlegung<br />

eines abstraktgenerellen Maßstabs wegen des abrechnungstechnischen Zwecks dieser<br />

Bestimmungen vor allem der Inhalt und systematische Zusammenhang der in Rede stehenden<br />

Gebührenpositionen zu beachten und deren Bewertung zu berücksichtigen (Fortführung der Senatsurteile BGHZ<br />

159, 142 und vom 16. 03.2006 - III ZR 217/05 - NJWRR 2006, 919).<br />

c) Die Dekortikation der Lunge nach Nr. 2975 des Gebührenverzeichnisses ist nicht Bestandteil der<br />

in der Nr. 2997 mit Lobektomie und Lungensegmentresektion(en) beschriebenen Zielleistung.<br />

BGH, Urteil vom 5. 06.2008 - III ZR 239/07 - LG Hamburg AG Hamburg<br />

Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren aufgrund der bis zum 17. 04.2008<br />

eingereichten Schriftsätze durch den Vorsitzenden Richter Schlick, die Richter Dörr, Dr. Herrmann, die Richterin<br />

HarsdorfGebhardt und den Richter Hucke<br />

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für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Hamburg, Zivilkammer 20, vom 28.<br />

08.2007 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage in Höhe eines Betrags von 292,23<br />

€ nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 17. 06.2005<br />

abgewiesen worden ist.<br />

Die weitergehende Revision des Klägers wird zurückgewiesen.<br />

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über<br />

die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand<br />

Der Kläger, Direktor der Klinik und Poliklinik für Allgemein, Viszeral- und Thoraxchirurgie eines<br />

Universitätskrankenhauses, macht gegen den Beklagten auf der Grundlage einer Wahlleistungsvereinbarung<br />

Honoraransprüche geltend,<br />

die im Zusammenhang mit einem am 9. 09.2004 durchgeführten operativen Eingriff wegen eines<br />

BronchialKarzinoms stehen. Seine Leistungen rechnete er am 25. 10.2004 mit insgesamt 4.582,41 € ab, auf die<br />

der Beklagte - in Abstimmung mit dem hinter ihm stehenden privaten Krankenversicherer - nur 2.623,94 € zahlte.<br />

Hintergrund hierfür ist deren Auffassung, bestimmte in Rechnung gestellte Gebührenpositionen seien nicht<br />

selbständig abrechenbar, weil es sich insoweit nur um methodisch notwendige operative Einzelschritte handele,<br />

die erforderlich gewesen seien, um die Zielleistungen nach den Nummern 2997 (Lobektomie und Lungensegmentresektionen) und<br />

3013 (Intrathorakaler Eingriff am Lymphgefäßsystem) des Gebührenverzeichnisses der GOÄ(GOÄ) vornehmen zu können. Der<br />

Unterschiedsbetrag von 1.958,47 € nebst Zinsen war Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens.<br />

Das Amtsgericht hat der Klage in Höhe von 1.356,84 € nebst Zinsen stattgegeben. Dabei hat es die Auffassung<br />

vertreten, der Kläger sei berechtigt, neben diesen Gebührenpositionen auch Leistungen nach den Nummern 2975<br />

und 3126 und je zweimal nach den Nummern 2583 und 2802 des Gebührenverzeichnisses abzurechnen, weil sie<br />

nicht als methodisch notwendige Einzelschritte der in den Nummern 2997 und 3013 abgebildeten Zielleistungen<br />

anzusehen seien und eine eigenständige medizinische Indikation gehabt hätten. Im Übrigen hat es die Klage<br />

abgewiesen. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landgericht die Klage insgesamt abgewiesen. Mit seiner<br />

vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung der amtsgerichtlichen<br />

Entscheidung.<br />

Entscheidungsgründe<br />

Die Revision hat nur teilweise Erfolg und führt insoweit zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur<br />

Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.<br />

I.<br />

Das Berufungsgericht verneint eine gesonderte Abrechenbarkeit der in Rede stehenden, vom Kläger erbrachten<br />

Leistungen auf der Grundlage des § 4 Abs. 2a GOÄ. Bei ihnen handele es sich um im Sinne des Satzes 2 dieser<br />

Bestimmung methodisch notwendige operative Einzelschritte auf dem Weg zur Erbringung der unter die<br />

Nummern 2997 und 3013 fallenden Zielleistungen. Bei der Feststellung, was ein methodisch notwendiger<br />

operativer Einzelschritt sei, komme es nicht darauf an, ob die betreffende Leistung immer, typischerweise und<br />

routinemäßig bei der Erbringung der sogenannten Zielleistung anfalle, sondern allein darauf, ob sie im konkreten<br />

Fall erforderlich gewesen sei, um die Zielleistung kunstgerecht erbringen zu können. Diese Auslegung sei vor<br />

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allem aus praktischen Gründen vorzuziehen, weil sie wesentlich leichter handhabbar sei und eine eindeutigere<br />

Abgrenzung erlaube, als wenn die Typizität eines Zwischenschrittes - vielfach nicht ohne sachverständige Hilfe -<br />

beurteilt werden müsse, und werde daher dem Anliegen nach mehr Transparenz der Abrechnung besser gerecht.<br />

II.<br />

Diese Beurteilung hält in ihrem Verständnis zur Auslegung des § 4 Abs. 2a GOÄ der rechtlichen Überprüfung<br />

nicht stand; hiervon ist jedoch nur die Abrechenbarkeit der Leistung nach Nr. 2975 des Gebührenverzeichnisses<br />

betroffen.<br />

1. Wie der Senat bereits mit Urteilen vom 13. 05.2004 (BGHZ 159, 142, 143 f) und vom 16. 03.2006 (III ZR 217/05 - NJWRR 2006, 919 Rn. 6)<br />

entschieden hat, ist für die Frage, welche von mehreren gleichzeitig oder im Zusammenhang erbrachten<br />

Leistungen selbständig berechnungsfähig sind, neben Berechnungsbestimmungen im Gebührenverzeichnis<br />

selbst vor allem § 4 Abs. 2a GOÄ in der Fassung der Vierten Verordnung zur Änderung der GOÄ vom 18.<br />

12.1995 (BGBl. I S. 1861) in den Blick zu nehmen. Nach dieser Bestimmung kann der Arzt für eine Leistung, die<br />

Bestandteil oder eine besondere Ausführung einer anderen Leistung nach dem Gebührenverzeichnis ist, eine<br />

Gebühr nicht berechnen, wenn er für die andere Leistung eine Gebühr berechnet. Dies gilt nach § 4 Abs. 2a Satz<br />

2 GOÄ auch für die zur Erbringung der im Gebührenverzeichnis aufgeführten operativen Leistungen methodisch<br />

notwendigen operativen Einzelschritte. In den dem Abschnitt L (Chirurgie, Orthopädie) des Gebührenverzeichnisses<br />

vorangestellten Allgemeinen Bestimmungen werden Inhalt und Tragweite dieses als Zielleistungsprinzip<br />

bezeichneten Grundsatzes näher verdeutlicht, wenn es dort heißt, dass zur Erbringung der in Abschnitt L<br />

aufgeführten typischen operativen Leistungen in der Regel mehrere operative Einzelschritte erforderlich sind und<br />

dass diese Einzelschritte, soweit sie methodisch notwendige Bestandteile der in der jeweiligen<br />

Leistungsbeschreibung genannten Zielleistung sind, nicht gesondert berechnet werden können. Der Bestimmung<br />

des § 4 Abs. 2a Satz 1 GOÄ, dieinhaltlich im Wesentlichen schon in § 4 der GOÄ vom 18. 03.1965 (BGBl. I S. 89) und in<br />

§ 4 Abs. 2 Satz 2 der GOÄ vom 12. 11.1982 (BGBl. I S. 1522) enthalten war, kommt eine klare abrechnungstechnische<br />

Bedeutung zu, die unmittelbar einleuchtet: Der Arzt darf ein und dieselbe Leistung, die zugleich Bestandteil einer<br />

von ihm gleichfalls vorgenommenen umfassenderen Leistung ist, nicht zweimal abrechnen. Daraus folgt zugleich<br />

die Selbstverständlichkeit, dass Leistungen, die nicht Bestandteil einer anderen abgerechneten Leistung sind,<br />

abrechenbar sind, soweit es sich um selbständige Leistungen handelt.<br />

Die durch die Vierte Verordnung zur Änderung der GOÄ vom 18. 12.1995 zusätzlich eingefügten Regelungen in §<br />

4 Abs. 2a Satz 2 GOÄ und in den Allgemeinen Bestimmungen des Abschnitts L, die auf eine Anregung des<br />

Bundesrates zur "Klarstellung und Verdeutlichung der Anwendung des Ziel- oder Komplexleistungsprinzips auch<br />

im operativen Bereich" zurückgehen (vgl. BRDrucks. 688/95 S. 4), schließen an diesen Zweck an und formulieren dies für<br />

operative Leistungen in der Weise, dass methodisch notwendige operative Einzelschritte nicht besonders zu<br />

berechnen sind. Dabei verdeutlicht Absatz 1 Satz 2 der Allgemeinen Bestimmungen des Abschnitts L, dass mit<br />

den Einzelschritten Bestandteile der in der jeweiligen Leistungsbeschreibung genannten Zielleistung gemeint<br />

sind. Es geht daher auch bei Anwendung dieser Bestimmungen um die Verhinderung einer Doppelhonorierung<br />

von Leistungen (vgl. Miebach, in: Uleer/Miebach/Patt, Abrechnung von Arzt- und Krankenhausleistungen, 3. Aufl. 2006, § 4 GOÄ Rn. 12 f, und MedR 2003, 88). Nur dieser Grund<br />

rechtfertigt es, eine erbrachte Leistung, soweit sie selbständig ist, nicht zu honorieren.<br />

2. a) Vielfach gibt die Gebührenordnung selbst Hinweise dafür, wie das Verhältnis ärztlicher Leistungen<br />

zueinander zu bestimmen ist, ohne dass hierfür eine aufwändigere Analyse des genauen Inhalts der<br />

Gebührenposition notwendig wäre. Dies gilt - für den operativen Bereich - etwa für eine Komplexleistung wie in<br />

Nr. 2757 im Verhältnis zu Nr. 2260 (vgl. hierzu Senatsurteil BGHZ 159, 142, 144 f), für die Komplexleistung in Nr. 2297 im Verhältnis zu<br />

den Nummern 2295 und 2296 (vgl. Senatsurteil vom 16. 03.2006 aaO S. 919 f Rn. 7) oder wie im vorliegenden Fall im Verhältnis der<br />

Komplexleistung in Nr. 2997 zu den Leistungen in den Nummern 2995 und 2996. Dass einem einheitlichen<br />

Behandlungsgeschehen auch mehrere Zielleistungen zugrunde liegen können, ist nach der jeweiligen<br />

Leistungslegende ebenfalls möglich (vgl. Senatsurteil vom 16. 03.2006 aaO S. 920 Rn. 10). Absatz 2 der Allgemeinen Bestimmungen des<br />

Abschnitts L belegt, dass auch die Gebührenordnung von einer solchen Möglichkeit ausgeht, indem sie eine<br />

Anrechnungsbestimmung bei Eingriffen in die Brust oder Bauchhöhle nach unterschiedlichen Gebührenpositionen<br />

vorsieht, wenn es dabei nur zu einer einmaligen Eröffnung dieser Körperhöhlen gekommen ist. Daran wird<br />

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deutlich, dass es einer genaueren Betrachtung der Reichweite jeder in Rede stehenden Gebührenposition bedarf<br />

und aus dem Umstand, dass nach ärztlicher Kunst verschiedene Leistungen in zeitlichem Zusammenhang zu<br />

erbringen sind, nicht ohne weiteres zu schließen ist, es liege nur eine Zielleistung vor, im Verhältnis zu der sich<br />

die anderen als unselbständige Hilfs- oder Begleitverrichtungen darstellten.<br />

b)Geben unterschiedliche Gebührenpositionen, die ihrer Legende nach durch den Arzt erfüllt worden sind, keine<br />

näheren Hinweise über ihr Verhältnis zueinander, ist zu prüfen, ob es sich um jeweils selbständige Leistungen<br />

handelt oder ob eine oder mehrere von ihnen als Zielleistung und die anderen als deren methodisch notwendigen<br />

Bestandteile anzusehen sind. Die Auffassungdes Berufungsgerichts, was unter einem methodisch notwendigen<br />

Bestandteil einer Zielleistung zu verstehen sei, richte sich danach, was im konkreten Einzelfall erforderlich<br />

gewesen sei, um die Zielleistung kunstgerecht zu erbringen, teilt der Senat nicht. Der Maßstab ärztlicher Kunst ist<br />

bei der Erbringung aller ärztlichen Leistungen - seien es selbständige Leistungen oder unselbständige<br />

Begleitverrichtungen - zu beachten. Er hat damit Bedeutung für die Frage, welche Leistungen der Arzt dem<br />

Patienten in einem konkreten Behandlungsfall zu erbringen hat. Er ist aber gebührenrechtlich kein hinreichend<br />

taugliches Unterscheidungskriterium. Vor allem vermag er die Frage nach dem jeweiligen Inhalt der zur<br />

Diskussion stehenden Gebührenpositionen nicht näher zu beantworten. Will man aber im Einzelnen prüfen, ob<br />

verschiedene ärztliche Leistungen (methodisch notwendige) Bestandteile einer anderen Leistung sind, damit eine doppelte<br />

Honorierung vermieden wird, kann man dies nur beantworten, wenn man zuvor Klarheit über den jeweiligen<br />

Leistungsumfang gewonnen hat. Diese dem Richter obliegende Aufgabe wird häufig nicht ohne sachverständige<br />

Hilfe bewältigt werden können. Dabei hat der Richter - wie auch sonst bei der Auslegung von Gesetzen - einen<br />

abstraktgenerellen Maßstab zugrunde zu legen (vgl. hierzu auch BVerwG, Urteil vom 21. 09.1995 - 2 C 33/94 - juris Rn. 1416), ehe er das hieraus<br />

gewonnene Ergebnis auf den konkreten Fall anwendet. Dass der Verordnungsgeber bei der Festlegung und<br />

Bewertung der einzelnen Gebührenpositionen von solchen allgemeinen Maßstäben ausgegangen ist, kann nicht<br />

zweifelhaft sein. Dies ergibt sich daraus, dass er in Absatz 1 Satz 1 der Allgemeinen Bestimmungen von<br />

"typischen" operativen Leistungen spricht und in Satz 2 bezüglich der Einzelschritte die mangelnde<br />

Berechenbarkeit davon abhängig macht, dass sie "methodisch" notwendige Bestandteile der Zielleistung sind.<br />

Hieraus sowie aus der sehr differenzierten punktmäßigen Bewertung wird deutlich, dass der Verordnungsgeber<br />

bei der Beschreibung der verschiedenen Leistungen ein typisches Bild vor Augen hatte, zu dem nach den<br />

Kenntnissen medizinischer Wissenschaft und Praxis ("Methode") ein bestimmter Umfang von Einzelverrichtungen<br />

gehört. Es ist zwar so, dass in den verschiedenen Gebührenpositionen die ärztlichen Leistungen eher - als Ziel -<br />

plakativ benannt denn beschrieben werden und dass die Art der Ausführung und der verwendeten<br />

wissenschaftlichen Methode nicht Bestandteil der Leistungslegende ist. Das rechtfertigt indes nicht - wie es das<br />

Berufungsgericht für richtig hält , die Frage nach dem "methodisch" notwendigen operativen Einzelschritt mehr<br />

oder minder unbeantwortet zu lassen. Der Hinweis auf die vom Verordnungsgeber (gleichfalls) gewünschte<br />

Verbesserung der Transparenz der Abrechnung ändert hieran nichts, da die Abrechnung schwerlich transparenter<br />

sein kann als das Gefüge der im Gebührenverzeichnis enthaltenen ärztlichen Leistungen. Dieses zu ändern -<br />

etwa um einer veränderten medizinischen Anschauung Rechnung zu tragen - wäre Sache des<br />

Verordnungsgebers. Das Zielleistungsprinzip allein kann nicht dafür in Anspruch genommen werden, vom<br />

Verordnungsgeber als selbständig angesehene Leistungen zum Bestandteil einer anderen Leistung zu machen.<br />

3. Gemessen an diesen Grundsätzen kann die besondere Berechnungsfähigkeit der Leistungen nach der Nr.<br />

2975 des Gebührenverzeichnisses nicht verneint werden, während die angefochtene Entscheidung hinsichtlich<br />

der weiteren Gebührenpositionen nicht zu beanstanden ist.<br />

a) Nach den Angaben des Sachverständigen, die beide Vorinstanzen ihrer Entscheidung zugrunde gelegt haben,<br />

hat der Kläger die in Nr. 2975 beschriebene Leistung der Dekortikation der Lunge vorgenommen. Der<br />

Sachverständige hat hierzu erläutert, die Freilegung von Verwachsungen der Lungenoberfläche sei erforderlich<br />

gewesen, um die Entfernung des rechten Lungenoberlappens nach der Nr. 2997 zu ermöglichen. Die<br />

Schwartenbildung und die durch starken Nikotingenuss vorhandenen Adhäsionen seien eine eigenständige<br />

Indikation für die Freilegung der Lunge gewesen. Demgegenüber sei bei der Entfernung eines Lungenlappens<br />

und einer Resektion von Lungensegmenten normalerweise eine Freilegung verwachsener Lungenoberflächen<br />

nicht erforderlich.<br />

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Danach lässt sich zwar nicht in Abrede stellen, dass die Freilegung der Lungenoberfläche medizinisch notwendig<br />

war, um die in Aussicht genommene Entfernung des Lungenlappens und die Resektion von Lungensegmenten<br />

vorzunehmen. Es mag auch die Auffassung des Beklagten zutreffen, eine Freilegung der Lungenoberfläche wäre<br />

unterblieben, wenn die Leistungen nach Nr. 2997 nicht vorgenommen worden wären, so dass eine eigenständige<br />

Indikation, die zur Operation geführt hätte, zweifelhaft ist. Der Senat sieht jedoch weder in der<br />

Leistungsbeschreibung noch in der Bewertung einen Anhaltspunkt dafür, dass die mit 4.800 Punkten bewertete<br />

Leistung nach Nr. 2975 in der mit 5.100 Punkten nur unwesentlich höher bewerteten Leistung nach Nr. 2997<br />

enthalten oder als deren besondere Ausführung im Sinn des § 4 Abs. 2a Satz 1 GOÄ zu behandeln wäre. Auch<br />

wenn man noch die in beiden Gebührennummern enthaltenen 1.110 Punkte für die Eröffnung der Brusthöhle<br />

berücksichtigt (vgl. Nr. 2990 i.V.m. Absatz 2 der Allgemeinen Bestimmungen des Abschnitts L), müsste die Freilegung zu mehr als 90 % in der Nr.<br />

2997 enthalten sein, was angesichts der beiden vergleichsweise hoch bewerteten Gebührenpositionen<br />

auszuschließen ist. Dann bleibt aber praktisch keine andere Wahl, als in der Leistung nach Nr. 2975 eine<br />

selbständige im Sinn des § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ zu sehen.<br />

b) Zu Nr. 3126 des Gebührenverzeichnisses (Intrathorakaler Eingriff am Ösophagus) hat das Berufungsgericht die Auffassung<br />

vertreten, die Ablösungund Entfernung der an der Speiseröhre anhaftenden Lymphknoten sei bereits von der Nr.<br />

3013 (Intrathorakaler Eingriff am Lymphgefäßsystem) umfasst. Es hat darüber hinaus - im Rahmen seiner Analyse des Senatsurteils<br />

vom 21. 12.2006 (III ZR 117/06 - NJWRR 2007, 494, 497 Rn. 23; insoweit ohne Abdruck in BGHZ 170, 252)- zum Ausdruck gebracht, im vorliegenden Fall<br />

liege nicht die Besonderheit vor, dass die streitigen Abrechnungen ein anderes Zielgebiet beträfen. Hiergegen<br />

wird von der Revision nichts angeführt. Da der in Nr. 3013 beschriebene Eingriff am Lymphgefäßsystem den<br />

Raum der Brusthöhle betrifft und sich nicht auf bestimmte befallene Organe bezieht, hält der Senat die<br />

Würdigung, dass diese Gebührenziffer auch Leistungen an der in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden und mit<br />

dem Eingriff in dieselbe Körperhöhle erreichbaren Speiseröhre mit abdeckt, für rechtsfehlerfrei.<br />

c) Was die zweimalige Berechnung der Neurolyse des Nervus vagus und des Nervus recurrens nach Nr. 2583<br />

angeht, hat das Berufungsgericht im Ergebnis zu Recht die gesonderte Abrechenbarkeit verneint. Bereits in die<br />

Beschreibung dieser Leistung ist der im Hinblick auf § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ an sich überflüssige Zusatz<br />

aufgenommen worden, dass die Neurolyse (nur) als selbständige Leistung abrechenbar ist. Der Zusatz gibt aber<br />

einen besonderen Hinweis darauf, dass der Verordnungsgeber bei der Beschreibung von Zielleistungen im Auge<br />

hatte, dass Neurolysen - gerade im operativen Bereich - wenn auch nicht in jedem Fall, aber typischerweise<br />

erforderlich sind, um den Erfolg einer operativen Leistung zu gewährleisten. Es stellt keine für eine selbständige<br />

Abrechenbarkeit hinreichende eigenständige Indikation dar, wenn der betreffende Nerv im Zuge der Erbringung<br />

der (anderen) Zielleistung geschont und seine Verletzung verhindert werden soll (vgl. Senatsurteil BGHZ 159, 142, 145 f). So verhielt es<br />

sich aber nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts auch hier.<br />

d) Auch die Freilegung und/oder Unterbindung eines Blutgefäßes in der Brust- oder Bauchhöhle (Nr. 2802) ist - wie die<br />

Leistungslegende hervorhebt - nur als selbständige Leistung abrechenbar. Insoweit gelten hierfür ähnliche<br />

Überlegungen wie zur Neurolyse oder zur Freilegung eines Blutgefäßes im Halsbereich (vgl. hierzu Senatsurteil BGHZ 159 aaO).<br />

Insoweit hat das Berufungsgericht - sachverständig beraten - festgestellt, die Freilegung der Blutgefäße sei<br />

erforderlich gewesen, um an die Lymphknoten heranzukommen, die im Zuge einer Leistung nach der Nr. 3013<br />

entfernt werden sollten. Dies ist rechtlich unbedenklich und wird auch von der Revision nicht angegriffen.<br />

4. Danach kann der Kläger von den noch streitigen Positionen lediglich für seine Leistungen nach der Nr. 2975<br />

ein Honorar beanspruchen. Hierfür hat er - insoweit unbeanstandet - das Dreieinhalbfache des Gebührensatzes,<br />

das sind 979,23 € und unter Berücksichtigung des Abschlags von 25 % (= 244,81 €) gemäß § 6a Abs. 1 GOÄ 734,42 €,<br />

in Rechnung gestellt.<br />

Legt man die von den Parteien rechnerisch nicht angegriffenen Berechnungen des Amtsgerichts zugrunde, das<br />

von einer vorprozessualen Erfüllung des Beklagten in Höhe von 442,19 € ausgegangen ist, ergibt sich ein<br />

möglicher Anspruch des Klägers von 292,23 € nebst Zinsen.<br />

Im weiteren Verfahren ist jedoch noch zu klären, ob der Kläger nach Absatz 2 der Allgemeinen Bestimmungen<br />

des Abschnitts L Abschläge in Höhe des Vergütungssatzes nach Nr. 2990 hinzunehmen hat, weil aus der Sicht<br />

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des Senats auf der Grundlage des Operationsberichts im Raum steht, dass bei mehreren in zeitlichem<br />

Zusammenhang durchgeführten Eingriffen in der Brusthöhle (hier nach den Nummern 2975, 2997 und 3013) die Eröffnungsleistung nur<br />

einmal berechnet werden darf. Da insoweit noch keine Feststellungen getroffen worden sind und die Parteien sich<br />

hierzu gleichfalls noch nicht geäußert haben, ist die Sache insoweit zur weiteren Klärung an das Berufungsgericht<br />

zurückzuverweisen (zur näheren Berechnung vgl. Brück, GOÄ, 3. Aufl., Stand 7/2006, Abschnitt L Allgemeine Bestimmungen Rn. 3).<br />

Schlick Dörr Herrmann HarsdorfGebhardt Hucke<br />

Vorinstanzen: AG Hamburg, Entscheidung vom 13.12.2006 - 17A C 352/05 - LG Hamburg, Entscheidung vom<br />

28.08.2007 - 320 S 15/07 -<br />

BGH VI ZR 250/07 vom 06.05.2008<br />

Im Arzthaftungsprozess hat das Gericht zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts in der Regel<br />

einen Sachverständigen einzuschalten. Ein gerichtliches Sachverständigengutachten muss der Tatrichter<br />

jedenfalls dann einholen, wenn ein im Wege des Urkundsbeweises verwertetes Gutachten (hier: aus einem<br />

vorangegangenen Verfahren einer ärztlichen Schlichtungsstelle) nicht alle Fragen beantwortet.<br />

BGH, Beschluss vom 6. 05.2008 - VI ZR 250/07 - OLG Brandenburg<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. 05.2008 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Dr.<br />

Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll beschlossen:<br />

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 12. Zivilsenats des<br />

Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 30. 08.2007 aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens<br />

der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Gegenstandswert: 47.954,74 €<br />

Gründe:<br />

1. Die damals 47jährige Klägerin stürzte am 20. 01.2001 beim Schlittschuhlaufen und zog sich dabei eine<br />

Trümmerfraktur der linken Kniescheibe zu. Sie begab sich am Folgetag in das Klinikum F., dessen Träger<br />

seinerzeit die Beklagte zu 1 war. Bei der Aufnahmeuntersuchung wurde ein Kniescheibenmehrfragmentbruch<br />

diagnostiziert. Die Klägerin wurde stationär aufgenommen und von dem Beklagten zu 3, dem Chefarzt der<br />

Chirurgischen Abteilung, behandelt. Dieser ordnete eine konventionelle Behandlung durch Ruhigstellung an.<br />

Wegen zunehmender Beschwerden der Klägerin erfolgte am 1. 02.2001 eine erneute Röntgenuntersuchung, bei<br />

der nunmehr eine deutliche Stufenbildung der Bruchstellen der Kniescheibe festgestellt wurde. Daraufhin wurde<br />

eine operative Behandlung der Fraktur angeordnet. Die Operation fand am 5. 02.2001 statt und wurde von dem<br />

Beklagten zu 2 durchgeführt. Die Klägerin verblieb bis zum 20. 02.2001 in stationärer Behandlung. Ihr Knie war in<br />

der Folgezeit nur eingeschränkt bewegungsfähig. Am 28. 05.2001 wurden die bei der Operation eingebrachten<br />

Drähte entfernt. Anschließend unterzog sich die Klägerin einer Rehabilitationsmaßnahme. Die Klägerin hat unter<br />

Beweisantritt behauptet, die Entscheidung für eine konservative Behandlung sei fehlerhaft gewesen. Der Beklagte<br />

zu 3 habe die Stufenbildung der Frakturstücke übersehen. Die konventionelle Behandlung habe eine<br />

Ruhigstellung zunächst nicht gewährleisten können, weil eine geeignete Schiene nicht sofort zur Verfügung<br />

gestanden habe. Die nach mehreren Tagen eingetroffene Motorschiene habe nicht gepasst und keinen<br />

ausreichenden Halt verschafft. Die Operation sei verspätet und fehlerhaft durchgeführt worden. Infolge der<br />

unsachgemäßen Behandlung seien Verwachsungen eingetreten und weitere Operationen erforderlich geworden.<br />

Die Klägerin leide heute an einer Chondropathie III. Grades in Form einer ausgeprägten Arthrose des linken<br />

Kniegelenks. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Mit ihrer Berufung hat sich die Klägerin mit näheren<br />

Ausführungen gegen die Auffassung des Landgerichts gewandt, dass die Klageforderung verjährt sei. In der<br />

Sache selbst hat sie auf ihr erstinstanzliches Vorbringen einschließlich der dortigen Beweisantritte Bezug<br />

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genommen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung mit der Begründung zurückgewiesen, die Klägerin habe<br />

nicht nachgewiesen, dass die von ihr geklagten Beschwerden auf einer fehlerhaften Behandlung beruhten.<br />

Vielmehr stehe aufgrund des im vorausgegangenen Schlichtungsverfahren erstatteten und im Wege des<br />

Urkundsbeweises verwerteten Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. W. fest, dass ein Behandlungsfehler<br />

nicht vorliege und die Behandlung der Klägerin sach- und fachgerecht erfolgt sei. Gegen dieses Gutachten habe<br />

die Klägerin keine konkreten Einwendungen erhoben. Für eine mangelnde Neutralität des Gutachters bestünden<br />

keine Anhaltspunkte. Es sei auch nicht zu beanstanden, dass der Sachverständige die Klägerin nicht untersucht<br />

habe, denn der Gutachter habe nicht den jetzigen Krankheitszustand der Klägerin, sondern aufgrund der<br />

vorhandenen Unterlagen den Ablauf und die Ordnungsmäßigkeit der Behandlung zu beurteilen gehabt, wofür eine<br />

Untersuchung nicht erforderlich sei. Die von der Klägerin vorgelegte Stellungnahme des Orthopäden Dr. G. sei<br />

nicht geeignet, die Beurteilung des Schlichtungsgutachters in Zweifel zu ziehen. Zwar habe dieser sich nicht mit<br />

dem Vorbringen auseinandergesetzt, auch die konservative Behandlung sei fehlerhaft gewesen, weil die<br />

erforderliche Motorschiene zu spät beschafft worden sei, doch habe der Sachverständige unter Auswertung der<br />

vorliegenden Behandlungsunterlagen keine Anhaltspunkte dafür vorgefunden, dass die eingetretene<br />

Stufenbildung auf eine nicht ausreichende Stabilisierung des Kniegelenks zurückzuführen sei. Auch die Klägerin<br />

gehe offensichtlich selbst nicht davon aus, dass die Stufenbildung durch das Nichtanlegen der Motorschiene<br />

verursacht worden sei, da sie ja der Auffassung sei, dass von Anfang an eine Operation indiziert gewesen wäre.<br />

Das Berufungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der<br />

Nichtzulassungsbeschwerde.<br />

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des<br />

angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die angefochtene<br />

Entscheidung verletzt den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Mit Erfolg macht<br />

die Nichtzulassungsbeschwerde geltend, dass das Berufungsgericht die Beurteilung, ob die in der Klinik der<br />

Beklagten zu 1 getroffene Entscheidung für eine zunächst konservative Behandlung und deren Durchführung<br />

fehlerhaft waren, ausschließlich auf das im Wege des Urkundsbeweises verwertete Gutachten aus dem<br />

vorausgegangenen Schlichtungsverfahren gestützt hat.<br />

a) Im Arzthaftungsprozess hat das Gericht zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts in der Regel<br />

einen Sachverständigen einzuschalten (vgl. OLG Hamm, AHRS 7010/124; AHRS 7010/300; AHRS 7010/319; OLG Karlsruhe, AHRS 7010/328). Dabei kann<br />

gemäß § 411a ZPO eine schriftliche Begutachtung durch die Verwertung eines gerichtlich oder<br />

staatsanwaltschaftlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ersetzt werden.<br />

Das schließt allerdings nicht aus, dass ein außerhalb des Rechtsstreits, etwa in einem anderen Verfahren<br />

erstattetes Gutachten grundsätzlich auch im Arzthaftungsprozess im Wege des Urkundsbeweises verwertet<br />

werden kann (vgl. Senatsurteile vom 5. 02.1963 - VI ZR 42/62 - VersR 1963, 463, 464 [ärztliches Gutachten aus einem Armenrechtsverfahren]; vom 8. 11.1994 - VI ZR 207/93 - VersR 1995, 481,<br />

482 [Mehrere Gutachten aus einem Strafverfahren]; vom 22. 04.1997 - VI ZR 198/96 - VersR 1997, 1158, 1159 [Gutachten aus einem sozialgerichtlichen Verfahren] und vom 23. 04.2002 - VI ZR 180/01 -<br />

VersR 2002, 911 [Unfallanalytisches Gutachten aus einem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren]). Nach der Rechtsprechung des Senats gilt dies im<br />

Grundsatz auch für medizinische Gutachten aus vorausgegangenen Verfahren ärztlicher Schlichtungsstellen (vgl.<br />

Senatsurteile vom 19. 05.1987 - VI ZR 147/86 - VersR 1987, 1091, 1092 und vom 2. 03.1993 - VI ZR 104/92 - VersR 1993, 749, 750; vgl. auch OLG Köln, VersR 1990, 311 und AHRS 7010, 333). Der<br />

Tatrichter muss aber ein gerichtliches Sachverständigengutachten jedenfalls dann einholen, wenn ein im Wege<br />

des Urkundsbeweises verwertetes Gutachten nicht alle Fragen beantwortet (Senatsurteil vom 2. 03.1993 - VI ZR 104/92 - aaO; vgl. auch OLG<br />

Bremen, OLGR 2001, 398 = AHRS 7010/309). Ein solcher Fall ist hier gegeben.<br />

b) Das Berufungsgericht hat es verfahrensfehlerhaft versäumt, dem von der Klägerin durch Vorlage der<br />

ärztlichen Stellungnahme des Orthopäden Dr. G. untermauerten Vortrag nachzugehen, wonach eine sofortige<br />

Operation indiziert gewesen sei. Den darin liegenden Widerspruch zu der Beurteilung des Schlichtungsgutachters<br />

hätte das Berufungsgericht durch Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens aufklären müssen.<br />

Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zudem mit Recht geltend macht, befasst sich das Schlichtungsgutachten<br />

auch nicht mit dem Hilfsvorbringen der Klägerin, zu der negativen Entwicklung des Heilungsprozesses habe das<br />

anfängliche Fehlen der für eine konservative Behandlung erforderlichen und im Streitfall auch ärztlich verordneten<br />

MedicomSchiene beigetragen. In diesem Zusammenhang hätte das Berufungsgericht gegebenenfalls auch der<br />

von den Beklagten angesprochenen Frage nachgehen müssen, ob und auf welche Weise die auch von ihnen für<br />

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die Zeit der konservativen Behandlung für erforderlich erachtete Ruhigstellung des Kniegelenks trotz fehlender<br />

Schiene gewährleistet war.<br />

3. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Klärung zu einer<br />

anderen Beurteilung des Falles gekommen wäre, war das Urteil aufzuheben und die Sache an das<br />

Berufungsgericht zurückzuverweisen.<br />

Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll<br />

Vorinstanzen: LG Frankfurt (Oder), Entscheidung vom 12.12.2006 - 12 O 158/06 - OLG Brandenburg, Entscheidung<br />

vom 30.08.2007 - 12 U 33/07<br />

BGH VI ZR 221/06 Verkündet am: 12.02.2008: Wenn ein Morbus Sudeck nach dem Klagevortrag infolge einer<br />

ärztlichen Fehlbehandlung und der damit hervorgerufenen Gesundheitsbeeinträchtigung eingetreten ist,<br />

behauptet der Kläger insoweit einen Sekundärschaden. Für den Nachweis des Ursachenzusammenhangs<br />

zwischen der Fehlbehandlung und dem Morbus Sudeck gilt in diesem Fall der Maßstab des § 287 ZPO (= überwiegende<br />

Wahrscheinlichkeit- Abgrenzung zum Senatsurteil vom 4. 11.2003 - VI ZR 28/03 - VersR 2004, 118).<br />

BGH, Urteil vom 12. 02.2008 - VI ZR 221/06 - OLG Saarbrücken , LG Saarbrücken Der VI. Zivilsenat des<br />

Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 12. 02.2008 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller und<br />

die Richter Dr. Greiner, Pauge, Stöhr und Zoll für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Saarländischen<br />

Oberlandesgerichts in Saarbrücken vom 11. 10.2006 aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Der Kläger nimmt den Beklagten, einen Facharzt für Orthopädie, wegen ärztlicher Fehlbehandlung auf<br />

Ersatz materieller und immaterieller Schäden in Anspruch.<br />

Der Kläger schlug sich am 11. 10.2002 mit dem Hammer auf den linken Zeigefinger und begab sich<br />

deswegen am 14. 10.2002 in die ärztliche Behandlung des Beklagten. Dieser fertigte ein Röntgenbild an und<br />

diagnostizierte danach eine starke Prellung. Er versorgte den Finger mit einem Verband und entließ den Kläger<br />

als arbeitsfähig. Am 15. 11.2002 rutschte der Kläger während der Arbeit aus und schlug mit dem linken<br />

Zeigefinger gegen eine Wand. Aufgrund dessen stellte er sich am 18. 11.2002 bei Dr. B. vor, der eine Refraktur<br />

des linken Zeigefingerendglieds diagnostizierte. Nachfolgend trat eine Sudecksche Heilentgleisung ein. Der<br />

Kläger ist seitdem arbeitsunfähig und erhält seit 05.2004 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Der<br />

Kläger behauptet, er habe bereits am 11. 10.2002 eine Fraktur des linken Zeigefingerendglieds erlitten. Dies sei<br />

auf dem gefertigten Röntgenbild eindeutig zu erkennen. Der Zeigefinger hätte ruhiggestellt und er selbst hätte<br />

arbeitsunfähig geschrieben werden müssen. Folgen der Fehlbehandlung seien der Unfall vom 15. 11.2002 und<br />

das Auftreten des Morbus Sudeck.<br />

Das Landgericht hat dem Kläger wegen der Behandlungsverzögerung ein Schmerzensgeld von 500 €<br />

zugesprochen und die weitergehende Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers<br />

und die Anschlussberufung des Beklagten zurückgewiesen. Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen<br />

Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

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Das Berufungsgericht bejaht einen Behandlungsfehler des Beklagten bei der Auswertung des<br />

Röntgenbildes, weil tatsächlich eine Fraktur vorgelegen habe und die Diagnose einer Prellung mithin falsch<br />

gewesen sei. Es meint jedoch, dass sich eine Kausalität zwischen der Fehlbehandlung und der Entstehung des<br />

Morbus Sudeck nicht sicher feststellen lasse. Nach der Beurteilung des Sachverständigen sei ein<br />

Ursachenzusammenhang zwar sehr wahrscheinlich; da es jedoch möglich - wenn auch sehr unwahrscheinlich -<br />

sei, dass sich der Morbus Sudeck allein aufgrund des ersten Unfalls vom 11. 10.2002 entwickelt habe, lasse sich<br />

nicht mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit die Überzeugung gewinnen, dass der<br />

Behandlungsfehler die Sudecksche Heilentgleisung hervorgerufen habe. Beweiserleichterungen kämen dem<br />

Kläger nicht zugute. Die fehlerhafte Auswertung des Röntgenbildes sei, da der Beklagte den notwendigen Befund<br />

erhoben habe, kein Befunderhebungsfehler, sondern ein Diagnosefehler. Ein grober Behandlungsfehler in Form<br />

eines fundamentalen Diagnoseirrtums liege nicht vor, weil die Fraktur nach Einschätzung des Sachverständigen<br />

eher schwierig zu erkennen gewesen sei. Da sie jedoch auf dem Röntgenbild erkennbar sei, habe keine<br />

Veranlassung bestanden, eine Vergrößerung der Aufnahme anzufertigen.<br />

Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.<br />

II.<br />

1. Das Berufungsgericht hat allerdings zu Recht das ärztliche Fehlverhalten des Beklagten am 14. 10.2002<br />

nicht als Befunderhebungsfehler, sondern als Diagnosefehler gewertet, wie er im Falle der Fehlinterpretation von<br />

erhobenen oder sonst vorliegenden Befunden gegeben ist. Im Unterschied dazu liegt ein Befunderhebungsfehler<br />

und damit ein Therapiefehler vor, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird (vgl. Senatsurteile<br />

vom 10. 11.1987 - VI ZR 39/87 - VersR 1988, 293, 294; vom 23. 03.1993 - VI ZR 26/92 - VersR 1993, 836, 838; vom 4. 10.1994 - VI ZR 205/93 - VersR 1995, 46 und vom 8. 07.2003 - VI ZR 304/02 - VersR<br />

2003, 1256 f.). Vorliegend ist dem Beklagten eine Fehlinterpretation des erhobenen Befundes unterlaufen. Die Fraktur<br />

des linken Zeigefingerendglieds war auf dem von ihm angefertigten Röntgenbild nämlich zu erkennen. Das<br />

Nichterkennen dieses Bruchs stellt sich demnach als Diagnosefehler dar, und zwar auch dann, wenn das<br />

Röntgenbild, wie die Revision geltend macht, vierfach hätte vergrößert werden müssen (dazu unten unter 3 b, bb).<br />

2. Als nicht frei von Rechtsfehlern erweisen sich jedoch die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht<br />

die Ursächlichkeit der Fehlbehandlung durch den Beklagten für den Gesundheitsschaden des Klägers verneint<br />

hat. Die Revision macht mit Recht geltend, bei der Beurteilung der Kausalität habe das Berufungsgericht ein zu<br />

strenges Beweismaß angelegt. Nach den Ausführungen in dem angefochtenen Urteil kann nicht ausgeschlossen<br />

werden, dass es den Kläger zu Unrecht für beweisfällig gehalten hat.<br />

Der Patient hat grundsätzlich den Ursachenzusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem<br />

geltend gemachten Gesundheitsschaden nachzuweisen. Dabei ist zwischen der haftungsbegründenden und der<br />

haftungsausfüllenden Kausalität zu unterscheiden. Erstere betrifft die Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für<br />

die Rechtsgutverletzung als solche, also für den Primärschaden des Patienten im Sinne einer Belastung seiner<br />

gesundheitlichen Befindlichkeit. Insoweit gilt das strenge Beweismaß des § 286 ZPO, das einen für das<br />

praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit verlangt (BGHZ 53, 245, 255 f.; Senatsurteile vom 9. 05.1989 - VI ZR 268/88 - VersR 1989, 758, 759 und<br />

vom 18. 01.2000 - VI ZR 375/98 - VersR 2000, 503, 505; BGH, Urteil vom 14. 01.1993 - IX ZR 238/91 - NJW 1993, 935, 937). Die Feststellung der haftungsausfüllenden<br />

Kausalität und damit der Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für alle weiteren (Folge)Schäden einschließlich der<br />

Frage einer fehlerbedingten Verschlimmerung von Vorschäden richtet sich hingegen nach § 287 ZPO; hier kann<br />

zur Überzeugungsbildung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen (Senatsurteile vom 24. 06.1986 - VI ZR 21/85 - VersR 1986, 1121,<br />

1122 f.; vom 21. 10.1987 - VI ZR 15/85 - VersR 1987, 310; vom 22. 09.1992 - VI ZR 293/91 - VersR 1993, 55 f. und vom 21. 07.1998 - VI ZR 15/98 - VersR 1998, 1153, 1154).<br />

Vorliegend hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei die Fehlbehandlung des Klägers und damit die<br />

haftungsbegründende Kausalität festgestellt. Primärschaden des Klägers, d.h. die durch den Behandlungsfehler<br />

im Sinne haftungsbegründender Kausalität hervorgerufene Körperverletzung, ist die durch die unterbliebene<br />

Ruhigstellung und damit unsachgemäße Behandlung der Fraktur eingetretene gesundheitliche Befindlichkeit.<br />

Welche weiteren Schäden sich hieraus entwickelt haben, ist eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität. Da<br />

der Morbus Sudeck nach dem Klagevortrag nicht durch den Unfall, sondern durch die ärztliche Fehlbehandlung<br />

und die damit hervorgerufene Gesundheitsbeeinträchtigung eingetreten ist, behauptet der Kläger insoweit mithin<br />

einen Sekundär/Folgeschaden (vgl. hierzu auch Senatsurteil vom 4. 11.2003 - VI ZR 28/03 - VersR 2004, 118, 119; OLG Saarbrücken, NJWRR 1999, 176, 177). In dieser<br />

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Hinsicht unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem dem Senatsurteil vom 4. 11.2003 (VI ZR 28/03 - VersR 2004, 118)<br />

zugrunde liegenden Sachverhalt, in dem der nach dem Unfall aufgetretene Morbus Sudeck als Primärschaden<br />

geltend gemacht wurde, weil es an einer vorausgegangenen Körperverletzung fehlte.<br />

Nach den vom Berufungsgericht verwendeten Formulierungen liegt die Annahme nahe, dass es bei<br />

Prüfung des Kausalzusammenhangs für den Folgeschaden einen zu strengen Maßstab angelegt hat. Das<br />

Berufungsgericht hat nämlich die Kausalität verneint, weil sich nicht mit einem für das praktische Leben<br />

brauchbaren Grad an Gewissheit die Überzeugung gewinnen lasse, dass die Fehlbehandlung die Sudeck‗sche<br />

Heilentgleisung hervorgerufen habe, denn es sei möglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich, dass sich der<br />

Morbus Sudeck allein aufgrund des Unfalls vom 11. 10.2002 entwickelt habe. Für die Anlegung eines zu strengen<br />

Beweismaßes spricht auch, dass das Berufungsgericht nicht nur den Sachverständigen Prof. Dr. C. mit den<br />

Worten zitiert, dieser habe gesagt, dass der Morbus Sudeck auch bei ordnungsgemäßer Behandlung nicht "mit an<br />

Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" vermieden worden wäre, sondern ausdrücklich auch die<br />

Beweiswürdigung des Landgerichts billigt, welches für den Kausalitätsbeweis eine "mit an Sicherheit grenzende<br />

Wahrscheinlichkeit" verlangt hat. Damit hat das Berufungsgericht, wie die Revision mit Recht geltend macht, für<br />

den Nachweis der Ursächlichkeit hinsichtlich des Folgeschadens ein Beweismaß verlangt, das noch nicht einmal<br />

von dem strengen Maßstab des § 286 ZPO vorausgesetzt wird (vgl. BGHZ 53, 245, 255 f.; Senatsurteile vom 9. 05.1989 - VI ZR 268/88 - VersR 1989, 758,<br />

759 und vom 18. 01.2000 - VI ZR 375/98 - VersR 2000, 503, 505; BGH, Urteil vom 14. 01.1993 - IX ZR 238/91 - NJW 1993, 935, 937). Es kann nicht ausgeschlossen werden,<br />

dass die tatrichterliche Würdigung bei Berücksichtigung der hier allein maßgebenden Grundsätze des § 287 ZPO<br />

zu einem anderen, für den Kläger günstigeren Ergebnis geführt hätte.<br />

3. Auch soweit das Berufungsgericht die Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr zugunsten des<br />

Klägers verneint hat, sind seine Ausführungen nicht in jeder Hinsicht frei von Rechtsfehlern.<br />

a) In Arzthaftungsprozessen kommt eine Beweislastumkehr in Betracht, wenn der Beweis des<br />

Ursachenzusammenhangs von dem hierfür grundsätzlich beweispflichtigen Patienten nicht geführt werden kann.<br />

Das wäre vorliegend der Fall, wenn der Kläger auch bei Anlegung des Beweismaßes von § 287 ZPO beweisfällig<br />

bliebe. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten<br />

Grundsätze über die Beweislastumkehr für den Kausalitätsbeweis bei groben Behandlungsfehlern (Senatsurteil BGHZ 159, 48,<br />

53 m.w.N.), wie der erkennende Senat bereits mehrfach entschieden hat, grundsätzlich nur Anwendung finden, soweit<br />

durch den Fehler des Arztes unmittelbar verursachte haftungsbegründende Gesundheitsbeschädigungen in Frage<br />

stehen. Für den Kausalitätsnachweis für Folgeschäden (Sekundärschäden), die erst durch den infolge des<br />

Behandlungsfehlers eingetretenen Gesundheitsschaden entstanden sein sollen, gelten sie nur dann, wenn der<br />

Sekundärschaden eine typische Folge der Primärverletzung ist (Senatsurteile vom 21. 10.1969 - VI ZR 82/68 - VersR 1969, 1148, 1149; vom 9. 05.1978 -<br />

VI ZR 81/77 - VersR 1978, 764, 765; vom 28. 06.1988 - VI ZR 210/87 - VersR 1989, 145; vom 16. 11.2004 - VI ZR 328/03 - VersR 2005, 228, 230; vgl. auch Senatsurteil vom 21. 07.1998 - VI ZR 15/98 - VersR<br />

1998, 1153, 1154; OLG Oldenburg, VersR 1999, 63). Das Berufungsgericht wird deshalb ggf. durch Nachfrage beim Sachverständigen<br />

aufzuklären haben, ob es sich beim Auftreten des Morbus Sudeck um eine typische Folge der durch den<br />

Behandlungsfehler gesetzten Primärschädigung handelt.<br />

b) Das Eingreifen einer Beweislastumkehr zugunsten des Patienten setzt des Weiteren voraus, dass dem<br />

Arzt ein grober Behandlungsfehler unterlaufen ist. Dies hat das Berufungsgericht im Ansatz zutreffend erkannt.<br />

Die Revision macht jedoch mit Recht geltend, dass die Beurteilung des Berufungsgerichts, wonach der dem<br />

Beklagten unterlaufene Diagnosefehler nicht als fundamentaler Diagnoseirrtum einzustufen sei, auf einer<br />

unzureichenden Aufklärung des Sachverhaltes beruht.<br />

aa) Im Ansatz geht das Berufungsgericht zutreffend davon aus, dass ein Fehler bei der Interpretation von<br />

Krankheitssymptomen nur dann einen schweren Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst und damit einen<br />

"groben" Diagnosefehler darstellt, wenn es sich um einen fundamentalen Irrtum handelt (vgl. Senatsurteile vom 14. 07.1981 - VI ZR<br />

35/79 - VersR 1981, 1033, 1034; vom 10. 11.1987 - VI ZR 39/87 - VersR 1988, 293, 294; vom 14. 07.1992 - VI ZR 214/91 - VersR 1992, 1263, 1265 und vom 9. 01.2007 - VI ZR 59/06 - VersR 2007, 541, 542).<br />

Wegen der bei Stellung einer Diagnose nicht seltenen Unsicherheiten muss die Schwelle, von der ab ein<br />

Diagnoseirrtum als schwerer Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst zu beurteilen ist, der dann zu einer<br />

Belastung mit dem Risiko der Unaufklärbarkeit des weiteren Ursachenverlaufs führen kann, hoch angesetzt<br />

werden.<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 94


Die Beurteilung, ob ein Behandlungsfehler als grob oder nicht einzustufen ist, ist eine juristische Wertung,<br />

die dem Tatrichter obliegt, der sich dabei mangels eigener Fachkenntnisse der Hilfe eines medizinischen<br />

Sachverständigen zu bedienen hat. In aller Regel wird er sonst den berufsspezifischen Sorgfaltsmaßstab des<br />

Arztes, der bei der Prüfung eines groben Behandlungsfehlers zu berücksichtigen ist, nicht zutreffend ermitteln<br />

können (st. Rspr., vgl. Senatsurteile BGHZ 72, 132, 135; 132, 47, 53 f.; vom 3. 12.1985 - VI ZR 106/84 - VersR 1986, 366, 367; vom 10. 11.1987 - VI ZR 39/87 - VersR 1988, 293, 294; vom 13. 02.1996 -<br />

VI ZR 402/94 - VersR 1996, 633, 634 und vom 27. 03.2001 - VI ZR 18/00 - VersR 2001, 859, 860). Das einzuholende Sachverständigengutachten muss<br />

vollständig und überzeugend und insbesondere frei von Widersprüchen sein. Unklarheiten und Zweifel zwischen<br />

den verschiedenen Bekundungen des Sachverständigen hat das Gericht durch gezielte Befragung zu klären.<br />

Andernfalls bietet der erhobene Sachverständigenbeweis keine ausreichende Grundlage für die tatrichterliche<br />

Überzeugungsbildung (vgl. Senatsurteile vom 27. 09.1994 - VI ZR 284/93 - VersR 1995, 195, 196; vom 4. 10.1994 - VI ZR 205/93 - VersR 1995, 46, 47; vom 29. 11.1994 - VI ZR 189/93 -<br />

VersR 1995, 659, 660 und vom 27. 03.2001 - VI ZR 18/00 - aaO).<br />

bb) Vorliegend hat das Berufungsgericht auf der Grundlage des medizinischen<br />

Sachverständigengutachtens einen groben Behandlungsfehler verneint, weil der Gutachter angegeben habe, das<br />

Übersehen einer Fraktur sei etwas, das tagtäglich passiere. Es könne zwar einen groben Fehler darstellen, doch<br />

sei dies nicht der Fall, wenn der Bruch, wie vorliegend, schwer zu erkennen sei. Mit Recht verweist die Revision<br />

darauf, dass der Sachverständige auch erklärt hat, die Fraktur sei "nur unter genauer Anschauung bzw. unter<br />

Vergrößerung erkennbar" gewesen. Abgesehen davon, dass eine "genaue Anschauung" bei der Auswertung<br />

eines Röntgenbildes wohl stets geboten sein dürfte, wirft diese Beurteilung des Sachverständigen die Frage auf,<br />

ob das Unterlassen einer genauen Anschauung vorliegend nicht doch als grober Fehler zu bewerten sein könnte.<br />

Unklar ist vor allem, was unter der Formulierung "Vergrößerung" zu verstehen ist. Da es sich bei der Verletzung<br />

des Klägers am Zeigefinger um eine relativ kleine Fraktur handelt, könnte der Sachverständige mit einer<br />

Anschauung "unter Vergrößerung" sowohl das Betrachten des Röntgenbildes mittels einer Lupe als auch die<br />

Anfertigung eines vergrößerten Röntgenbildes gemeint haben. Auch diesen Fragen wird das Berufungsgericht<br />

gegebenenfalls nachzugehen haben, zumal der Kläger, wie die Revision mit Recht geltend macht, unter<br />

Beweisantritt vorgetragen hat, es sei medizinischer Standard, ein Röntgenbild vierfach zu vergrößern. Soweit das<br />

Berufungsgericht gemeint hat, eine Vergrößerung sei hier deshalb nicht erforderlich gewesen, weil die Fraktur auf<br />

dem Röntgenbild auch ohne Vergrößerung zu erkennen gewesen sei, steht diese rechtliche Beurteilung in<br />

tatsächlicher Hinsicht nicht im Einklang mit der oben wiedergegebenen Einschätzung des Sachverständigen,<br />

wonach die Bruchstelle "nur unter genauer Anschauung bzw. unter Vergrößerung erkennbar" gewesen sei.<br />

Jedenfalls wird das Berufungsgericht, wenn es auch nach dem Beweismaß des § 287 ZPO keine Überzeugung<br />

von dem Ursachenzusammenhang zwischen der Fehlbehandlung und dem Morbus Sudeck gewinnen kann, die<br />

Voraussetzungen einer Beweislastumkehr erneut zu prüfen haben und einen groben Behandlungsfehler nur auf<br />

der Grundlage einer vollständigen und widerspruchsfreien Würdigung der medizinischen Anknüpfungstatsachen<br />

verneinen können.<br />

Müller Greiner Pauge Stöhr Zoll<br />

Vorinstanzen: LG Saarbrücken, Entscheidung vom 06.12.2005 - 16 O 234/04 - OLG Saarbrücken, Entscheidung<br />

vom 11.10.2006 - 1 U 726/05245- -<br />

BGH VI ZR 118/06 Verkündet am: 08.01.2008 Ist ein grober Behandlungsfehler (hier: Hygienefehler bei intraartikulärer Injektion)<br />

festgestellt, muss der Arzt beweisen, dass die Schädigung des Patienten nicht auf dem Behandlungsfehler<br />

beruht, sondern durch eine hyperergisch-allergische Entzündungsreaktion verursacht ist.<br />

BGH, Urteil vom 8. 01.2008 - VI ZR 118/06 - OLG Karlsruhe<br />

BGB § 823 Aa, C; ZPO § 286 G LG Mannheim<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 8. 01.2008 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll für<br />

Recht erkannt:<br />

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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe<br />

vom 5. 04.2006 aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Der Kläger verlangt von den Beklagten als Erben des verstorbenen Dr. B. Ersatz materiellen Schadens<br />

und Zahlung eines Schmerzensgeldes; ferner begehrt er die Feststellung, dass die Beklagten zum Ersatz künftig<br />

entstehender Schäden verpflichtet sind.<br />

Der Kläger, damals Berufsfußballspieler, hatte zunächst am 5. 07.1983 von Prof. Dr. K. wegen einer<br />

Erkrankung im linken Kniegelenk eine Mischung verschiedener Medikamente intraartikulär injiziert erhalten. Die<br />

Therapie sollte vom Mannschaftsarzt des Vereins des Klägers fortgesetzt werden. Wegen dessen<br />

Urlaubsabwesenheit suchte der Kläger am 8. 07.1983 den Rechtsvorgänger der Beklagten auf, der die von Prof.<br />

Dr. K. empfohlenen Medikamente in das linke Kniegelenk injizierte. Im zeitlichen Anschluss bekam der Kläger<br />

Schmerzen, wegen derer er ab 11. 07.1983 stationär im T.Krankenhaus behandelt wurde. Am 12. 07.1983 wurde<br />

dort das linke Knie operiert. Der Kläger konnte wegen seiner Kniebeschwerden längere Zeit den Beruf als<br />

Fußballspieler nicht ausüben. Er macht geltend, der Rechtsvorgänger der Beklagten habe bei der Injektion die<br />

Regeln der Hygiene nicht eingehalten und den Kläger nicht auf das erhöhte Infektionsrisiko einer Injektion in das<br />

Gelenk hingewiesen.<br />

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers<br />

zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren<br />

weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, nach den<br />

überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen D. sei davon auszugehen, dass der Rechtsvorgänger der<br />

Beklagten bei der Injektion gegen grundlegende hygienische Selbstverständlichkeiten verstoßen habe. Das sei<br />

zwar als grober Behandlungsfehler zu werten. Der Kläger habe aber nicht bewiesen, dass dieser grobe<br />

Behandlungsfehler ursächlich für seine Beschwerden geworden sei. Eine Umkehr der Beweislast für den<br />

Kausalzusammenhang zu Lasten der Beklagten setze voraus, dass der grobe Fehler geeignet sei, die<br />

Beschwerden des Klägers herbeizuführen. Das aber lasse sich nicht mit ausreichender Gewissheit feststellen.<br />

Das Krankheitsbild spreche zwar in klinischer Hinsicht mehr für eine bakterielle Infektion als für einen Reizerguss<br />

nach einer hyperergischallergischen Entzündungsreaktion. Bei den Untersuchungen der Ergussflüssigkeit hätten<br />

jedoch die typischen Erreger für eine durch Hygienemängel verursachte Infektion nicht nachgewiesen werden<br />

können. Auch sei nach dem orthopädischen Gutachten R. mit Wahrscheinlichkeit von einer<br />

hyperergischallergischen Entzündungsreaktion des Kniegelenks auszugehen, die allerdings erst zwei bis drei<br />

Tage nach dem Eingriff aufgetreten sei. Der Kläger habe damit den ihm obliegenden Beweis nicht erbracht, dass<br />

eine Infektion und nicht eine unabhängig von Hygienemängeln aufgetretene allergische Reaktion vorgelegen<br />

habe. Auch Aufklärungsversäumnisse fielen dem Rechtsvorgänger der Beklagten nicht zur Last. Eine Aufklärung<br />

über die Risiken der verwendeten Medikamente in der Mischinjektion sei nicht geboten gewesen. Ein besonderes<br />

aufklärungspflichtiges Risiko habe nicht bestanden. Der Kläger habe selbst vorgetragen, die verabreichten<br />

Medikamente seien nicht dazu geeignet gewesen, einen Kniegelenkserguss herbeizuführen.<br />

II.<br />

Das hält den Angriffen der Revision nicht stand, die sich ausschließlich gegen die Verneinung einer<br />

Haftung aus Behandlungsfehler richten.<br />

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1. Das Berufungsgericht ist auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen D. in rechtlich<br />

beanstandungsfreier Weise davon ausgegangen, dass der Rechtsvorgänger der Beklagten am 8. 07.1983 bei<br />

Injektion des Medikamenten"Cocktails" in das linke Kniegelenk gegen grundlegende hygienische<br />

Selbstverständlichkeiten verstoßen hat. Dies hat es – sachverständig beraten - als groben Behandlungsfehler<br />

gewertet. Das wird von der Revision als ihr günstig nicht angegriffen und ist aus Rechtsgründen nicht zu<br />

beanstanden.<br />

2. Auf dieser Grundlage beanstandet die Revision zu Recht, dass das Berufungsgericht eine<br />

Beweislastumkehr zum Kausalzusammenhang zwischen dem groben Behandlungsfehler und den Beschwerden<br />

des Klägers verneint hat.<br />

a) Das Berufungsgericht geht im Ansatzpunkt zwar ohne Rechtsfehler davon aus, dass nach einem groben<br />

Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Gesundheitsschaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen,<br />

zu Gunsten des Patienten von einem Ursachenzusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem<br />

eingetretenen Gesundheitsschaden auszugehen ist (st.Rspr.; vgl. Senat, BGHZ 159, 48, 53; 172, 1, 10 f.).<br />

b) Rechtsirrig meint das Berufungsgericht jedoch, angesichts widersprüchlicher medizinischer<br />

Stellungnahmen und der verbleibenden Ungewissheit, ob eine infektiöse oder eine hyperergischallergische<br />

Entzündungsreaktion des linken Kniegelenks vorgelegen habe, habe es dem Kläger oblegen, den Beweis einer<br />

Infektion zu führen. Das trifft nicht zu, verkennt die in der Rechtsprechung zur Beweislastverteilung nach groben<br />

Behandlungsfehlern aufgestellten Grundsätze und zieht nicht die gebotenen Folgerungen aus dem Vorliegen<br />

eines groben Behandlungsfehlers.<br />

Wie der erkennende Senat mehrfach (vgl. etwa Senat, BGHZ 159, 48, 54; Urteil vom 16. 11.2004 - VI ZR 328/03 - VersR 2005, 228, 229) dargelegt hat,<br />

führt ein grober Behandlungsfehler - wie ihn das Berufungsgericht unter den Umständen des Streitfalls zu Recht<br />

bejaht hat - regelmäßig zur Umkehr der Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem<br />

Gesundheitsschaden und dem Behandlungsfehler, wenn dieser geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu<br />

verursachen. Nahelegen oder wahrscheinlich machen muss der Fehler den Schaden hingegen nicht (vgl. Senat, BGHZ 159,<br />

48, 54 m.w.N.). Eine Verlagerung der Beweislast auf die Behandlungsseite ist nach einem groben Behandlungsfehler<br />

nur dann ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst<br />

unwahrscheinlich ist, sich nicht das Risiko verwirklicht hat, dessen Nichtbeachtung den Fehler als grob<br />

erscheinen lässt, oder der Patient durch sein Verhalten eine selbstständige Komponente für den Handlungserfolg<br />

vereitelt hat und dadurch in gleicher Weise wie der grobe Behandlungsfehler des Arztes dazu beigetragen hat,<br />

dass der Verlauf des Behandlungsgeschehens nicht mehr aufgeklärt werden kann (vgl. Senat, BGHZ 159, 48, 55). Diese<br />

Grundsätze verkennt das Berufungsgericht, wenn es davon ausgeht, der Kläger habe (nach grob fehlerhafter Behandlung)<br />

beweisen müssen, dass es sich um eine Infektion und nicht um eine hyperergischallergische Reaktion gehandelt<br />

habe.<br />

Wie oben dargelegt, reicht es für die Haftung der Behandlungsseite nach einem groben Behandlungsfehler<br />

aus, dass der Fehler generell zur Verursachung des eingetretenen Schadens geeignet ist; wahrscheinlich braucht<br />

der Eintritt eines solchen Erfolges nicht zu sein (vgl. Senat, Urteil vom 3. 12.1985 - VI ZR 106/84 - VersR 1986, 366, 367). Das Berufungsgericht<br />

geht von der generellen Eignung einer intraartikulären Injektion zur Herbeiführung einer Entzündungsreaktion aus,<br />

wenn die Injektion unter Außerachtlassung grundlegender Hygieneregeln erfolgt. Es hält jedoch eine allergische<br />

Reaktion für wahrscheinlicher und will deshalb keine Beweislastumkehr anwenden, weil die Verletzung der<br />

Hygieneregeln auf eine allergische Reaktion keinen Einfluss habe. Indessen schließt dieser Gesichtspunkt eine<br />

generelle Eignung des Hygienefehlers für den Gesundheitsschaden nicht aus. Vielmehr wäre der Beweis, dass<br />

eine allergische Reaktion vorgelegen hat, Sache des grob fehlerhaft behandelnden Arztes. Eine<br />

Beweislastumkehr erfordert nämlich nicht, dass der Behandlungsfehler mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu<br />

dem eingetretenen Erfolg geführt hat, sondern lediglich dessen generelle Eignung für den konkreten<br />

Gesundheitsschaden (vgl. Senat, BGHZ 85, 212, 216 f.; Urteile vom 3. 12.1985 - VI ZR 106/84 - aaO; vom 28. 06.1988 - VI ZR 217/87 - VersR 1989, 80, 81). Die Unsicherheit,<br />

ob der Schaden tatsächlich durch den groben Fehler oder durch eine andere Ursache bedingt ist, soll in einem<br />

solchen Fall die fehlerhaft behandelnde Seite aufklären. Insoweit hat das Berufungsgericht die Reichweite der<br />

Beweislastumkehr nach einem groben Behandlungsfehler ersichtlich verkannt.<br />

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Die erforderlichen Voraussetzungen für eine Ausnahme von dieser Beweislastumkehr hat das<br />

Berufungsgericht nicht festgestellt, insbesondere hat es nicht festgestellt, dass eine Verursachung der<br />

Beschwerden durch die Hygienemängel äußerst unwahrscheinlich sei, zumal auch das Gutachten R., auf das sich<br />

das Berufungsurteil stützt, eine allergische Reaktion nur für wahrscheinlich, nicht aber eine bakterielle Infektion für<br />

äußerst unwahrscheinlich hält. Der Sachverständige D. hat mehr Befunde gesehen, die für eine Infektion<br />

sprechen, als Befunde, die für eine hyperergischallergische Reaktion sprechen. Der fehlenden Nachweisbarkeit<br />

von Infektionserregern im Punktat hat der Sachverständige dagegen keine entscheidende Bedeutung<br />

beigemessen.<br />

c) Entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung muss der Kläger auch nicht etwa eine Infektion<br />

beweisen; es genügt vielmehr, dass er den ihm entstandenen (Primär)Schaden und die generelle Eignung des<br />

groben Fehlers zur Verursachung dieses Schadens nachweist (vgl. Senat, BGHZ 159, 48, 54; Urteile vom 3. 12.1985 - VI ZR 106/84 - aaO; vom 16. 11.2004<br />

- VI ZR 328/03 - aaO, jeweils m.w.N.). Diesen Beweis hat der Kläger geführt<br />

Primärschaden ist im Streitfall der behauptete Gelenkschaden in seiner konkreten Ausprägung (vgl. Senat, Urteil<br />

vom 21. 07.1998 - VI ZR 15/98 - VersR 1998, 1153, 1154), also der Kniegelenkserguss mit schmerzhafter Bewegungseinschränkung und<br />

der erhöhten Temperatur. In einem solchen Fall muss die grob fehlerhaft vorgehende Behandlungsseite<br />

beweisen, dass die Schädigung nicht durch den groben Behandlungsfehler - hier also nicht durch Verletzung der<br />

Hygieneregeln - hervorgerufen worden ist, so dass es zu ihren Lasten geht, wenn sie nicht eine allergische<br />

Reaktion als Schadensursache beweisen kann.<br />

3. Die Frage einer Haftung des Beklagten wegen eines Aufklärungsfehlers ist nicht Streitstoff der Revision<br />

geworden. Ausführungen dazu fehlen in der Revisionsbegründung. Wie eine Berufungsbegründung (dazu vgl. Senat, Urteil<br />

vom 5. 12.2006 - VI ZR 228/05 - VersR 2007, 414) muss auch die Begründung einer uneingeschränkt zugelassenen Revision klarstellen,<br />

in welchen Punkten und mit welchen Gründen der Rechtsmittelführer das Berufungsurteil angreift (vgl. Senat, Urteil vom 5.<br />

12.2006 - VI ZR 228/05 - aaO). Im Streitfall hat sich die Revisionsbegründung nicht auf die Frage der Haftung wegen eines<br />

Aufklärungsfehlers erstreckt, sondern auf die Haftung wegen eines Behandlungsfehlers beschränkt. Damit hat sie<br />

Erfolg, weil das angefochtene Urteil aus den dargelegten Gründen aufzuheben ist (§ 562 Abs. 1 ZPO).<br />

Die Voraussetzungen für eine Sachentscheidung des Senats (§ 563 Abs. 3 ZPO), liegen jedoch nicht vor. Das<br />

Berufungsgericht wird die erforderlichen Feststellungen - gegebenenfalls nach weiterem Vortrag der Parteien und<br />

weiterer Beweisaufnahme - zu treffen haben (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).<br />

Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll<br />

Vorinstanzen: LG Mannheim, Entscheidung vom 12.06.1987 - 1 O 229/85 - OLG Karlsruhe, Entscheidung vom<br />

05.04.2006 - 7 U 107/05 -<br />

VI ZR 161/07 vom 8. 01.2008: Nichtbeachtung von Leitlinien führt nicht zur Beweislastumkehr.<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. 01.2008 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller, die Richter Dr.<br />

Greiner, Wellner, Pauge und Zoll<br />

beschlossen:<br />

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 5.<br />

Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 24. 05.2007 wird zurückgewiesen, weil sie nicht<br />

aufzeigt, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder<br />

die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts<br />

erfordert (§ 543 Abs. 2 S. 1 ZPO).<br />

Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler die Beweislast nicht den Beklagten auferlegt. Ärztliche<br />

Leitlinien haben nicht wie die Mutterschaftsrichtlinien, welche sich jedoch nicht mit dem<br />

Geburtsvorgang selbst befassen, Rechtsnormqualität. Die Nichteinhaltung von Leitlinien führt daher<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 98


nicht "per se" zu einer Beweislastumkehr, sondern bedarf regelmäßig der zusätzlichen Feststellung<br />

eines groben Behandlungsfehlers.<br />

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 4 S. 2, 2. Halbs. ZPO abgesehen.<br />

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens (§ 97 Abs. 1 ZPO).<br />

Streitwert: 623.562,89 €<br />

Müller Greiner Wellner Pauge Zoll<br />

Vorinstanzen: LG Koblenz, Entscheidung vom 24.11.2006 - 10 O 486/01 - OLG Koblenz, Entscheidung vom<br />

24.05.2007 - 5 U 1735/06 -<br />

Thöns BGH III ZR 144/07 vom20.12.2007<br />

a) Klauseln in einer formularmäßigen Wahlleistungsvereinbarung, durch die die einem Wahlarzt obliegende<br />

Leistung im Fall seiner Verhinderung durch einen Vertreter erbracht werden darf, sind nur wirksam, wenn sie<br />

auf die Fälle beschränkt sind, in denen die Verhinderung im Zeitpunkt des Abschlusses der<br />

Wahlleistungsvereinbarung nicht bereits feststeht und wenn als Vertreter der namentlich benannte ständige<br />

ärztliche Vertreter im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 3 und 4, § 5 Abs. 5 GOÄ bestimmt ist.b) Wird eine<br />

Stellvertretervereinbarung im Wege der Individualabrede geschlossen, bestehen gegenüber dem Patienten<br />

besondere Aufklärungspflichten, bei deren Verletzung dem Honoraranspruch des Wahlarztes der Einwand der<br />

unzulässigen Rechtsausübung entgegensteht.c) Danach ist der Patient so früh wie möglich über die<br />

Verhinderung des Wahlarztes zu unterrichten und ihm das Angebot zu unterbreiten, dass an dessen Stelle ein<br />

bestimmter Vertreter zu den vereinbarten Bedingungen die wahlärztlichen Leistungen erbringt. Weiter ist der<br />

Patient über die alternative Option zu unterrichten, auf die Inanspruchnahme wahlärztlicher Leistungen zu<br />

verzichten und sich ohne Zuzahlung von dem jeweils diensthabenden Arzt behandeln zu lassen. Ist die<br />

jeweilige Maßnahme bis zum Ende der Verhinderung des Wahlarztes verschiebbar, ist dem Patienten auch dies<br />

zur Wahl zu stellen.d) Die Vertretervereinbarung unterliegt der Schriftform.<br />

BGB § 307 Abs. 2 Bd, Cl, § 308 Nr. 4, § 613 Satz 1; KHEntgG § 17 Abs. 2<br />

BGH, Urteil vom 20.12.2007 - III ZR 144/07 - LG Hamburg<br />

AG HamburgSt. Georg<br />

Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlungvom 15. 11.2007 durch den Vorsitzenden<br />

Richter Schlick, die RichterDörr, Dr. Herrmann, Wöstmann und die Richterin HarsdorfGebhardt<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des LandgerichtsHamburg, Zivilkammer 9, vom 20. 04.2007 aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auchüber die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das<br />

Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand<br />

1 Der Kläger ist liquidationsberechtigter Chefarzt der Abteilung für Allgemeinchirurgie des Universitätsklinikums H. . Die<br />

- im Laufedes Revisionsverfahrens verstorbene - Beklagte war Privatpatientin und befandsich, nachdem sie zunächst in<br />

einer anderen Einrichtung des Klinikums aufgenommen worden war, vom 2. bis zum 28. 08.2001 in stationärer<br />

Behandlung in der Abteilung. Sie schloss mit dem Klinikum eine schriftliche Wahlleistungsvereinbarung. Da der Kläger<br />

am 3. 08.2001, dem Tag an dem dieBeklagte operiert werden sollte, urlaubsabwesend war, unterzeichnete sie<br />

amVortag einen mit einzelnen handschriftlichen Einträgen versehenen Vordruck,der mit "Schriftliche Fixierung der<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 99


Stellvertretervereinbarung vom 02.08." überschrieben ist. Dieser enthält die Feststellung, die Beklagte sei über die<br />

Verhinderung des Klägers und den Grund hierfür unterrichtet worden. Weiterhin seisie, da die Verschiebung der<br />

Operation medizinisch nicht vertretbar sei, darüberbelehrt worden, dass sie die Möglichkeiten habe, sich ohne<br />

Wahlarztvereinbarung wie ein "normaler" Kassenpatient ohne Zuzahlung von dem jeweils diensthabenden Arzt<br />

behandeln oder sich von dem Vertreter des Klägers,Oberarzt Dr. B. , zu den Bedingungen des Wahlarztvertrags unter<br />

Beibehaltung des Liquidationsrechts des Klägers operieren zu lassen. In dem Formularist die zweite Alternative<br />

angekreuzt.<br />

2 Die vom Kläger für die durch den Oberarzt Dr. B. ausgeführte Operation erstellte Rechnung beglich die Beklagte nur<br />

teilweise.<br />

3 Die auf Ausgleichung des Restbetrags gerichtete Klage hat das Amtsgericht abgewiesen. Die hiergegen gerichtete<br />

Berufung des Klägers ist erfolglosgeblieben. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt erseinen<br />

Anspruch weiter.<br />

Entscheidungsgründe<br />

Die zulässige Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der<br />

Sache an die Vorinstanz.<br />

I.<br />

Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Stellvertretervereinbarung, dienicht individuell ausgehandelt worden und<br />

daher als Allgemeine Geschäftsbedingung zu betrachten sei, sei gemäß dem für den Streitfall noch maßgebenden§ 10<br />

Nr. 4 AGBG unwirksam, weil sie auch die Fälle einer vorhersehbaren Verhinderung des Chefarztes einschließe.<br />

Erfasse die Klausel jede Verhinderungund erfolgten die Betreuung sowie die Behandlung durch diejenigen Ärzte,<br />

diediese auch bei nicht vereinbarter Wahlleistung durchgeführt hätten, entfalle derSinn der Wahlleistungsvereinbarung.<br />

II.<br />

Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Ein Anspruch desKlägers gegen die Erben der Beklagten auf<br />

Zahlung des in Rechnung gestelltenHonorars (§ 611 Abs. 1 BGB i.V.m. § 1922 Abs. 1 BGB) kann nicht mit den Erwägungen des<br />

Berufungsgerichts ausgeschlossen werden.<br />

1. Der Arzt, der gegenüber einem Patienten aus einer Wahlleistungsvereinbarung verpflichtet ist, muss seine<br />

Leistungen gemäß § 613 Satz 1 BGB grundsätzlich selbst erbringen. Nach dieser Bestimmung hat der zur<br />

DienstleistungVerpflichtete die Dienste im Zweifel in Person zu erbringen. Dies ist auch undgerade bei der<br />

Vereinbarung einer sogenannten Chefarztbehandlung der Fall.Der Patient schließt einen solchen Vertrag im Vertrauen<br />

auf die besonderenErfahrungen und die herausgehobene medizinische Kompetenz des von ihmausgewählten Arztes,<br />

die er sich in Sorge um seine Gesundheit gegen Entrichtung eines zusätzlichen Honorars für die Heilbehandlung<br />

sichern will (z.B. Senatsurteil vom 19. 02.1998 - III ZR 169/97 - NJW 1998, 1778, 1779; OLGDüsseldorf NJW 1995, 2421; OLG Hamm NJW 1995, 794; OLG Karlsruhe NJW1987, 1489;<br />

Biermann/Ulsenheimer/Weißauer Thöns NJW 2001, 3366, 3367; dies.MedR 2000, 107, 110; Miebach/Patt NJW 2000, 3377, 3379; Uleer/Miebach/Patt, Die Abrechnung von Arzt- und Krankenhausleistungen,<br />

3. Aufl.,2006, § 4 GOÄ Rn. 54 a.E.). Die grundsätzliche Pflicht des Wahlarztes zur persönlichen Behandlung hat ihre<br />

gebührenrechtliche Entsprechung in § 4 Abs. 2Satz 1 der GOÄ(GOÄ) in der Neufassung vom 9. 02.1996 (BGBl. I S. 210).<br />

Danach kann der Arzt Gebühren nur für selbständige ärztliche Leistungen berechnen, die er selbst erbracht hat oder<br />

die unterseiner Aufsicht nach fachlicher Weisung erbracht wurden; allerdings darf er einfache ärztliche und sonstige<br />

medizinische Verrichtungen delegieren. Demzufolge muss der Wahlarzt die seine Disziplin prägende Kernleistung<br />

persönlich undeigenhändig erbringen. Insbesondere muss der als Wahlarzt verpflichtete Chirurg die geschuldete<br />

Operation grundsätzlich selbst durchführen (z.B. LG Bonn,Urteil vom 4. 02.2004 - 5 S 207/03 - juris Rn. 10; LG Aachen VersR 2002,195, 196; Jansen MedR 1999, 555; Kalis<br />

VersR 2002, 23, 24; Kuhla NJW 2000,841, 842; Miebach/Patt aaO).<br />

2. Über die Delegation nachgeordneter Aufgaben hinaus darf der Wahlarztim Fall seiner Verhinderung jedoch auch die<br />

Ausführung seiner Kernleistungenauf einen Stellvertreter übertragen, sofern er mit dem Patienten eine entsprechende<br />

Vereinbarung wirksam getroffen hat. Die GOÄschließt solche Vereinbarungen nicht aus. Vielmehr ergibt der<br />

Umkehrschlussaus § 2 Abs. 3 Satz 2, § 4 Abs. 2 Satz 3 und § 5 Abs. 5 GOÄ, dass der Wahlarzt unter Berücksichtigung<br />

der darin bestimmten Beschränkungen des Gebührenanspruchs Honorar auch für Leistungen verlangen kann, deren<br />

Erbringunger nach Maßgabe des allgemeinen Vertragsrechts wirksam einem Vertreterübertragen hat. Der<br />

Verordnungsgeber wollte mit § 4 Abs. 2 Satz 3 GOÄ di<strong>eV</strong>ertretungsmöglichkeiten nur für die darin bestimmten<br />

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einzelnen Leistungen aufden ständigen ärztlichen Vertreter des Wahlarztes beschränken. In allen anderen Fällen sollte<br />

"eine weitergehende Vertretung durch jeden beliebigen Arzt inden Grenzen des Vertragrechts zulässig" sein<br />

(Bundesratsbeschluss vom3. 11.1995, BRDrucks. 688/95, S. 6). Den liquidationsberechtigten Ärzten sollten diese Vertretungsmöglichkeiten<br />

erhalten bleiben (aaO). In den Fällen, in denen der Wahlarzt hiervon Gebrauch macht, kommt allerdings nach § 5Abs. 5<br />

GOÄ nicht der volle Gebührenrahmen zur Anwendung.<br />

a) Eine wirksame Vertreterregelung enthält die zwischen dem Kläger undder Beklagten geschlossene<br />

Wahlleistungsvereinbarung nicht. Zwar ist in demVordruck vorgesehen, dass "im Verhinderungsfall … die Aufgaben<br />

des liquidationsberechtigten Arztes seine Stellvertretung" übernimmt. Diese Klausel istjedoch nach dem gemäß Art.<br />

229 § 5 Satz 1 EGBGB auf den Streitfall nochanwendbaren § 10 Nr. 4 AGBG (jetzt: § 308 Nr. 4 BGB) unwirksam. Danach isteine<br />

formularmäßige Vereinbarung eines Rechts des Verwenders, die versprochene Leistung zu ändern oder von ihr<br />

abzuweichen, nur wirksam, wenn dieseÄnderung unter Berücksichtigung der Interessen des Verwenders für<br />

seinenVertragspartner zumutbar ist. Dies ist bei einer Klausel wie der vorliegendenschon deshalb nicht gewährleistet,<br />

weil sie nach der maßgeblichen kundenfeindlichsten Auslegung (vgl. hierzu z.B.: BGHZ 158, 149, 155; Senatsurteilevom 11. 10.2007 - III ZR 63/07 - Rn. 25 und<br />

vom 23. 01.2003 - III ZR54/02 - NJW 2003, 1237, 1238 jew. m.w.N.) auch die Konstellationen erfasst, indenen die Verhinderung des Wahlarztes<br />

bereits zum Zeitpunkt des Abschlusses der Wahlleistungsvereinbarung feststeht. In diesen Fallgestaltungen kanndie<br />

Wahlleistungsvereinbarung von Anbeginn ihren Sinn nicht erfüllen. Die vondem Patienten mit dem Abschluss einer<br />

solchen Vereinbarung bezweckte Sicherung der besonderen Erfahrung und der herausgehobenen Sachkunde<br />

desWahlarztes für die Heilbehandlung ist bereits zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses objektiv unmöglich. Die Klausel<br />

läuft in diesen Fällen auf die Änderung des wesentlichen Inhalts des Wahlarztvertrags hinaus, was im Wege<br />

vonAllgemeinen Geschäftsbedingungen, auch unter Berücksichtigung von § 307Abs. 2 BGB (für den Streitfall noch § 9 Abs. 2 AGBG),<br />

unzumutbar ist (OLGStuttgart OLGR 2002, 153; OLG Hamm NJW 1995, 794; LG Bonn, Urteil vom4. 02.2004 - 5 S 207/03 - juris Rn. 12; Kubis NJW 1989, 1512, 1515; Miebach/Patt NJW 2000,<br />

3377, 3383; im Ergebnis auch OLG Karlsruhe NJW 1987,1489; Biermann/Ulsenheimer/Weißauer MedR 2000, 107, 111 f; wohl auchKuhla Thöns NJW 2000, 841, 844). Zulässig ist deshalb<br />

nur eine Klausel, in der derEintritt eines Vertreters des Wahlarztes auf die Fälle beschränkt ist, in denendessen<br />

Verhinderung im Zeitpunkt des Abschlusses der Wahlleistungsvereinbarung nicht bereits feststeht, etwa weil die<br />

Verhinderung (Krankheit, Urlaub etc.)selbst noch nicht absehbar oder weil noch nicht bekannt ist, dass ein bestimmter<br />

verhinderter Wahlarzt, auf den sich die Wahlleistungsvereinbarung gemäߧ 22 Abs. 3 Satz 1 BPflV (ab 1. 01.2005: § 17 Abs. 3 Satz 1<br />

des Gesetzesüber die Entgelte für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen- KHEntgG - vom 23. 04.2002, BGBl. I S. 1412, 1422) erstreckt, zur Behandlung hinzu gezogen<br />

werden muss.<br />

Überdies ist eine Stellvertretervereinbarung in Allgemeinen Geschäftsbedingungen nach § 308 Nr. 4 BGB nur wirksam,<br />

wenn darin als Vertreter derständige ärztliche Vertreter im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 3 und 4, § 5 Abs. 5GOÄ bestimmt<br />

ist. Aus den genannten Vorschriften der GOÄ geht hervor, dass dieser Vertreter in gebührenrechtlicher Hinsicht<br />

demWahlarzt angenähert ist, weil er nach Dienststellung und medizinischer Kompetenz kontinuierlich in engem<br />

fachlichen Kontakt mit dem liquidationsberechtigten<br />

Krankenhausarzt steht und deshalb davon ausgegangen werden kann, dass erjederzeit voll in die<br />

Behandlungsgestaltung des Wahlarztes eingebunden ist(Lang/Schäfer/Stiel/Vogt, Der GOÄKommentar, 1996, § 4 Rn. 23). Aus diesemGrunde ist<br />

sein Tätigwerden für den Wahlleistungspatienten weder überraschend noch unzumutbar. Bei anderen Ärzten ist dies<br />

bei der notwendigen generalisierenden Betrachtungsweise nicht gewährleistet, weshalb eine weitergehende<br />

Vertreterklausel - ebenfalls unter Berücksichtigung von § 307 Abs. 2BGB - unzumutbar ist.<br />

Der ständige ärztliche Vertreter muss weiterhin namentlich benannt sein(Lang/Schäfer/Stiel/Vogt aaO Rn. 24; Uleer/Miebach/Patt, Abrechnung vonArzt-<br />

und Krankenhausleistungen, 3. Aufl., § 4 GOÄ Rn. 89 f). Dies ergibt sichebenfalls aus § 5 Abs. 5 GOÄ. Danach steht dem Wahlarzt hinsichtlich<br />

der Gebührenhöhe nur der ausdrücklich benannte ständige ärztliche Vertreter gleich.Dies ist Ausfluss einer<br />

allgemeinen Wertung, die auf die Beurteilung der Zumutbarkeit einer Allgemeinen Geschäftsbedingung im Sinne des §<br />

308 Nr. 4BGB zu übertragen ist. Auch in dieser Hinsicht genügt die Klausel in der mit derBeklagten geschlossenen<br />

Wahlleistungsvereinbarung nicht den Anforderungen.<br />

b) Die Parteien haben jedoch mit der "Schriftlichen Fixierung einer Stellvertretervereinbarung" eine wirksame<br />

Vereinbarung getroffen, aufgrund der derKläger von seiner Pflicht zur persönlichen Ausführung der Operation<br />

befreitwurde und statt seiner - unter Aufrechterhaltung seiner Liquidationsbefugnis - Oberarzt Dr. B. tätig werden durfte.<br />

aa) Der Wahlarzt kann sich durch eine Individualvereinbarung mit demPatienten von seiner Pflicht zur persönlichen<br />

Leistung befreien und deren Ausführung einem Stellvertreter übertragen (z.B.: OLG Düsseldorf NJWRR 1998,<br />

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1348, 1350; LG Bonn aaO Rn. 13; LG Aachen VersR 2002, 195, 196; Biermann/Ulsenheimer/Weißauer aaO, S. 112; Kalis VersR 2002, 23, 26; KubisThöns NJW 1989, 1512, 1514; Kuhla aaO S. 845 f;<br />

Miebach/Patt aaO S. 3384 f).<br />

(1) Da sich der Patient oftmals - wie auch hier - in der bedrängenden Situation einer schweren Sorge um seine<br />

Gesundheit oder gar sein Überlebenbefindet und er daher zu einer ruhigen und sorgfältigen Abwägung vielfach nichtin<br />

der Lage sein wird, bestehen ihm gegenüber nach Treu und Glauben (§ 242BGB, siehe ferner § 241 Abs. 2 BGB n.F.) vor Abschluss einer<br />

solchen Vereinbarung aber besondere Aufklärungspflichten (LG Bonn aaO Rn. 21; LG AachenaaO; Biermann/Ulsenheimer/Weißauer NJW 2001, 3366, 3369; Kalis<br />

aaO), beideren Verletzung dem Honoraranspruch des Wahlarztes der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung<br />

entgegen steht (Kalis aaO).<br />

Danach ist der Patient so früh wie möglich über die Verhinderung desWahlarztes zu unterrichten und ihm das Angebot<br />

zu unterbreiten, dass an dessen Stelle ein bestimmter Vertreter zu den vereinbarten Bedingungen die wahlärztlichen<br />

Leistungen erbringt (LG Bonn, LG Aachen, Biermann/Ulsenheimer/Weißauer und Kalis jew. aaO; a.A.: Miebach/Patt aaO, die verlangen, dass derWahlarzt anbieten muss, die vereinbarte<br />

Dienstleistung doch noch zu erbringen). Soll die Vertretervereinbarung im unmittelbaren Zusammenhang mit demAbschluss des<br />

Wahlleistungsvertrags getroffen werden, ist der Patient auf diesegesondert ausdrücklich hinzuweisen. Er ist in der<br />

ohnehin psychisch belastenden Situation der Aufnahme in das Krankenhaus bereits mit der umfangreichenLektüre der<br />

schriftlichen Wahlleistungsvereinbarung und der in diesem Zusammenhang notwendigen Belehrungen befasst (vgl. z.B.<br />

Senatsurteile BGHZ 157,87, 95; vom 8. 01.2004 - III ZR 375/02 - NJW 2004, 686, 687 und vom22. 07.2004 - III ZR 355/03 - NJWRR 2004, 1428; § 22 Abs. 2 Satz 1 BPflV;<br />

seit 1. 01.2005: § 17 Abs. 2 Satz 1 KHEntgG). Dies begründet die nichtunerhebliche Gefahr, dass er der Vertretervereinbarung, die der<br />

durch dieWahlleistungsvereinbarung erweckten Erwartung, durch den Wahlarzt behandelt zu werden, widerspricht,<br />

nicht die notwendige Aufmerksamkeit zukommenlässt.<br />

Weiter ist der Patient über die alternative Option zu unterrichten, auf dieInanspruchnahme wahlärztlicher Leistungen<br />

zu verzichten und sich ohne Zuzahlung von dem jeweils diensthabenden Arzt behandeln zu lassen. Ein nochmaliger<br />

Hinweis, dass er auch in diesem Fall die medizinisch notwendige Versorgung durch hinreichend qualifizierte Ärzte<br />

erhält, ist nicht erforderlich, daeine solche Belehrung bereits vor Abschluss der Wahlleistungsvereinbarungerteilt<br />

werden muss (vgl. z.B. Senatsurteile BGHZ, vom 8. 01.2004 undvom 22. 07.2004 jew. aaO). Ist die jeweilige Maßnahme bis zum Ende derVerhinderung<br />

des Wahlarztes verschiebbar, so ist dem Patienten auch dies zurWahl zu stellen.<br />

Entgegen der wohl von Kalis (aaO) vertretenen Auffassung ist es abernicht notwendig, den Patienten eigens<br />

ausdrücklich darüber aufzuklären, dassder Wahlarzt auch für die Behandlung durch den Stellvertreter<br />

liquidationsberechtigt ist. Ist der Patient über die Option informiert, sich ohne gesondertesHonorar im Rahmen der<br />

allgemeinen Krankenhausleistungen behandeln zu lassen, und entscheidet er sich gleichwohl für die Inanspruchnahme<br />

der wahlärztlichen Leistungen durch den Vertreter zu den vereinbarten Bedingungen, mussihm - jedenfalls wenn die<br />

notwendige Unterrichtung vor Abschluss der Wahlleistungsvereinbarung erfolgt ist - von sich aus klar sein, dass er<br />

hierfür auch dasfür den Wahlarzt anfallende Honorar zahlen muss. Ob der Anspruch in der Person des Wahlarztes<br />

entsteht, in der seines Vertreters oder in der eines Dritten,ist für die Entscheidung des Patienten über den Abschluss<br />

der Stellvertretervereinbarung objektiv nicht von Bedeutung.<br />

Nicht erforderlich ist weiter, dass der Wahlarzt selbst den Patienten aufklärt (LG Bonn aaO; a.A.: LG Aachen und Kalis aaO). Dieser<br />

benötigt, um überdie Annahme des Angebots auf Abschluss einer Stellvertretervereinbarung aufeiner ausreichenden<br />

Grundlage zu entscheiden, nur die Kenntnis der vorgenannten Tatsachen. Auf die besonderen Erfahrungen und die<br />

Fachkunde seines Wahlarztes ist er für deren sachgerechte Beurteilung nicht angewiesen.<br />

(2) Weiterhin muss die Vertretervereinbarung schriftlich geschlossenwerden (OLG Düsseldorf NJWRR 1998, 1347, 1350,<br />

Biermann/Ulsenheimer/Weißauer NJW 2001, 3366, 3368, Kuhla NJW 2000, 841, 846; Kubis NJW1989, 1512, 1514), da sie einen Vertrag beinhaltet, durch den die<br />

Wahlleistungsvereinbarung geändert wird, für die gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 KHEntgG(für den Streitfall noch § 22 Abs. 2 Satz 1 BPflV) das<br />

Schriftformerfordernis gilt.<br />

bb) Die von der Beklagten unterzeichnete "Schriftliche Fixierung derStellvertretervereinbarung" enthält eine<br />

Individualabrede, die den vorstehendenAnforderungen genügt.<br />

(1) Die Vereinbarung unterliegt, obgleich sie in einem Formular enthaltenist, nicht der Inhaltskontrolle nach §§ 9 bis 11<br />

AGBG (jetzt: § 307 Abs. 1 und 2,§§ 308 und 309 BGB). Allgemeine Geschäftsbedingungen, die dieser Kontrolleunterworfen sind, liegen<br />

nicht vor, soweit die Vertragsregelungen im Einzelnenausgehandelt sind (§ 1 Abs. 2 AGBG, § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB). Die "Schriftliche<br />

Fixierung" ist ausgehandelt worden. Hierfür kommt es entgegen dem Verständnis des Berufungsgerichts nicht darauf<br />

an, ob die Vertragsparteien über<br />

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den Text der Klauseln verhandelt haben. Vielmehr kann auch eine vorformulierte Vertragsbedingung ausgehandelt<br />

sein, wenn sie der Verwender als eine vonmehreren Alternativen anbietet, zwischen denen der Vertragspartner die<br />

Wahlhat (BGHZ 153, 148, 151). Erforderlich ist, dass er durch die Auswahlmöglichkeit den Gehalt der Regelung mit gestalten<br />

kann und die Wahlfreiheit nichtdurch Einflussnahme des Verwenders, sei es durch die Gestaltung des Formulars, sei<br />

es in anderer Weise überlagert wird (vgl. BGH aaO m.w.N.; Ulmer inUlmer/Brandner/Hensen, AGBRecht, 10. Aufl., 2006, § 305 BGB Rn. 53a).Diese<br />

Voraussetzungen sind hier erfüllt, da die "Schriftliche Fixierung" dem Patienten mehrere Handlungsoptionen zur Wahl<br />

stellt (Verzicht auf die wahlärztliche Behandlung, Behandlung durch den Vertreter zu den Bedingungen derWahlleistungsvereinbarung und gegebenenfalls Verschiebung der Operation)und eine<br />

Beeinflussung des Patienten, sich für eine der Varianten zu entscheiden, nicht erkennbar ist.<br />

(2) Inhaltlich genügt die "Schriftliche Fixierung" den Anforderungen. Insbesondere enthält sie alle notwendigen Hinweise,<br />

die für die ordnungsgemäßeAufklärung des Wahlleistungspatienten erforderlich sind (vgl. oben aa (1)). Siewahrt zudem die<br />

Schriftform (siehe oben aa (2)). Überdies ist die Beklagte jedenfalls auch mündlich über den Vertretungsfall und den<br />

beabsichtigten Eintrittdes Oberarztes Dr. B. unterrichtet worden.<br />

3. Die Sache ist noch nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO),da die Beklagte weitere Einwendungen gegen die<br />

Klageforderung erhoben hat,mit denen sich das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig -<br />

noch nicht befasst hat.<br />

Schlick Dörr HerrmannWöstmann HarsdorfGebhardt<br />

Vorinstanzen:AG HamburgSt. Georg, Entscheidung vom 22.09.2005 - 914 C 133/05 - LG Hamburg, Entscheidung vom<br />

20.04.2007 - 309 S 272/05 –<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 229/06 vom 16.10.2007<br />

Ein Arzt im vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst kann bei differentialdiagnostischen Anzeichen für eine<br />

coronare Herzerkrankung (hier: einen akuten Herzinfarkt) zur Befunderhebung (Ausschlussdiagnostik) und damit zur Einweisung des<br />

Patienten in ein Krankenhaus verpflichtet sein.<br />

in dem Rechtsstreit BGB § 823 Aa BGH, Beschluss vom 16. 10.2007 - VI ZR 229/06 - OLG München LG München I<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 16. 10.2007 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr.<br />

Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr beschlossen: Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des<br />

1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 19. 10.2006 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung<br />

und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht<br />

zurückverwiesen. Gegenstandswert: 597.670,58 € Gründe: I. 1 Der Beklagte untersuchte den damals 34 Jahre alten<br />

Kläger im Rahmen des vertragsärztlichen Bereitschaftsdienstes der kassenärztlichen Vereinigung am Mittwoch, den 6.<br />

03.1996, gegen 8.00 Uhr in dessen Wohnung. Der Kläger litt an Durchfall, Erbrechen, Schwindel und Übelkeit. Dem<br />

Beklagten wurde über Schmerzen im Brustbereich des Klägers berichtet. Die Ehefrau des Klägers wies den Beklagten<br />

darauf hin, dass in der Familie des Klägers eine Herzinfarktgefährdung bestehe. Eine Messung ergab bei bekanntem<br />

Hochdruck einen Blutdruck von 200/130. Der Beklagte verabreichte dem Kläger eine Tablette Gelonida sowie 5 mg<br />

Nifedipin. Der Kläger erbrach sich nach etwa 15 Minuten. Der Beklagte spritzte dem Kläger deshalb intramuskulär<br />

Dolantin. Er diagnostizierte beim Kläger, der während der Anwesenheit des Beklagten zweimal wegen Durchfalls und<br />

Erbrechens die Toilette aufsuchte, einen grippalen Infekt, eine Intercostalneuralgie und Diarrhoe. Die Frage des<br />

Beklagten, ob er ins Krankenhaus gehen wolle, verneinte der Kläger.<br />

Kurz vor 12.00 Uhr desselben Tages fand die Ehefrau den leblos auf dem Boden liegenden Kläger. Ein<br />

herbeigerufener anderer Notarzt führte beim Kläger, bei dem er einen Atem- und Kreislaufstillstand befundet hatte,<br />

erfolgreich Reanimationsmaßnahmen durch. Ein generalisierter hypoxischer Hirnschaden hinterließ jedoch bleibende<br />

Beeinträchtigungen. Im Krankenhaus stellten die Ärzte einen akuten Hinterwandinfarkt fest.<br />

Der Kläger ist der Ansicht, der Beklagte habe die Möglichkeit eines Herzinfarkts abklären müssen. Dann wäre der<br />

Infarkt vermieden worden und der Hirnschaden nicht eingetreten oder deutlich geringer ausgefallen. Der Kläger<br />

verlangt vom Beklagten über den von dessen Haftpflichtversicherung ohne Anerkennung einer Rechtspflicht bezahlten<br />

Betrag von 60.000 DM hinaus ein weiteres angemessenes Schmerzensgeld von mindestens 122.710,05 €,<br />

Verdienstausfall für Vergangenheit und Zukunft bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres sowie die Feststellung der<br />

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Ersatzverpflichtung des Klägers für sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden, die aufgrund der<br />

fehlerhaften Behandlung entstanden seien.<br />

Die Klage hatte keinen Erfolg. Die Berufung des Klägers ist zurückgewiesen worden. Das Berufungsurteil ist u.a.<br />

veröffentlicht in MedR 2007, 203.<br />

Das Berufungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Der Kläger hat dagegen form- und fristgerecht Beschwerde<br />

eingelegt.<br />

II.<br />

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg; sie führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen<br />

Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.<br />

1. Die angefochtene Entscheidung verletzt den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG.<br />

a) Das Berufungsgericht durfte das Gutachten E. und das Privatgutachten N. nicht zur Grundlage seines Urteils<br />

machen. Diese Gutachten berücksichtigten Symptome, die der Kläger am 6. 03.1996 nach seinem Prozessvortrag<br />

aufwies, nicht erkennbar in der erforderlichen Weise.<br />

Nach dem Inhalt des Beweisbeschlusses vom 12. 04.2000 hatte der Sachverständige die Schilderungen der Ehefrau<br />

des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 29. 03.2000 zu berücksichtigen. Es ist jedoch nicht<br />

ersichtlich, dass das kardiologischpneumologische Gutachten E./B. und der Privatsachverständige N. bei Erstellung<br />

ihrer Gutachten davon ausgegangen wären, der Kläger sei am Morgen des 6. 03.1996 schweißgebadet gewesen und<br />

habe unter Schwindel gelitten, über starke Schmerzen im Nacken- und Brustbereich sowie darüber geklagt, dass er<br />

fast keine Luft bekomme. Sie berücksichtigen die Schwindelgefühle und die Atemnot des Klägers nicht in<br />

nachvollziehbarer Weise. Schließlich ist der Sachverständige B. im Ergänzungsgutachten vom 8. 07.2004 trotz des<br />

Antrags des Klägers im Schriftsatz vom 13. 05.2003 (Frage 49) nicht darauf eingegangen, ob die genannten<br />

Symptome in Übereinstimmung mit dem Gutachten D. typisch für einen Herzinfarkt sind.<br />

Dadurch, dass das Berufungsgericht diese Gutachten dennoch ausführlich selbst gewürdigt und seiner Entscheidung<br />

zugrunde gelegt und die Auslassungen und die - in erster Instanz ausdrücklich gerügten - Widersprüche zu den<br />

Gutachten D. (vgl. Senat, Urteile vom 3. 12.1996 - VI ZR 309/95 - VersR 1997, 191, 192; vom 16. 01.2001 - VI ZR 498/99 - VersR 2001, 783, 784) nicht geklärt hat, hat es<br />

seinerseits den Kern des entscheidungserheblichen Klägervortrags nicht berücksichtigt (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 2 Alt. 1 ZPO) und<br />

damit den Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG fortgesetzt. Das führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur<br />

Zurückverweisung der Sache (§ 544 Abs. 7 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der<br />

gebotenen Berücksichtigung der Angaben der Ehefrau des Klägers durch die Sachverständigen zu einer anderen<br />

Beurteilung des Falles gekommen wäre. Insbesondere kann die Kausalität der Behandlung für den Schaden des<br />

Klägers nach den derzeitigen Feststellungen nicht verneint werden. Hätte der Beklagte die differentialdiagnostische<br />

Möglichkeit eines akuten Herzinfarkts als naheliegend berücksichtigen müssen, hätte er sie entweder selbst<br />

ausschließen oder den Kläger umgehend in ein Krankenhaus einweisen müssen, damit die für einen Ausschluss<br />

erforderlichen Befunde erhoben worden wären. Dann wären möglicherweise der Eintritt eines Herz- und<br />

Kreislaufstillstands oder doch die Folge einer hypoxischen Schädigung bei der zu unterstellenden ordnungsgemäßen<br />

Behandlung vermieden worden (vgl. Senat, BGHZ 159, 48, 56 f. m.w.N.).<br />

Seine Würdigung der Gutachten im zu entscheidenden Einzelfall wird das Berufungsgericht daher - gegebenenfalls<br />

nach weiterem Vortrag der Parteien - überprüfen und dabei auch die Rügen der Nichtzulassungsbeschwerde<br />

berücksichtigen können, wonach bislang Feststellungen zu der Frage fehlten, ob die geklagten Schmerzen<br />

bewegungsabhängig waren oder nicht. Auch dem Vortrag, dass die Ehefrau des Klägers hierzu vor der Polizei von<br />

dauernden Schmerzen berichtet habe, die sich bei einer bestimmten Haltung des Klägers besserten, wird es<br />

nachgehen können. Eine grundlegende Verkennung der Beweislast ist in diesem Zusammenhang nicht ersichtlich.<br />

2. Das Berufungsurteil hat nicht aus einem anderen Grund Bestand (§ 561 ZPO). Entgegen der Ansicht der<br />

Beschwerdeerwiderung kann nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht davon<br />

ausgegangen werden, dass ein akuter Herzinfarkt des Klägers im Zeitpunkt des Arztbesuchs des Beklagten<br />

unwahrscheinlich oder äußerst unwahrscheinlich gewesen sei. Eine solche Wertung würde eine sachkundige<br />

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Stellungnahme unter Berücksichtigung auch des Schweißausbruchs des Klägers, seiner Atemnot, der<br />

Schwindelgefühle sowie des Schmerzbildes voraussetzen, an der es bislang fehlt.<br />

3. Ob darüber hinaus weitere Gründe für eine Zulassung der Revision gegeben sind, bedarf keiner abschließenden<br />

Erörterung.<br />

In der Revision könnte die gerichtliche Entscheidung, ob ein Arzt bei Symptomen, welche u.a. auch auf einen<br />

Herzinfarkt hindeuten können, diese mögliche Ursache ausschließen muss, lediglich darauf überprüft werden, ob der<br />

Tatrichter die dem Arzt obliegende Pflichtenstellung rechtlich zutreffend erfasst und die für die Beurteilung<br />

erforderlichen Umstände vollständig und richtig berücksichtigt hat. Die Entscheidung über die Verletzung einer<br />

berufsspezifischen Sorgfaltspflicht durch einen Arzt, ist im Übrigen in erster Linie eine Tatfrage, die sich nach<br />

medizinischen Maßstäben richtet (vgl. Senat, Urteil vom 29. 11.1994 - VI ZR 189/93 - VersR 1995, 659, 660; RGRKommentar/Nüßgens, BGB 12. Aufl., § 823 Anh. II Rn. 181;<br />

Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 99 Rn. 6; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 10. Aufl., Rn. 150 ff.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl., Rn. B 2).<br />

Das Berufungsgericht wird ferner seine Ansicht überprüfen können, der Kläger sei beweisbelastet dafür, dass der<br />

Hirnschaden durch einen dringlichen Rat des Beklagten, eine Abklärung im Krankenhaus zu suchen, habe verhindert<br />

werden können. Ist Primärschädigung der behauptete Schaden in seiner konkreten Ausprägung (vgl. Senat, Urteil vom 21. 07.1998 - VI<br />

ZR 15/98 - VersR 1998, 1153, 1154) und damit hier der Herz- und Kreislaufstillstand, ist für die behaupteten Folgen des Stillstands das<br />

Beweismaß des § 287 Abs. 1 ZPO ausreichend. Soweit des Berufungsgericht dem Kläger die Beweislast auferlegt<br />

dafür, dass die Schädigung in gleicher Weise bei pflichtgemäßem Verhalten des Beklagten erfolgt wäre, begegnet das<br />

rechtlichen Bedenken. In einem Fall rechtmäßigen Alternativverhaltens muss der Arzt beweisen, dass der gleiche<br />

Schaden auch bei rechtmäßigem Vorgehen eingetreten wäre (vgl. Senat, Urteile vom 2. 02.1968 - VI ZR 115/67 - VersR 1968, 558, 559; vom 15. 03.2005 - VI ZR<br />

313/03 - VersR 2005, 836, 837; vom 5. 04.2005 - VI ZR 216/03 - VersR 2005, 942; BGH, BGHZ 120, 281, 287).<br />

Ein mögliches Infarktrisiko des Klägers aus der Familienanamnese wird das Berufungsgericht nicht gegen die Ansicht<br />

der Sachverständigen verneinen können, ohne eigene Sachkunde darzutun.<br />

4. Nach allem ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 7<br />

ZPO), das auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens zu entscheiden haben wird.<br />

Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr<br />

Vorinstanzen: LG München I, Entscheidung vom 18.01.2006 - 9 O 1101/99 - OLG München, Entscheidung vom<br />

19.10.2006 - 1 U 2149/06 –<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 31/06 vom 26.06.2007<br />

Zur hypothetischen Einwilligung wird die Klage des Patienten zurückgewiesen.<br />

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 3. Zivilsenats des<br />

Oberlandesgerichts Hamm vom 5. 12.2005 wird zurückgewiesen, weil sie nicht aufzeigt, dass die Rechtssache<br />

grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung<br />

eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 S. 1 ZPO). Jedenfalls lassen die Ausführungen des<br />

Berufungsgerichts zur Verneinung eines Behandlungsfehlers und zur hypothetischen Einwilligung keinen Rechtsfehler<br />

erkennen.<br />

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 4 S. 2, 2. Halbs. ZPO abgesehen.<br />

Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens (§ 97 Abs. 1 ZPO).<br />

Streitwert: 25.000,00 €<br />

Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr<br />

Vorinst.:LG Essen, Entscheidung vom 20.04.2005 - 1 O 310/03 -<br />

OLG Hamm, Entscheidung vom 05.12.2005 - 3 U 110/05 -<br />

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ThönsBGH VI<br />

ZR 35/06 vom 22.05.2007<br />

Bei Anwendung einer Außenseitermethode ist grundsätzlich der Sorgfaltsmaßstab eines vorsichtigen Arztes<br />

entscheidend. Zum Umfang der Aufklärungspflicht des Arztes bei Anwendung einer solchen Methode. Der<br />

Patient obsiegte.<br />

BGH, Urteil vom 22. 05.2007 - VI ZR 35/06 - OLG München<br />

LG München II<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 22. 05.2007 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 19. 01.2006<br />

aufgehoben.<br />

Es wird festgestellt, dass der Beklagte zu 1 verpflichtet ist, der Klägerin alle mit dem am 6. 03.2001 an der Klägerin<br />

vorgenommenen Eingriff und den diesem Eingriff folgenden ärztlichen Behandlungen am 7. und 8. 03.2001 ursächlich<br />

zusammenhängenden materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, soweit die Schadensersatzansprüche nicht<br />

auf öffentliche Versicherungsträger übergegangen sind.<br />

Die Gerichtskosten der ersten und zweiten Instanz trägt die Klägerin zu 2/3, der Beklagte zu 1 zu 1/3; von den<br />

Gerichtskosten der Revisionsinstanz tragen die Klägerin 2/7, der Beklagte zu 1 5/7.<br />

Von den außergerichtlichen Kosten der Klägerin tragen diese selbst 2/3, der Beklagte zu 1 1/3.<br />

Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2 und 3 trägt die Klägerin.<br />

Der Beklagte zu 1 trägt seine eigenen außergerichtlichen Kosten selbst.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Klägerin verlangt von dem Beklagten zu 1 (künftig: der Beklagte) Schadensersatz wegen Komplikationen bei der<br />

Behandlung eines Bandscheibenvorfalls. Der Beklagte ist niedergelassener Orthopäde, der<br />

Bandscheibenbeschwerden mit dem sog. RaczKatheter behandelt. Bei dieser Behandlung wird über einen<br />

Epiduralkatheter im Spinalkanal ein "Cocktail" aus einem Lokalanästhetikum, einem Corticoid, einem Enzym und einer<br />

Kochsalzlösung im Bereich des von einem Bandscheibenvorfall betroffenen Segments eingespritzt.<br />

Der Beklagte führte solche Eingriffe in der chirurgischen Klinik im Kreiskrankenhaus der früheren Beklagten zu 3 aus.<br />

Die frühere Beklagte zu 2 arbeitete im Jahr 2001 als Stationsärztin in dieser chirurgischen Klinik.<br />

Die Klägerin litt an einem Bandscheibenvorfall, einer Spinalkanalstenose, einem chronischen Schmerzsyndrom und an<br />

einem Facettengelenksyndrom. Auf Anraten ihres Orthopäden stellte sie sich bei dem Beklagten vor, der mit ihr am 26.<br />

02.2001 ein Aufklärungsgespräch führte. In der von der Klägerin unterzeichneten, vorgefertigten "Operationsaufklärung<br />

und Einwilligung" sind als "Risiken" und mögliche Komplikationen der Operation unter anderem die "Möglichkeit einer<br />

Querschnittslähmung und einer Blasen- und Mastdarmstörung" angeführt und handschriftlich unterstrichen. Von einer<br />

konventionellen Bandscheibenoperation riet der Beklagte ab.<br />

Der Beklagte legte den Katheter am 6. 03.2001. Die erste Einspritzung des "Cocktails" erfolgte unmittelbar nach der<br />

Operation noch im Wachraum. In der Nacht zum 7. 03.2001 und am Morgen dieses Tages traten starke Schmerzen<br />

auf. Die Verabreichung der Schmerzmittel Tramal und Imbun führte zu keiner nennenswerten Besserung. Der Beklagte<br />

wurde telefonisch unterrichtet. Er ordnete eine zweite Infiltration an. Am Nachmittag hatte die Klägerin er neut starke<br />

Schmerzen. Bei einem weiteren Telefonat gab der Beklagte die Anweisung, den Katheter um 1 cm zurückzuziehen.<br />

Darauf verminderte sich der Schmerz umgehend und der Zustand der Klägerin besserte sich. Am Abend des 7.<br />

03.2001 traten jedoch Taubheitsgefühle am Gesäß und linken Bein der Klägerin auf, worauf diese die Stationsärztin<br />

hinwies. Am 8. 03.2001 wurde eine dritte Infiltration gesetzt. Gleich zu Beginn kam es zu starken krampfartigen<br />

Schmerzen der Klägerin, besonders in der linken Kniekehle außen und im Unterschenkel. Nach etwa eineinhalb<br />

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Stunden zog die Beklagte zu 2 den Katheter mitsamt der Nadel heraus. In der Folgezeit zeigte sich bei der Klägerin<br />

eine Blasen- und Mastdarmstörung in streitigem Umfang. Die Klägerin hat vorgebracht, die Komplikation sei auf Fehler<br />

des Beklagten und der Stationsärztin zurückzuführen. Sie hat außerdem eine unzulängliche Aufklärung beanstandet<br />

und die Feststellung begehrt, alle drei Beklagten seien zum Ersatz sämtlicher materieller und immaterieller Schäden<br />

verpflichtet, die mit den Eingriffen vom 6., 7. und 8. 03.2001 ursächlich zusammenhingen. Ihre Klage hatte keinen<br />

Erfolg. Das Oberlandesgericht München hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden<br />

Senat lediglich hinsichtlich des Beklagten zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel gegen diesen<br />

weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

Das Berufungsgericht hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, ein Behandlungsfehler des Beklagten sei nicht<br />

nachweisbar. Der Eingriff sei 2001 zumindest relativ indiziert gewesen. Das Verfahren habe zum Teil gute<br />

Therapieerfolge aufgewiesen, während Zahl und Schwere der bekannten Nebenwirkungen gering gewesen sei. Das<br />

technische Vorgehen des Beklagten bei der Einbringung des Katheters am 6. 03.2001 sei nicht zu beanstanden. Ein<br />

Befunderhebungsfehler des Beklagten durch Beschränkung auf telefonische Anweisungen und die Unterlassung einer<br />

persönlichen Untersuchung am 7. 03.2001 sei zu verneinen.<br />

Allerdings habe das Berufungsgericht keinen Zweifel daran, dass die Entscheidung des Beklagten, die Behandlung<br />

nach Auftreten der Schmerzen nicht abzubrechen, zu der Blasen- und Mastdarmstörung der Klägerin geführt habe. Aus<br />

diesem Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Beklagten und dem Schaden der Klägerin könne jedoch<br />

nicht auf das Vorliegen eines Behandlungsfehlers geschlossen werden, den der Sachverständige verneint habe.<br />

Leitlinien für die Schmerzbehandlung mit dem RaczKatheter gebe es nicht.<br />

Auch eine Verletzung der dem Beklagten obliegenden Aufklärungspflicht sei nicht festzustellen. Der Beklagte habe die<br />

Klägerin ausweislich des Einwilligungsformulars über die Risiken einer Blasen- und Mastdarmstörung bis zur<br />

Querschnittlähmung hingewiesen und damit die Gefahren der Behandlung nicht verharmlost. Auch über eine<br />

konventionelle Bandscheibenoperation habe der Beklagte mit der Klägerin gesprochen. Die Klägerin sei zudem erst<br />

nach ergebnisloser konventioneller Schmerzbehandlung an den Beklagten verwiesen<br />

worden. Der Beklagte habe die Klägerin zwar nicht darüber aufgeklärt, dass die Methode Racz eine neuartige,<br />

wissenschaftlich umstrittene Art der Schmerztherapie sei. Er habe aber auf das Misserfolgsrisiko der Methode<br />

hingewiesen. Das Landgericht habe zudem zu Recht einen Entscheidungskonflikt der Klägerin verneint. Ein Hinweis,<br />

dass es sich um eine verhältnismäßig neue Methode mit statistisch nicht abgesicherter Wirksamkeit handle, würde die<br />

Klägerin von der Behandlung nicht abgehalten haben. Die beklagten Folgen seien extrem selten. Der Klägerin sei auch<br />

bekannt gewesen, dass die Schmerzbehandlung nach Racz von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht bezahlt<br />

werde.<br />

II.<br />

Die Entscheidung des Berufungsgerichts hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.<br />

1. Allerdings bestehen aus Rechtsgründen keine Bedenken dagegen, dass das Berufungsgericht die Entscheidung des<br />

Beklagten für die Therapie mit dem sogenannten RaczKatheter (minimalinvasive epidurale WirbelsäulenKathetertechnik nach Prof. Racz; vgl. Altendorfer,<br />

Orthopädie & Rheuma 2003, 22 f.; KlakowFranck/Rheinberger, DÄBl 2003, A 1022 f.) zur Linderung oder Behebung der Schmerzen der Klägerin nicht<br />

beanstandet und in der Therapiewahl keinen Behandlungsfehler sieht.<br />

a) Zwar handelt es sich bei dieser Behandlungsmethode nach den Feststellungen des Berufungsgerichts um eine<br />

symptombezogene Schmerztherapie, die damals neuartig war und wissenschaftlich umstritten ist. Wissenschaftliche<br />

Auswertungen mit statistischer Aussagekraft über die Wirksamkeit der Therapie fehlten jedenfalls im Jahr 2001.<br />

b) Die Anwendung einer nicht allgemein anerkannten Heilmethode ist aber grundsätzlich erlaubt und führt nicht ohne<br />

weitere Umstände zu einer Haftung des Behandlers (vgl. Senat, BGHZ 113, 297, 301 m.w.N). Die Therapiewahl ist primär Sache des<br />

Arztes, dem die Rechtsprechung bei seiner Entscheidung ein weites Ermessen einräumt für den Fall, dass praktisch<br />

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gleichwertige Methoden zur Verfügung stehen (vgl. Senat, BGHZ 102, 17, 22; 106, 153, 157; Urteile vom 24. 11.1987 - VI ZR 65/87 - VersR 1988, 190, 191; vom 15. 03.2005<br />

- VI ZR 313/03 - VersR 2005, 836).<br />

Der Arzt ist bei der Wahl der Therapie auch nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festgelegt.<br />

Allerdings muss ein höheres Risiko in den besonderen Sachzwängen des konkreten Falles oder in einer günstigeren<br />

Heilungsprognose eine sachliche Rechtfertigung finden (vgl. Senat, BGHZ 168, 103, 105 f.; Urteil vom 7. 07.1987 - VI ZR 146/86 - VersR 1988, 82, 83; Katzenmeier,<br />

Arzthaftung, S. 311 zu FN 237; Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., Rn. 486; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl., Rn. B 9, B 37). Jedenfalls hat der Arzt alle bekannten und<br />

medizinisch vertretbaren Sicherungsmaßnahmen anzuwenden, die eine erfolgreiche und komplikationsfreie<br />

Behandlung gewährleisten, und muss um so vorsichtiger vorgehen, je einschneidender ein Fehler sich für den<br />

Patienten auswirken kann (vgl. Senat, Urteil vom 9. 07.1985 - VI ZR 8/84 - VersR 1985, 969, 970).<br />

Nach diesen Grundsätzen ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht in der Wahl der<br />

RaczMethode keinen Behandlungsfehler gesehen hat. Die Anwendung dieser Behandlungsmethode war im konkreten<br />

Fall relativ indiziert. Das Verfahren wies - nach den von der Revision nicht beanstandeten Feststellungen des<br />

Berufungsgerichts - bei Schmerzpatienten zum Teil gute Therapieerfolge auf, während Zahl und Schwere der<br />

bekannten Nebenwirkungen gering waren. Die Klägerin hatte lang dauernde<br />

Schmerzen und lehnte eine Bandscheibenoperation ab. Die Spinalkanalstenose sprach nach dem Wissensstand des<br />

Jahres 2001 nicht gegen die Erfolgsaussichten des Eingriffs. Dann aber war dem Beklagten die Wahl dieser Therapie<br />

gestattet, auch wenn sie neuartig und umstritten und ihre Wirksamkeit statistisch nicht abgesichert war.<br />

c) Ferner ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht im Anschluss an das -<br />

sachverständig beratene - Landgericht einen Behandlungsfehler beim Setzen des Epiduralkatheters verneint. Die<br />

Revision erhebt insoweit keine Beanstandungen.<br />

2. Durchgreifenden Bedenken begegnen jedoch die Ausführungen, mit denen das Berufungsgericht für die Fortsetzung<br />

der Behandlung am 7. 03.2001 nach dem Auftreten von Schmerzen einen Behandlungsfehler verneint.<br />

a) Die Anwendung einer Außenseitermethode unterscheidet sich - wie die Anwendung neuer Behandlungsmethoden<br />

oder die Vornahme von Heilversuchen an Patienten mit neuen Medikamenten - von herkömmlichen, bereits zum<br />

medizinischen Standard gehörenden Therapien vor allem dadurch, dass in besonderem Maße mit bisher unbekannten<br />

Risiken und Nebenwirkungen zu rechnen ist. Deshalb erfordert die verantwortungsvolle medizinische Abwägung einen<br />

besonders sorgfältigen Vergleich zwischen den zu erwartenden Vorteilen und ihren abzusehenden, zu vermutenden<br />

oder aufgetretenen Nachteilen unter besonderer Berücksichtigung des Wohles des Patienten. Der behandelnde Arzt<br />

muss zwar nicht stets den sichersten therapeutischen Weg wählen, doch muss bei Anwendung einer solchen Methode<br />

- wie bereits erwähnt - ein höheres Risiko für den Patienten in besonderem Maße eine sachliche Rechtfertigung in den<br />

Sachzwängen des konkreten Falles oder in einer günstigeren Heilungsprognose finden. Die sich hieraus ergebende<br />

Abwägung ist kein einmaliger Vorgang<br />

bei Beginn der Behandlung, sondern muss jeweils erneut vorgenommen werden, sobald neue Erkenntnisse über<br />

mögliche Risiken und Nebenwirkungen vorliegen, über die sich der behandelnde Arzt ständig, insbesondere auch<br />

durch unverzügliche Kontrolluntersuchungen zu informieren hat (vgl. Senat, Urteile vom 13. 06.2006 - VI ZR 323/04 - VersR 2006, 1073; vom 27. 03.2007 - VI<br />

ZR 55/05 - beide zum Abdruck in BGHZ bestimmt).<br />

Diese Verpflichtung zur Überprüfung der Behandlungsmethode gilt erst recht, wenn im Verlauf der Behandlung<br />

Komplikationen auftreten. In diesem Fall muss der Arzt sich über deren Ursache vergewissern und darf die Behandlung<br />

nur fortsetzen, wenn auszuschließen ist, dass die Komplikationen durch die Behandlung verursacht sind.<br />

Nach diesen Grundsätzen waren beim Auftreten starker Schmerzen bei der Klägerin anlässlich einer zur<br />

Schmerztherapie vorgenommenen neuartigen Behandlung erhöhte Vorsicht, eine genaue Untersuchung auf die<br />

Ursache der Beeinträchtigungen und die erforderlichen Maßnahmen zur Vermeidung bleibender Schäden geboten.<br />

Auch durfte der Beklagte sich unter den gegebenen Umständen trotz ärztlicher Betreuung der Patientin im<br />

Krankenhaus nicht auf telefonische Anweisungen beschränken, sondern musste sich persönlich von ihrer<br />

Beeinträchtigung und deren Ursachen vergewissern (vgl. Senat, Urteil vom 20. 02.1979 - VI ZR 48/78 - VersR 1979, 376 ff.). Diese Pflicht des<br />

behandelnden Arztes zu besonderer Vorsicht hat auch der Sachverständige bestätigt. Bei Anwendung einer<br />

Behandlungsmethode außerhalb des medizinischen Standards ist Maßstab für die erforderliche Sorgfalt ein<br />

vorsichtiger Arzt.<br />

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) In rechtlicher Hinsicht obliegt die Bewertung eines Behandlungsgeschehens als fehlerhaft dem Tatrichter, der sich<br />

freilich in medizinischer Hinsicht auf Sachverständige zu stützen hat. Die Tatsachenfeststellung ist Aufgabe<br />

des Richters in eigener Verantwortung. Er muss sich darauf einstellen, dass manche Sachverständige<br />

Behandlungsfehler nur zurückhaltend ansprechen, wie im vorliegenden Fall. Die deutliche Distanzierung des<br />

Sachverständigen vom Vorgehen des Beklagten in der Sache und seine einschränkende Formulierung "kein richtiger<br />

Behandlungsfehler" hätten dem Berufungsgericht Anlass geben müssen, die Äußerungen des Sachverständigen<br />

kritisch zu hinterfragen und sowohl den für eine solche Behandlung geltenden Sorgfaltsmaßstab als auch den Begriff<br />

des Behandlungsfehlers mit dem Sachverständigen zu erörtern, gegebenenfalls sogar ein anderes Gutachten<br />

einzuholen (vgl. Senat, Urteile vom 27. 09.1977 - VI ZR 162/76 - VersR 1978, 41, 42 f.; vom 19. 01.1993 - VI ZR 60/92 - VersR 1993, 835, 836; vom 14. 12.1993 - VI ZR 67/93 - VersR 1994, 480, 482).<br />

Jedenfalls war das Berufungsgericht nicht an die Verneinung eines Behandlungsfehlers durch den Sachverständigen<br />

gebunden, zumal diese auch in der Form nicht eindeutig war und mit "kein richtiger Behandlungsfehler" eine deutliche<br />

Relativierung seiner Beurteilung enthielt.<br />

c) Unter diesen Umständen liegt es auf der Hand, hier einen haftungsbegründenden Fehler des Beklagten<br />

anzunehmen, ohne dass es darauf ankommt, dass für diese Behandlungsmethode keine Leitlinien bestanden haben.<br />

Abschließender Beurteilung bedarf diese Frage jedoch nicht.<br />

3. Der Beklagte haftet für die Behandlung insgesamt und die daraus entstandenen und künftig entstehenden Schäden<br />

der Klägerin jedenfalls deshalb, weil die Behandlung ohne wirksame Einwilligung der Klägerin erfolgt ist und daher<br />

rechtswidrig war. Die Ansicht des Berufungsgerichts, der Beklagte habe die ihm obliegende Aufklärungspflicht nicht<br />

verletzt, hält den Angriffen der Revision gleichfalls nicht stand.<br />

a) Die Anwendung einer sogenannten "Außenseitermethode" erfordert zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des<br />

Patienten dessen Aufklärung über das Für und Wider dieser Methode. Einem Patienten müssen nicht nur die Risiken<br />

und die Gefahr eines Misserfolges des Eingriffs erläutert werden, sondern er ist auch darüber aufzuklären, dass der<br />

geplante Eingriff (noch) nicht medizinischer Standard ist und seine Wirksamkeit statistisch (noch) nicht abgesichert ist. Der<br />

Patient muss wissen, auf was er sich einlässt, um abwägen zu können, ob er die Risiken einer (eventuell - wie hier - nur relativ<br />

indizierten) Behandlung und deren Erfolgsaussichten im Hinblick auf seine Befindlichkeit vor dem Eingriff eingehen will (vgl.<br />

Senat, Urteil vom 27. 03.2007 - VI ZR 55/05 - aaO; Katzenmeier, aaO, S. 312; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 10. Aufl., Rn. 387; Geiß/Greiner, aaO, Rn. C 39).<br />

b) Eine diesen Grundsätzen entsprechende Aufklärung ist unstreitig nicht erfolgt.<br />

Zwar hat der Beklagte die Klägerin über die schwerwiegenden Risiken einer Querschnittlähmung sowie einer Blasen-<br />

und Mastdarmstörung aufgeklärt. Auch wurde die Klägerin über die Möglichkeit der Erfolglosigkeit des Eingriffs belehrt,<br />

wie das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise aus der Unterstreichung der Wörter<br />

"persistierende Beschwerden" im Aufklärungsformular und der Aussage des Ehemannes der Klägerin als Zeugen vor<br />

dem Landgericht entnimmt.<br />

Der Beklagte hat die Klägerin aber unstreitig nicht darüber belehrt, dass es sich bei der Methode Racz um eine<br />

neuartige, wissenschaftlich umstrittene Art der Schmerztherapie handelte, die (noch) nicht medizinischer Standard, deren<br />

Wirksamkeit statistisch nicht abgesichert war und die der Sachverständige als "klinischexperimentell" bezeichnet hat.<br />

Eine solche Aufklärung wäre jedoch<br />

nach obigen Grundsätzen erforderlich gewesen und war angesichts der lediglich relativen Indikation und auch<br />

angesichts der bei der Klägerin vorbekannten Besonderheit einer Spinalkanalstenose im konkreten Fall unverzichtbar,<br />

selbst wenn die Stenose damals noch nicht als Kontraindikation erkannt war. Die Aufklärung über das Risiko eines<br />

Misserfolgs, die das Berufungsgericht als ausreichend angesehen hat, konnte demgegenüber nicht genügen, weil sie<br />

die Patientin weder über die Gefahr einer Verschlechterung ihres Zustands noch über die insgesamt unerforschte<br />

Wirkweise der Methode und ihre umstrittene Wirksamkeit in Kenntnis setzte.<br />

c) Nach allem war die Aufklärung der Klägerin nicht ausreichend, weil sie eine unrichtige Vorstellung von der<br />

SchadenNutzenRelation vermittelte (vgl. Senat, BGHZ 144, 1, 8; Urteile vom 7. 04.1992 - VI ZR 192/91 - VersR 1992, 960, 961 f.; vom 2. 11.1993 - VI ZR 245/92 - VersR 1994, 104,<br />

105). An der haftungsbegründenden Kausalität der Behandlung durch den Beklagten bestehen nach den<br />

beanstandungsfrei getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts keine Zweifel.<br />

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Eine Haftung des Beklagten für die bei der Klägerin aufgetretene Blasen- und Mastdarmstörung wird auch nicht<br />

deshalb ausgeschlossen, weil die Klägerin über diese Komplikationsmöglichkeit aufgeklärt worden war. Die Klägerin<br />

hat unwidersprochen vorgetragen, dass sie sich bei vollständiger Aufklärung überhaupt nicht auf die Behandlung<br />

eingelassen hätte, und damit geltend gemacht, dass sie bei vollständiger Aufklärung von dieser Behandlung<br />

abgesehen hätte. Anders als in dem der Entscheidung des Senats vom 13. 06.2006 (- VI ZR 323/04 - BGHZ 168, 103 ff.) zugrunde<br />

liegenden Sachverhalt hätte die Klägerin daher diese Behandlung insgesamt abgelehnt (zum haftungsrechtlichen Zurechnungszusammenhang<br />

vgl. Senat, Urteil vom 30. 01.2001 - VI ZR 353/99 - VersR 2001, 592).<br />

d) Auf eine hypothetische Einwilligung der Klägerin durfte das Berufungsgericht seine Entscheidung schon deshalb<br />

nicht stützen, weil nicht festgestellt und nicht ersichtlich ist, dass der Beklagte sich auf eine hypothetische Einwilligung<br />

der Klägerin auch im Falle ordnungsgemäßer Aufklärung berufen hat (vgl. Senat, Urteile vom 7. 04.1992 - VI ZR 192/91 - VersR 1992, 960, 962; vom 9.<br />

11.1993 - VI ZR 248/92 - VersR 1994, 682, 684; vom 14. 06.1994 - VI ZR 260/93 - VersR 1994, 1302; vom 9. 07.1996 - VI ZR 101/95 - VersR 1996, 1239, 1240).<br />

Die Revision wendet sich im Übrigen mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine hypothetische Einwilligung<br />

der Klägerin in die Behandlung nach Racz angenommen hat, weil die Klägerin einen Entscheidungskonflikt nicht<br />

plausibel dargetan habe. Das Berufungsgericht stellt zu hohe Anforderungen an die Plausibilität eines<br />

Entscheidungskonflikts bei Anwendung einer Außenseitermethode (vgl. Senat, Urteil vom 27. 03.2007 - VI ZR 55/05 - aaO). Die Klägerin hatte<br />

vorgetragen, bei ordnungsgemäßem Hinweis darauf, dass es sich um eine Behandlungsmethode außerhalb des<br />

medizinischen Standards handelte, hätte sie die Behandlung nicht ausführen lassen; sie wäre notfalls in eine<br />

Schmerzklinik gegangen. Damit hatte sie einen Entscheidungskonflikt ausreichend plausibel gemacht.<br />

e) Die Behandlung der Klägerin durch den Beklagten war somit mangels ordnungsgemäßer Aufklärung über die<br />

Anwendung einer "Außenseitermethode" von Anfang an rechtswidrig. Der Beklagte haftet daher für alle aus der<br />

Behandlung entstehenden materiellen und immateriellen Schäden der Klägerin.<br />

f) Eine für die Klage auf Feststellung der Ersatzverpflichtung des Beklagten ausreichende Möglichkeit künftiger<br />

Schäden (vgl. Senat, Urteil vom 9. 01.2007 - VI ZR 133/06 - GesR 2007, 165) ist nach den Ausführungen<br />

des Berufungsgerichts in der Blasen- und Mastdarmstörung der Klägerin festgestellt.<br />

4. Nach allem ist das angefochtene Urteil aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Der erkennende Senat hat in der Sache<br />

abschließend zu entscheiden, da die Aufhebung wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des § 823 Abs. 1 BGB auf<br />

das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und die Sache zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO).<br />

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO.<br />

Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr<br />

Vorinst.:LG München II, Entscheidung vom 02.08.2005 - 1 MO 2439/02 -<br />

OLG München, Entscheidung vom 19.01.2006 - 1 U 4453/05 -<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 108/06 vom 17.04.2007<br />

a) Der Arzt hat den Patienten vor dem ersten Einsatz eines Medikaments, dessen Wirksamkeit in der konkreten<br />

Behandlungssituation zunächst erprobt werden soll, über dessen Risiken vollständig aufzuklären, damit der<br />

Patient entscheiden kann, ob er in die Erprobung überhaupt einwilligen oder ob er wegen der möglichen<br />

Nebenwirkungen darauf verzichten will.<br />

b) Kann ein Patient zu der Frage, ob er bei zutreffender ärztlicher Aufklärung in einen Entscheidungskonflikt<br />

geraten wäre, nicht persönlich angehört werden (hier: wegen schwerer Hirnschäden), so hat das Gericht aufgrund einer<br />

umfassenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob der Patient aus nachvollziehbaren<br />

Gründen in einen ernsthaften Entscheidungskonflikt geraten sein könnte.<br />

Der Patient obsiegte.<br />

BGB § 823 Abs. 1 Aa, Dd<br />

BGH, Urteil vom 17. 04.2007 - VI ZR 108/06 - OLG Braunschweig<br />

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LG Göttingen<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 17. 04.2007 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Wellner, die Richterin Diederichsen und die Richter Stöhr und Zoll<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 4. 05.2006<br />

aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht<br />

zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Klägerin nimmt die beklagte Universität wegen behaupteter ärztlicher Fehler in deren medizinischen Einrichtungen<br />

auf Zahlung von Schmerzensgeld, Ersatz materiellen Schadens und Feststellung in Anspruch. Der Klägerin wurde bei<br />

einer stationären Behandlung in der Universitätsklinik seit dem 22. 03.2000 zur Behandlung einer Herzarrhythmie das<br />

Medikament Cordarex (Amiodaron) verabreicht. Am 30. 03.2000 erlitt sie in der Pause zwischen einer durchgeführten und<br />

einer geplanten Myokardszintigraphie einen Kreislaufstillstand. Dieser konnte zwar innerhalb von 10 Minuten nach der<br />

Entdeckung durch Reanimation beendet werden, führte jedoch zu schweren bleiben den Hirnschäden. Die Klägerin<br />

wirft den behandelnden Ärzten der Beklagten Behandlungs- und Aufklärungsfehler vor.<br />

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit<br />

der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist ein Behandlungsfehler der behandelnden Ärzte nicht festzustellen. Den<br />

Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen sei zu entnehmen, dass die Behandlung mit Amiodaron (= Cordarex)<br />

indiziert gewesen sei, weil die vorherige Behandlung mit BetaBlockern zur symptomatischen Besserung bei<br />

erheblichem Leidensdruck und ansonsten nicht ausreichend behandelbarem Vorhofflimmern nicht angeschlagen habe.<br />

Eine Kontraindikation habe nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht vorgelegen.<br />

Auch ein Aufklärungsfehler sei zu verneinen. Eine Aufklärungspflicht habe (noch) nicht bestanden. Das Medikament<br />

Cordarex (Amiodaron) sei nach den Ausführungen des Sachverständigen zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit Ursache für<br />

den bei der Klägerin eingetretenen Herzstillstand gewesen. Das Risiko eines Herzstillstandes sei aber durch den<br />

Wechsel des HerzrhythmusMedikaments von Propafenon auf Cordarex nicht gesteigert, sondern vielmehr gesenkt<br />

worden. Im Hinblick auf das Risiko des Eintritts eines Herzstillstandes seien die Ärzte der Beklagten daher nicht zu<br />

einer Einwilligungsaufklärung verpflichtet gewesen, da insoweit ein gesteigertes Risiko nicht vorgelegen habe.<br />

Eine Aufklärungspflicht habe auch nicht hinsichtlich der sonstigen Risiken des Medikamentes Cordarex bestanden.<br />

Dabei sei nicht entscheidend, dass sich bei der Klägerin keines dieser Risken verwirklicht habe. Maßgeblich sei<br />

vielmehr, dass diese Risiken sich in dem erforderlichen Zeitraum der Erprobung zur Umstellung auf Cordarex - nämlich<br />

zehn Tage - gar nicht hätten verwirklichen können. Zumindest für diese Phase der therapeutischen Abklärung, ob ein<br />

Medikamentenwechsel sinnvoll sei, habe daher noch keine Aufklärungspflicht seitens der Beklagten bestanden.<br />

Solange in der Phase der Feststellung, ob das andere Medikament dem Patienten überhaupt helfe, eine<br />

Risikoerhöhung - wie hier - ausgeschlossen sei, fehle es an einem einwilligungsbedürftigen Eingriff. Das<br />

Selbstbestimmungsrecht des Patienten werde nicht beeinträchtigt. Allerdings habe vor Beginn einer<br />

Dauermedikamentierung die Aufklärung der Klägerin über die erst damit verbundenen Nebenwirkungsrisiken erfolgen<br />

müssen. Darauf komme es hier aber nicht an, da sich diese Frage nicht mehr gestellt habe.<br />

Unterstelle man das Bestehen einer Aufklärungspflicht, so hafte die Beklagte nicht, weil die CordarexGabe durch eine<br />

hypothetische Einwilligung der Klägerin gedeckt gewesen wäre. Einen Entscheidungskonflikt habe die Klägerin bereits<br />

nicht hinreichend dargelegt. Dass sie infolge ihrer erheblichen kognitiven Beeinträchtigung und spastischen Störung<br />

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infolge des Hirnschadens zum Entscheidungskonflikt nicht persönlich angehört werden könne, gehe zu ihren Lasten.<br />

Die fehlende persönliche Anhörung werde auch nicht durch unstreitige oder aufklärbare streitige Umstände<br />

kompensiert. Zum Zeitpunkt der probeweisen Umstellung der Medikation ab 22. 03.2000 auf Cordarex habe unstreitig<br />

festgestanden, dass bei der Klägerin eine absolute Tachyarrhythmie bestand, die sich als mit BetaBlockern nicht<br />

behandelbar herausgestellt habe. Daraus, dass die Klägerin behaupte, sie habe zunächst nur die Verträglichkeit ihrer<br />

Herzmittel mit ihren nach dem Selbstmord ihres Mannes verordneten Antidepressiva bei<br />

der Beklagten abklären lassen wollen, lasse sich für ihre Entscheidungslage zum 22. 03.2000 nichts ableiten. Vielmehr<br />

spreche der Umstand, dass sich die Klägerin um einen kompatiblen Zustand der Medikamente bemüht habe, eher<br />

dafür, dass sie sowohl ihre Depressionen als auch ihre Herzrhythmusstörungen grundsätzlich weiterhin habe<br />

behandeln lassen wollen. Ausreichende Anhaltspunkte für einen Entscheidungskonflikt fänden sich jedenfalls nicht.<br />

II.<br />

Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision, welche sich ausschließlich gegen die Verneinung der Haftung<br />

wegen eines Aufklärungsversäumnisses wenden, nicht stand.<br />

1. Im Ansatz zutreffend ist allerdings der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts. Der Arzt, der Medikamente, die sich<br />

als für die Behandlung der Beschwerden des Patienten ungeeignet erwiesen haben, durch ein anderes Medikament<br />

ersetzt, dessen Verabreichung für den Patienten mit dem Risiko erheblicher Nebenwirkungen verbunden ist, hat den<br />

Patienten zur Sicherung seines Selbstbestimmungsrechts über den beabsichtigten Einsatz des neuen Medikaments<br />

und dessen Risiken aufzuklären (sogenannte Eingriffs- oder Risikoaufklärung). Tut er dies nicht, ist die Behandlung rechtswidrig, auch<br />

wenn der Einsatz des Medikaments an sich sachgerecht war (vgl. Senatsurteile BGHZ 162, 320, 323 f.; vom 27. 10.1981 - VI ZR 69/80 - VersR 1982, 147, 148 f. =<br />

AHRS 5100/5; vgl. auch für den Fall einer Routineimpfung Senatsurteil BGHZ 144, 1, 5). Das Berufungsgericht stellt fest, dass die Behandlung mit Cordarex<br />

mit einer Wahrscheinlichkeit von 35% nachteilige Nebenwirkungen im Bereich der Lunge, der Schilddrüse, der Augen<br />

und der Haut nach sich ziehe und dass Cordarex deshalb als Reservemedikament erst zum Einsatz kommen solle,<br />

wenn andere weniger riskante Mittel nicht anschlagen. Die Revision weist ergänzend darauf hin, dass es sich bei den<br />

zu befürchtenden Nebenwirkungen um Schilddrüsenfunktionsstörungen, schwere entzündliche Lungenerkrankungen<br />

und Leberschäden, periphere Neuropathien und/oder Myopathien sowie Augenschäden, und ferner um Erkrankungen<br />

des Blutes und des Lymphsystems, der Gefäße, des Gastrointestinaltrakts, der Haut, des Nervensystems, der<br />

Geschlechtsorgane und Brustdrüsen, der Nieren- und Harnwege sowie der Skelettmuskulatur und des Bindegewebes<br />

handele. Unter diesen Umständen bejaht das Berufungsgericht zutreffend eine grundsätzliche Aufklärungspflicht des<br />

Arztes über die beabsichtigte Behandlung mit Cordarex und die damit verbundenen Risiken.<br />

2. Nicht gefolgt werden kann jedoch der Auffassung des Berufungsgerichts, über die zwar seltene, aber<br />

möglicherweise mit schwer wiegenden Folgen verbundene Komplikation eines Herzstillstandes habe hier deshalb nicht<br />

aufgeklärt werden müssen, weil das abgesetzte Medikament insoweit gefährlicher, die konkrete Gefahr durch den<br />

Einsatz des Cordarex demnach vermindert worden sei.<br />

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war der Einsatz des Medikaments Cordarex mit hoher<br />

Wahrscheinlichkeit die Ursache für den Herzstillstand. Für das Revisionsverfahren ist deshalb zu unterstellen, dass<br />

dies tatsächlich der Fall war. Muss - wovon nach dem bisherigen Sachstand auszugehen ist - das Risiko eines<br />

Herzstillstandes als typisches Risiko der Verabreichung von Cordarex angesehen werden, so war wegen der schwer<br />

wiegenden Folgen eine Aufklärung auch hierüber erforderlich. Entscheidend für die ärztliche Hinweispflicht ist nicht ein<br />

bestimmter Grad der Risikodichte, insbesondere nicht eine bestimmte Statistik, sondern vielmehr, ob das betreffende<br />

Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und es bei seiner Verwirklichung die Lebensführung<br />

des Patienten besonders belastet, so dass grundsätzlich auch über derartige äußerst seltene Risiken aufzuklären ist<br />

(Senatsurteile BGHZ 144, 1, 5 f. und vom 21. 11.1995 - VI ZR 341/94 - VersR 1996, 330, 331; ferner BGHZ 126, 386, 389).<br />

Der Hinweis des Berufungsgerichts darauf, dass das Risiko eines Herzstillstandes durch das der Klägerin zuvor<br />

verabreichte Medikament Propafenon höher gewesen sei, führt schon deshalb nicht weiter, weil nicht festgestellt ist,<br />

dass die Klägerin über diese Wirkung des Propafenon aufgeklärt worden ist und gleichwohl mit seiner Verabreichung<br />

einverstanden war. Ohnehin können die Risiken einer zuvor erfolgten ärztlichen Behandlung mit den Risiken der<br />

nunmehr vorgenommenen Behandlung nicht "verrechnet" werden. Vielmehr ist der Patient vor dem Einsatz eines<br />

neuen Medikaments über dessen Risiken vollständig aufzuklären (Senatsurteil BGHZ 162, 320, 323 ff. m.w.N.).<br />

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3. Nicht zu billigen ist auch die Ansicht des Berufungsgerichts, der Einsatz eines neuen Medikaments sei ohne<br />

Einwilligung des Patienten vorübergehend zulässig, wenn zunächst ermittelt werden solle, ob das Medikament<br />

überhaupt anschlage und sich dessen Risiken in der Erprobungsphase der Medikation noch nicht auswirkten.<br />

a) Insoweit ist bereits zweifelhaft, ob das Berufungsgericht den Sachvortrag der Parteien und das Ergebnis der<br />

Beweisaufnahme ausreichend in Betracht gezogen hat. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Beklagte darauf berufen<br />

hat, sie habe von einer Aufklärung der Klägerin nur vorübergehend absehen und diese bei einem Anschlagen des<br />

Medikaments vor Beginn der Dauermedikation nachholen wollen. Mit Recht macht die Revision auch geltend, die<br />

Zeitberechnungen des Berufungsgerichts könnten auf einem fehlerhaften Verständnis der Ausführungen des<br />

Sachverständigen beruhen. Diese seien ledig lich dahin zu verstehen, dass die Verwirklichung der beschriebenen<br />

Risiken in dem kurzen Zeitraum, in dem das Cordarex hier verabreicht wurde, noch nicht durch das Auftreten konkreter<br />

Krankheitserscheinungen sichtbar geworden wären, nicht aber dahin, dass sie in diesem Zeitraum noch nicht hätten<br />

entstehen können. Dem Berufungsurteil ist nicht zu entnehmen, dass sich das Berufungsgericht dieser möglichen<br />

Differenzierung bewusst gewesen und dass dieser Gesichtspunkt mit dem Sachverständigen erörtert worden ist.<br />

b) Vor allem aber kann den Ausführungen des Berufungsgerichts auch aus grundsätzlichen Erwägungen nicht gefolgt<br />

werden. Ergeben sich beim Einsatz eines Medikaments für den Patienten andere Risiken als bei der bisherigen<br />

Medikation, ist der Patient bereits vor dessen erstem Einsatz entsprechend aufzuklären. Nur so wird das<br />

Selbstbestimmungsrecht des Patienten in ausreichender Weise gewahrt. Nur so wird auch vermieden, dass eine<br />

haftungsrechtliche "Grauzone" für die Erprobungsphase eines neuen Medikaments entsteht. Auch könnte es das<br />

Selbstbestimmungsrecht des Patienten beeinträchtigen, wenn die Aufklärung bzw. seine Entscheidung über den<br />

Einsatz des Medikaments auf einen Zeitpunkt verschoben würde, in dem möglicherweise der Eindruck der<br />

Beschwerdelinderung durch einen einsetzenden Therapieerfolg den Blick auf die erheblichen Risiken der Medikation<br />

verstellen kann.<br />

Erforderlich ist vielmehr, dass der Patient bereits vor dem ersten Einsatz eines neuen Medikaments über dessen<br />

Risiken aufgeklärt wird, damit er entscheiden kann, ob er in dessen Erprobung überhaupt einwilligen oder ob er wegen<br />

der möglichen Nebenwirkungen von vornherein darauf verzichten will.<br />

4. Schließlich sind auch die Ausführungen des Berufungsgerichts zur hypothetischen Einwilligung der Klägerin von<br />

Rechtsfehlern beeinflusst.<br />

a) Der Einwand der Behandlungsseite, der Patient hätte sich einem Eingriff auch bei zutreffender Aufklärung über<br />

dessen Risiken unterzogen, ist grundsätzlich beachtlich (Senatsurteil BGHZ 90, 103, 111 = AHRS 1050/12). Den Arzt trifft insoweit die<br />

Behauptungs- und Beweislast. Er ist mit dem Beweis für seine Behauptung, dass der Patient bei ordnungsgemäßer<br />

Aufklärung in den Eingriff eingewilligt haben würde, allerdings nur zu belasten, wenn der Patient zur Überzeugung des<br />

Tatrichters plausibel macht, dass er, wären ihm rechtzeitig die Risiken der Behandlung verdeutlicht worden, vor einem<br />

echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte, wobei an die Substantiierungspflicht zur Darlegung eines solchen<br />

Konflikts keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen (Senatsurteile vom 7. 04.1992 - VI ZR 192/91 - VersR 1992, 960, 962 = AHRS 1050/55; vom 14.<br />

06.1994 - VI ZR 260/93 - VersR 1994, 1302 = AHRS 1050/128 und 6805/105 m.w.N.). Feststellungen darüber, wie sich ein Patient bei ausreichender<br />

Aufklärung entschieden hätte, und ob er in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre, darf der Tatrichter grundsätzlich<br />

nicht ohne persönliche Anhörung des Patienten treffen; ein Ausnahmefall kann vorliegen, wenn schon die unstreitigen<br />

äußeren Umstände eine sichere Beurteilung der hypothetischen Entscheidungssituation erlauben (vgl. Senatsurteile vom 26. 06.1990 -<br />

VI ZR 289/89 - VersR 1990, 1238, 1240 = AHRS 6180/38; vom 1. 02.2005 - VI ZR 174/03 - VersR 2005, 694 m.w.N.). Von diesen Grundsätzen geht das<br />

Berufungsgericht im Ansatz zutreffend aus.<br />

b) In ihrer Verallgemeinerung unrichtig ist indes die zum Rechtssatz erhobene Aussage des Berufungsgerichts, die<br />

Unmöglichkeit der persönlichen Anhörung des Patienten zum Entscheidungskonflikt wirke sich grundsätzlich zu dessen<br />

Lasten aus. Der erkennende Senat fordert für den Regelfall eine per sönliche Anhörung des Patienten, um zu<br />

vermeiden, dass das Gericht für die Verneinung eines Entscheidungskonflikts vorschnell auf das abstellt, was bei<br />

objektiver Betrachtung als nahe liegend oder vernünftig erscheint, ohne die persönlichen, möglicherweise weniger nahe<br />

liegenden oder als unvernünftig erscheinenden Erwägungen des Patienten ausreichend in Betracht zu ziehen. Die<br />

persönliche Anhörung soll es dem Gericht ermöglichen, den anwaltlich vorgetragenen Gründen für und gegen einen<br />

Entscheidungskonflikt durch konkrete Nachfragen nachzugehen und sie auch aufgrund des persönlichen Eindrucks<br />

vom Patienten sachgerecht beurteilen zu können. Dabei muss im Auge behalten werden, dass an den Nachweis einer<br />

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hypothetischen Einwilligung durch die Behandlungsseite grundsätzlich strenge Anforderungen zu stellen sind, damit<br />

das Aufklärungsrecht des Patienten nicht auf diesem Wege unterlaufen wird (Senatsurteil vom 14. 06.1994 - VI ZR 260/93 - aaO), und dass<br />

die Darlegung eines echten Entscheidungskonflikts durch den Patienten gefordert wird, um einem Missbrauch des<br />

Aufklärungsrechts allein für Haftungszwecke vorzubeugen (vgl. Senatsurteil BGHZ 90, 103, 112).<br />

Danach scheidet eine schematische Beantwortung der vom Berufungsgericht aufgeworfenen Frage aus. Alleine unter<br />

Berücksichtigung der aufgezeigten Spannungslage lässt sich im konkreten Einzelfall beurteilen, ob und in welcher<br />

Richtung sich die Unmöglichkeit der persönlichen Anhörung des Patienten auswirkt. Sofern aufgrund der objektiven<br />

Umstände ein echter Entscheidungskonflikt eher fern, eine haftungsrechtliche Ausnutzung des<br />

Aufklärungsversäumnisses eher nahe liegt, ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Tatrichter eine<br />

hypothetische Einwilligung bejaht, obwohl der Patient dazu nicht persönlich angehört werden konnte. Ist indes nicht<br />

auszuschließen, dass sich der Patient unter Berücksichtigung des zu behandelnden Leidens und der Risiken, über die<br />

aufzuklären war, aus vielleicht nicht gerade "vernünftigen", jedenfalls aber nachvollziehbaren Gründen für eine<br />

Ablehnung der Behandlung ent schieden haben könnte, kommt ein echter Entscheidungskonflikt in Betracht. In einem<br />

solchen Fall darf der Tatrichter nicht alleine aufgrund der Unmöglichkeit der persönlichen Anhörung eine dem Patienten<br />

nachteilige Wertung vornehmen.<br />

Deshalb kann auch der Revision nicht in vollem Umfang gefolgt werden, soweit sie die Ansicht vertritt, der behandelnde<br />

Arzt handele stets treuwidrig, wenn er sich auf eine hypothetische Einwilligung des Patienten berufe, obwohl dieser<br />

einen Entscheidungskonflikt nicht mehr darlegen könne. Richtig ist lediglich, dass die Behandlungsseite die Folgen der<br />

Unaufklärbarkeit zu tragen hat, wenn ein echter Entscheidungskonflikt ernsthaft in Betracht kommt. Ob dies der Fall ist,<br />

kann aber - wie ausgeführt - nur aufgrund einer umfassenden Abwägung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls<br />

festgestellt werden.<br />

Da es demnach auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalls ankommt, besteht zwischen den Entscheidungen des OLG<br />

Bamberg (VersR 1998, 1025 = AHRS 4265/124 und 5400/134; Revision der Kläger nicht angenommen durch Senatsbeschluss vom 3. 02.1998 - VI ZR 226/97) und des OLG<br />

Oldenburg (VersR 2001, 1381 = AHRS 4370/301; Revision der Beklagten nicht angenommen durch Senatsbeschluss vom 12. 12.2000 - VI ZR 237/00) nicht der vom<br />

Berufungsgericht als rechtsgrundsätzlich interpretierte Widerspruch.<br />

c) Die Wertung der Umstände des vorliegenden Falls durch das Berufungsgericht dahin gehend, dass von einer<br />

hypothetischen Einwilligung der Klägerin auszugehen sei, beanstandet die Revision mit Recht.<br />

Das Berufungsgericht führt dazu lediglich aus, zu Beginn der Medikation mit Cordarex habe festgestanden, dass bei<br />

der Klägerin eine absolute Tachyarrhythmie bestand, die sich mit BetaBlockern als nicht behandelbar herausgestellt<br />

habe. Der Umstand, dass sich die Klägerin um einen kompatiblen Zustand<br />

der Medikamente bemüht habe, spreche dafür, dass sie sowohl ihre Depressionen als auch ihre<br />

Herzrhythmusstörungen grundsätzlich weiterhin habe behandeln lassen wollen. Ausreichende Anhaltspunkte für einen<br />

Entscheidungskonflikt fänden sich deshalb nicht. Dem lässt sich nicht entnehmen, dass das Berufungsgericht sämtliche<br />

Umstände, aus denen sich nach dem vorgetragenen und festgestellten Sachverhalt ein Entscheidungskonflikt ergeben<br />

konnte, in seine Würdigung einbezogen hat.<br />

Der Würdigung war eine vollständige Aufklärung der Klägerin über die Nebenwirkungen des Cordarex, wie sie nach<br />

den vorstehenden Ausführungen erforderlich war, zugrunde zu legen. Die Revision verweist insoweit mit Recht darauf,<br />

dass nach den Ausführungen des Sachverständigen der Einsatz des Medikaments nicht zum Zweck einer<br />

lebensverlängernden Behandlung, sondern zur Besserung der Beschwerden der Klägerin erfolgte und dass deshalb<br />

dem Nutzen einer Leidenslinderung die ganz erheblichen mit nicht unerheblicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden<br />

Gefahren des Medikaments hätten gegenüber gestellt werden müssen. Ein Entscheidungskonflikt liegt aber auf der<br />

Hand, wenn beim Einsatz eines Medikaments, das der Besserung der Beschwerden durch Herzrhythmusstörungen<br />

dienen soll, mit einer Wahrscheinlichkeit von 35% erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigungen wie etwa<br />

Schilddrüsenfunktionsstörungen, schwere entzündliche Lungenerkrankungen und Leberschäden, periphere<br />

Neuropathien oder Myopathien und - wenn auch mit geringer Wahrscheinlichkeit - ein Herzstillstand zu erwarten sind.<br />

Es mag sein, dass sich in einer solchen Situation eine Mehrheit der Patienten in der Hoffnung, die Nebenwirkungen<br />

würden sich nicht einstellen, für eine erfolgreiche Linderung der Beschwerden entscheidet. Darauf kommt es aber nicht<br />

an. Entscheidend ist, dass eine Konfliktlage zwischen dem Wunsch, die gegenwärtigen Beschwerden zu lindern, und<br />

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der Gefahr, deshalb später erhebliche Gesund heitsschäden hinnehmen zu müssen, durchaus besteht und der Patient<br />

sich in diesem Konflikt eigenverantwortlich entscheiden muss.<br />

Das Berufungsgericht hätte deshalb unter den Umständen des Streitfalls eine hypothetische Einwilligung der Klägerin<br />

nicht bejahen dürfen. Dafür, dass die Beklagte den ihr insoweit obliegenden Beweis durch vorhandene Beweismittel<br />

führen könnte, ist nichts ersichtlich.<br />

III.<br />

Die Klageabweisung erweist sich mit der dafür im Berufungsurteil gegebenen Begründung danach als unrichtig, so<br />

dass die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden muss.<br />

Das Berufungsgericht erhält dadurch auch Gelegenheit, die noch erforderlichen Feststellungen zur Ursächlichkeit der<br />

Einnahme von Cordarex für den Herzstillstand der Klägerin zu treffen.<br />

Müller Wellner Diederichsen Stöhr Zoll<br />

Vorinst.:LG Göttingen, Entscheidung vom 02.12.2004 - 2 O 612/03 -<br />

OLG Braunschweig, Entscheidung vom 04.05.2006 - 1 U 102/04 -<br />

ThönsBSG Az:<br />

B 1 KR 30/06 R vom 27.03.2007<br />

Die Beteiligten streiten über die Gewährung cannabinoidhaltiger Arzneimittel zur Schmerztherapie. Der<br />

klagende Schmerzpatient verliert, er bekommt die für ihn notwendigen cannabinoidhaltigen Arzneimittel nicht<br />

ersetzt. Der Off label Use wird somit abgelehnt.<br />

Im Namen des Volkes<br />

Urteil<br />

in dem Rechtsstreit<br />

Az: B 1 KR 30/06 R<br />

L 5 KR 281/06 (LSG Baden-Württemberg) S 3 KR 1103/05 (SG Reutlingen)<br />

Kläger und Revisionskläger,<br />

g e g e n<br />

AOK Baden-Württemberg, Heilbronner Straße 184, 70191 Stuttgart,<br />

Beklagte und Revisionsbeklagte.<br />

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom<br />

27. 03.2007 durch die Richter Prof. Dr. S c h l e g e l - Vorsitzender , Dr. K r e t s c h m e r und Dr. H a u c k sowie die<br />

ehrenamtliche Richterin G a b k e und den ehrenamtlichen Richter A l s b a c h für Recht erkannt: Die Revision des<br />

Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. 08.2006 wird zurückgewiesen.<br />

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.<br />

G r ü n d e :<br />

I<br />

Die Beteiligten streiten über die Gewährung cannabinoidhaltiger Arzneimittel zur Schmerztherapie.<br />

Der 1953 geborene, bei der beklagten AOK krankenversicherte Kläger, nach einem Unfall 1987 querschnittsgelähmt,<br />

leidet ua an einem chronischen Schmerzsyndrom. Mit einem Attest des Anästhesiologen Dr. L. beantragte er, ihm<br />

einen Therapieversuch mit auf Cannabinoidgrundlage hergestellten Arzneimitteln ("Cannabinol") zu bewilligen. Soweit es sich<br />

um Fertigarzneimittel handelt, besteht für sie in Deutschland keine arzneimittelrechtliche Zulassung. Sie dürfen nur im<br />

Einzelfall aus einem ausländischen Staat, in dem sie arzneimittelrechtlich zugelassen sind (zB USA), nach § 73 Abs 3<br />

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Arzneimittelgesetz (AMG) importiert werden. Im Übrigen können sie als Rezepturarzneimittel verordnet werden. Der<br />

Kläger machte geltend, die bisherige Therapie mit dem Arzneimittel Lioresal und mit Opiaten habe keine ausreichende<br />

Schmerzreduktion bewirkt. Es sei ein Systemversagen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) für das begehrte<br />

"Rezepturarzneimittel" bislang keine Empfehlung ausgesprochen habe. Die Beklagte lehnte den Antrag ab: Nach der<br />

Beurteilung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) und der aktuellen Datenlage sei der Einsatz von<br />

Cannabis zur Schmerztherapie ethisch kaum vertretbar (Bescheid vom 30.9.2004; Widerspruchsbescheid vom 8.3.2005).<br />

Die Klage ist beim Sozialgericht (SG; Urteil vom 1.12.2005) ebenso wie die Berufung des Klägers beim Landessozialgericht (LSG)<br />

ohne Erfolg geblieben: Die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sei ausgeschlossen, da der<br />

GBA die Anwendung eines entsprechenden Rezepturarzneimittels nicht empfohlen habe. Eine Ausnahme wegen<br />

Systemversagens, Seltenheit der Erkrankung oder aufgrund grundrechtsorientierter Auslegung greife nicht ein. Zudem<br />

befinde sich die Schmerzbehandlung mit Medikamenten auf Cannabinoidgrundlage noch im Erprobungsstadium (Urteil vom<br />

30.8.2006).<br />

Zur Begründung seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 27 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) iVm<br />

seinen Grundrechten auf körperliche Unversehrtheit und Schutz der Menschenwürde (Art 2 Abs 2 und Art 1 Abs 1 Grundgesetz )<br />

sowie aus Art 2 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip. Ohne überzeugende Grundlage habe das LSG gemeint, der<br />

GBA habe die vorausgesetzte Aktualisierung der Richtlinien rechtwidrig unterlassen. Die schwere, therapieresistente<br />

Schmerzerkrankung führe zu einer notstandsähnlichen Extremsituation, die einer Lebensgefährdung gleichzustellen sei<br />

und den begehrten Anspruch begründe. Der Kläger beantragt, die Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 30.<br />

08.2006 und des SG Reutlingen vom 1. 12.2005 sowie den Bescheid vom 30. 09.2004 in der Gestalt des<br />

Widerspruchsbescheides vom 8. 03.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm zur Behandlung seiner<br />

Schmerzerkrankung Arzneimittel auf Cannabinoidgrundlage als Sachleistung zu gewähren oder hilfsweise die Kosten<br />

für deren Selbstbeschaffung zu übernehmen, ganz hilfsweise, das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 30.<br />

08.2006 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht<br />

zurückzuverweisen.<br />

Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.<br />

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.<br />

II<br />

Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG die Berufung des Klägers gegen das<br />

klagabweisende Urteil des SG zurückgewiesen, denn er hat keinen Anspruch darauf, cannabinoidhaltige Arzneimittel<br />

zur Schmerztherapie von der Beklagten als Sachleistung oder im Wege der Kostenübernahme zu erhalten. Die<br />

Voraussetzungen eines Anspruchs auf Sachleistung oder Kostenübernahme nach § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 2 SGB V (in der<br />

seit 1.7.2001 geltenden Fassung des Art 5 Nr. 7 Buchst b Neuntes Buch Sozialgesetzbuch Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19.6.2001, BGBl I 1046) sind nicht erfüllt (zum<br />

Anspruch auf Kostenübernahme aus § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V vgl BSGE 88, 62, 75 = SozR 32500 § 27a Nr. 3 S 36; BSG SozR 42500 § 13 Nr. 8 RdNr 23 - UterusArterienEmbolisation, zur Veröffentlichung<br />

auch in BSGE vorgesehen). Die Norm bestimmt: "Hat die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch<br />

Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der<br />

entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war." Die Beklagte hat die begehrte Leistung indes mit<br />

Recht abgelehnt. Der Kläger kann cannabinoidhaltige Arzneimittel weder nach dem Gesetzesrecht der GKV (dazu 1) noch<br />

im Rahmen grundrechtsorientierter Auslegung des Krankenversicherungsrechts (dazu 2) beanspruchen.<br />

1. Nach dem Gesetzesrecht der GKV hat der Kläger weder Anspruch auf cannabinoidhaltige Fertigarzneimittel (dazu a)<br />

noch Rezepturarzneimittel (dazu b). Der Kostenerstattungs- und übernahmeanspruch gemäß § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 2<br />

SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch. Er setzt daher voraus, dass die selbst<br />

beschaffte oder zu beschaffende Therapie zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als<br />

Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 79, 125, 126 f = SozR 32500 § 13 Nr. 11 S 51 f mwN; BSG SozR 42500 § 27 Nr. 8, RdNr 14 -<br />

Interstitielle Brachytherapie; zuletzt BSG, Urteil vom 7.11.2006 - B 1 KR 24/06 R - RdNr 11 mwN, - LITT, zur Veröffentlichung vorgesehen). Daran fehlt es.<br />

a) Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs 1 Satz 1, § 12 Abs 1 SGB V) nicht von der<br />

Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die<br />

erforderliche (§ 21 Abs 1 AMG) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (vgl BSG SozR 42500 § 27 Nr. 7 RdNr 22 mwN - DRibose; BSG SozR 42500 § 31 Nr. 4 RdNr 15 -<br />

Tomudex, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen mwN). Der isolierte Hauptwirkstoff von Cannabis - Dronabinol - ist zwar ua in den USA<br />

unter dem Handelsnamen Marinol als Fertigarzneimittel für die Behandlung chemotherapiebedingter Übelkeit sowie zur<br />

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Therapie der Kachexie und Appetitstimulation von Aidspatienten zugelassen. Weder in Deutschland noch EUweit gibt<br />

es indes für cannabinoidhaltige Fertigarzneimittel eine Zulassung. Die - im Übrigen nicht für die Schmerztherapie -<br />

bestehende Arzneimittelzulassung im Ausland entfaltet nicht zugleich auch entsprechende Rechtswirkungen für<br />

Deutschland. Weder das deutsche Recht noch das Europarecht sehen eine solche Erweiterung der Rechtswirkungen<br />

der nur von nationalen Behörden erteilten Zulassungen ohne ein entsprechendes vom Hersteller eingeleitetes sowie<br />

positiv beschiedenes Antragsverfahren vor (vgl im Einzelnen BSGE 93, 1 = SozR 42500 § 31 Nr. 1, jeweils Leitsatz und RdNr 11 ff - Immucothel). Damit kommt<br />

mangels Zulassung von Marinol seine zulassungsüberschreitende Anwendung (vgl dazu BSGE 89, 184 ff = SozR 32500 § 31 Nr. 8 - Sandoglobulin)<br />

ebenfalls von vornherein nicht in Betracht (vgl BSGE 93, 1 = SozR aaO, jeweils RdNr 22).<br />

b) Auch cannabinoidhaltige Rezepturarzneimittel kann der Kläger nach der Gesetzeslage nicht beanspruchen.<br />

Dronabinol wird in Deutschland als Rezeptursubstanz hergestellt und an Apotheken geliefert. Die Verordnung ist - wie<br />

der Einzelimport nach § 73 Abs 3 AMG - unter Beachtung des Betäubungsmittelrechts (vgl insbesondere § 13 Betäubungsmittelgesetz <br />

sowie Anlage III zu § 1 Abs 1 BtMG) betäubungsmittelrechtlich zulässig. Nach der Rechtsprechung des Senats dürfen die<br />

Krankenkassen indes ihren Versicherten eine neuartige Therapie mit einem Rezepturarzneimittel, die vom GBA bisher<br />

nicht empfohlen ist, grundsätzlich nicht gewähren, weil sie an das Verbot des § 135 Abs 1 Satz 1 SGB V und die das<br />

Verbot konkretisierenden Richtlinien des GBA gebunden sind (stRspr, vgl BSGE 82, 233, 237 f = SozR 32500 § 31 Nr. 5 S 18 ff - Jomol; BSG SozR 32500 § 135<br />

Nr. 12 S 55 f - ASI; BSGE 86, 54, 56 = SozR 32500 § 135 Nr. 14 S 61 f - ASI). Für die neuartige, vom Kläger begehrte Schmerztherapie fehlt es aber an<br />

der erforderlichen Empfehlung des GBA. Auch ein Ausnahmefall, in dem trotz fehlender Empfehlung eine neuartige<br />

Therapie nach der gesetzlichen Konzeption beansprucht werden kann, liegt nicht vor. Weder handelt es sich um einen<br />

sogenannten Seltenheitsfall, der sich systematischer Erforschung entzieht (vgl dazu BSGE 93, 236 = SozR 42500 § 27 Nr. 1 - Visudyne), noch<br />

sind die Voraussetzungen eines sogenannten Systemversagens erfüllt (vgl dazu zuletzt BSG, Urteil vom 7.11.2006 - B 1 KR 24/06 R - RdNr 18 mwN, LITT,<br />

zur Veröffentlichung vorgesehen). Danach kann ungeachtet des in § 135 Abs 1 SGB V aufgestellten Verbots mit Erlaubnisvorbehalt<br />

eine Leistungspflicht der Krankenkasse ausnahmsweise dann bestehen, wenn die fehlende Anerkennung einer neuen<br />

Untersuchungs- oder Behandlungsmethode darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem GBA trotz Erfüllung<br />

der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht<br />

durchgeführt wurde. In solchen Fällen ist die in § 135 Abs 1 SGB V vorausgesetzte Aktualisierung der Richtlinien<br />

rechtswidrig unterblieben. Deshalb muss die Möglichkeit bestehen, das Anwendungsverbot erforderlichenfalls auf<br />

andere Weise zu überwinden (vgl zB BSGE 81, 54, 65 f = SozR 32500 § 135 Nr. 4 S 21; SozR 32500 § 92 Nr. 12 S 70; siehe auch BSG, Urteil vom 26.9.2006 - B 1 KR 3/06 R - RdNr 24<br />

mwN, Neuropsychologische Therapie - zur Veröffentlichung vorgesehen).<br />

Ein - vom Gesetz vorgesehener - Prüfantrag für cannabinoidhaltige Rezepturarzneimittel ist an den GBA nicht gestellt<br />

worden. Anhaltspunkte dafür, dass sich die antragsberechtigten Stellen oder der GBA aus sachfremden oder<br />

willkürlichen Erwägungen mit der Materie nicht oder zögerlich befasst haben, hat der Kläger nicht vorgetragen. Sie sind<br />

auch sonst nicht ersichtlich. Die Kritik des Klägers an den Entscheidungsgrundlagen des GBA - Veröffentlichungen aus<br />

den Jahren 2001 und 2004 (Konsensusgruppe) - ändert nichts daran, dass nach den Feststellungen des LSG der Einsatz<br />

cannabinoidhaltiger Arzneimittel zur Schmerztherapie sich noch im Erprobungsstadium befindet. Das hat der Kläger<br />

selbst nicht in Zweifel gezogen. Fehlt einer solchen Methode aber die allgemeine wissenschaftliche Anerkennung, ist in<br />

Würdigung der gesetzlichen Anforderungen an Qualität und Wirksamkeit der Leistungen (vgl § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V) kein Raum<br />

für die Annahme, es liege ein Systemversagen vor (vgl dementsprechend BSG, Urteil vom 26.9.2006 - B 1 KR 3/06 R - RdNr 28 f - Neuropsychologische Therapie).<br />

2. Zu keinem anderen Ergebnis führt auf Grund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6.12.2005<br />

(1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25 ff = SozR 42500 § 27 Nr. 5 = NZS 2006, 84 = NJW 2006, 891 = MedR 2006, 164 - immunbiologische Therapie) die verfassungskonforme<br />

Auslegung derjenigen Normen des SGB V, die einem verfassungsrechtlich begründetem Anspruch auf<br />

Arzneimittelversorgung entgegenstehen (vgl dazu BSG SozR 42500 § 31 Nr. 4 RdNr 23 - Tomudex, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen; zuletzt BSG, Urteil vom<br />

14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R - RdNr 16, Idebenone, zur Veröffentlichung vorgesehen). Die grundrechtsorientierte Auslegung hat zur Folge, dass die<br />

generelle Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 12 Abs 1 SGB V) des Mittels ausnahmsweise bejaht werden müsse, obwohl<br />

das begehrte Arzneimittel - als Fertigarzneimittel - bloß gemäß § 73 Abs 3 AMG im Wege des Einzelimports über eine<br />

Apotheke aus dem Ausland beschafft werden kann oder obwohl der GBA zu dem Rezepturarzneimittel noch keine<br />

Empfehlung ausgesprochen hat und deshalb an sich das Arzneimittel von der Versorgung ausgeschlossen ist. Die<br />

verfassungskonforme Auslegung setzt aber ua voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich<br />

verlaufende (vgl BSG SozR 42500 § 31 Nr. 4 RdNr 21 und 30 mwN - Tomudex) oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare<br />

Erkrankung vorliegt (vgl BSG SozR 42500 § 27 Nr. 7 RdNr 31 - DRibose). Daran fehlt es.<br />

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Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl BSG SozR 42500 § 27 Nr. 7 RdNr 31 - DRibose; zuletzt BSG, Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R - RdNr<br />

17, Idebenone) ist mit dem Kriterium einer Krankheit, die zumindest mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich<br />

verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist, eine strengere Voraussetzung umschrieben, als sie etwa<br />

mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung (vgl dazu BSGE 89, 184 ff = SozR 32500 § 31 Nr. 8 - Sandoglobulin) für die Eröffnung des<br />

sogenannten Off-Label-Use formuliert ist. Denn hieran knüpfen weitergehende Folgen an. Ohne einschränkende<br />

Auslegung ließen sich fast beliebig vom Gesetzgeber bewusst gezogene Grenzen überschreiten. Entscheidend ist,<br />

dass das vom BVerfG herangezogene Kriterium bei weiter Auslegung sinnentleert würde, weil nahezu jede schwere<br />

Krankheit ohne therapeutische Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohende Konsequenzen nach sich zieht.<br />

Das kann aber ersichtlich nicht ausreichen, das Leistungsrecht des SGB V und die dazu bestehenden<br />

untergesetzlichen Regelungen nicht mehr als maßgebenden rechtlichen Maßstab für die Leistungsansprüche der<br />

Versicherten anzusehen (vgl BSG, Urteil vom 26.9.2006 - B 1 KR 3/06 R - RdNr 34, Neuropsychologische Therapie). Deshalb hat der Senat bei einer<br />

Entscheidung darüber, ob im Rahmen verfassungskonformer Auslegung der Einzelimport eines überhaupt nicht in<br />

Deutschland zugelassenen Mittels nach § 73 AMG zu Lasten der GKV möglich ist, in die Beurteilung einbezogen, ob<br />

sich die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs schon in näherer oder erst in ganz ferner, noch nicht genau<br />

absehbarer Zeit zu konkretisieren droht (vgl BSG, Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R - RdNr 19, Idebenone; zustimmend zur Begründung im BSGTerminbericht Nr. 68/06<br />

BVerfG,<br />

3. Kammer 1. Senat, Beschluss vom 6.2.2007 - 1 BvR 3101/06 - S 10), und eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen<br />

Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik gefordert (vgl ebenda, RdNr 20). Er hat Ähnliches für den gegebenenfalls<br />

gleichzustellenden, nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen<br />

Körperfunktion erwogen (vgl ebenda). Von einer zwar durchaus schwerwiegenden, aber nicht eine notstandsähnliche<br />

Situation begründenden Krankheit ist der erkennende Senat etwa bei einer Myopathie wegen<br />

MyoadenylateDeaminaseMangels ausgegangen, die zu belastungsabhängigen, muskelkaterähnlichen Schmerzen,<br />

schmerzhaften Muskelversteifungen und sehr selten zu einem Untergang von Muskelgewebe führt (vgl BSG SozR 42500 § 27 Nr. 7<br />

RdNr 31 f - DRibose). Auch ein in schwerwiegender Form bestehendes RestlessLegsSyndrom mit ganz massiven<br />

Schlafstörungen und daraus resultierenden erheblichen körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen hat der Senat<br />

zwar als eine schwerwiegende, nicht aber als eine Krankheit angesehen, die mit einer lebensbedrohlichen oder<br />

regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung auf eine Stufe gestellt werden kann (vgl BSG, Urteil vom 26.9.2006 - B 1 KR 14/06 R - RdNr 11, 18 -<br />

Cabaseril, zur Veröffentlichung vorgesehen). In diesem Zusammenhang hat er darauf hingewiesen, dass selbst hochgradige akute<br />

Suizidgefahr bei Versicherten grundsätzlich nicht bewirkt, dass sie Leistungen außerhalb des Leistungskatalogs der<br />

GKV beanspruchen können, sondern nur spezifische Behandlung etwa mit den Mitteln der Psychiatrie (vgl ebenda, RdNr 19).<br />

Auch ein Prostatakarzinom im Anfangsstadium ohne metastatische Absiedelungen hat der Senat nicht als ausreichend<br />

angesehen, um eine verfassungskonforme Leistungsausweitung zu rechtfertigen (vgl BSG SozR 42500 § 27 Nr. 8 RdNr 36 - Interstitielle<br />

Brachytherapie). Nichts anderes kann für das chronische Schmerzsyndrom des Klägers gelten. Es kann mit einem nicht<br />

kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion - auch in<br />

Würdigung seiner nur begrenzten Objektivierbarkeit - nicht gleichgestellt werden. Das gilt erst recht, wenn man den<br />

Erkenntnisstand des MDK-Gutachtens berücksichtigt. Er führt - ohne Widerspruch zu den vom Kläger vorgelegten<br />

Hinweisen zum Forschungsstand - für den Bereich mäßiger Schmerzen zu dem Ergebnis, dass Cannabis der<br />

Wirksamkeit von Placebos überlegen und derjenigen von Codein gleichwertig ist, während die erheblichen<br />

Nebenwirkungen die Nutzen-Risiko-Relation relativieren und keine Notwendigkeit erkennen lassen, die Cannabinoide<br />

in die international etablierten Schemata zur Schmerzbehandlung aufzunehmen. Bei starken Schmerzen ist<br />

demgegenüber die Überlegenheit des Therapiestandards Morphin anzunehmen, sodass eine kontrollierte klinische<br />

Prüfung hier ethisch kaum vertretbar erscheint. Das steht im Einklang mit der Stellungnahme der Bundesregierung zum<br />

Einsatz von Cannabis-Wirkstoffen in Arzneimitteln (vgl BTDrucks 15/2331, S 2 f). Im Übrigen verdeutlichen alle Publikationen, dass<br />

es Alternativen zum Einsatz cannabinoidhaltiger Arzneimittel zur Schmerztherapie gibt, auch wenn das LSG hierzu<br />

keine näheren Feststellungen getroffen hat.<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 55/05 vom 27.03.2007<br />

Zur Arzthaftung wegen Behandlungs- und Aufklärungsfehlern im Zusammenhang mit einem Heilversuch mit<br />

einem neuen, erst im Laufe der Behandlung zugelassenen Arzneimittel. Der Patient obsiegte.<br />

BGH, Urteil vom 27. 03.2007 - VI ZR 55/05 - OLG Karlsruhe<br />

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LG Offenburg<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 27. 03.2007 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 2. 02.2005<br />

aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das<br />

Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Der Kläger, der seit seiner frühen Kindheit an Epilepsie leidet, nimmt die Beklagten auf Schadensersatz wegen<br />

Behandlungs- und Aufklärungsfehlern im Zusammenhang mit der Verabreichung eines neuen Medikaments der<br />

Streithelferin der Beklagten in Anspruch, weil dieses bei ihm zu irreparablen Augenschäden geführt habe.<br />

Die Beklagte zu 1 ist Trägerin eines Epilepsiezentrums, in dem der Kläger seit 1985 von dem dort als Arzt angestellten<br />

Beklagten zu 2 medikamentös behandelt wurde. Nachdem der Kläger 1989 eine ihm vorgeschlagene neurologische<br />

Operation zur Reduzierung der Zahl seiner Anfälle (monatlich etwa 4 bis 10) abgelehnt hatte, schlug ihm der Beklagte zu 2 Ende<br />

09.1991 vor, neben dem bisher verabreichten Medikament P. zur Reduzierung der Anfallsneigung ein neues, in den<br />

USA entwickeltes Medikament V. einzunehmen. Dieses war zu diesem Zeitpunkt weder in den USA noch in<br />

Deutschland, jedoch in einigen anderen europäischen Staaten als Arzneimittel zugelassen. Eine bei der Beklagten zu 1<br />

laufende klinische Prüfung mit den Phasen I bis IV, in welche der Kläger nicht einbezogen wurde, befand sich zu<br />

diesem Zeitpunkt in der Phase III. Durch die Einnahme des neuen Medikaments, dem weder ein Beipackzettel<br />

beigefügt noch auf dessen Verpackung Hersteller oder Inhaltsstoffe vermerkt waren, reduzierte sich die Zahl der<br />

epileptischen Anfälle beim Kläger deutlich. Am 19. 12.1991 erfolgte die Zulassung des Medikaments in Deutschland,<br />

wo es die Streithelferin der Beklagten inzwischen unter dem Namen S. vertreibt. In der Anlage zum<br />

Zulassungsbescheid ("Wortlaut der für die Verpackungsbeilage vorgesehenen Angaben") wurde unter anderem darauf hingewiesen, dass<br />

Langzeitauswirkungen von V. auf das visuelle System und okulomotorische Leistungen (Sehfunktion) beim Menschen noch<br />

nicht untersucht worden seien, weshalb periodische (z.B. monatliche) Kontrollen des Sehvermögens angezeigt seien.<br />

Ende März/Anfang 04.1992 stellte der Kläger eine Beeinträchtigung seines Sehvermögens fest und begab sich deshalb<br />

in die Behandlung eines Augenarztes. Als sich die Beeinträchtigung nach einem Anfall am 10. 04.1992 verschlimmerte,<br />

überwies ihn der Augenarzt an die UniversitätsAugenklinik F., wo der Kläger vom 16. bis 27. 04.1992 ambulant<br />

behandelt wurde. Vor Beginn der ambulanten Behandlung rief der Kläger den Beklagten zu 2 am<br />

15. 04.1992 an und berichtete ihm von den seit dem 13. 04.1992 aufgetretenen Sehstörungen auf dem linken Auge<br />

sowie von der bevorstehenden Untersuchung in der UniversitätsAugenklinik. Der Beklagte zu 2 bat den Kläger<br />

daraufhin, ihn am 21. 04.1992 telefonisch über das Ergebnis der Untersuchungen zu benachrichtigen. Mit Schreiben<br />

vom 4. 05.1992 an Dr. D., den damaligen Mitarbeiter des Beklagten zu 2, berichtete die UniversitätsAugenklinik über<br />

die Untersuchungen und Behandlung des Klägers, teilte als Diagnose eine "AION" (anteriore ischämische Opticusneuropathie) mit und<br />

äußerte den Verdacht, dass diese medikamenteninduziert sei.<br />

Der Kläger wurde anschließend vom 28. 04.1992 bis zum 9. 07.1992 stationär im Epilepsiezentrum der Beklagten zu 1<br />

behandelt. Dabei erhielt er zunächst weiter das Medikament V. und wegen der Sehstörungen Cortison. Der Beklagte zu<br />

2 veranlasste - nach einem Telefonat mit dem medizinischen Leiter der Streithelferin der Beklagten - die Durchführung<br />

eines Lymphozytentransformationstests (LTT) an der Universitätsklinik T., wo eine dafür erforderliche Blutprobe des<br />

Klägers am 8. 05.1992 einging. Nach einer telefonischen Information über das Ergebnis wurde am 27. 05.1992 die<br />

Verabreichung des Medikaments V. beendet und auch auf einen in den Krankenakten unter dem 2. 07.1992<br />

dokumentierten Wunsch des Klägers, wieder das Medikament S. zu erhalten, nicht mehr fortgesetzt.<br />

Der Kläger führt seine bleibende Augenschädigung und den damit verbundenen Verlust seines Arbeitsplatzes als<br />

Lagerist auf schädliche Nebenwirkungen des ihm verabreichten Medikaments V. (S.) zurück und behauptet, weder vor<br />

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Beginn der Behandlung über die fehlende Zulassung des Medikaments, noch während der Behandlung über dessen<br />

Risiken, insbesondere nach dem Eintreten von Sehstörungen, aufgeklärt worden zu sein. Hätte er von Anfang gewusst,<br />

dass eine Zulassung des Medikaments noch nicht vorgelegen habe,<br />

hätte er von einer Einnahme Abstand genommen. Des Weiteren wirft der Kläger dem Beklagten zu 2 einen für seine<br />

Augenschädigung ursächlichen (groben) Behandlungsfehler vor, weil dieser das Medikament nach dem Auftreten von<br />

Sehstörungen nicht sofort abgesetzt habe.<br />

Das Landgericht hat die auf Schmerzensgeld in vorgestellter Größenordnung von 35.790,43 €, Verdienstausfall vom 1.<br />

04.1993 bis zum 31. 12.2004 in Höhe von 65.942,84 € und Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden<br />

gerichtete Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers<br />

zurückgewiesen. Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren<br />

weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

Das Berufungsgericht ist der Auffassung, es spreche zwar viel dafür, dass die Einnahme des Medikaments V. die<br />

Augenschäden des Klägers verursacht habe. Dies könne jedoch letztlich offen bleiben, weil sich auch bei unterstellter<br />

Ursächlichkeit keine Haftung der Beklagten wegen Behandlungs- und Aufklärungsfehlern ergebe. Bei der Entscheidung<br />

Ende 09.1991, dem Kläger das zu diesem Zeitpunkt noch nicht zugelassene Medikament V. zu verabreichen, habe der<br />

Beklagte zu 2 lediglich gewusst, dass Langzeitauswirkungen dieses Mittels auf das visuelle System und<br />

okulomotorische Leistungen (Sehvermögen) beim Menschen noch nicht untersucht gewesen seien. Dagegen hätten keine<br />

Anhaltspunkte dafür bestanden, dass ihm irgendetwas über aufgetretene Gesichtsfeldstörungen nach Einnahme des<br />

Medikaments bekannt<br />

gewesen sei oder hätte sein müssen. Der Beklagte zu 2 habe es zwar fehlerhaft unterlassen, nach etwa 6 Monaten<br />

eine - erst dann erforderliche - Kontrolle des Sehvermögens des Klägers anzuordnen. Dies sei jedoch folgenlos<br />

geblieben, weil der Kläger sich zu diesem Zeitpunkt wegen der aufgetretenen Sehstörungen selbst in augenärztliche<br />

Behandlung begeben habe. Ob nach dem Schreiben der UniversitätsAugenklinik F. vom 4. 05.1992 in der Weitergabe<br />

des Medikaments ein einfacher Behandlungsfehler zu sehen sei, könne ebenfalls offen bleiben. Denn der Kläger habe<br />

nicht nachgewiesen, dass ein entsprechend früheres Absetzen des Medikaments die Augenschädigung verhindert<br />

hätte. Der Sachverständige Prof. Dr. A. habe keine Aussage dazu machen können, wie die Entwicklung gewesen wäre,<br />

wenn man das Medikament schon früher abgesetzt hätte. Eine Umkehr der Beweislast komme dem Kläger nicht zu<br />

Gute, weil insoweit kein grober Behandlungsfehler vorliege. Der Entscheidung des Beklagten zu 2, die<br />

Medikamententherapie fortzusetzen, liege eine Güterabwägung zugrunde, die zum damaligen Zeitpunkt vertretbar<br />

gewesen sei, weil das Medikament die Anfallshäufigkeit beim Kläger reduziert habe. Jedenfalls aber sei die<br />

Entscheidung kein Fehler gewesen, der einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen dürfe. Was die<br />

Aufklärungspflichten anbelange, habe der Beklagte zu 2 diese zwar sowohl vor Beginn der Verabreichung des<br />

Medikaments als auch nach Erhalt des Arztbriefes vom 4. 05.1992 verletzt. Der Kläger hätte jedoch der Einnahme des<br />

Medikaments im Sinne einer hypothetischen Einwilligung auch zugestimmt, wenn er zuvor darauf hingewiesen worden<br />

wäre, dass dieses in Deutschland noch nicht zugelassen und grundsätzlich mit Nebenwirkungen unbekannter Art zu<br />

rechnen sei. Der Kläger habe bei seiner Anhörung diesbezüglich nicht plausibel gemacht, dass er in einen<br />

Entscheidungskonflikt geraten wäre. Soweit es um die Verletzung der Aufklärungspflichten nach dem Auftreten der<br />

Sehstörungen des Klägers gehe, scheitere eine Haftung der Beklagten wiederum daran, dass der Kläger den<br />

Nachweis der Kausalität einer Fortsetzung der Medikation für die bei ihm eingetretenen Augenschäden nicht habe<br />

führen können.<br />

II.<br />

Das Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.<br />

A. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft eine Haftung der Beklagten wegen eines Behandlungsfehlers verneint.<br />

1. Das Berufungsgericht geht allerdings ohne Rechtsfehler davon aus, dass allein die Verabreichung des noch nicht in<br />

Deutschland zugelassenen Medikaments im 09.1991 noch keinen Behandlungsfehler darstellte.<br />

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a) Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Urteil vom 13. 06.2006 - VI ZR 323/04 - VersR 2006, 1073) darf die Anwendung einer<br />

neuen Behandlungsmethode erfolgen, wenn die verantwortliche medizinische Abwägung und ein Vergleich der zu<br />

erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer abzusehenden und zu vermutenden Nachteile mit der<br />

standardgemäßen Behandlung unter Berücksichtigung des Wohles des Patienten die Anwendung der neuen Methode<br />

rechtfertigt. Anhaltspunkte für eine in diesem Sinne fehlerhafte oder ungenügende Abwägung durch die<br />

Behandlungsseite zum Zeitpunkt des Beginns der Medikation macht die Revision selbst nicht geltend und sind auch<br />

nicht ersichtlich. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts reduzierte sich die Zahl der epileptischen Anfälle des<br />

Klägers nach der Einnahme des Medikaments deutlich; gefährliche Nebenwirkungen, insbesondere eine<br />

Beeinträchtigung des Sehvermögens, waren damals noch nicht bekannt.<br />

b) Die Tatsache, dass das Medikament nicht nur neu, sondern auch in Deutschland noch nicht zugelassen war,<br />

vermag unter den Umständen des Streitfalles keine abweichende Beurteilung zu rechtfertigen. Die Zulassung eines<br />

Medikaments gibt lediglich ein Verkehrsfähigkeitsattest und löst eine Vermutung für die Verordnungsfähigkeit in der<br />

konkreten Therapie aus (vgl. Hart MedR 1991, 300, 304 f.). Der individuelle Heilversuch mit einem zulassungspflichtigen, aber noch<br />

nicht zugelassenen Medikament wird durch das Arzneimittelgesetz nicht verboten. Seine Zulässigkeit ist deshalb<br />

arzthaftungsrechtlich nach allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen. Danach begegnet es keinen rechtlichen Bedenken,<br />

dass das Berufungsgericht auf Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen, dass sich die klinische Prüfung in<br />

Phase III befand und das Medikament kurz vor seiner Zulassung in Deutschland stand, in der Verabreichung des noch<br />

nicht zugelassenen Medikaments als solcher im 09.1991 noch keinen Behandlungsfehler gesehen hat.<br />

2. Die Beurteilung des Berufungsgerichts ist jedoch rechtsfehlerhaft, soweit es meint, für eine Haftung wegen des<br />

weiteren Verhaltens des Beklagten zu 2 während der Medikation wäre ein grober Behandlungsfehler mit einer Umkehr<br />

der Beweislast dahingehend erforderlich, dass ein früherer Abbruch der Medikation den Eintritt der Augenschäden<br />

verhindert hätte.<br />

a) Das Berufungsgericht sieht es nach dem Ergebnis seiner Beweisaufnahme als nahe liegend an, dass die<br />

Verabreichung des Medikaments V. für die beim Kläger eingetretenen Augenschäden ursächlich gewesen sei. Dabei<br />

geht es auch zutreffend davon aus, dass nach den Umständen des Streitfalles nach den vom Senat im so genannten<br />

LuesFall (BGHZ 11, 227) entwickelten Grundsätzen ein Anscheinsbeweis für die Kausalität sprechen könnte. Kann ein<br />

festgestelltes Krankheitsbild (theoretisch) die Folge verschiedener Ursachen sein, liegen aber nur für eine dieser möglichen<br />

Ursachen konkrete Anhaltspunk te vor, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für diese Ursache, selbst wenn sie<br />

im Vergleich zu den anderen möglichen Ursachen relativ selten ist und das festgestellte Krankheitsbild nur eine zwar<br />

mögliche, aber keine typische Folge dieser Ursache ist. Da das Berufungsgericht die Kausalitätsfrage letztlich offen<br />

gelassen hat, ist für die revisionsrechtliche Prüfung zu Gunsten des Klägers zu unterstellen, dass die Verabreichung<br />

des Medikaments insgesamt ursächlich für die bei ihm festgestellten Augenschäden war.<br />

b) Das Berufungsgericht lässt es weiter dahinstehen, ob in der Zeit ab dem 5. 05.1992 nach Eingang des Arztbriefes<br />

der UniversitätsAugenklinik vom 4. 05.1992 mit dem darin geäußerten Verdacht eines medikamenteninduzierten<br />

"AION" ein einfacher Behandlungsfehler zu sehen sei. Ein solcher ist mithin für die revisionsrechtliche Überprüfung<br />

ebenfalls zu unterstellen.<br />

c) Bei dieser Sachlage ist die Auffassung des Berufungsgerichts rechtsfehlerhaft, eine Haftung der Beklagten scheitere<br />

jedenfalls daran, dass kein grober Behandlungsfehler in der weiteren Verabreichung des Medikaments ab dem 5.<br />

05.1992 vorliege. Denn bei feststehender Kausalität zwischen der Verabreichung des Medikaments und den<br />

eingetretenen Augenschäden des Klägers würde grundsätzlich auch ein einfacher Behandlungsfehler zur Begründung<br />

einer Haftung der Beklagten ausreichen. Soweit das Berufungsgericht dies mit der Erwägung verneint, der Kläger<br />

könne den Nachweis nicht führen, dass ein Abbruch der Medikation ab dem 5. 05.1992 etwas an Art und Ausmaß der<br />

Augenschäden geändert hätte, verkennt es die Beweislast die sich ergäbe, wenn - wie im Streitfall - ein neues<br />

Medikament mit unbekannten Risiken verabreicht wird und ein solches Risiko sich tatsächlich verwirklicht. Stünde<br />

nämlich fest, dass die behandlungsfehlerhafte Verabreichung des Medikaments ein Behandlungsfehler war und dass<br />

sie im Ergebnis zu einem Gesundheitsschaden des Patienten geführt hat, so hätte die Behandlungsseite zu beweisen,<br />

dass der Gesundheitsschaden nach Art und Ausmaß auch bei rechtzeitigem Absetzen des Medikaments eingetreten<br />

wäre.<br />

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3. Durchgreifenden rechtlichen Bedenken unterliegt auch die Beurteilung des Berufungsgerichts, mit der es einen<br />

Behandlungsfehler im Zusammenhang mit der Verabreichung des Medikaments vor dem 5. 05.1992 verneint. Die<br />

Beurteilung, ob ein Behandlungsfehler vorliegt, ist zwar grundsätzlich Sache des Tatrichters und revisionsrechtlicher<br />

Überprüfung nur eingeschränkt zugänglich. Das Berufungsgericht ist jedoch bei seiner Beurteilung unter den<br />

besonderen Umständen des Streitfalles von einem fehlerhaften, weil zu geringen Sorgfaltsmaßstab ausgegangen.<br />

a) Die Anwendung neuer Behandlungsmethoden bzw. - wie hier - die Vornahme von Heilversuchen an Patienten mit<br />

neuen Medikamenten unterscheidet sich von herkömmlichen, bereits zum medizinischen Standard gehörenden<br />

Therapien vor allem dadurch, dass in besonderem Maße mit bisher unbekannten Risiken und Nebenwirkungen zu<br />

rechnen ist. Deshalb erfordert die verantwortungsvolle medizinische Abwägung einen - im Verhältnis zur<br />

standardgemäßen Behandlung - besonders sorgfältigen Vergleich zwischen den zu erwartenden Vorteilen und ihren<br />

abzusehenden oder zu vermutenden Nachteilen unter besonderer Berücksichtigung des Wohles des Patienten (vgl.<br />

Senatsurteil vom 13. 06.2006 - VI ZR 323/04 - aaO). Diese Abwägung ist kein einmaliger Vorgang bei Beginn der Behandlung, sondern muss<br />

jeweils erneut vorgenommen werden, sobald neue Erkenntnisse über mögliche Risiken und Nebenwirkungen vorliegen,<br />

über die sich der behandelnde Arzt ständig zu informieren hat. Dabei muss er unverzüglich Kontrolluntersuchungen<br />

vornehmen, wenn sich Risiken für den Patienten abzeichnen, die zwar nach Ursache, Art und Umfang noch nicht<br />

genau bekannt sind, jedoch bei ihrem Eintreten zu schweren Gesundheitsschäden führen können.<br />

b) Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht nicht beachtet, soweit es einen Behandlungsfehler wegen<br />

Nichtbefolgens der Empfehlung zu Kontrollen des Sehvermögens in der mit dem Zulassungsbescheid<br />

herausgegebenen Fachinformation erst nach einem halben Jahr in Erwägung zieht.<br />

Das Berufungsgericht geht zwar zutreffend davon aus, dass es zu den Sorgfaltspflichten eines Arztes bei einem<br />

Heilversuch mit einem noch nicht zugelassenen Medikament gehört, sich nach erfolgter Zulassung (hier: am 19. 12.1991) über<br />

die vom Hersteller bzw. vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen<br />

zu informieren. Diese bestanden im Streitfall insbesondere in dem Hinweis, dass Langzeitauswirkungen von V. auf das<br />

visuelle System und okulomotorische Leistungen (Sehfunktion) beim Menschen noch nicht untersucht worden seien, weshalb<br />

periodische (z.B. monatliche) Kontrollen des Sehvermögens angezeigt seien. Der Auffassung des Berufungsgerichts, aus<br />

dieser Formulierung werde deutlich, dass solche Vorsichtsmaßnahmen nicht als zwingend geboten anzusehen<br />

gewesen seien und schon gar nicht Kontrollen in monatlichen Abständen, kann aus Rechtsgründen nicht gefolgt<br />

werden.<br />

Durch den Hinweis in der Gebrauchsinformation wurden die Möglichkeit und die Stoßrichtung bisher unbekannter<br />

Risiken hinreichend deutlich, nämlich eine Schädigung des Sehvermögens. Werden hierbei vom Bundesinstitut für<br />

Arzneimittel und Medizinprodukte als Vorsichtsmaßnahme regelmäßige "z.B. monatliche" Kontrollen des<br />

Sehvermögens für angezeigt erachtet, so liegt auf der Hand, dass der behandelnde Arzt dies sofort zu beachten hat<br />

und nicht erst nach sechs Monaten. Darüber hinaus setzen regelmäßige Kontrollen des Sehvermögens sinnvollerweise<br />

voraus, dass zu Beginn der Behandlung ein Augenstatus erhoben wird, um spätere Veränderungen überhaupt<br />

feststellen zu können. Da der Kläger im Streitfall das Medikament bereits seit Ende September<br />

1991 erhalten hatte, ohne dass zu Beginn der Behandlung ein Augenstatus erhoben und weitere Kontrollen des<br />

Sehvermögens durchgeführt worden waren, hätte der Beklagte zu 2 dies bei Bekanntwerden der entsprechenden<br />

Empfehlung zum Zeitpunkt der Zulassung des Medikaments nachholen müssen. Keinesfalls durfte er sich über die<br />

empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen und noch dazu über einen Zeitraum von sechs Monaten hinwegsetzen und das<br />

Medikament unkontrolliert weiter verabreichen.<br />

Eine andere Beurteilung rechtfertigt sich auch nicht - wie das Berufungsgericht meint - aus der aktuellen<br />

Gebrauchsinformation (Stand 2002), die nunmehr lediglich Kontrollen des Sehvermögens in sechsmonatigen Abständen<br />

vorsieht. Zum einen wird dabei übersehen, dass darin auch Gesichtsfelduntersuchungen vor Behandlungsbeginn<br />

empfohlen werden. Darüber hinaus wird nicht hinreichend berücksichtigt, dass zum damaligen Zeitpunkt der Zeitablauf<br />

bis zu einer Realisierung des möglichen Risikos noch nicht bekannt war und deshalb die in der Gebrauchsinformation<br />

zum Zulassungsbescheid vorgeschlagenen Vorsichtsmaßnahmen maßgebend waren. Schließlich kommt es entgegen<br />

der Auffassung des Berufungsgerichts auch nicht darauf an, ob nach dem zwischenzeitlichen Wissensstand nicht<br />

beweisbar wäre, dass die Augenschäden beim Kläger schon früher aufgetreten und feststellbar gewesen wären. Denn<br />

bei der unkontrollierten Weitergabe des Medikaments von der Bekanntgabe des Zulassungsbescheides im 12.1991 an<br />

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handelt es sich um einen Behandlungsfehler und nicht nur um einen Befunderhebungsfehler. Muss aber<br />

revisionsrechtlich unterstellt werden, dass die Verabreichung des Medikaments für die beim Kläger eingetretenen<br />

Augenschäden ursächlich war, kann auch ein einfacher Behandlungsfehler zu diesem früheren Zeitpunkt eine Haftung<br />

der Beklagten rechtfertigen.<br />

4. Die Begründung, mit der das Berufungsgericht einen groben Behandlungsfehler in der Weiterverabreichung des<br />

Medikaments ab dem 5. 05.1992 verneint, hält den Angriffen der Revision ebenfalls nicht stand.<br />

a) Zwar richtet sich die Einstufung eines ärztlichen Fehlverhaltens als grob nach den gesamten Umständen des<br />

Einzelfalls, deren Würdigung weitgehend im tatrichterlichen Bereich liegt. Revisionsrechtlich ist jedoch sowohl<br />

nachzuprüfen, ob das Berufungsgericht den Begriff des groben Behandlungsfehlers verkannt, als auch, ob es bei der<br />

Gewichtung dieses Fehlers erheblichen Prozessstoff außer Betracht gelassen oder verfahrensfehlerhaft gewürdigt hat<br />

(st. Rspr.; vgl. etwa Senatsurteil vom 28. 05.2002 - VI ZR 42/01 - VersR 2002, 1026 m.w.N.).<br />

b) Das Berufungsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass ein grober Behandlungsfehler neben einem<br />

eindeutigen Verstoß gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse die<br />

Feststellung voraussetzt, dass der Arzt einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich<br />

erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. etwa Senat BGHZ 159, 48, 53). Soweit es jedoch weiter meint,<br />

es gehöre auch zum Wesen eines solchen Fehlers, dass er die Aufklärung des Behandlungsverlaufs besonders<br />

erschwert habe, so steht dies nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats. Wie der Senat in<br />

seinem Urteil BGHZ 159, 48 klargestellt hat, handelt es sich bei dieser Erwägung lediglich um das Motiv für eine<br />

Beweislastumkehr bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers, nicht jedoch um eine zusätzliche Voraussetzung im<br />

konkreten Einzelfall. Ein grober Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art<br />

herbeizuführen, führt grundsätzlich zu einer Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang<br />

zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsscha den. Dafür reicht aus, dass der grobe Behandlungsfehler<br />

geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; nahe legen oder wahrscheinlich machen muss der Fehler<br />

den Schaden hingegen nicht.<br />

c) Des Weiteren hat das Berufungsgericht - wie bereits ausgeführt - den erhöhten Sorgfaltsmaßstab bei einem<br />

Heilversuch mit einem noch nicht zugelassenen bzw. in der Zulassungsphase befindlichen neuen Medikament nicht<br />

beachtet, durch den sich auch geringere Anforderungen an die Bejahung eines groben Behandlungsfehlers ergeben.<br />

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts musste der Beklagte zu 2 spätestens seit der Zulassung des<br />

Medikaments am 19. 12.1991 mit Auswirkungen des Medikaments auf das visuelle System und die Sehfunktion beim<br />

Menschen rechnen, denn in dem "Wortlaut der für die Packungsbeilage vorgesehenen Angaben" wurde diesbezüglich<br />

zur Vorsicht und zur Durchführung periodischer Kontrollen des Sehvermögens aufgefordert. Nachdem beim Kläger<br />

nach etwa einem halben Jahr Ende März/Anfang 04.1992 tatsächlich Sehstörungen auftraten und aus dem Schreiben<br />

der UniversitätsAugenklinik F. vom 4. 05.1992 hervorging, dass eine dort diagnostizierte anteriore ischämische<br />

Opticusneuropathie (AION) möglicherweise medikamenteninduziert sei, bestand der hinreichende Verdacht, dass beim<br />

Kläger eine in ihren Auswirkungen noch nicht überschaubare, bislang unbekannte Nebenwirkung des Medikaments<br />

aufgetreten sein könnte, die bei einer Fortsetzung der Medikation eine schwere Schädigung des Sehvermögens<br />

befürchten ließ.<br />

Das Berufungsgericht führt hierzu aus, der gerichtliche Sachverständige habe bei seiner mündlichen Anhörung zu der<br />

Diagnose "AION" erklärt, diese beinhalte die Gefahr einer Erblindung, und zwar könne dabei auch ohne eine weitere<br />

allmähliche Entwicklung schlagartig "das Licht ausgehen". Aus diesem<br />

Grunde würde man bei einer Güterabwägung, wenn Behandlungsalternativen bestünden, ein neues Medikament<br />

absetzen und lieber eine erhöhte Anfallshäufigkeit in Kauf nehmen, wenn der Verdacht bestehe, dass die Erkrankung<br />

im Zusammenhang mit dem Mittel stehe. Soweit dann der Sachverständige nach weiterer Befragung meinte, die<br />

festgestellten Symptome seien gar nicht so gravierend gewesen und die Abklärung der üblichen in Betracht<br />

kommenden Risikofaktoren für die im Allgemeinen sehr schwierigen Ursachenfeststellungen bei einer "AION" sei im<br />

Sinne eines Standardscreenings angesprochen, ohne dass schon irgendein Zusammenhang mit dem Medikament<br />

hergestellt worden sei, war diese Äußerung nicht geeignet, die Güterabwägung zu Gunsten einer Fortsetzung der<br />

Medikation entscheidend zu beeinflussen. Die Revision weist in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hin, dass es<br />

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nicht um die Schwere der bereits festgestellten Symptome und die genauere Abklärung ihrer Ursachen ging, sondern<br />

um die Vermeidung möglicher irreparabler Schäden durch eine fortgesetzte Verabreichung des Medikaments.<br />

Da es sich um einen Heilversuch mit einem neuen Medikament handelte, bei dem mit unbekannten Gefahren und<br />

Risiken gerechnet werden musste, hätte der von einer UniversitätsAugenklinik geäußerte Verdacht auf die<br />

ernstzunehmende Möglichkeit eines medikamenteninduzierten Eintritts irreparabler Schäden für das Sehvermögen des<br />

Klägers grundsätzlich im Rahmen der erneut erforderlichen Güterabwägung dazu führen müssen, aus<br />

Sicherheitsgründen im Interesse der Gesundheit des Patienten vorrangig einen zumindest vorläufigen sofortigen<br />

Abbruch der Medikation bis zum Vorliegen weiterer Untersuchungsergebnisse in Betracht zu ziehen. Insbesondere<br />

lässt das Berufungsurteil eine Begründung dafür vermissen, weshalb es nicht zumindest eine Aussetzung der<br />

Weiterbehandlung mit dem neuen Medikament bis zum Vorliegen des in Auftrag gegebenen<br />

Lymphozytenstimulationstests (LTT), von dem man sich weitere Aufklärung versprach und der schließlich zum<br />

endgültigen Absetzen<br />

des Medikaments führte, angesichts der erheblichen Gesundheitsrisiken für das Sehvermögen des Klägers zwingend<br />

für geboten hielt. Dies gilt umso mehr, als nach den Feststellungen des Berufungsgerichts dieser Test offensichtlich in<br />

gleicher Weise hätte durchgeführt werden können, wenn das Medikament nach der Entnahme der ersten Blutprobe<br />

vorläufig abgesetzt worden wäre. Im Hinblick auf die Tatsache, dass dessen Ergebnis schon drei bis vier Wochen<br />

später vorlag, bedurfte es mithin besonderer Umstände, die eine Fortsetzung der Medikation für diesen Zeitraum<br />

verständlich erscheinen ließen. Das Berufungsgericht führt hierfür lediglich allgemein die deutlich reduzierte<br />

Anfallshäufigkeit beim Kläger auf, ohne - wie die Revision mit Recht rügt - Stellung dazu genommen zu haben, welche<br />

alternative Behandlungsmöglichkeiten mit anderen Medikamenten in Betracht kamen, um die Anfälle bzw. die<br />

Häufigkeit ihres Auftretens beim Kläger in vertretbaren Grenzen zu halten. Das Berufungsgericht wird - falls es auf das<br />

Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers noch ankommen sollte - erneut mit sachverständiger Hilfe zu prüfen<br />

haben, ob es aus objektiver Sicht noch verständlich ist, dass das Medikament nach Vorliegen des Schreibens der<br />

UniversitätsAugenklinik vom 4. 05.1992 nicht zumindest vorläufig bis zum Vorliegen des Untersuchungsergebnisses<br />

des in Auftrag gegebenen Lymphozytenstimulationstests abgesetzt wurde.<br />

B. Auch die Begründung, mit der das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten wegen Verletzung der<br />

Aufklärungspflicht verneint hat, ist nicht frei von Rechtsfehlern.<br />

1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Arzt, der eine neue und noch nicht allgemein<br />

eingeführte Behandlung mit einem neuen, noch nicht zugelassenen Medikament mit ungeklärten Risiken anwenden<br />

will, den Patienten nicht nur über die noch fehlende Zulassung, sondern auch darüber aufzuklären hat, dass<br />

unbekannte Risiken derzeit nicht auszu schließen sind (vgl. Senatsurteil vom 13. 06.2006 - VI ZR 323/04 - aaO m.w.N.). Dies ist erforderlich, um<br />

den Patienten in die Lage zu versetzen, für sich sorgfältig abzuwägen, ob er sich nach der herkömmlichen Methode mit<br />

bekannten Risiken behandeln lassen möchte oder nach der neuen Methode unter besonderer Berücksichtigung der in<br />

Aussicht gestellten Vorteile und der noch nicht in jeder Hinsicht bekannten Gefahren.<br />

Nach dem damaligen Kenntnisstand musste zwar der Kläger noch nicht speziell auf das Risiko einer Augenschädigung<br />

hingewiesen werden; es fehlte aber nach den Feststellungen des Berufungsgerichts der Hinweis, dass das<br />

einzunehmende Medikament noch keine arzneimittelrechtliche Zulassung besaß und deshalb mit unbekannten Risiken<br />

zu rechnen war.<br />

2. Die Revision wendet sich jedoch mit Recht dagegen, dass das Berufungsgericht eine hypothetische Einwilligung des<br />

Klägers in die Verabreichung des noch nicht zugelassenen Medikaments angenommen hat.<br />

a) Das Berufungsgericht ist insoweit zwar im Ansatz von der Rechtsprechung des erkennenden Senats ausgegangen,<br />

wonach sich die Behandlungsseite - allerdings nur unter strengen Voraussetzungen - darauf berufen kann, dass der<br />

Patient auch bei Erteilung der erforderlichen Aufklärung in die Behandlung eingewilligt hätte (vgl. etwa Urteil vom 15. 03.2005 - VI ZR<br />

289/03 - VersR 2005, 834, 835 f. m.w.N.). Hat sie dies substantiiert dargelegt, muss der Kläger nachvollziehbar plausibel machen,<br />

warum er auch bei zureichender Aufklärung in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre. Dazu hat das<br />

Berufungsgericht im Streitfall den Kläger auch - wie dies grundsätzlich erforderlich ist - persönlich angehört.<br />

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) Gleichwohl halten seine Ausführungen zur hypothetischen Einwilligung der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht<br />

stand, weil es zu hohe Anforderun gen an die Plausibilität eines Entscheidungskonflikts bei der Verabreichung eines<br />

noch nicht zugelassenen Medikaments gestellt hat.<br />

An die Voraussetzungen einer hypothetischen Einwilligung sind schon bei der "normalen Standardbehandlung" strenge<br />

Anforderungen zu stellen, damit das Aufklärungs- bzw. Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht unterlaufen wird<br />

(Senat, Urteile vom 5. 02.1991 - VI ZR 108/90 - VersR 1991, 547, 548; vom 14. 06.1994 - VI ZR 260/93 - VersR 1994, 1302; vom 17. 03.1998 - VI ZR 74/97 - VersR 1998, 766, 767, jeweils m.w.N.). Da es<br />

sich bei einem Heilversuch mit einem noch nicht zugelassenen Medikament letztlich um einen medizinischen Versuch -<br />

wenngleich zu individuelltherapeutischen Zwecken - handelt, sind für das Vorliegen einer hypothetischen Einwilligung<br />

besonders strenge Maßstäbe anzulegen (ähnlich Hart MedR 1994, 94, 102; Bender aaO, 512 Fn. 9; Giesen aaO, S. 23, Fischer in FS für Deutsch, S. 545, 556 ff.). Dies<br />

wird dadurch bestätigt, dass die §§ 40 ff. AMG bei einer klinischen Prüfung eines neuen, noch nicht zugelassenen<br />

Medikaments grundsätzlich eine schriftliche Einwilligungserklärung des Patienten vorsehen. Das Arzneimittelgesetz<br />

war zwar im vorliegenden Fall nicht unmittelbar anwendbar, weil der Einsatz des Medikaments außerhalb einer im<br />

Haus der Beklagten zu 1 durchgeführten klinischen Prüfung erfolgte (vgl. zur damaligen Fassung des AMG vom 24. 08.1976 nach dem Vierten Gesetz zur<br />

Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 11. 04.1990 - Laufs NJW 1993, 1497, 1498 Fn. 29; so auch heute: vgl. Kloesel/Cyran, AMG, 101. Akt.Lief. 2006, § 40 RN 25; Deutsch VersR 2005, 1009 ff.). Dies<br />

darf jedoch nicht dazu führen, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und die erhöhten Anforderungen an<br />

eine wirksame tatsächliche Einwilligung über die (vorschnelle) Annahme einer hypothetischen Einwilligung in einen<br />

Heilversuch außerhalb des klinischen Prüfungsverfahrens umgangen werde.<br />

Nach den Ausführungen des Berufungsgerichts hat sich der Kläger darauf berufen, dass er dann, wenn er gewusst<br />

hätte, dass das Medikament noch nicht zugelassen gewesen sei und deshalb die Gefahr noch nicht bekannter<br />

Nebenwirkungen bestanden hätte, dieses Mittel nicht genommen hätte bzw. in einen ernsten Entscheidungskonflikt<br />

geraten wäre, weil er wegen seiner bereits vorhandenen schweren Erkrankung nicht bereit gewesen sei, das Risiko<br />

einer weiteren Schädigung einzugehen. Dies genügte grundsätzlich, um einen Entscheidungskonflikt bei einem<br />

Heilversuch mit einem noch nicht zugelassenen Medikament plausibel zu machen und der Behandlungsseite die<br />

Beweislast dafür aufzubürden, dass sich der Patient bei hinreichender Aufklärung gleichwohl für den Heilversuch<br />

entschieden hätte. Soweit das Berufungsgericht darüber hinaus weitere Plausibilitätsüberlegungen anstellt, verkennt<br />

es, dass bei der Plausibilität des Entscheidungskonflikts auf die persönliche Entscheidungssituation des jeweiligen<br />

Patienten abzustellen ist. Was aus ärztlicher Sicht sinnvoll und erforderlich gewesen wäre und wie ein "vernünftiger<br />

Patient" sich verhalten haben würde, ist hingegen grundsätzlich nicht entscheidend (vgl. etwa Senatsurteil vom 17. 03.1998 - VI ZR 74/97 - VersR<br />

1998, 766). Der Tatrichter darf seine eigene Beurteilung des Konflikts nicht an die Stelle derjenigen des Patienten setzen (vgl.<br />

Senatsurteil vom 1. 02.2005 - VI ZR 174/03 - VersR 2005, 694).<br />

III.<br />

Nach alledem war das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das<br />

Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit es die noch erforderlichen Feststellungen nachholen kann.<br />

Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr<br />

Vorinst.:LG Offenburg, Entscheidung vom 11.07.1995 - 3 O 490/94 -<br />

OLG Karlsruhe in Freiburg, Entscheidung vom 02.02.2005 - 13 U 134/95 -<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 158/06 vom 20.03.2007<br />

Zur Darlegungs- und Beweislast des Arztes nach den Grundsätzen voll beherrschbarer Risiken bei einem<br />

Spritzenabszess des Patienten infolge einer Infektion durch eine als Keimträger feststehende Arzthelferin<br />

(Fortführung von Senat, Urteil vom 8. 01.1991 - VI ZR 102/90 - VersR 1991, 467). Der Patient obsiegte.<br />

BGH, Urteil vom 20. 03.2007 - VI ZR 158/06 - OLG Koblenz<br />

LG Bad Kreuznach<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 20. 03.2007 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll<br />

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für Recht erkannt:<br />

Die Revision gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 22. 06.2006 wird auf Kosten der<br />

Beklagten zurückgewiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Klägerin nimmt die Beklagten auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden wegen eines Spritzenabszesses in<br />

Anspruch. Sie begab sich im 06.1999 in die orthopädische Gemeinschaftspraxis der Beklagten zu 3 und 4, in der<br />

damals die Beklagten zu 1 und 2 als Vertretungsärzte tätig waren. Der Beklagte zu 1 setzte der Klägerin am 9. und 11.<br />

06.1999, der Beklagte zu 2 am 15. 06.1999 jeweils eine Spritze im Nackenbereich. In der Folgezeit entwickelte sich ein<br />

Spritzenabszess, der eine zweiwöchige stationäre Behandlung erforderlich machte. Die Klägerin, die Leiterin eines<br />

CateringBetriebes war und diese Tätigkeit zunächst wieder aufnahm, hat geltend gemacht, sie leide aufgrund des<br />

Spritzenabszesses an anhaltenden Schmerzen, Schlafstörungen und Depressivität und sei deshalb arbeitsunfähig.<br />

Der Spritzenabszess beruht auf einer StaphylokokkenInfektion. Ausgangsträger der Keime war die bei den Beklagten<br />

zu 3 und 4 angestellte Arzthelferin H., die seinerzeit an Heuschnupfen litt und bei der Verabreichung der Spritzen<br />

assistierte. Gleichartige Infektionen traten zeitnah bei anderen Patienten in der Praxis auf, die ersten Fälle am 2., 8.<br />

und 10. 06.1999. Das von den Beklagten zu 3 und 4 Mitte 06.1999 eingeschaltete Gesundheitsamt beanstandete die<br />

Hygieneprophylaxe in der Praxis.<br />

Das Landgericht hat der Klägerin durch Grund- und Teilurteil ein Schmerzensgeld von 25.000 € zuerkannt, die<br />

bezifferten Schadensersatzansprüche dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und dem Feststellungsbegehren<br />

hinsichtlich der Ansprüche auf Ersatz materiellen Schadens entsprochen. Die Berufung der Beklagten hatte keinen<br />

Erfolg. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgen diese ihr Klageabweisungsbegehren weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I. Das Berufungsgericht, dessen Entscheidung u.a. in NJWRR 2006, 1401 veröffentlicht ist, bejaht eine Haftung aller<br />

Beklagten aus §§ 823 Abs. 1, 847 BGB a.F. sowie der Beklagten zu 3 und 4 hinsichtlich der materiellen Schäden aus<br />

Vertragsrecht. Es ist der Ansicht, es sei unerheblich, ob die Beklagten die Infizierung der Arzthelferin hätten erkennen<br />

können oder ob die Keimübertragung auch bei Anwendung aller zumutbaren Präventivmaßnahmen nicht hätte<br />

verhindert werden können. Die Einstandspflicht der Beklagten beruhe auf einem generell unzulänglichen<br />

Hygienemanagement, das ihnen im Sinne einer Fahr lässigkeit zuzurechnen sei. Es komme nicht darauf an, ob die<br />

vorhandenen Versäumnisse die Schädigung der Klägerin tatsächlich ausgelöst oder begünstigt hätten, es reiche aus,<br />

dass sich dies nicht ausschließen lasse. Zumindest wenn für eine alternative Schadensentstehung keine überwiegende<br />

Wahrscheinlichkeit spreche, sei es bei Vorliegen von Hygienemängeln Sache des Arztes, den Beweis dafür zu<br />

erbringen, dass der Patient gleichermaßen geschädigt worden wäre, wenn es keine Hygienemängel gegeben hätte.<br />

II. Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten den Angriffen der Revision im Ergebnis stand.<br />

1. Das Berufungsgericht geht mit dem Landgericht zutreffend davon aus, dass die Beklagten zu 3 und 4 als<br />

Praxisinhaber nur dann nach §§ 823, 847 BGB a.F. haften, wenn ihnen ein eigenes Verschulden zur Last fällt. Eine<br />

Haftung gemäß § 831 BGB für etwaige Versäumnisse der als Vertretungsärzte tätig gewordenen Beklagten zu 1 und 2<br />

kommt nicht in Betracht, da für eine Weisungsberechtigung ihnen gegenüber nichts festgestellt ist. Für die Ersatzpflicht<br />

der Beklagten zu 3 und 4 hinsichtlich materieller Schäden wegen positiver Forderungsverletzung wäre ihnen ein<br />

Verschulden der Beklagten zu 1 und 2 nach § 278 BGB zuzurechnen. Diese haften mangels eigener vertraglicher<br />

Bindung gegenüber der Klägerin nur deliktisch für eigenes Verschulden.<br />

2. Rechtsfehlerfrei nimmt das Berufungsgericht an, dass die Beklagten für die materiellen und immateriellen Schäden<br />

einzustehen haben, die der Klägerin aufgrund des Spritzenabszesses entstanden sind. Die Erwägungen des<br />

Berufungsgerichts, mit denen es den Beklagten die Beweislast zugewiesen hat, treffen im Ergebnis zu.<br />

a) Entgegen der Auffassung der Revision widerspricht die angefochtene Entscheidung nicht der Rechtsprechung des<br />

erkennenden Senats zur Haftung des Arztes für Hygienemängel (Senatsurteil vom 8. 01.1991 - VI ZR 102/90 - VersR 1991, 467 = NJW 1991, 1541). Diese<br />

auch vom Berufungsgericht zitierte Entscheidung betraf die Haftung des Krankenhausträgers bei einer Infizierung der<br />

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Operationswunde durch einen Keimträger aus dem Operationsteam. Im Unterschied zu dem vorliegenden Fall<br />

zeichnete sich der dem damaligen Urteil zugrunde liegende Sachverhalt dadurch aus, dass die Identität des<br />

Keimträgers seinerzeit nicht festgestellt werden konnte. Demgegenüber steht vorliegend nach den Feststellungen des<br />

Berufungsgerichts außer Frage, dass es zu dem infektiösen Geschehen gekommen ist, weil die Arzthelferin H. Träger<br />

des Bakteriums Staphylokokkus aureus war und dieses Bakterium - auf welchem Weg auch immer - mittels einer<br />

Injektion auf die Klägerin übertragen werden konnte.<br />

Damit steht im Streitfall fest, dass die Schädigung der Klägerin weder aus einer Sphäre stammt, die - wie z.B. Risiken<br />

aus dem eigenen menschlichen Organismus - dem Patienten zuzurechnen ist, noch aus dem Kernbereich des<br />

ärztlichen Handelns herrührt. Das Risiko, das sich bei der Klägerin verwirklicht hat, stammt vielmehr aus einem<br />

Bereich, dessen Gefahren ärztlicherseits objektiv voll ausgeschlossen werden können und müssen (so genannte voll beherrschbare<br />

Risiken, vgl. Senatsurteile BGHZ 89, 263, 269; vom 11. 10.1977 - VI ZR 110/75 - VersR 1978, 82, 83; vom 9. 05.1978 - VI ZR 81/77 - VersR 1978, 764; vom 3. 11.1981 - VI ZR 119/80 - VersR 1982, 161, 162<br />

und vom 25. 06.1991 - VI ZR 320/90 - VersR 1991, 1058, 1059). Anders als im Bereich des ärztlichen Handelns, in dem grundsätzlich der Patient<br />

die<br />

Darlegungs- und Beweislast für einen von ihm behaupteten Behandlungsfehler sowie dessen Ursächlichkeit für den<br />

eingetretenen Gesundheitsschaden trägt (vgl. u.a. Senatsurteil vom 18. 12.1990 - VI ZR 169/90 - VersR 1991, 310 m.w.N.), kommt bei der Verwirklichung<br />

von Risiken, die nicht vorrangig aus den Eigenheiten des menschlichen Organismus erwachsen, sondern durch den<br />

Klinikbetrieb oder die Arztpraxis gesetzt und durch sachgerechte Organisation und Koordinierung des<br />

Behandlungsgeschehens objektiv voll beherrscht werden können, der Rechtsgedanke des § 282 BGB a.F. (nunmehr § 280 Abs.<br />

1 Satz 2 BGB) zum Tragen, wonach die Darlegungs- und Beweislast für Verschuldensfreiheit bei der Behandlungsseite liegt.<br />

b) Ohne Erfolg macht die Revision geltend, es fehle im Streitfall an der Feststellung, dass die Infizierung der<br />

Arzthelferin H. mit dem Bakterium Staphylokokkus aureus für die Beklagten erkennbar gewesen sei. Der<br />

Revisionserwiderung ist zuzugeben, dass vieles dafür spricht, dass die akute Heuschnupfenerkrankung der<br />

Angestellten H. zumindest den mit ihr zusammen arbeitenden Beklagten zu 1 und 2 nicht unbemerkt geblieben ist. Wie<br />

die Klägerin vorgetragen hat, äußert sich eine Heuschnupfenerkrankung regelmäßig in für alle Umstehenden deutlich<br />

sichtbarem Naselaufen, häufigem Niesen, ständigem Naseputzen und tränenden Augen. Indessen ist weder<br />

festgestellt noch vorgetragen, dass diese Symptome auf eine Infektion mit Staphylokokken hinweisen oder dass eine<br />

Heuschnupfenerkrankung das Risiko einer Infektion des MundRachenRaumes mit diesem Bakterium so erhöht, dass<br />

eine Untersuchung der Erkrankten auf den Erreger oder ihr Ausschluss von der Assistenz bei der Spritzenvergabe<br />

hygienetechnisch erforderlich gewesen wäre. Wäre dies der Fall, hätten die Beklagten möglicherweise wegen eines<br />

ihnen zuzurechnenden Organisationsfehlers ohne Entlastungsmöglichkeit für die Infektion der Klägerin einzustehen.<br />

Auf diese Fragen kommt es hier aus nachfolgenden Gründen jedoch nicht an.<br />

Die Verlagerung der Darlegungs- und Beweislast auf die Behandlungsseite in Anwendung des Rechtsgedankens des<br />

§ 282 BGB a.F. setzt nämlich nicht voraus, dass die aus dem Klinikbetrieb oder der Arztpraxis stammende objektiv<br />

gegebene Gefahr für die Behandlungsseite im konkreten Fall erkennbar war. Steht wie im Streitfall fest, dass sich ein<br />

aus diesem Bereich stammendes objektiv voll beherrschbares Risiko verwirklicht hat, ist es vielmehr Sache des Arztes<br />

oder des Klinkträgers darzulegen und zu beweisen, dass es hinsichtlich des objektiv gegebenen Pflichtenverstoßes an<br />

einem Verschulden der Behandlungsseite fehlt (Senatsurteil vom 11. 10.1977 - VI ZR 110/75 - aaO). So hat der erkennende Senat z.B. dem<br />

Krankenhausträger und seinen Ärzten die Beweislast für die Gewähr einwandfreier Voraussetzungen für eine<br />

sachgemäße und gefahrlose Behandlung zugewiesen, wenn es etwa um Fragen ging wie den ordnungsgemäßen<br />

Zustand eines verwendeten Tubus (Senatsurteil vom 24. 06.1975 - VI ZR 72/74 - VersR 1975, 952, 954), die Funktionstüchtigkeit des eingesetzten<br />

Narkosegeräts (Senatsurteil vom 11. 10.1977 - VI ZR 110/75 - aaO), die Reinheit des benutzten Desinfektionsmittels (Senatsurteil vom 9. 05.1978 - VI ZR 81/77<br />

- aaO) oder die Sterilität der verabreichten Infusionsflüssigkeit (Urteil vom 3. 11.1981 - VI ZR 119/80 - aaO). Dasselbe gilt für die unbemerkt<br />

gebliebene Entkoppelung eines Infusionssystems (Senatsurteil BGHZ 89, 263, 269), das Zurückbleiben eines Tupfers im<br />

Operationsgebiet (Senatsurteil vom 27. 01.1981 - VI ZR 138/79 - VersR 1981, 462, 465) oder die richtige Lagerung des Patienten auf dem<br />

Operationstisch (Senatsurteil vom 24. 01.1984 - VI ZR 203/82 - VersR 1984, 386, 387). All diesen Fällen ist gemeinsam, dass objektiv eine Gefahr<br />

bestand, deren Quelle jeweils festgestellt werden konnte und die deshalb objektiv beherrschbar war. Für die Gefahr,<br />

die für einen Patienten von einer mit einem Bakterium infizierten Arzthelferin ausgeht, gilt nichts anderes. Anders als in<br />

dem oben erörterten Fall (Senatsurteil vom 8. 01.1991 - VI ZR 102/90 - aaO), in dem die Annahme<br />

eines voll beherrschbaren Risikos letztlich daran scheiterte, dass die Keimübertragung durch irgendein Mitglied des<br />

Operationsteams erfolgte, jedoch ungeklärt war, welches Mitglied mit dem Keim infiziert war, ist das von einer<br />

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infizierten Person ausgehende Risiko in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Identität des Keimträgers<br />

feststeht, für die Behandlungsseite objektiv voll beherrschbar. Unter diesen Voraussetzungen ist es Sache der<br />

Behandlungsseite, sich für fehlendes Verschulden zu entlasten.<br />

c) Diesen Entlastungsbeweis hat das Berufungsgericht vorliegend rechtsfehlerfrei als nicht geführt angesehen. Steht<br />

fest, dass die Infektion aus einem hygienisch beherrschbaren Bereich hervorgegangen sein muss, so hat der<br />

Krankenhausträger bzw. der Arzt für die Folgen der Infektion sowohl vertraglich als auch deliktisch einzustehen, sofern<br />

er sich nicht dahin gehend zu entlasten vermag, dass ihn an der Nichtbeachtung der Hygieneerfordernisse kein<br />

Verschulden trifft, er also beweist, dass alle organisatorischen und technischen Vorkehrungen gegen von dem<br />

Personal der Klinik oder der Arztpraxis ausgehende vermeidbare Keimübertragungen getroffen waren (Senatsurteil vom 8. 01.1991<br />

- VI ZR 102/90 - aaO). Dafür würde es nicht genügen, dass die Infizierung der Arzthelferin H., wovon die Revision ausgeht, für<br />

die Beklagten subjektiv nicht erkennbar war. Der Entlastungsbeweis erfordert vielmehr auch den Nachweis, dass im<br />

Übrigen die gebotene Sorgfalt gewahrt worden ist. Dies hat das Berufungsgericht mit Rücksicht darauf verneint, dass in<br />

der Arztpraxis elementare Hygienegebote missachtet worden sind. So wurde nach den auf der Grundlage der<br />

Ermittlungen des Gesundheitsamts getroffenen Feststellungen das Hygieneverhalten der Arzthelferinnen nicht in dem<br />

erforderlichen Umfang durch die Ärzte vermittelt und nicht überprüft. Desinfektionsmittel wurden nicht in ihren<br />

Originalbehältnissen aufbewahrt, sondern umgefüllt. Zwei von vier überprüften Alkoholen waren verkeimt, und<br />

Durchstechflaschen mit Injektionssubstanzen fanden über mehrere Tage hinweg Verwendung. Des Weiteren wurden<br />

Flächendesinfektionsmittel mit einer langen Einwirkungszeit fehlerhaft zur Hautdesinfektion eingesetzt. Auch war es<br />

nicht üblich, dass Arzthelferinnen vor dem Aufziehen einer Spritze ihre Hände desinfizierten; Arbeitsflächen wurden<br />

zudem nicht, wie es geboten gewesen wäre, jeden Tag, sondern nur einmal wöchentlich desinfiziert. Bei dieser<br />

Sachlage ist die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass der den Beklagten obliegende Entlastungsbeweis angesichts<br />

der festgestellten gravierenden Hygienemängel nicht geführt sei, aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden.<br />

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.<br />

Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll<br />

Vorinst.:LG Bad Kreuznach, Entscheidung vom 18.10.2005 - 2 O 114/02 -<br />

OLG Koblenz, Entscheidung vom 22.06.2006 - 5 U 1711/05 -<br />

ThönsBGH III<br />

ZR 126/06 vom 01.02.07<br />

Zur Frage, ob einem Bereicherungsanspruch auf Rückerstattung von ärztlichen Honoraren für Wahlleistungen<br />

der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegengesetzt werden kann, wenn die zugrunde liegenden<br />

Wahlleistungsvereinbarungen zwar wegen Verstoßes gegen die Unterrichtungspflicht nach § 22 Abs. 2 Satz 1<br />

BPfIV unwirksam gewesen waren, diese Leistungen jedoch über einen langen Zeitraum abgerufen,<br />

beanstandungsfrei erbracht und honoriert worden sind.<br />

BGB § 134, 242 Ca, Cd, 812; BPfJV (1994) § 22 Abs. 2 Satz 1<br />

BGH, Urteil vom 1. 02.2007- III ZR 126/06 - OLG München<br />

LG München II<br />

Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 1. 02.2007 durch den Vorsitzenden<br />

Richter Schlick und die Richter Dr. Wurm, Streck, Dörr und Dr Herrmann<br />

für Recht erkannt:<br />

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 17. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 10. 04.2006 wird<br />

zurückgewiesen.<br />

Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsrechtszuges zu tragen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand<br />

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Die Klägerin befand sich in dem Zeitraum von 12.1999 bis 11.2001 wiederholt in ambulanter und stationärer<br />

Behandlung des Kreis- krankenhauses W. Der Betrieb dieses Krankenhauses wurde mit Wirkung zum 1. 01.2002 auf<br />

die Beklagte zu 1, eine (gemeinnüfzige) Gesellschaft mit beschränkter Haftung, übertragen. Der Beklagte zu 2 ist in der Klinik<br />

als liquidationsberechtigter Chefarzt tätig und hat die Klägerin, die Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung ist<br />

und nicht über eine private Zusatzversicherung verfügt, aufgrund von jeweils inhaltsgleichen<br />

Wahlleistungsvereinbarungen ärztlich behandelt. Diese Wahlleistungsvereinbarungen lauteten<br />

- soweit hier von Bedeutung - wie folgt:<br />

[Die Wahlleistungen erstrecken sich auf die ärztlichen Leistungen aller an der Behandlung beteiligten Arzte des<br />

Krankenhauses, soweit diese zur gesonderten Berechnung ihrer Leistungen berechtigt sind (= ‗Chefarztbehandlung‗)<br />

einschließlich der von diesen Ärzten veranlaßten Leistungen von Ärzten oder ärztlich geleiteten Einrichtungen<br />

außerhalb des Krankenhauses 1 dies gilt auch soweit sie vom Krankenhaus berechnet werden; die Liquidation erfolgt<br />

nach der GOÄIGOZ in der jeweils gültigen Fassung. Die GOÄ ist auszugsweise an den Informationstafeln (gegenüber der<br />

Patientenaufnahme und im Stationsdienstzimmer) zur Einsichtnahme.―<br />

Der Klägerin wurden für die Chefarztbehandlung elf Abrechnungen erteilt. Den sich daraus ergebenden Gesamtbetrag<br />

von 24.424,06€ hat sie aus eigenen Mitteln bezahlt.<br />

Sie nimmt nunmehr beide Beklagten gesamtschuldnerisch auf Rückzahlung der geleisteten Beträge mit der<br />

Begründung in Anspruch, die Wahlleistungsvereinbarungen seien wegen Verstoßes gegen § 22 Abs. 2 Satz 1 der<br />

- vorliegend anwendbaren - Bundespflegesatzverordnung (BPfIV) vom 24. 09.1994 (BGBI. 1 5. 2750) unwirksam. Das<br />

Berufungsgericht hat ihr insoweit lediglich 5.211,37€ zugesprochen. Mit der von diesem zugelassenen Revision verfolgt<br />

die Klägerin ihre Mehrforderung gegen beide Beklagten weiter.<br />

Entscheidungsgründe<br />

Die Revision ist nicht begründet.<br />

1. Zu Unrecht macht die Revision geltend, bei den hier in Rede stehenden Wahlleistungsvereinbarungen sei bereits die<br />

Schrifttorm des § 22 Abs. 2 Satz 1 BPfIV nicht gewahrt worden, weil sie nur von einem Vertreter des Rechtsvorgängers<br />

der Beklagten zu 1 und nicht auch vom Beklagten zu 2 unterschrieben worden seien. Die Wahlleistungen werden nach<br />

§ 22 Abs. 1 Satz 1 BPfIV mit dem ―Krankenhaus― vereinbart; allein dessen Träger ist Vertragspartner der Vereinbarung<br />

über die gesonderte Berechung (Senatsurteil vom 22. 07.2004- III ZR 355/03 = VersR 2005, 120).<br />

2. Jedoch sind beide Vorinstanzen mit Recht davon ausgegangen, dass dievorstehend wiedergegebene<br />

Wahlleistungsvereinbarung inhaltlich nicht den Anforderungen des § 22 Abs. 2 Satz 1 BPfIV genügte.<br />

a) Danach sind Wahlleistungen vor der Erbringung schriftlich zu vereinbaren; der Patient ist vor Abschluss der<br />

Vereinbarung über die Entgelte der Wahlleistungen und deren Inhalt im Einzelnen zu unterrichten. Nach der<br />

Rechtsprechung des Senats, von der abzugehen kein Anlass besteht, ist eine Wahlleistungsvereinbarung, die ohne<br />

hinreichende vorherige Unterrichtung des Patienten abgeschlossen worden ist, unwirksam (vgl. Senatsurteile vom 27. 11.2003 - III ZR 37/03<br />

= BGHZ 157, 87, 90 = NJW 2004, 684, vom8. 01.2004 - III ZR 375/02 = NJW 2004, 686 und vom 22. 07.2004 - III ZR355/03 = VersR 2005, 120).<br />

b) Der Senat hat in seinen vorgenannten Urteilen die Anforderungen präzisiert, die an eine ausreichende Unterrichtung<br />

zu stellen sind. Danach reicht es einerseits nicht aus, wenn der Patient lediglich darauf hingewiesen wird, dass die<br />

Abrechnung des selbst liquidierenden Chefarztes nach der GOÄ erfolge; andererseits ist es nicht erforderlich, dass<br />

dem Patienten unter Hinweis auf die mutmaßlich in Ansatz zu bringenden Nummern des Gebührenverzeichnisses der<br />

GOÄ detailliert und auf den Einzelfall abgestellt die Höhe der voraussichtlich entstehenden Arztkosten - in Form eines<br />

im Wesentlichen zutreffenden Kostenanschlags - mitgeteilt wird. Der Senat hat vielmehr Kriterien aufgestellt, an denen<br />

sich die Unterrichtung des Patienten zu orientieren hat. Ausreichend ist danach in jedem Falle:<br />

- eine kurze Charakterisierung der Inhalts wahlärztlicher Leistungen, wobei zum Ausdruck kommt, dass hierdurch ohne<br />

Rücksicht auf Art und Schwere der Erkrankung die persönliche Behandlung durch die liquidationsberechtigten Ärzte<br />

sichergestellt werden soll, verbunden mit dem Hinweis darauf, dass der Patient auch ohne Abschluss einer<br />

Wahlleistungsvereinbarung die medizinisch notwendige Versorgung durch hinreichend qualifizierte Ärzte erhält;<br />

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- eine kurze Erläuterung der Preisemiittlung für ärztliche Leistungen nach der GOÄ bzw. für Zahnärzte (Leistungsbeschreibung<br />

anhand der Nummern des Gebührenverzeichnisses; Bedeutung von Punktzahl und Punktwert; Möglichkeit, den Gebührensatz je nach Schwierigkeit und Zeitaufwand zu erhöhen); Hinweis auf<br />

Gebührenminderung nach § 6a der GOÄ (GOÄ);ein Hinweis daraut dass die Vereinbarung wahlärztlicher Leistungen eine<br />

erhebliche finanzielle Mehrbelastung zur Folge haben kann;<br />

- ein Hinweis darauf, dass sich bei der Inanspruchnahme wahlärztlicher Leistungen die Vereinbarung zwingend auf alle<br />

an der Behandlung des Patienten beteiligten liquidationsberechtigten Ärzte erstreckt (vgl. § 22 Abs. 3 Satz 1 BPflV);<br />

- und ein Hinweis darauf, dass die GOÄ/Gebührenordnung für Zahnärzte auf Wunsch eingesehen werden kann; die<br />

ungefragte Vorlage dieser Gesetzestexte erscheint demgegenüber entbehrlich, da diesen für sich genommen kein<br />

besonderer lnformationswert zukommt. Der durchschnittliche Wahlleistungspatient ist auch nicht annähernd in der<br />

Lage, sich selbst anhand des Studiums dieser umfänglichen komplizierten Regelungswerke einen Überblick über die<br />

Höhe der auf ihn zukommenden Arzt- kosten zu verschaffen.<br />

c) Die hier in Rede stehende Wahlleistungsvereinbarung enthielt weder den Hinweis, dass der Patient auch ohne<br />

Abschluss einer solchen die medizinisch notwendige Versorgung durch hinreichend qualifizierte Ärzte erhielt, noch eine<br />

kurze Erläuterung der Preisermittlung für die ärztlichen Leistungen. Ebenso fehlte eine Belehrung darüber, dass die<br />

Vereinbarung wahlärztlicher Leistungen eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung zur Folge haben konnte.<br />

3. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen wurden diese Hinweise bei den späteren Wahlleistungsvereinbarungen<br />

nicht dadurch entbehrlich, dass die Klägerin die ersten Rechnungen beanstandungsfrei bezahlt hatte. Die<br />

Anforderungen des § 22 Abs. 2 BPfIV beziehen sich nach Wortlaut und Sinn dieser Bestimmung auf die jeweilige<br />

einzelne Vereinbarung. Ein Fortwirken früherer Hinweise oder sonstiger Informationen enthebt den Krankenhausträger<br />

als den Vertragspartner der Wahileistungsvereinbarung daher nicht der Obliegenheit, diese Anforderungen einzuhalten.<br />

Gleichwohl hält die Abweisung der Klage im noch anhängigen Umfang im Ergebnis der revisionsgerichtlichen<br />

Nachprüfung stand. Die Beklagten können nämlich, wie das Berufungsgericht in seiner Hilfsbegründung in<br />

rechtsfehlerfreier tatrichterliche Würdigung ausführt, dem Bereicherungsanspruch der Klägerin den Einwand<br />

unzulässiger Rechtsausübung entgegensetzen.<br />

1. Die Klägerin hat über einen langen Zeitraum die Wahlleistungen entgegengenommen und Vorteile aus ihnen<br />

gezogen. Sie war durch die schriftliche Wahileistungsvereinbarung - wenn auch inhaltlich unzureichend - zumindest<br />

ansatzweise über die Tragweite der eingegangenen Verpflichtungen informiert worden. Durch die ersten Abrechnungen<br />

der Beklagten (die nicht mehr Gegenstand des jetzigen Revisionsverfahrens sind) war ihr auch die Technik der Preisermittlung für ärztliche<br />

Leistungen nach der GOÄ vor Augen geführt worden. Sie hat über Jahre hinweg die in Rechnung gestellten Entgelte<br />

anstandslos bezahlt Da sie über keine private Zusatzversicherung verfügte, war ihr bewusst, dass sie diese<br />

Geldleistungen aus ihrem eigenen Vermögen zu erbringen hatte. Auf diese Weise hatte sie zumindest daran<br />

mitgewirkt, dass bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten zu 1 und bei dem Beklagten zu 2 der Eindruck entstehen<br />

musste, die Klägerin werde sich im Nachhinein nicht darauf berufen, dass den gegenseitigen Leistungen eine<br />

rechtliche Grundlage gefehlt habe.<br />

2. Zwar gibt es keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts, dass derjenige, der die Vorteile eines unwirksamen<br />

Rechtsgeschäfts endgültig genossenhat, die von ihm erbrachten Gegenleistungen nicht zurückfordern kann. Indessen<br />

hat die Rechtsprechung schon mehrfach gegen einen Bereicherungsanspruch dieses Inhalts den Einwand<br />

unzulässiger Rechtsausübung durchgreifenlassen (vgl. z.B. RGZ 135, 374; BGH, Urteil vom 23. 01.1981 1 ZR 40/79 =NJW 1981, 1439, 1440; s. auch Senatsurteile vom 1.<br />

02.2007 - III ZR281105 und 282/05; zum Ganzen Staudinger/Sack [2003] § 134 Rn. 187 bis189). Insoweit bedarf es einer einzelfallbezogenen tatrichterlichen<br />

Würdigung.Bei dieser kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass die vorstehend wiedergegebenen Grundsätze über die<br />

Anforderungen einer ausreichenden Unterrichtung nach § 22 Abs. 2 Satz 1 BPfIV in der Rechtsprechung des Senats<br />

erst geraume Zeit nach den hier in Rede stehenden Vorgängen präzisiert worden sind.Dies lässt den - objektiv<br />

vorliegenden - Verstoß der Beklagten zu 1 gegen dieUnterrichtungspflicht in einem milderen Licht erscheinen (vgl. zu einer<br />

ähnlichenProblematik bei einem Verstoß gegen Art. 1 § 1 RBerG auch die Senatsurteilevom 1. 02.2007 aaO). Im Gegensatz zu dem Sachverhalt, der dem<br />

Senatsurteil vom 17. 10.2002 (III ZR 58/02 = NJW 2002, 3772) zugrundegelegen hatte, handelte es sich hier nicht um eine einmalige<br />

Behandlung aufgrund einer Wahlleistungsvereinbarung, bei der zudem nicht einmal die Schriftform gewahrt gewesen<br />

war; vielmehr hatte die Klägerin immer wieder die Wahlleistungen beider Beklagten abgerufen und in Anspruch<br />

genommen. Unter diesen Umständen ist es bei wertender Gesamtschau nicht zu beanstanden, dass das<br />

Berufungsgericht insbesondere in der problemlosen Aufrechterhaltung und Abwicklung der vertraglichen Beziehungen<br />

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zwischen den Parteien über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg einen besonderen Umstand erblickt hat, der<br />

der Rückforderung der von der Klägerin erbrachten Gegenleistungen entgegensteht.<br />

III.1. Die Verfahrensrügen, mit denen die Revision im Wesentlichen geltendmacht, das Berufungsurteil enthalte keine<br />

Wiedergabe der Berufungsanträgeder Klägerin, greifen ebenfalls nicht durch. Vielmehr werden sowohl das von<br />

derKlägerin im Berufungsrechtszug verfolgte Rechtsschutzziel als auch der Streitgegenstand, über den das<br />

Berufungsgericht entscheiden wollte und tatsächlichentschieden hat, aus den Gründen des Berufungsurteils<br />

hinreichend deutlich.<br />

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 564 Satz 1 ZPO ab. 2. Die Revision war daher, obwohl die<br />

Beklagten im Revisionsrechtszugnicht anwaltlich vertreten waren, durch unechtes Versäumnisurteil zurückzuweisen.<br />

Schlick Wurm Streck, Dörr Herrmann<br />

Vorinst.:LG München II, Entscheidung vom 11.10.2005, 1 MO 7660/04 OLG München, Entscheidung vom 10.04.2006 -<br />

17 U 5500/05<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 59/06 vom 9. 01.2007<br />

Ein Diagnosefehler (hier: eines Pathologen) wird nicht bereits deshalb zum Befunderhebungsfehler, weil der Arzt es<br />

unterlassen hat, die Beurteilung des von ihm erhobenen Befundes durch Einholung einer zweiten Meinung zu<br />

überprüfen. Der Arzt obsiegte.<br />

BGB § 823 Aa<br />

BGH, Urteil vom 9. 01.2007 - VI ZR 59/06 - OLG Köln<br />

LG Köln<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 9. 01.2007 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Zoll<br />

für Recht erkannt:<br />

Die Revision der Kläger gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 13. 02.2006 wird<br />

zurückgewiesen.<br />

Von den Kosten des Revisionsverfahrens tragen die Klägerin zu 1 5/6 und der Kläger zu 2 1/6.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Kläger nehmen den Beklagten, einen niedergelassenen Pathologen, wegen fehlerhafter Befundung einer<br />

Hautveränderung eines inzwischen verstorbenen Patienten, der Ehemann der Klägerin zu 1 und Vater des Klägers zu<br />

2 war, auf Schadensersatz in Anspruch.<br />

Der Patient stellte im 06.1996 nach einem Duschbad im Bereich des rechten Schulterblattes eine Hautläsion von ca. 5<br />

mal 5 mm Durchmesser fest, die nach dem Abtrocknen der Haut mit einem Frottiertuch blutete. Der von ihm zu Rate<br />

gezogene Arzt Dr. J. exzidierte die Hautveränderung und übersandte<br />

das Exzidat mit der Bemerkung "blutender Naevus, Malignitätsverdacht" zur histopathologischen Untersuchung an den<br />

Beklagten. Dieser beurteilte die von ihm untersuchte Gewebeprobe als gutartigen (Spitz)Tumor und führte weiter aus, es<br />

gebe keinen Anhalt für ein invasives malignes Melanom sowie für eine andere Krebserkrankung der Haut oder<br />

Hautanhangsgebilde im betroffenen Bereich. In dem Befundbericht des Beklagten an Dr. J. heißt es ferner, eine von<br />

ihm festgestellte epidermale Nekrose mit Fibrininsudation sei seiner Meinung nach eine Folge einer lokalen<br />

Traumatisierung (etwa eines Ätzungsversuchs des Patienten). In der Folge kam es zu Telefonaten zwischen Dr. J. und dem Beklagten,<br />

deren Inhalt streitig ist, in denen jedoch der Beklagte an seinem Untersuchungsergebnis festhielt. Im Sommer 1997<br />

wurden bei dem Patienten zahlreiche Metastasen eines malignen Melanoms im Stadium IV festgestellt. Trotz einer<br />

sofort eingeleiteten intensiven Therapie kam es zu einer Tumorprogression. Der Patient verstarb im Sommer 1998.<br />

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Das Landgericht hat den Beklagten zunächst durch Versäumnisurteil entsprechend den Klageanträgen verurteilt, an<br />

beide Kläger ein Schmerzensgeld von 200.000 DM nebst Zinsen zu zahlen und festgestellt, dass der Beklagte zur<br />

Erstattung materieller Schäden verpflichtet sei. Auf den Einspruch des Beklagten hat das Landgericht sein<br />

Versäumnisurteil insoweit bestätigt, als der Beklagte verurteilt worden war, an die Klägerin zu 1 ein Schmerzensgeld in<br />

Höhe von 102.258,38 € (= 200.000 DM) nebst Zinsen zu zahlen, und als festgestellt worden war, dass der Beklagte beiden<br />

Klägern gegenüber zum Ersatz ihres materiellen Schadens verpflichtet sei. Im Übrigen hat es unter teilweiser<br />

Aufhebung des Versäumnisurteils die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht<br />

unter vollständiger Aufhebung des Versäumnisurteils die Klagen in vollem Umfang abgewiesen. Mit der vom<br />

Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihre Anträge auf Zu rückweisung der Berufung des<br />

Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

Das Berufungsgericht hat aufgrund der Beweisaufnahme keine Überzeugung gewonnen, dass der Tod des Patienten<br />

verhindert worden wäre, wenn der Beklagte die Bösartigkeit des Tumors erkannt hätte. Dies gehe zu Lasten der<br />

Kläger. Eine Beweislastumkehr komme weder unter dem Gesichtspunkt eines groben Behandlungsfehlers in Betracht<br />

noch unter dem Gesichtspunkt einer unterlassenen Befunderhebung. Angesichts der vom Sachverständigen Prof. Dr.<br />

G. geschilderten Schwierigkeiten der histopathologischen Befundung sei die Fehldiagnose des Beklagten nicht als<br />

grober Fehler zu qualifizieren. Ein grober Behandlungsfehler sei auch nicht darin zu sehen, dass der Beklagte die<br />

Spontanblutung auf eine Manipulation des Patienten an der entsprechenden Hautstelle zurückgeführt habe.<br />

Entsprechendes gelte für die Nichteinholung einer Referenzbegutachtung der Gewebeprobe. Dieses Unterlassen habe<br />

der Sachverständige zwar bei seiner Anhörung durch das Berufungsgericht als letztlich pflichtwidrig bewertet.<br />

Gleichwohl erfülle dies nicht die Kriterien, die an einen groben Fehler mit der Folge einer Beweislastumkehr zu stellen<br />

seien. Insgesamt könne hier weder von bewährten im Sinne von allseits beachteten Behandlungsregeln gesprochen<br />

werden noch von einem eindeutigen Verstoß des Beklagten hiergegen.<br />

Eine Umkehr der Beweislast lasse sich schließlich auch nicht aus den Grundsätzen der Rechtsprechung zur<br />

Unterlassung einer gebotenen Befunder hebung herleiten. Insoweit müsse zwischen dem Unterlassen der<br />

Befunderhebung an sich und dem Unterlassen einer einzelnen Befunderhebungsmaßnahme im Rahmen der<br />

Befunderhebung unterschieden werden, wobei nur erstere zur Beweislastumkehr führen könne. Andernfalls würde sich<br />

die Beweislast in nicht mehr angemessener Weise auf die Behandlungsseite verschieben. Vorliegend sei mit der<br />

Nichteinholung einer zweiten Meinung nur eine Einzelmaßnahme unterblieben, so dass eine Umkehr der Beweislast<br />

nicht gerechtfertigt sei.<br />

II.<br />

Das Berufungsurteil hält im Ergebnis revisionsrechtlicher Nachprüfung stand.<br />

Das Berufungsgericht hat die Kläger ohne Rechtsfehler als beweisfällig dafür erachtet, dass der Tod des Patienten bei<br />

zutreffender Beurteilung der Gewebeprobe durch den Beklagten als bösartig vermieden worden wäre oder die<br />

Krankheit zumindest einen günstigeren Verlauf genommen hätte. Entgegen der Auffassung der Revision kommt im<br />

Streitfall weder eine Beweislastumkehr aus dem Gesichtspunkt eines groben Behandlungsfehlers noch aus dem<br />

Gesichtspunkt mangelnder Erhebung von Diagnose- und Kontrollbefunden in Betracht.<br />

1. Ohne Erfolg wendet sich die Revision gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Bewertung des Tumors als<br />

gutartig durch den Beklagten stelle keinen groben Behandlungsfehler dar.<br />

a) Ein grober Behandlungsfehler ist nicht bereits bei zweifelsfreier Feststellung einer Verletzung des maßgeblichen<br />

ärztlichen Standards gegeben; er setzt vielmehr neben einem eindeutigen Verstoß gegen bewährte ärztliche<br />

Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse die Feststellung voraus, dass der Arzt einen Fehler<br />

begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht<br />

unterlaufen darf (vgl. etwa Senatsurteile BGHZ 159, 48, 53; vom 28. 05.2002 - VI ZR 42/01 - VersR 2002, 1026 und vom 3. 07.2001 - VI ZR 418/99 - VersR 2001, 1116, jeweils m.w.N.).<br />

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Das Berufungsgericht hat den Fehler des Beklagten zutreffend als Diagnosefehler qualifiziert. Nach der<br />

Rechtsprechung des erkennenden Senats darf ein Diagnoseirrtum nur dann als "grob" bezeichnet werden, wenn es<br />

sich um einen fundamentalen Diagnoseirrtum handelt (vgl. etwa Senatsurteile vom 10. 11.1987 - VI ZR 39/87 - VersR 1988, 293; vom 14. 07.1981 - VI ZR 35/79 -<br />

VersR 1981, 1033 und vom 14. 07.1992 - VI ZR 214/91 - VersR 1992, 1263). Eine fundamentale Fehldiagnose hat das Berufungsgericht auf der<br />

Grundlage der Ausführungen des medizinischen Sachverständigen rechtsfehlerfrei verneint.<br />

Die Einstufung eines ärztlichen Fehlverhaltens als grob richtet sich nach den gesamten Umständen des Einzelfalls,<br />

deren Würdigung weitgehend im tatrichterlichen Bereich liegt. Dem Revisionsgericht obliegt jedoch sowohl die<br />

Nachprüfung, ob das Berufungsgericht den Begriff des groben Behandlungsfehlers verkannt als auch ob es bei der<br />

Gewichtung dieses Fehlers erheblichen Prozessstoff außer Betracht gelassen oder verfahrensfehlerhaft gewürdigt hat<br />

(vgl. etwa Senatsurteile vom 28. 05.2002 - VI ZR 42/01 - aaO und vom 29. 05.2001 - VI ZR 120/00 - VersR 2001, 1030 m.w.N.). Dies ist hier - entgegen der Auffassung der<br />

Revision - nicht der Fall.<br />

b) Der Sachverständige hat die Diagnose als außerordentlich schwierig bezeichnet, ja sogar als das Schwierigste, was<br />

es in dem Fachbereich gebe, zumal hier Umstände vorgelegen hätten, die die Beurteilung zusätzlich besonders<br />

erschwerten. Bei der Gesamtbewertung müsse der Pathologe anhand seiner bisherigen Erfahrung letztlich eine<br />

subjektive Einordnung vornehmen. Selbst unter Experten lägen deshalb nach einer Studie die abweichenden<br />

Auffassungen bei über einem Drittel (nur 62 % übereinstimmende Auffassungen). Vor diesem Hintergrund hat der Sachverständige<br />

schriftlich und mündlich - auch bei seiner Anhörung durch das Berufungsgericht - mehrfach ausdrücklich geäußert, es<br />

könne nicht von einem schwerwiegenden Diagnosefehler gesprochen werden. Auf dieser Grundlage hat das<br />

Berufungsgericht rechtsfehlerfrei einen groben Behandlungsfehler verneint. Es ist dem Tatrichter nicht gestattet, ohne<br />

entsprechende Darlegung oder gar entgegen den medizinischen Ausführungen des Sachverständigen einen groben<br />

Behandlungsfehler aus eigener Wertung zu bejahen (vgl. etwa Senatsurteil vom 28. 05.2002 - VI ZR 42/01 - aaO, m.w.N.).<br />

c) Soweit die Revision ihrerseits aus Einzelaussagen des Sachverständigen - entgegen dessen Gesamtbeurteilung -<br />

eine abweichende Bewertung des Behandlungsfehlers als grob herleiten will, begibt sie sich auf das ihr verschlossene<br />

Gebiet tatrichterlicher Würdigung, ohne Verfahrensfehler aufzuzeigen.<br />

Die Revision meint insbesondere, das Berufungsgericht habe bei seiner Beurteilung nicht hinreichend berücksichtigt,<br />

dass der Beklagte den Tumor nicht lediglich als gutartig befundet, sondern zusätzlich ausgeführt habe, es bestehe kein<br />

Anhalt für ein invasives malignes Melanom, während der Sachverständige entsprechende Anhaltspunkte bejaht und<br />

sogar als eindeutig bezeichnet habe. Dann aber müsse der Ausschluss von Anhaltspunkten für ein malignes Melanom<br />

als grob fehlerhaft bewertet werden.<br />

Abgesehen davon, dass sich die Revision hiermit in unzulässiger Weise in Widerspruch setzt zu der auf der<br />

Gesamtbewertung des Sachverständigen beruhenden tatrichterlichen Würdigung des Berufungsgerichts,<br />

vernachlässigt sie bei ihrer Bewertung, dass der Sachverständige hinsichtlich des Vorliegens von Anhaltspunkten für<br />

eine Bösartigkeit in Anknüpfung an seine Ausführungen, die Bewertung unterliege stark der subjektiven Einschätzung<br />

und den Erfahrungen des Pathologen, ersichtlich von seiner eigenen, subjektiven Beurteilung der Gewebeprobe<br />

ausgegangen ist. Ausschlaggebend ist, dass er die abweichende Diagnose des Beklagten gerade nicht als einen<br />

Fehler bezeichnet hat, der aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheine. Da sich der Beklagte seiner<br />

Diagnose, es liege ein gutartiger (Spitz)Tumor vor, sicher war, kann aus seiner zusätzlichen Aussage, es bestehe kein<br />

Anhalt für ein invasives malignes Melanom sowie für eine andersartige Krebserkrankung der Haut oder der<br />

Hautanhangsgebilde im betroffenen Bereich, kein selbständiger fundamentaler Diagnosefehler hergeleitet werden.<br />

Soweit die Revision beanstandet, das Berufungsgericht habe die Beurteilung der Spontanblutung der Hautveränderung<br />

durch den Beklagten unzureichend gewürdigt, hat das Berufungsgericht auf der Grundlage der Ausführungen des<br />

Sachverständigen ohne Rechtsfehler auch hierin keinen groben Fehler des Beklagten gesehen.<br />

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat er diesen Umstand keineswegs ignoriert, sondern ihn vielmehr<br />

zum Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen mit dem behandelnden Arzt genommen. Der blutende Naevus war<br />

gerade der Grund für den Malignitätsverdacht des Dr. J. und die Übersendung der Gewebeprobe zur<br />

histopathologischen Untersuchung an den Beklagten. Der Beklagte hat diesen Verdacht nach dem Ergebnis seiner<br />

histopathologischen Untersuchung aber nicht bestätigt gesehen und deshalb Vermu tungen angestellt, dass die<br />

Blutung, die nach den Angaben des Sachverständigen auch bei gutartigen Tumoren vorkommen kann, auf andere<br />

Ursachen, etwa Manipulationen des Patienten an der Hautstelle, zurückzuführen sei. Auch diese Vermutung war<br />

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unmittelbare Folge des Umstandes, dass sich der Beklagte - wenn auch zu Unrecht - seiner Diagnose sicher war, was<br />

nach der rechtsfehlerfreien tatrichterlichen Würdigung des Berufungsgerichts - wie bereits ausgeführt - jedoch keinen<br />

groben Behandlungsfehler darstellt.<br />

2. Die Rüge der Revision, das Berufungsgericht habe das Unterlassen der Einholung einer zweiten Meinung<br />

rechtsfehlerhaft nicht als groben Behandlungsfehler angesehen, bleibt im Ergebnis ohne Erfolg.<br />

Der Sachverständige hatte sowohl in seinem schriftlichen Gutachten als auch bei seiner Anhörung vor dem Landgericht<br />

die Einholung eines Referenzgutachtens in solchen Fällen zunächst nicht als medizinischen Standard bezeichnet. Erst<br />

bei seiner Anhörung vor dem Berufungsgericht hat er sich auf dessen nachdrückliches Befragen dahin geäußert, dass<br />

das Unterlassen der Einholung einer zweiten Meinung im Streitfall "so gesehen" pflichtwidrig gewesen sei, was das<br />

Berufungsgericht dann als standardwidrig gewürdigt hat.<br />

Es mag fraglich sein, ob es in (objektiv) zweifelhaften Fällen tatsächlich Aufgabe des eingeschalteten Pathologen sein<br />

könnte, sich vor endgültiger Diagnosestellung der Richtigkeit seines Ergebnisses durch Einholung einer zweiten<br />

Meinung eines Kollegen zu versichern. Vorliegend kann dies dahinstehen, weil hierin nach der im Revisionsverfahren<br />

nicht angreifbaren tatrichterlichen Würdigung des Berufungsgerichts jedenfalls kein grober Fehler liegt. Dies gilt auch,<br />

soweit es der Beklagte unterlassen hat, den behandelnden Arzt und den Patienten auf deren Möglichkeit zur Einholung<br />

einer Zweitbegutachtung hinzuweisen, zumal diese Möglichkeit nach den Feststellungen des Berufungsge richts<br />

aufgrund der Diskussionen zwischen dem Beklagten und dem behandelnden Arzt auf der Hand lag und deshalb keiner<br />

besonderen Anregung des Beklagten bedurfte.<br />

3. Soweit das Berufungsgericht in Erwägung zieht und deshalb die Revision zugelassen hat, ob die fehlende Einholung<br />

einer zweiten Meinung unter dem Aspekt einer unterlassenen Befunderhebung eine Beweislastumkehr rechtfertigen<br />

kann, stellt sich diese Frage nach Lage des Falles selbst dann nicht, wenn von einer entsprechenden Verpflichtung des<br />

Pathologen auszugehen wäre.<br />

a) Zwar kann nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats auch unterhalb der Schwelle zum groben<br />

Behandlungsfehler bei der Unterlassung der Erhebung und/oder Sicherung medizinisch gebotener Befunde für den<br />

Patienten eine Beweiserleichterung eingreifen, wenn der Patient beweist, dass die Befunderhebung mit hinreichender<br />

Wahrscheinlichkeit ein positives und deshalb aus medizinischer Sicht reaktionspflichtiges Ergebnis gehabt hätte und<br />

das Unterlassen der Reaktion hierauf als grober Fehler, sei es als fundamentaler Diagnose- sei es als grober<br />

Behandlungsfehler zu bewerten wäre (vgl. Senatsurteile BGHZ 159, 48, 56; 138, 1, 4; 132, 47, 52; vom 23. 03.2004 - VI ZR 428/02 - VersR 2004, 790, vom 29. 05.2001 - VI ZR<br />

120/00 - aaO, 1030; vom 6. 07.1999 - VI ZR 290/98 - VersR 1999, 1282; vom 3. 11.1998 - VI ZR 253/97 - VersR 1999, 231; vom 6. 10.1998 - VI ZR 239/97 - VersR 1999, 60; vom 27. 01.1998 - VI ZR 339/96 -<br />

VersR 1998, 585 und vom 21. 11.1995 - VI ZR 341/94 - VersR 1996, 330). Diese Rechtsprechung ist jedoch auf den Streitfall weder unmittelbar noch<br />

entsprechend anwendbar.<br />

b) Dabei kann offen bleiben, ob der Auffassung des Berufungsgerichts, bei der Anwendung dieser Grundsätze sei<br />

"sorgfältig" zu unterscheiden zwi schen dem Unterlassen der Befunderhebung an sich und dem Unterlassen einer<br />

einzelnen Befunderhebungsmaßnahme, in dieser Allgemeinheit beigetreten werden könnte. Das erscheint eher<br />

zweifelhaft, weil sowohl in den Fällen der unvollständigen als auch der fehlerhaften Befunderhebung die aus<br />

medizinischer Sicht gebotene (ordnungsgemäße) Befunderhebung unterblieben ist (vgl. Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl., Rn. B 296).<br />

Selbst wenn es zu den Obliegenheiten des Pathologen gehören würde, sich in zweifelhaften Fällen von der Richtigkeit<br />

seines Ergebnisses durch Einholung einer zweiten Meinung zu überzeugen, läge in dem Unterlassen keine<br />

Nichterhebung eines Kontrollbefundes im Sinne der vorgenannten Senatsrechtsprechung. Vielmehr handelt es sich<br />

nach den eigenen Feststellungen und der insoweit zutreffenden rechtlichen Würdigung des Berufungsgerichts um<br />

einen Diagnoseirrtum aufgrund fehlerhafter Bewertung eines ansonsten vollständig erhobenen Befundes.<br />

III.<br />

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 97 Abs. 1, 100 Abs. 1 ZPO.<br />

Müller Greiner Wellner Pauge Zoll<br />

Vorinst.:LG Köln, Entscheidung vom 02.03.2005 - 25 O 115/00 -<br />

OLG Köln, Entscheidung vom 13.02.2006 - 5 U 54/05 -<br />

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LG München vom 26.07.2006<br />

Strafrechtliche Verurteilung eines Frauenarztes, der eine Narkose mit tödlichem Ausgang neben der Operation<br />

selber durchführte.<br />

Nach der Gebrauchsinfirmation des Herstellers und den Regeln der ärztlichen Kunst dürfen die Sedierung mit<br />

Propofol und die durchführung der diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen nicht durch dieselbe Person<br />

erfolgen.<br />

OLG Koblenz vom 20.07.2006<br />

Ein EKG wurde vor dem Eingriff nicht ausreichend betrachet, der Patient verstarb an einem Herzinfarkt.<br />

Präopertive EKG Befundung müssen Anästhesist und Operateur ggfs. erneut vornehmen. Beide wurden verurteilt.<br />

Thöns BGH VI ZR 323/04 vom 13. 06.2006<br />

Zur Anwendung einer neuen medizinischen Behandlungsmethode und zum Umfang der hierfür erforderlichen<br />

Aufklärung des Patienten.<br />

BGB § 823 Aa<br />

BGH, Urteil vom 13. 06.2006 - VI ZR 323/04 - OLG Frankfurt a.M.<br />

LG Frankfurt a.M.<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 13. 06.2006 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr<br />

für Recht erkannt:<br />

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 7.<br />

12.2004 wird zurückgewiesen.<br />

Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Klägerin verlangt von den Beklagten Schadensersatz wegen einer nach ihrer Behauptung fehlerhaft und ohne die<br />

erforderliche Aufklärung durchgeführten ärztlichen Behandlung in der Klinik des Beklagten zu 1, deren ärztlicher<br />

Direktor der Beklagte zu 2 war. Im 09.1995 implantierte der Beklagte zu 3 der Klägerin mit Hilfe eines<br />

computerunterstützten Fräsverfahrens (Robodoc) eine zementfreie Hüftgelenksendoprothese. Die Operation dauerte 5 ½<br />

Stunden. Die Prothese wurde exakt implantiert. Bei der Operation wurde ein Nerv der Klägerin geschädigt. Sie leidet<br />

seither unter Beeinträchtigungen der Bein- und Fußfunktion. Die Vorinstanzen haben sowohl einen Behandlungsfehler<br />

als auch einen Aufklärungsfehler verneint und die Klage abgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen<br />

Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

Das Berufungsgericht, dessen Urteil u.a. in NJWRR 2005, 173 veröffentlicht ist, hat ausgeführt:<br />

Die Klägerin habe einen Behandlungsfehler nicht nachweisen können. Die Anwendung der RobodocMethode als<br />

solche stelle keinen Arztfehler dar. Die behandelnden Ärzte seien berechtigt gewesen, der Klägerin das Verfahren trotz<br />

seiner Neuheit und der damit verbundenen Risiken vorzuschlagen, da es dem herkömmlichen manuellen Verfahren bei<br />

Abwägung der Vor- und Nachteile nicht unterlegen gewesen sei und das OperationsTeam der Klinik aus besonders<br />

trainierten Ärzten bestanden habe, so dass die Komplikationsrate hier niedriger gewesen sei als in anderen<br />

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Krankenhäusern. Auch ein konkreter Behandlungsfehler sei nicht nachgewiesen. Das Auftreten eines Nervschadens,<br />

wie er bei der Klägerin in Form einer Schädigung des Nervus ischiadicus eingetreten sei, stelle kein Indiz für einen<br />

Operationsfehler dar. Der Sachverständige Prof. St. habe ausgeführt, dass beim Einsetzen einer neuen Hüftpfanne<br />

wegen der engen räumlichen Verhältnisse die Möglichkeit der Überdehnung des Nervs bestehe, welche der Operateur<br />

nicht in jedem Fall vermeiden könne. Die Dauer des Eingriffs von 5 ½ Stunden sei nach den Ausführungen des<br />

Sachverständigen ebenfalls kein Anzeichen eines Behandlungsfehlers. Im Übrigen habe der Sachverständige<br />

festgestellt, dass die Operationsdauer auf die Entstehung eines Nervschadens keinen Einfluss habe. Demnach könne<br />

aus der langen Dauer des Eingriffs nicht auf Fehler der Operateure geschlossen werden. Unter diesen Umständen<br />

komme es nicht darauf an, ob die Beweislast durch etwaige Dokumentationsmängel auf die Beklagten verlagert worden<br />

sei.<br />

Ein Aufklärungsmangel liege ebenfalls nicht vor. Stünden mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte<br />

Behandlungsmethoden zur Verfügung, die unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen aufwiesen, bestehe also eine<br />

echte Wahlmöglichkeit für den Patienten, müsse diesem durch entsprechende vollständige ärztliche Belehrung die<br />

Entscheidung darüber überlassen bleiben, auf welchem Weg die Behandlung erfolgen solle und auf welches Risiko er<br />

sich einlassen wolle. Nach diesen Kriterien sei die Klägerin über die verschiedenen Operationsmethoden, nämlich das<br />

herkömmliche Verfahren mit manueller Technik einerseits und das robotergestützte Vorgehen andererseits aufzuklären<br />

gewesen. Dies habe hier bereits deswegen zu gelten, weil das robotergestützte Vorgehen eine Methode gewesen sei,<br />

die im Zeitpunkt des Eingriffs im Jahre 1995 noch nicht allgemein etabliert gewesen sei. Im Streitfall sei eine solche<br />

Information der Patientin nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in ausreichendem Maße erfolgt. Insbesondere sei<br />

der Klägerin auch mitgeteilt worden, dass es sich um eine neue Operationsmethode gehandelt habe.<br />

II.<br />

Die Revision hat keinen Erfolg.<br />

1. Sie wendet sich nicht gegen die nach sachverständiger Beratung getroffene Feststellung des Berufungsgerichts,<br />

dass die Anwendung des "Robodoc" genannten computerunterstützten Fräsverfahrens als solches keinen<br />

Behandlungsfehler darstellt. Hiergegen ist auch aus revisionsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern. Insbesondere hat das<br />

Berufungsgericht bedacht, dass die Anwendung einer neuen Behandlungsmethode nur dann erfolgen darf, wenn die<br />

verantwortliche medizinische Abwägung und ein Vergleich der zu erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer<br />

abzusehenden und zu vermutenden Nachteile mit der standardgemäßen Behandlung unter Berücksichtigung des<br />

Wohles des Patienten die Anwendung der neuen Methode rechtfertigt (vgl. Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., Rn. 484, 486, 511, 673, 690, 393; ders. in:<br />

Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 130 Rn. 23 m.w.N.; Siebert, MedR 1983, 216, 219). Anhaltspunkte für eine in diesem Sinne fehlerhafte oder<br />

ungenügende Abwägung durch die Behandlungsseite sind von der Revision nicht dargelegt worden. Soweit sie neue<br />

Tatsachen dazu vorträgt, dass es sich bei der Anwendung des RobodocVerfahrens seinerzeit um eine experimentelle<br />

Methode gehandelt habe, kann ihr Vorbringen im Revisionsrechtszug keine Berücksichtigung finden.<br />

2. Auch einen Behandlungsfehler bei der Durchführung der Operation hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler<br />

verneint.<br />

a) Das Berufungsgericht erachtet es - sachverständig beraten - als erwiesen, dass dem Beklagten zu 3 als Operateur<br />

kein Fehler unterlaufen ist. Die hiergegen gerichteten Angriffe der Revision bleiben ohne Erfolg. Insbesondere ist aus<br />

Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht aus der langen Operationsdauer nicht auf ein<br />

behandlungsfehlerhaftes Vorgehen des Beklagten zu 3 geschlossen hat.<br />

Die Dauer der Operation von 5 ½ Stunden hat das Berufungsgericht im Hinblick auf das angewendete Verfahren und<br />

den dokumentierten Ablauf des Eingriffs in nachvollziehbarer Weise nicht beanstandet. Die Operationsdauer<br />

beim roboterassistierten Verfahren werde bereits allein aufgrund des Einsatzes des RobodocSystems durch die<br />

Installation der Geräte, das Ausmessen und die Datenermittlung verlängert. 5 ½ Stunden könnten nach den<br />

Ausführungen des Sachverständigen Prof. St. durchaus erforderlich sein. Im Fall der Klägerin habe noch eine<br />

Pfannendachplastik hergestellt werden müssen, was zusätzliche Zeit benötige. Aus dem Operationsbericht ergebe sich<br />

außerdem, dass wegen des verkürzten Schenkelhalses und der Subluxationsstellung im Hüftgelenk eine Darstellung<br />

des Nervus ischiadicus notwendig erschienen sei. Es sei hinzugekommen, dass bei der Klägerin eine fast 15 cm dicke<br />

Fettgewebeschicht habe durchtrennt werden müssen. Beide Maßnahmen erforderten erfahrungsgemäß zusätzlich Zeit.<br />

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Mit ihren hiergegen gerichteten Angriffen begibt sich die Revision in unzulässiger Weise auf das Gebiet tatrichterlicher<br />

Beweiswürdigung. Der Sachverständige hat auch unter Berücksichtigung der Dauer der Operation keinen Anhaltspunkt<br />

für einen Behandlungsfehler gesehen. Bei dieser Sachlage bestand für das Berufungsgericht kein Anlass, der Frage<br />

nach den Gründen für die Dauer der Operation noch intensiver nachzugehen (vgl. auch Senatsurteil vom 9. 11.1993 - VI ZR 248/92 - VersR 1994, 682,<br />

683). Andere Anhaltspunkte für einen Behandlungsfehler als die Dauer der Operation zeigt die Revision nicht auf.<br />

b) Da das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht angreifbarer Weise die Dauer der Operation nicht als Anzeichen<br />

für einen Behandlungsfehler gewertet hat, kommt es nicht darauf an, ob aufgrund etwaiger Dokumentationsmängel die<br />

Beweislast auf die Beklagten verlagert worden ist. Auch die Angriffe der Revision gegen die - hilfsweisen -<br />

Ausführungen des Berufungsgerichts, der Sachverständige habe im Übrigen festgestellt, dass die Operationsdauer auf<br />

die Entstehung des Nervschadens keinen Einfluss gehabt habe, bleiben ohne Erfolg. Ob die Dauer der Operation für<br />

eine Nervschädigung kausal sein kann, ist<br />

unerheblich, wenn die lange Operationsdauer - wie hier - nicht auf einem Behandlungsfehler beruht.<br />

3. Auch die Begründung, mit der das Berufungsgericht einen Aufklärungsfehler verneint, hält den Angriffen der<br />

Revision - jedenfalls im Ergebnis - stand.<br />

a) Die Revision nimmt die Auffassung des Berufungsgerichts, die Patientin habe über beide Operationsmethoden<br />

aufgeklärt werden müssen, als ihr günstig hin; sie meint aber, die Klägerin sei nicht ausreichend über die Risiken der<br />

neuen Methode aufgeklärt worden, insbesondere nicht über das höhere Risiko einer Nervschädigung infolge einer<br />

längeren Operationsdauer.<br />

aa) Zutreffend hat das Berufungsgericht eine Verpflichtung der Beklagten zur Aufklärung darüber bejaht, dass zwei<br />

Behandlungsalternativen zur Verfügung standen, wovon eine seinerzeit ein Neulandverfahren war. Nach der<br />

Rechtsprechung des erkennenden Senats ist die Wahl der Behandlungsmethode zwar primär Sache des Arztes<br />

(Senatsurteile BGHZ 102, 17, 22; 106, 153, 157; vom 11. 05.1982 - VI ZR 171/80 - VersR 1982, 771, 772; vom 24. 11.1987 - VI ZR 65/87 - VersR 1988, 190, 191 und vom 15. 03.2005 - VI ZR 313/03 - VersR<br />

2005, 836; OLG Zweibrücken, OLGR 2001, 79, 81 mit NABeschluss des Senats vom 19. 12.2000 - VI ZR 171/00 ; OLG Karlsruhe, MedR 2003, 229, 230). Die Wahrung des<br />

Selbstbestimmungsrechts des Patienten erfordert aber eine Unterrichtung über eine alternative<br />

Behandlungsmöglichkeit, wenn für eine medizinisch sinnvolle und indizierte Therapie mehrere gleichwertige<br />

Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen<br />

oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten (Senatsurteile BGHZ 102, 17, 22; 106, 153, 157; vom 14. 09.2004 - VI ZR 186/03 - VersR 2005, 227; vom<br />

15. 03.2005 - VI ZR 313/03 - aaO; Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 331 f.; MünchKommBGB/Wagner, 4. Aufl., § 823 Rn. 707 f.; Staudinger/Hager, BGB, 13. Bearbeitung [1999], § 823, Rn. I 92 m.w.N.).<br />

Dass danach im Streitfall die Pflicht zur Aufklärung über die alternativen Möglichkeiten der manuellen bzw.<br />

computergestützten Operation bestand, hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler bejaht. Auch die Feststellung des<br />

Berufungsgerichts, die Klägerin sei über die damals bekannten Vor- und Nachteile der Behandlungsmethoden<br />

ordnungsgemäß aufgeklärt worden, ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, insbesondere unter<br />

Berücksichtigung dessen, dass der Patient auch bei Anwendung einer neuen Behandlungsmethode wie sonst nur "im<br />

großen und ganzen" über Chancen und Risiken der Behandlung aufgeklärt werden muss (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsurteile BGHZ<br />

90, 103, 106; 144, 1, 7 und vom 7. 04.1992 - VI ZR 192/91 - VersR 1992, 960, 961). Soweit die Revision gegen die Feststellungen zum Umfang der<br />

erteilten Aufklärung Verfahrensrügen erhebt, hat der Senat diese geprüft und für nicht durchgreifend erachtet (§ 564 ZPO).<br />

Gleichwohl war die der Patientin erteilte Aufklärung nicht in jeder Hinsicht ausreichend.<br />

bb) Bei standardgemäßer Behandlung sind allgemeine Überlegungen dazu, dass der Eintritt bislang unbekannter<br />

Komplikationen in der Medizin nie ganz auszuschließen ist, für die Entscheidungsfindung des Patienten nicht von<br />

Bedeutung. Sie würden ihn im Einzelfall sogar nur unnötig verwirren und beunruhigen (Senatsurteil vom 12. 12.1989 - VI ZR 83/89 - 1990, 522,<br />

523). Im Falle des computerunterstützten Fräsverfahren Robodoc bei Implantation einer Hüftgelenksendoprothese<br />

handelte es sich jedoch 1995 um eine neue Operationsmethode. Die Methode wurde 1992 erstmals in den USA<br />

klinisch erprobt. Bei dem Beklagten zu 1 war Robodoc erst seit 1994 im Einsatz. Das Verfahren ist nach den<br />

Feststellungen des Berufungsgerichts bis heute umstritten. Will der Arzt aber keine allseits anerkannte<br />

Standardmethode, sondern eine - wie im Streitfall - relativ neue und noch nicht allgemein eingeführte Methode mit<br />

neuen, noch nicht abschließend geklärten Risiken anwenden, so hat er den Patienten nach der Rechtsprechung der<br />

Instanzgerichte auch darüber aufzuklären und darauf hinzuweisen, dass unbekannte Risiken derzeit nicht<br />

auszuschließen sind (vgl. OLG Celle, VersR 1992, 749 f.; OLG Köln, NJWRR 1992, 986, 987; OLG Oldenburg, VersR 1997, 491; OLG Zweibrücken, aaO; OLG Bremen, OLGR 2004, 320, 321<br />

f.; OLG Karlsruhe, VersR 2004, 244, 245; OLG Düsseldorf, VersR 2004, 386; Frahm/Nixdorf, Arzthaftungsrecht, 3. Aufl, Rn. 185; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl., C, Rn. 39; Steffen/Dressler,<br />

Arzthaftungsrecht, 9. Aufl., Rn. 387; vgl. auch Katzenmeier, aaO, S. 312; MünchKommBGB/Wagner, aaO, § 823 Rn. 710). Der erkennende Senat teilt diese Auffassung.<br />

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Die Anwendung neuer Verfahren ist für den medizinischen Fortschritt zwar unerlässlich. Am Patienten dürfen sie aber<br />

nur dann angewandt werden, wenn diesem zuvor unmissverständlich verdeutlicht wurde, dass die neue Methode die<br />

Möglichkeit unbekannter Risiken birgt. Der Patient muss in die Lage versetzt werden, für sich sorgfältig abzuwägen, ob<br />

er sich nach der herkömmlichen Methode mit bekannten Risiken operieren lassen möchte oder nach der neuen<br />

Methode unter besonderer Berücksichtigung der in Aussicht gestellten Vorteile und der noch nicht in jeder Hinsicht<br />

bekannten Gefahren. Hiernach hätte es zumindest eines ausdrücklichen Hinweises auf die Möglichkeit noch nicht<br />

bekannter Risiken bedurft, der der Klägerin nach den getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht erteilt<br />

worden ist.<br />

b) Soweit die Klägerin darüber hinaus geltend macht, sie hätte auch darüber aufgeklärt werden müssen, dass die<br />

längere Dauer der Operation das Risiko einer Nervschädigung erhöhe, betrifft auch dies den Umfang der Aufklärung<br />

bei einer Neulandmethode. Ob ein Hinweis auf ein solches Risiko erforderlich gewesen wäre, bedarf im Streitfall keiner<br />

abschließenden Beurteilung.<br />

Im Allgemeinen besteht eine Aufklärungspflicht nur dann, wenn ernsthafte Stimmen in der medizinischen Wissenschaft<br />

auf bestimmte mit einer Behandlung verbundene Gefahren hinweisen, die nicht lediglich als unbeachtliche<br />

Außenseitermeinungen abgetan werden können, sondern als gewichtige Warnungen angesehen werden müssen<br />

(Senatsurteile vom 12. 12.1989 - VI ZR 83/89 - VersR 1990, 522, 523 und vom 21. 11.1995 - VI ZR 329/94 - VersR 1996, 233 m.w.N.; OLG Oldenburg, VersR 2006, 517 mit NZBBeschluss des Senats vom 31.<br />

01.2006 - VI ZR 87/05 - aaO; Geiß/Greiner, aaO, Rn. 46; Steffen/Dressler, aaO, Rn. 391). Bei einer Neulandmethode können zum Schutz des Patienten je<br />

nach Lage des Falles strengere Anforderungen gelten. Auch hier ist allerdings nicht über bloße Vermutungen<br />

aufzuklären. Etwas anderes kann aber gelten, wenn diese sich so weit verdichtet haben, dass sie zum Schutz des<br />

Patienten in dessen Entscheidungsfindung einbezogen werden sollten.<br />

Derart konkrete Vermutungen hat das Berufungsgericht im Streitfall nicht festgestellt. Nach den verfahrensfehlerfreien<br />

Feststellungen existierten zum damaligen Zeitpunkt noch keine repräsentativen wissenschaftlichen Studien, die<br />

verlässliche Vergleiche der beiden Methoden erlaubt hätten. Das von der Revision herangezogene und vom<br />

Berufungsgericht berücksichtigte Gutachten Dr. Sch. stammt aus dem Jahre 2004. Nach den insoweit nicht<br />

angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Sachverständige in diesem Gutachten sämtliche<br />

verfügbaren Publikationen zum RobodocVerfahren ausgewertet. Zwar zeigt eine der ausgewerteten und vom<br />

Berufungsgericht berücksichtigten Studien eine höhere Komplikationsrate hinsichtlich von Nervschädigungen bei<br />

Robodoc im Vergleich zu der manuellen Implantation. Diese Studie stammt jedoch erst aus dem Jahr 2003. Der<br />

Sachverständige Prof. St. hat allerdings in seiner mündlichen Anhörung vor dem Berufungsgericht bekundet, dass<br />

Kritiker des Verfahrens im Jahre 1995 nicht begründete Vermutungen geäußert hätten. Über den Inhalt dieser<br />

Vermutungen ist aber nichts mitgeteilt. Insbesondere ist nichts dafür ersichtlich, dass sich diese auf einen möglichen<br />

Zusammenhang zwischen Operationsdauer und Nervschädigung bezogen hätten. Tatrichterlicher Feststellungen über<br />

den Inhalt oder die Tragweite dieser Vermutungen bedarf es im Streitfall nicht, weil sich das angefochtene Urteil aus<br />

einem anderen Grund als richtig erweist.<br />

c) Die oben erörterten Mängel der Aufklärung wirken sich nämlich unter den besonderen Umständen des Streitfalles<br />

nicht aus, weil sich mit der Nervschädigung ein Risiko verwirklicht hat, über das die Klägerin vollständig - wenn auch im<br />

Zusammenhang mit der herkömmlichen Operationsmethode - aufgeklärt worden ist. Nach den vom Berufungsgericht<br />

getroffenen Feststellungen hat der Zeuge Dr. S. der Klägerin im Einzelnen erklärt, welche Nerven bei der Operation<br />

geschädigt werden könnten und wie sich dies auswirke. Er hat dargestellt, dass die Bewegung und Belastung der<br />

Beine betroffen sein könne, dass es zu Verrenkungen des Gelenks kommen könne und dass auch die Streckung des<br />

Knies beeinträchtigt werden könne, je nachdem welcher Nerv geschädigt werde. Auch die Zeugin C., damals<br />

Stationsärztin bei dem Beklagten zu 1, hat die Klägerin bei einem erneuten Aufklärungsgespräch zwei Tage vor der<br />

Operation auf die Gefahr einer Nervschädigung hingewiesen. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats<br />

kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob auch über andere - hier möglicherweise noch unbekannte - Risiken, die<br />

sich nicht verwirklicht haben, hätte aufgeklärt werden müssen, wenn sich (nur) ein Risiko verwirklicht, über das aufgeklärt<br />

werden musste und über das auch tatsächlich aufgeklärt worden ist. Denn die Klägerin hat in Kenntnis des später<br />

verwirklichten Risikos ihre Einwilligung gegeben. Hat der Patient bei seiner Einwilligung das später eingetretene Risiko<br />

in Kauf genommen, so kann er bei wertender Betrachtungsweise nach dem Schutzzweck der Aufklärungspflicht aus<br />

der Verwirklichung dieses Risikos keine Haftung herleiten (Senatsurteile<br />

BGHZ 144, 1, 7 f.; vom 12. 03.1991 - VI ZR 232/90 - VersR 1991, 777, 779 und vom 30. 01.2001 - VI ZR 353/99 - VersR 2001, 592; Frahm/Nixdorf, aaO, Rn. 205; Geiß/Greiner, aaO, Rn. 157;<br />

MünchKommBGB/Wagner, aaO, § 823, Rn. 725; Steffen/Dressler, aaO, Rn. 450a).<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 138


III.<br />

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.<br />

Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr<br />

Vorinst.:LG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 29.08.2003 - 2/21 O 362/98 -<br />

OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 07.12.2004 - 8 U 194/03 –<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 48/06 Vom 14.11.2006<br />

a) In den Schutzbereich eines auf Schwangerschaftsverhütung gerichteten Vertrages zwischen Arzt und<br />

Patientin ist nicht nur ein ehelicher, sondern auch der jeweilige nichteheliche Partner einbezogen, der vom<br />

Fehlschlagen der Verhütung betroffen ist. b) Eine Ersatzpflicht des Arztes besteht in derartigen Fällen auch<br />

dann, wenn die gegenwärtige berufliche und wirtschaftliche Planung der Mutter durchkreuzt wird und die<br />

zukünftige Planung nicht endgültig absehbar ist; einer abgeschlossenen Familienplanung in dem Sinne, dass<br />

auch die hypothetische Möglichkeit eines späteren Kinderwunsches völlig ausgeschlossen sein muss, bedarf<br />

es nicht. c) Der Tatrichter darf bei der Bemessung des Betreuungsunterhaltsschadens einen Zuschlag in Höhe<br />

des Barunterhaltsschadens (135 % des Regelsatzes der RegelbetragVerordnung) als angemessenen Schadensausgleich ansehen,<br />

sofern nicht die Umstände des Falles eine abweichende Bewertung nahe legen. Der Patient obsiegte.<br />

BGB § 280 Abs. 1, § 328 ZPO § 287<br />

BGH, Urteil vom 14. 11.2006 - VI ZR 48/06 - OLG Karlsruhe<br />

LG WaldshutTiengen<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 14. 11.2006 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Wellner, die Richterin Diederichsen und die Richter Stöhr und Zoll<br />

für Recht erkannt:<br />

Die Revision gegen das Urteil des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 1. 02.2006 wird auf Kosten<br />

des Beklagten zurückgewiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Klägerin ist Mutter eines im 12.2002 geborenen gesunden Sohnes. Sie verlangt von ihrem Gynäkologen, dem<br />

Beklagten, aus eigenem und aus abgetretenem Recht des Vaters Ersatz des den Eltern durch die<br />

Unterhaltsverpflichtung entstandenen und noch entstehenden Schadens.<br />

Der Beklagte hatte es übernommen, der Klägerin im 01.2002 das lang wirkende Verhütungsmittel "Implanon" zu<br />

verabreichen. Bei diesem Präparat handelt es sich um ein circa 3 mm starkes und wenige Zentimeter langes<br />

Plastikröhrchen, welches oberhalb der Ellenbogenbeuge unter die Haut eingebracht wird. Der Beklagte hat die<br />

Behandlung abgerechnet, die Klägerin hat sie<br />

bezahlt. Im 07.2002 stellte der Beklagte bei der Klägerin eine Schwangerschaft in der 16. Woche fest. Das<br />

"Implanon"Implantat konnte nicht mehr gefunden werden. Der Wirkstoff des "Implanons" konnte im Blut der Klägerin<br />

nicht nachgewiesen werden.<br />

Die Klägerin konnte wegen der Schwangerschaft und der Betreuung des Kindes eine ihr zugesagte Arbeitsstelle nicht<br />

antreten. Der Vater des Kindes, den die Klägerin im Zeitpunkt der Zeugung etwa seit einem halben Jahr kannte, hat die<br />

Vaterschaft anerkannt, lebt aber nicht mit der Klägerin zusammen. Er kommt seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem<br />

gemeinsamen Sohn nach.<br />

Die Klägerin hat geltend gemacht, dem Beklagten sei beim Einsetzen des Verhütungsmittels ein Behandlungsfehler<br />

unterlaufen, so dass er hinsichtlich der nunmehr bestehenden Unterhaltsverpflichtung ersatzpflichtig sei. Das<br />

Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat den Beklagten verurteilt, an die Klägerin<br />

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Unterhaltsschadensersatz in Höhe von 14.082 € für den zurück liegenden Zeitraum (12.2002 bis 12.2005) und bis zum Eintritt<br />

der Volljährigkeit des Sohnes monatlich im Voraus in Höhe von 270 % des Regelbetrages der jeweiligen Altersstufe der<br />

Regelbetragsverordnung abzüglich des jeweiligen gesamten Kindergeldes zu bezahlen.<br />

Dagegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision des Beklagten, mit der er sein Ziel einer<br />

Klageabweisung weiter verfolgt.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

Das Berufungsgericht, dessen Urteil veröffentlicht ist (u. a. VersR 2006, 936 und NJW 2006, 1006), bejaht einen Behandlungsfehler des<br />

Beklagten und<br />

ist der Ansicht, in den Schutzbereich eines auf Schwangerschaftsverhütung gerichteten Vertrages zwischen Arzt und<br />

Patientin sei auch der gegenwärtige Partner einer ungefestigten Partnerschaft einbezogen. Eine den Arzt zum<br />

Schadensersatz verpflichtende fehlgeschlagene Familienplanung sei - entgegen der Auffassung des Landgerichts -<br />

auch dann denkbar, wenn die gegenwärtige Planung durchkreuzt werde und die zukünftige Planung endgültig noch gar<br />

nicht absehbar sei. Hinsichtlich der Schadenshöhe seien in derartigen Fällen für den Barunterhalt 135 % der<br />

Regelbetragsverordnung anzusetzen, zusätzlich sei Ersatz für den Betreuungsunterhalt zu leisten, dessentwegen eine<br />

pauschale Verdoppelung des Baraufwandes geboten sei.<br />

II.<br />

Dagegen wendet sich die Revision ohne Erfolg.<br />

1. Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats sind - außerhalb der Fallgestaltungen, die aufgrund<br />

ärztlicher Fehler nicht durchgeführte bzw. fehlgeschlagene Schwangerschaftsabbrüche betreffen (vgl. dazu etwa Senatsurteile BGHZ<br />

129, 178, 181 ff.; 143, 389, 393 ff.) - die mit der Geburt eines nicht gewollten Kindes für die Eltern verbundenen wirtschaftlichen<br />

Belastungen, insbesondere die Aufwendungen für dessen Unterhalt, als ersatzpflichtiger Schaden auszugleichen,<br />

wenn der Schutz vor solchen Belastungen Gegenstand des jeweiligen Behandlungs- oder Beratungsvertrages war.<br />

Diese - am Vertragszweck ausgerichtete - Haftung des Arztes oder Krankenhausträgers hat der Senat insbesondere<br />

bejaht für Fälle fehlgeschlagener Sterilisation aus Gründen der Familienplanung (vgl. BGHZ 76, 259, 262; Senatsurteile vom 2. 12.1980 - VI ZR<br />

175/78 - VersR 1981, 278; vom 10. 03.1981 - VI ZR 202/79 - VersR 1981, 730; vom 19. 06.1984 - VI ZR 76/83 - VersR 1984, 864; vom 27. 06.1995 - VI ZR 32/94 - VersR 1995, 1099, 1101), bei feh<br />

lerhafter Beratung über die Sicherheit der empfängnisverhütenden Wirkungen eines vom Arzt verordneten<br />

Hormonpräparates (Senatsurteil vom 3. 06.1997 - VI ZR 133/96 - VersR 1997, 1422 f.) sowie für Fälle fehlerhafter genetischer Beratung vor<br />

Zeugung eines genetisch behinderten Kindes (BGHZ 124, 128 ff.). Diese Rechtsprechung des Senats hat das<br />

Bundesverfassungsgericht mit Beschluss des Ersten Senats vom 12. 11.1997 als verfassungsrechtlich unbedenklich<br />

erachtet (BVerfGE 96, 375, 397 ff.).<br />

Der Streitfall gehört zu diesen Fallgruppen. Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des<br />

Berufungsgerichts war der zwischen den Parteien geschlossene Behandlungsvertrag darauf gerichtet, der Klägerin das<br />

Mittel "Implanon" zu verabreichen. Einziger Zweck dieser Maßnahme konnte ersichtlich nur die Verhütung einer<br />

Schwangerschaft bei der Klägerin sein. Dieser Zweck wurde nicht erreicht, weil dem Beklagten nach den - insoweit von<br />

der Revision nicht angegriffenen - Feststellungen des Berufungsgerichts ein Behandlungsfehler unterlaufen ist, der als<br />

kausal für die Schwangerschaft anzusehen ist, weil das Präparat bei ordnungsgemäßer Einlage eine volle<br />

kontrazeptive Sicherheit gewährt und die Versagerrate vom Arbeitskreis Lakon (Langzeitkontrazeption) mit Null angegeben wird.<br />

Die Feststellung des Berufungsgerichts, die fehlgeschlagene Verhütungsmaßnahme habe bezweckt, die Klägerin, auch<br />

angesichts ihrer beruflichen Situation, vor einer unerwünschten Unterhaltsbelastung zu schützen, wird von der Revision<br />

nicht angegriffen; dies liegt bei der gegebenen Sachlage auch auf der Hand. Im Übrigen muss die Vermeidung der<br />

wirtschaftlichen Belastung nicht unbedingt im Vordergrund stehen (vgl. Senatsurteile BGHZ 124, 128, 138; 143, 389, 394).<br />

Eine Haftung des Beklagten nach den dargestellten Maßstäben kommt danach grundsätzlich in Betracht.<br />

2. Die Revision macht geltend, die Klägerin habe einen eigenen Unterhaltsschaden nicht ausreichend dargelegt, weil<br />

nach ihrem Vortrag nicht von einer abgeschlossenen Familienplanung ausgegangen werden könne. Dem kann nicht<br />

gefolgt werden.<br />

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Zum einen hat die Klägerin - worauf die Revisionserwiderung mit Recht hinweist - in erster und zweiter Instanz<br />

vorgetragen, sie habe den Eingriff, der auf eine langjährige Verhütung angelegt war, vornehmen lassen, weil sie kein<br />

Kind gewollt habe.<br />

Zum anderen ist die Haftung des Arztes nach den dargestellten Grundsätzen nicht davon abhängig, dass die<br />

Familienplanung der Eltern oder eines Elternteils "abgeschlossen" ist in dem Sinne, dass auch die hypothetische<br />

Möglichkeit eines späteren Kinderwunsches, etwa nach beruflicher Konsolidierung und mit einem anderen Partner,<br />

völlig ausgeschlossen werden muss. Zwar hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 18. 03.1980 (BGHZ 76, 259, 265)<br />

beiläufig ausgeführt, in den nicht seltenen Fällen, in denen ein junges Ehepaar - etwa um zunächst die wirtschaftlichen<br />

Grundlagen der Familie zu festigen oder den Ausbildungsabschluss eines Elternteils zu erleichtern - nur zunächst ein<br />

Kind nicht haben wolle, könne aus der Durchkreuzung des derzeitigen Zeitplans nicht schon auf eine nachhaltige<br />

Planwidrigkeit des demnach zur Unzeit geborenen Kindes geschlossen werden.<br />

Zutreffend nimmt das Berufungsgericht aber an, dass auch eine aus persönlichen oder wirtschaftlichen Gründen auf<br />

längere Zeit geplante Kinderlosigkeit Grundlage dafür sein kann, die unerwünschte Belastung mit einer<br />

Unterhaltsverpflichtung der ärztlichen Vertragsverletzung zuzurechnen, wenn eine zukünftige Planung noch nicht<br />

absehbar ist. In einem solchen Fall kann die Haftung nicht davon abhängen, dass der Geschädigten ein ohnehin nicht<br />

verifizierbarer Vortrag über ihre spätere Lebensplanung abverlangt wird.<br />

In Fällen der vorliegenden Art geht es - jenseits aller weltanschaulichen Erwägungen und aller Überlegungen, die das<br />

ElternKindVerhältnis betreffen - lediglich darum, dass eine von den Eltern nicht gewünschte Belastung der<br />

wirtschaftlichen Verhältnisse durch die Vertragsverletzung des Arztes herbeigeführt wird und dieser zuzurechnen ist (vgl.<br />

Senatsurteile BGHZ 124, 128, 138 und vom 19. 06.1984 - VI ZR 76/83 - aaO; ferner BVerfGE 96, 375, 400). Der Arzt, der einen vom Patienten gewünschten Erfolg<br />

verspricht, diesen aber durch fehlerhafte Behandlung vereitelt, soll für die dadurch verursachte wirtschaftliche<br />

Belastung haften.<br />

Eine solche rein schadensrechtliche Betrachtung wird bei das Vermögen schädigenden Vertragsverletzungen<br />

außerhalb des Arzthaftungsrechts auch nicht ernsthaft in Zweifel gezogen. Der Einwand, das schädigende Verhalten<br />

beeinträchtige die Lebensplanung des Vertragspartners nur auf Zeit, kann allenfalls für die Schadenshöhe, nicht aber<br />

für die grundsätzliche Haftungsfrage von Bedeutung sein. Eine Mutter, die den - gesellschaftlich weitgehend<br />

akzeptierten - Entschluss fasst, auf ein Kind zu verzichten, um beispielsweise ihr berufliches Fortkommen zu sichern,<br />

kann nicht mit Erfolg darauf verwiesen werden, sie müsse die Vereitelung ihrer Lebensplanung entschädigungslos<br />

hinnehmen, weil sie sich in Zukunft möglicherweise doch einmal entschlossen haben würde, Kinder zu bekommen. Die<br />

Haftung des Arztes entfällt nur dann, wenn im Einzelfall der innere Grund der haftungsrechtlichen Zurechnung, nämlich<br />

die Störung der Familienplanung, nachträglich weggefallen ist (vgl. Senatsurteile BGHZ 76, 249, 258; 76, 259, 264 f. und vom 19. 06.1984 - VI ZR 76/83 - aaO,<br />

Seite 865), was der beklagte Arzt darzulegen und zu beweisen hat (Senatsurteil BGHZ 76, 259, 265).<br />

Auch ein auf Zeit angelegter Verzicht auf einen Kinderwunsch kann mithin die Haftung auslösen. Gerade bei<br />

Betroffenen, die am Anfang ihres Berufslebens stehen und zunächst auf Zeit geplant haben, ohne Kind zu bleiben,<br />

kann<br />

sich eine Vereitelung dieser Lebensplanung wirtschaftlich in schwer wiegender Weise auswirken. In solchen Fällen<br />

kann der Zurechnungszusammenhang nicht mit der Erwägung verneint werden, dass bei einer temporären<br />

Verhütungsmaßnahme nicht auszuschließen sei, dass sich später doch ein Kinderwunsch einstelle und dieser erfüllt<br />

werde. Eine solche Betrachtung berücksichtigt nicht ausreichend, dass der Schaden in der konkreten nicht<br />

gewünschten Unterhaltsbelastung besteht und nicht dadurch hinwegdiskutiert werden kann, dass auf eine<br />

möglicherweise später willentlich entstehende ähnliche Belastung verwiesen wird. Das möglicherweise später<br />

geborene Kind kann nicht, etwa im Sinne einer "überholenden Kausalität", mit dem tatsächlich geborenen gleich<br />

gesetzt werden. Dass dieses Kind ungeachtet der gestörten Lebensplanung der Eltern akzeptiert werden muss und im<br />

Streitfall ersichtlich akzeptiert wird, kann in Fällen dieser Art durch den Beitrag des Arztes zum Unterhalt für das Kind,<br />

den er auf Grund der vertraglichen Schlechterfüllung zu leisten hat, in wirksamer Weise unterstützt werden (vgl. Senatsurteil<br />

BGHZ 124, 128, 143 f.; BVerfGE 96, 375, 402).<br />

Der erkennende Senat hat demgemäß auch schon früher eine Haftung nicht nur dann für möglich gehalten, wenn eine<br />

endgültige Maßnahme (etwa eine Sterilisation) gewünscht war, sondern auch dann, wenn eine temporäre Verhütungsmaßnahme<br />

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aufgrund fehlerhafter Behandlung erfolglos blieb (vgl. Senatsurteil vom 3. 06.1997 - VI ZR 133/96 - VersR 1997, 1422, 1423 - Verordnung von Hormonpräparaten ohne<br />

empfängnisverhütende Wirkung).<br />

3. Die Revision rügt ferner, das Berufungsgericht habe der Schadensberechnung zu Unrecht den Unterhaltsbedarf bis<br />

zur Vollendung des 18. Lebensjahres zugrunde gelegt. Auch diese Rüge bleibt ohne Erfolg.<br />

Entgegen den Ausführungen der Revision musste die Klägerin nicht eine "gegen Kinder gerichtete Lebensplanung"<br />

über einen Zeitraum von 18 Jahren<br />

vortragen, dahin gehend, dass sie während dieses Zeitraums keinen Kinderwunsch gehegt hätte, das Kind "mithin<br />

nicht dazu gedient hätte/dienen würde, diesen Kinderwunsch zu befriedigen". Ein solcher Vortrag ist bei<br />

Berücksichtigung des Wahrheitsgebots (§ 138 Abs. 1 BGB) nicht möglich. Niemand kann verbindliche Erklärungen zu seiner<br />

Lebensplanung über einen Zeitraum von 18 (bzw. jetzt noch 14) Jahren abgeben, geschweige denn, was der Revision<br />

möglicherweise vorschwebt, einen solchen Vortrag unter Beweis stellen und den Beweis führen. Ein solcher Vortrag ist<br />

zur Begründung des Schadensersatzanspruchs auch nicht geboten. Die durch die ärztliche Schlechterfüllung<br />

verursachte Unterhaltsbelastung knüpft an die in Frage stehende konkrete Geburt des Kindes an, einen singulären,<br />

hier von der Mutter akzeptierten Vorgang, der - schadensrechtlich betrachtet - nicht dazu "dienen" kann, solche<br />

Wünsche oder Vorstellungen zu befriedigen, die sich hypothetisch bei ungestörter Lebensplanung später einmal<br />

eingestellt hätten. Selbst wenn sich bei der Klägerin in Zukunft ein Kinderwunsch eingestellt haben würde, bezöge sich<br />

dieser auf den dann maßgeblichen Zeitpunkt und die anschließende Lebensphase. Die vom Beklagten verursachte<br />

Unterhaltsbelastung bleibt dessen ungeachtet bestehen.<br />

Wie oben bereits ausgeführt, entfällt die Haftung des Arztes allerdings dann, wenn im Einzelfall der innere Grund der<br />

haftungsrechtlichen Zurechnung, nämlich die Störung der Familienplanung, nachträglich weggefallen ist (vgl. Senatsurteil vom 19.<br />

06.1984 - VI ZR 76/83 - aaO). Dies hat das Berufungsgericht gesehen und eine solche Fallgestaltung für den vorliegenden Fall<br />

verneint. Dagegen bringt die Revision nichts Erhebliches vor.<br />

4. Ohne Erfolg rügt die Revision die Auffassung des Berufungsgerichts, der nichteheliche Vater des Kindes der<br />

Klägerin sei in den Schutzbereich des Behandlungsvertrages einbezogen.<br />

Der erkennende Senat hat in Fällen fehlerhafter genetischer Beratung und sonstiger Fehler im vorgeburtlichen Bereich<br />

bereits die Einbeziehung des ehelichen Vaters in den Schutzbereich des Arztvertrages bejaht (Senatsurteile BGHZ 86, 240, 249 f.; 89, 95,<br />

98; 151, 133, 136). Sie wird auch für Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft befürwortet (vgl. Gehrlein, MDR 2002, 638, 639;<br />

Palandt/Heinrichs, BGB, 65. Aufl., vor § 249 Rn. 48; Staudinger/Jagmann, BGB, Neubearbeitung 2004, § 328 Rn. 132; ferner OLG Frankfurt, VersR 1994, 942, 943 mit Nichtannahmebeschluss vom 18.<br />

01.1994 - VI ZR 188/93).<br />

Der Streitfall nötigt nicht zur Entscheidung der Frage, in welchem Umfang nichteheliche Väter unter allen denkbaren<br />

Umständen, etwa bei ungefestigten kurzfristigen Partnerschaften, in einen von der Frau abgeschlossenen, auf<br />

Empfängnisverhütung angelegten Behandlungsvertrag einbezogen sind. Jedenfalls ist die Feststellung des<br />

Berufungsgerichts, die Voraussetzungen für eine Einbeziehung des Vaters des Kindes lägen unter den Umständen des<br />

Streitfalls vor, nicht zu beanstanden. Sofern die Arztleistung - wie hier - auch der wirtschaftlichen Familienplanung<br />

dient, ist ihr wesenseigen, dass der vertragliche Schutz denjenigen zukommt, die für den Unterhalt aufzukommen<br />

haben. Dies gilt nicht nur bei ehelicher Vaterschaft (Senatsurteil, BGHZ 76, 259, 262), sondern auch bei nichtehelichen<br />

Lebensgemeinschaften und Partnerschaften, die bei Durchführung der Behandlung bestehen und deren auch<br />

wirtschaftlichem Schutz die Behandlung gerade dienen soll.<br />

Diese Voraussetzungen hat das Berufungsgericht für den Streitfall rechtsfehlerfrei bejaht. Entgegen den Ausführungen<br />

der Revision war es nicht erforderlich, dass die Klägerin dem Beklagten den Kindesvater als ihren festen Partner<br />

vorstellte oder namentlich benannte. Die Leistungsnähe des Dritten, das Interesse der Klägerin an dessen Schutz, sein<br />

Schutzbedürfnis und die Erkennbarkeit des geschützten Personenkreises (vgl. dazu Senatsurteile BGHZ<br />

56, 269, 273 f.; vom 19. 02.2002 - VI ZR 190/01 - VersR 2002, 767 f.; BGH, Urteil vom 26. 06.2001 - X ZR 231/99 - NJW 2001, 3115, 3116 m. w. N.) lagen nach den Umständen des<br />

Streitfalls auch aus Sicht des Beklagten selbst dann vor, wenn ihm nähere Informationen zur Person des damaligen<br />

Lebenspartners der Klägerin und späteren Kindesvaters fehlten. Um die von der Revision herausgestellte<br />

Fallgestaltung, bei der im Zeitpunkt der ärztlichen Leistung noch völlig offen ist, wann und gegebenenfalls mit wem<br />

künftig Geschlechtsverkehr ausgeübt wird, geht es nach den Feststellungen des Berufungsgerichts im Streitfall nicht.<br />

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Entgegen den Ausführungen der Revision ist der (der Klägerin abgetretene) Schadensersatzanspruch des Kindesvaters nicht<br />

deshalb zu verneinen, weil die Klägerin nicht konkret zu dessen Lebensplanung vorgetragen hat. Der Kindesvater ist in<br />

den Schutzbereich des mit der Klägerin geschlossenen Behandlungsvertrages einbezogen. Deshalb kommt es auf die<br />

diesem Vertrag zugrunde liegende Planung der Klägerin an. Im Übrigen verweist die Revisionserwiderung mit Recht<br />

darauf, dass eine Störung der Lebensplanung durch die nichteheliche Vaterschaft und die damit verbundene<br />

Unterhaltsbelastung auf der Hand liegt. Dafür, dass der nichteheliche Vater die Vaterschaft gewollt hat, ist nichts<br />

vorgetragen und festgestellt.<br />

5. Auch die gegen die Höhe des zuerkannten Betrages erhobenen Rügen der Revision greifen nicht durch. Die<br />

Schadensschätzung (§ 287 ZPO) des Berufungsgerichts lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Sie weicht nicht in<br />

revisionsrechtlich relevanter Weise von den Vorgaben ab, die nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats für<br />

die Bemessung des Unterhaltsschadensersatzes in Fällen der vorliegenden Art bestehen.<br />

a) Betreffend den Barunterhaltsschaden hat der Arzt von den wirtschaftlichen Belastungen, die aus der von ihm zu<br />

verantwortenden Geburt eines Kin des hergeleitet werden, nur denjenigen Teil zu übernehmen, der für die<br />

Existenzsicherung des Kindes erforderlich ist (Senatsurteil vom 4. 03.1997 - VI ZR 354/95 - VersR 1997, 698, 700). Dem wird der vom<br />

Berufungsgericht ausgeurteilte Betrag in Höhe von 135 % des Satzes der RegelbetragVerordnung gerecht. Soweit die<br />

Revision unter Hinweis auf frühere Entscheidungen des erkennenden Senats geltend macht, es sei auf den einfachen<br />

Satz der RegelbetragVerordnung abzustellen, entspricht dies nicht den geänderten rechtlichen Vorgaben. Nach der<br />

Streichung des § 1615 f. BGB a. F., auf den in dem Senatsurteil vom 4. 03.1997 (aaO, S. 699) hingewiesen wird, ist für den<br />

Unterhalt eines minderjährigen Kindes auf einen Vomhundertsatz des jeweiligen Regelbetrags der<br />

RegelbetragVerordnung (vom 6. 04.1998) abzustellen. Als Existenzminimum des Kindes sind 135 % des Regelbetrags<br />

anzusehen (BGH, Urteil vom 22. 01.2003 - XII ZR 2/00 - NJW 2003, 1112, 1114; OLG Oldenburg, VersR 2004, 654, 655, jeweils m. w. N.; vgl. auch § 1612 b Abs. 5 BGB).<br />

b) Hinsichtlich des Wertes der Betreuungsleistungen hat der erkennende Senat es nicht beanstandet, dass der<br />

Tatrichter einen Zuschlag in Höhe des Barunterhalts zuerkennt (Senatsurteile BGHZ 76, 259, 270 f.; vom 4. 03.1997 - VI ZR 354/95 - aaO, S. 699). Daran,<br />

dass der Zuschlag die Höhe des Barunterhalts nicht erreichen muss, wohl aber erreichen kann (Senatsurteil BGHZ 76, 259, 270 f.), ist<br />

festzuhalten.<br />

Zwar liegt die Überlegung nahe, dass sich der Betreuungsaufwand bei zunehmendem Alter des Kindes verringern und<br />

deshalb ein Betrag in Höhe von 135 % schadensrechtlich als überhöht erscheinen kann (OLG Oldenburg, aaO, S. 655 f.). Daraus<br />

lässt sich indes nicht herleiten, dass die Zuerkennung eines solchen Betrages stets außerhalb des tatrichterlichen<br />

Ermessens liegt. Dieser Betrag ist ohnehin nur auf die Existenzsicherung des Kindes abgestellt und gegebenenfalls<br />

auch bei einer Mangelverteilung anzusetzen (vgl. BGH, Urteil vom<br />

22. 01.2003 - XII ZR 2/00 - aaO). Er wird auch bei einer Betrachtung über 18 Jahre vielfach den Betrag, der durchschnittlich für die<br />

Betreuung eines Kindes erforderlich ist, nicht wesentlich überschreiten. Die Erwägung, dass die Kindesmutter bei<br />

fortgeschrittenem Alter des Kindes zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verpflichtet sein kann, ist in diesem<br />

Zusammenhang - anders als im Unterhaltsrecht und bei der Regulierung von Personenschäden gemäß § 844 Abs. 2<br />

BGB - ohne Bedeutung; denn es geht hier nicht um den eigenen Unterhalt der Klägerin, auf den ein zu erzielender<br />

Arbeitsverdienst angerechnet werden kann, sondern um deren Belastung mit der Unterhaltsverpflichtung für das Kind,<br />

die auch bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ungeschmälert bestehen bleibt.<br />

Ein Zuschlag in Höhe von 135 % des Regelsatzes darf deshalb vom Tatrichter bei der Bemessung des<br />

Betreuungsunterhaltsschadens als angemessener Ausgleich angesehen werden, sofern nicht die Umstände des Falles<br />

eine abweichende Bewertung nahe legen. Dafür zeigt die Revision im vorliegenden Fall nichts Konkretes auf.<br />

III.<br />

Die Revision ist demnach mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.<br />

Müller Wellner Diederichsen Stöhr Zoll<br />

Vorinst.:LG WaldshutTiengen, Entscheidung vom 29.07.2004 - 2 O 70/04 -<br />

OLG Karlsruhe in Freiburg, Entscheidung vom 01.02.2006 - 13 U 134/04 -<br />

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Thöns BGH VI ZR 206/05 vom 07.11.2006<br />

Der Chefarzt, der die Risikoaufklärung eines Patienten einem nachgeordneten Arzt überträgt, muss darlegen,<br />

welche organisatorischen Maßnahmen er ergriffen hat, um eine ordnungsgemäße Aufklärung sicherzustellen<br />

und zu kontrollieren.<br />

Der Patient obsiegte. BGB § 823 Abs. 1 Dd<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 7. 11.2006 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 4. Zivilsenats des SchleswigHolsteinischen Oberlandesgerichts in<br />

Schleswig vom 2. 09.2005 aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das<br />

Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

1 Die Klägerin nimmt den Beklagten nach einer Divertikeloperation am Zwölffingerdarm auf Ersatz immateriellen<br />

Schadens in Anspruch.<br />

2 Die Klägerin stellte sich am 22. 01.2002 wegen Oberbauchbeschwerden in der chirurgischen Klinik E. vor, deren<br />

Chefarzt der Beklagte ist. Am folgenden Tag wurde sie stationär aufgenommen, über das Wochenende vorübergehend<br />

entlassen und am 6. 02.2002 von dem Beklagten operiert. Infolge einer Nahtinsuffizienz kam es danach zu einer<br />

schweren Bauchfellentzündung und einer eitrigen Bauchspeicheldrüsenentzündung. Die Klägerin<br />

musste 49 Tage auf der Intensivstation behandelt werden, davon etwa drei Wochen in einem künstlichen Koma unter<br />

Offenhaltung des Bauchraums. Sie wurde fünf weitere Male operiert. Nach der Entlassung am 19. 06.2002 trat sie eine<br />

RehaMaßnahme an. Als Folge des langen Liegens auf der Intensivstation leidet sie unter einer Critical Illness<br />

Polyneuropathie am linken Unterschenkel und am Fuß.<br />

3 Vor der Operation führte der Stationsarzt Dr. S. zwei Gespräche mit der Klägerin. Zwischen den Parteien ist streitig,<br />

ob dabei eine ordnungsgemäße Risikoaufklärung erfolgte. Die Klägerin verlangt von dem Beklagten - nunmehr nur<br />

noch gestützt auf den Vorwurf unzureichender Aufklärung - ein angemessenes Schmerzensgeld in der Größenordnung<br />

von 75.000 €.<br />

4 Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Mit der vom erkennenden<br />

Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob vor dem Eingriff über das Risiko einer Bauchspeicheldrüsenentzündung<br />

aufzuklären war und die Klägerin vor der Operation ordnungsgemäß über eingriffsspezifische Risiken aufgeklärt<br />

worden ist. Es hat auch dahinstehen lassen, ob sich der Beklagte gegebenenfalls auf eine hypothetische Einwilligung<br />

der Klägerin berufen kann. Das Berufungsgericht ist der Auffassung, ein etwaiger Aufklärungsfehler sei dem Beklagten<br />

jedenfalls nicht zuzurechnen, denn dieser habe die Aufklärung in zulässiger Weise dem Stationsarzt Dr. S. übertragen,<br />

der als Facharzt hierfür ausreichend<br />

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qualifiziert und mit den medizinischen Gegebenheiten vertraut gewesen sei. Anhaltspunkte dafür, dass es an einer<br />

hinreichenden Kontrolle gefehlt oder der Beklagte konkreten Anlass zu Zweifeln an der Zuverlässigkeit des<br />

Stationsarztes gehabt habe oder hätte haben müssen, seien nicht erkennbar.<br />

II.<br />

Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten den Angriffen der Revision nicht stand. Auf der Grundlage der<br />

getroffenen Feststellungen kann eine Haftung des Beklagten nicht mit der Begründung verneint werden, ein etwaiger<br />

Aufklärungsfehler sei ihm nicht zurechenbar. Das verkennt die von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze zur<br />

ärztlichen Zusammenarbeit.<br />

1. Im Ansatz zutreffend nimmt das Berufungsgericht allerdings an, dass ein Arzt grundsätzlich für alle den<br />

Gesundheitszustand des Patienten betreffenden nachteiligen Folgen haftet, wenn der ärztliche Eingriff nicht durch eine<br />

wirksame Einwilligung des Patienten gedeckt und damit rechtswidrig ist. Indessen setzt eine wirksame Einwilligung des<br />

Patienten dessen ordnungsgemäße Aufklärung voraus. Diese kann nicht durch die irrige Annahme des Operateurs, der<br />

Patient sei ordnungsgemäß aufgeklärt worden, ersetzt werden. Auch dann, wenn der behandelnde Arzt irrig von einer<br />

ordnungsgemäßen Aufklärung und damit irrig von einer wirksamen Einwilligung des Patienten ausgeht, bleibt die<br />

Behandlung insgesamt rechtswidrig. Jeder behandelnde Arzt ist verpflichtet, den Patienten hinsichtlich der von ihm<br />

übernommenen Behandlungsaufgabe aufzuklären. Die Erfüllung dieser Aufklärungspflicht kann er zwar einem anderen<br />

Arzt übertragen, den dann die Haftung für Aufklärungsversäumnisse in erster Linie trifft (Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 10. Aufl., Rn. 424<br />

f.). Jedoch<br />

entlastet das den behandelnden Arzt nicht von der vertraglichen (§ 278 BGB) und nicht ohne weiteres von der deliktischen (§<br />

831 Abs. 1 Satz 2 BGB) Haftung.<br />

Wenn der behandelnde Arzt entschuldbar eine wirksame Einwilligung des Patienten angenommen hat, kann zwar<br />

seine Haftung für nachteilige Folgen der Behandlung nicht wegen fehlender Rechtswidrigkeit seines Verhaltens,<br />

möglicherweise aber mangels Verschuldens entfallen (vgl. Senatsurteile vom 23. 09.1975 - VI ZR 232/73 - NJW 1976, 41, 42; vom 26. 05.1987 - VI ZR 157/86 - VersR<br />

1987, 1133). Voraussetzung dafür ist, dass der Irrtum des Behandlers nicht auf Fahrlässigkeit (§ 276 Abs. 2 BGB) beruht. Diese wird<br />

bei einer Übertragung der Aufklärung auf einen anderen Arzt nur dann zu verneinen sein, wenn der nicht selbst<br />

aufklärende Arzt durch geeignete organisatorische Maßnahmen und Kontrollen sichergestellt hat, dass eine<br />

ordnungsgemäße Aufklärung durch den damit betrauten Arzt gewährleistet ist.<br />

2. Das Berufungsgericht verkennt die Bedeutung und den Umfang der bei einer ärztlichen Arbeitsteilung bestehenden<br />

Kontroll- und Überwachungspflichten. Seine Auffassung, eine Haftung des die Aufklärung delegierenden Operateurs für<br />

Aufklärungsfehler komme nur dann in Betracht, wenn es zum einen an einer hinreichenden Kontrolle fehle und der<br />

Operateur zum anderen konkreten Anlass zu Zweifeln an der Zuverlässigkeit des Stationsarztes hatte oder hätte haben<br />

müssen, berücksichtigt nicht in ausreichendem Maße die im Streitfall erfolgte Form der ärztlichen Zusammenarbeit<br />

zwischen Operateur und aufklärendem Arzt. Das Berufungsgericht stellt allein darauf ab, dass der Operateur, wie der<br />

Stationsarzt Dr. S. als Zeuge bekundet habe, vor einem Eingriff üblicherweise die Behandlungsunterlagen durchsehe<br />

und sich auf diese Weise über das Vorliegen einer schriftlichen Einwilligung mit entsprechenden Hinweisen über die mit<br />

dem Eingriff verbundenen Risiken vergewissere; zudem habe<br />

wegen der zehnjährigen besonders im Aufklärungsbereich beanstandungsfreien Zusammenarbeit zwischen dem<br />

Beklagten und dem Zeugen Dr. S. kein Anhaltspunkt dafür vorgelegen, an dessen Zuverlässigkeit zu zweifeln. An die<br />

Kontrollpflicht des behandelnden Arztes, der einem anderen Arzt die Aufklärung überträgt, sind strenge Anforderungen<br />

zu stellen. Da dem behandelnden Arzt die Aufklärung des Patienten als eigene ärztliche Aufgabe obliegt, die darauf<br />

gerichtet ist, die Einwilligung des Patienten als Voraussetzung einer rechtmäßigen Behandlung zu erlangen, muss er<br />

bei Übertragung dieser Aufgabe auf einen anderen Arzt deren ordnungsgemäße Erfüllung sicherstellen und im<br />

Arzthaftungsprozess darlegen, was er hierfür getan hat. Dazu gehört die Angabe, ob er sich etwa in einem Gespräch<br />

mit dem Patienten über dessen ordnungsgemäße Aufklärung und/oder durch einen Blick in die Krankenakte vom<br />

Vorhandensein einer von Patient und aufklärendem Arzt unterzeichneten Einverständniserklärung vergewissert hat,<br />

dass eine für einen medizinischen Laien verständliche Aufklärung unter Hinweis auf die spezifischen Risiken des<br />

vorgesehenen Eingriffs erfolgt ist.<br />

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3. Dies muss erst recht gelten, wenn der Operateur als Chefarzt Vorgesetzter des aufklärenden Arztes und diesem<br />

gegenüber überwachungspflichtig und weisungsberechtigt ist. Zu den Pflichten eines Chefarztes gehört es nämlich, für<br />

eine ordnungsgemäße Aufklärung der Patienten seiner Klinik zu sorgen (Senatsurteile BGHZ 116, 379, 386 und vom 14. 07.1957 - VI ZR 45/54 - VersR<br />

1954, 496, 497; Senatsbeschluss vom 29. 01.1985 - VI ZR 92/84 - VersR 1985, 598, 599; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl., Rn. 108 f., Steffen/Pauge, aaO, Frahm/Nixdorf, Arzthaftungsrecht, 3. Aufl.,<br />

Rn. 196). Hat er im Rahmen seiner Organisationspflicht die Aufklärung einem nachgeordneten Arzt übertragen, darf er sich<br />

auf deren ordnungsgemäße Durchführung und insbesondere die Vollständigkeit der Aufklärung nur dann verlassen,<br />

wenn er hierfür ausreichende Anweisungen erteilt hat, die er gegebenenfalls im Arzthaftungsprozess darlegen muss.<br />

Dazu gehört zum einen die Angabe, welche Maßnahmen organisatorischer Art er getroffen hat, um eine<br />

ordnungsgemäße Aufklärung durch den nichtoperierenden Arzt sicherzustellen, und zum anderen die Darlegung, ob<br />

und gegebenenfalls welche Maßnahmen er ergriffen hat, um die ordnungsgemäße Umsetzung der von ihm erteilten<br />

Aufklärungsanweisungen zu überwachen.<br />

Im Streitfall fehlt es an Feststellungen des Berufungsgerichts zu Umständen, die für den Beklagten einen solchen<br />

Vertrauensschutz begründen könnten. Das Berufungsgericht führt nicht aus, welche Organisationsanweisungen zur<br />

Aufklärung erteilt worden sind (vgl. OLG Bamberg, VersR 1998, 1025, 1026 mit NABeschluss des Senats vom 3. 02.1998 - VI ZR 226/97; OLG Celle, AHRS 0920/8 mit NABeschluss des<br />

Senats vom 11. 12.1984 - VI ZR 132/83). Es finden sich auch keine Feststellungen dazu, in welcher Form deren Einhaltung überwacht<br />

worden ist. Das Berufungsgericht hätte zudem berücksichtigen müssen, dass es sich bei dem Eingriff nach der<br />

Aussage des Stationsarztes Dr. S. um eine sehr seltene, vom Zeugen selbst - trotz langjähriger Berufserfahrung - noch<br />

nie durchgeführte Operation handelte, über deren Risiken dieser sich durch ein Studium der Fachliteratur informieren<br />

musste. Ob für solch seltene Operationen stets eine ausdrückliche Organisationsanweisung zur Aufklärung bestehen<br />

muss, kann offen bleiben; ist die Operation mit besonderen Risiken verbunden, wäre die Regelung der<br />

Aufklärungspflicht durch eine allgemeine Organisationsanweisung, die hierauf keine Rücksicht nimmt, jedenfalls nicht<br />

ausreichend. Zwar mag es nicht grundsätzlich geboten sein, dass bei schwierigen und seltenen Eingriffen die<br />

Risikoaufklärung nur von dem Operateur selbst vorgenommen wird (vgl. aber Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 66 Rn. 1), doch<br />

ist es erforderlich, dass für solche Eingriffe entweder eine spezielle Aufklärungsanweisung existiert oder jedenfalls<br />

gewährleistet ist, dass sich der Operateur auf andere Weise wie z. B. in einem<br />

Vorgespräch mit dem aufklärenden Arzt vergewissert, dass dieser den Eingriff in seiner Gesamtheit erfasst hat und<br />

dem Patienten die erforderlichen Entscheidungshilfen im Rahmen der Aufklärung geben kann (vgl. OLG Bamberg, aaO). Nur<br />

wenn eine solchermaßen zureichende Organisation der Aufklärung sichergestellt ist und überwacht wird, darf sich der<br />

Chefarzt darauf verlassen, dass der aufklärende Arzt sich an die allgemein oder im Einzelgespräch erteilten<br />

Organisationsanweisungen hält.<br />

4. Die Zurückverweisung gibt dem Berufungsgericht Gelegenheit, die fehlenden Feststellungen zur Organisation der<br />

Aufklärung in der von dem Beklagten geleiteten Klinik nachzuholen. Dabei werden - worauf die Revisionserwiderung zu<br />

Recht hinweist - auch der Inhalt der Zeugenaussage des Stationsarztes Dr. S. zu berücksichtigen und<br />

erforderlichenfalls auch Feststellungen<br />

zum Umfang der erforderlichen Aufklärung sowie zur hypothetischen Einwilligung der Klägerin zu treffen sein.<br />

Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll<br />

Vorinst.:LG Itzehoe, Entscheidung vom 22.09.2004 - 2 O 290/02 -<br />

OLG Schleswig, Entscheidung vom 02.09.2005 - 4 U 185/04 –<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 74/05 vom 10. 10.2006<br />

a) Minderjährigen Patienten kann bei einem nur relativ indizierten Eingriff mit der Möglichkeit erheblicher<br />

Folgen für ihre künftige Lebensgestaltung ein Vetorecht gegen die Einwilligung durch die gesetzlichen<br />

Vertreter zustehen, wenn sie über eine ausreichende Urteilsfähigkeit verfügen. b) Auch über ein gegenüber<br />

dem Hauptrisiko des Eingriffs weniger schweres Risiko ist aufzuklären, wenn dieses dem Eingriff spezifisch<br />

anhaftet, es für den Laien überraschend ist und durch die Verwirklichung des Risikos die Lebensführung des<br />

Patienten schwer belastet würde. c) Im Hinblick auf den Beginn der Verjährungsfrist gemäß § 852 BGB a. F.<br />

besteht keine Verpflichtung des Patienten, sich Kenntnisse über fachspezifisch medizinische Fragen zu<br />

verschaffen. Der Patient obsiegte gegenüber dem Arzt<br />

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BGB §§ 823 Abs. 1 Aa; 852 a. F. BGH, Urteil vom 10. 10.2006 - VI ZR 74/05 - OLG München LG München I<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 10. 10.2006 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller, die Richter Dr. Greiner und Wellner, die Richterin Diederichsen und den Richter Zoll für<br />

Recht erkannt:<br />

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 24. 03.2005<br />

aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das<br />

Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Klägerin begehrt Schmerzensgeld wegen unzureichender Aufklärung über die Risiken einer Operation, aufgrund<br />

der sie neben anderen Folgen querschnittgelähmt ist. Der Beklagte war Oberarzt in der orthopädischen Abteilung der<br />

Klinik, in welcher die Operation durchgeführt wurde. Träger der Klinik ist der Streithelfer.<br />

Die am 16. 08.1976 geborene Klägerin litt ab dem 13. Lebensjahr an einer Adoleszenzskoliose. Nachdem sich<br />

konservative Maßnahmen als nicht wirksam gegen die fortschreitende Verkrümmung erwiesen hatten, schlug der<br />

Beklagte im Jahr 1990 den Eltern der Klägerin vor, durch eine Operation die Missbildung zu korrigieren. Am 25.<br />

09.1990 wurde ein Aufklärungsgespräch über Vorgehensweise und Risiken bei der Operation durch Frau Dr. S. mit den<br />

Eltern der Klägerin in deren Beisein geführt. Die Operation musste verschoben werden, weil die Klägerin an starker<br />

Akne an den von der Operation betroffenen Hautstellen litt. Am 12. 01.1991 führte Dr. Dr. T. ein weiteres<br />

Aufklärungsgespräch. Die Operation wurde wiederum aufgeschoben, weil eine Eigenblutspende versäumt worden war.<br />

Die Eltern der damals 14jährigen Klägerin unterzeichneten nach dem jeweiligen Aufklärungsgespräch einen Vordruck<br />

mit einer Einwilligungserklärung. In den Vordruck ist handschriftlich eingefügt: "u. a. Infektion, Gefäß,<br />

Nervenverletzung, Querschnitt; Eigenblut, Retransfusion, nur im Notfall Fremdblut". Von 1990 bis zur Operation war die<br />

Klägerin in ständiger Behandlung in der klinischen Ambulanz. Anlässlich der Behandlungstermine wurden auch<br />

Gespräche von den behandelnden Ärzten mit der Mutter der Klägerin über Risiken und Erfolgsaussichten der<br />

anstehenden Operation geführt. Die Risiken einer Falschgelenkbildung (Pseudarthrose) und des operativen Zugangs<br />

(Verwachsungen im Brustraum und Rippeninstabilitäten) wurden auch nicht bei dem Aufklärungsgespräch angesprochen, das der Beklagte am<br />

18. 02.1992, dem Vortag der Operation, führte. Dabei unterschrieb neben ihren Eltern auch die Klägerin die<br />

Einverständniserklärung. Der Vordruck ist durch folgende handschriftliche Eintragungen ergänzt:<br />

"Komplikationsmöglichkeiten: Neurologische Ausfälle, Infektionen, Blutungen, Thrombosen, Embolien". Bei der<br />

Operation am 19. 02.1992 kam es zu einer Einblutung in den Rückenmarkskanal, die zur Querschnittlähmung der<br />

Klägerin führte. In der Folgezeit entwickelten sich neben anderen Beschwerden auch Verwachsungen im Brustraum,<br />

Falschgelenkbildungen und Rippeninstabilitäten.<br />

Die Klägerin macht, nachdem sie erfolglos versucht hat, den operierenden Arzt wegen eines Behandlungsfehlers in<br />

Anspruch zu nehmen, gegen den Beklagten Schadensersatzansprüche wegen unzureichender Aufklärung am 18.<br />

02.1992 geltend. Sie ist der Auffassung, die Aufklärung sei schon deshalb unwirksam, weil Aufklärungsadressaten ihre<br />

Eltern und nicht sie selbst gewesen seien, obwohl sie am 18. 02.1992 bereits die sittliche Reife und das erforderliche<br />

Verständnis für die Risiken der Operation gehabt habe. Außerdem sei die Aufklärung am 18. 02.1992 zu spät erfolgt<br />

und von ihrem Inhalt her unzureichend gewesen. Die beiden vorhergehenden Aufklärungsgespräche könnten wegen<br />

des zeitlichen Abstands nicht in die Beurteilung miteinbezogen werden. Der Beklagte habe Alternativen zum Eingriff<br />

und dessen Dringlichkeit nicht angesprochen. Auch sei das Risiko der Querschnittlähmung verharmlost worden. Über<br />

die Möglichkeit des Materialbruches und der Bildung von Verwachsungen im Brustraum, von Falschgelenken und<br />

Rippeninstabilitäten sei nicht aufgeklärt worden. Bei Kenntnis dieser Risiken wäre in die Operation nicht eingewilligt<br />

worden. Der Anspruch gegen den Beklagten sei nicht verjährt, da die Klägerin erst durch das Gutachten des<br />

Sachverständigen Prof. Dr. P. im 06.1997 erfahren habe, dass die Aufklärung unzureichend gewesen sei.<br />

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Der Beklagte wendet dagegen ein, dass, selbst wenn eine unzureichende Aufklärung unterstellt würde, die Eltern der<br />

Klägerin jedenfalls auch bei Kenntnis aller Risiken in eine Operation eingewilligt hätten. Immerhin seien sie das ihnen<br />

genannte Risiko einer Querschnittlähmung eingegangen. Die Ansprüche seien außerdem verjährt.<br />

Die Klage blieb in den Vorinstanzen erfolglos. Die Klägerin verfolgt mit der vom Senat zugelassenen Revision ihren<br />

Anspruch weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

In Übereinstimmung mit dem Landgericht ist das Berufungsgericht der Auffassung, dass die Eltern der Klägerin in die<br />

Operation wirksam eingewilligt hätten. Jedenfalls seien die Ansprüche der Klägerin verjährt. Zuständige<br />

Aufklärungsadressaten seien wegen der Minderjährigkeit der zur Zeit der Operation erst 15 ½ Jahre alten Klägerin<br />

deren Eltern als gesetzliche Vertreter gewesen. Die Aufklärung sei umfassend und rechtzeitig erfolgt, da die<br />

Aufklärungsgespräche vom 25. 09.1990, 12. 01.1991 und 18. 02.1992 in einer Zusammenschau zu beurteilen seien.<br />

Die Operation habe nach dem ersten Aufklärungsgespräch bis zu ihrer Durchführung stets im Raume gestanden.<br />

Inhaltlich sei ausreichend über Durchführungsweise und Erfolgsaussichten der relativ indizierten Operation aufgeklärt<br />

worden. Den Eltern der Klägerin sei in verschiedenen Gesprächen von den Ärzten ausreichend verdeutlicht worden,<br />

dass das Risiko einer Querschnittlähmung bestehe, wenn dieses auch - wie es den Tatsachen entspreche - äußerst<br />

gering sei. Über die Risiken der Falschgelenkbildung und des operativen Zugangs sei zwar nicht aufgeklärt worden,<br />

doch habe es das Landgericht zutreffend als unter keinem Gesichtspunkt plausibel angesehen, dass die Eltern der<br />

Klägerin, die nach Aufklärung über das Querschnittrisiko in die Operation eingewilligt hätten, sich bei Kenntnis eines<br />

Risikos, das demgegenüber in seiner Schwere nicht wesentlich ins Gewicht falle, in einem ernsthaften<br />

Entscheidungskonflikt befunden hätten. Bei Erhebung der Klage mit Klageschrift vom 11. 05.2000 sei die dreijährige<br />

Verjährungsfrist längst abgelaufen gewesen, weil die Eltern der Klägerin bereits 1992/1993 die erforderliche Kenntnis<br />

im Sinne von § 852 Abs. 1 BGB a. F. von den geltend gemachten Aufklärungsversäumnissen gehabt hätten.<br />

II.<br />

Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.<br />

1. a) Nicht zu beanstanden ist allerdings die Auffassung des Berufungsgerichts, dass unter den tatsächlichen<br />

Umständen des Streitfalls die Aufklärungsgespräche mit den Eltern der damals minderjährigen Klägerin zu führen<br />

waren. Zwar kann minderjährigen Patienten bei einem nur relativ indizierten Eingriff mit der Möglichkeit erheblicher<br />

Folgen für ihre künftige Lebensgestaltung - wovon im Streitfall auszugehen ist - ein Vetorecht gegen die<br />

Fremdbestimmung durch die gesetzlichen Vertreter zuzubilligen sein, wenn sie über eine ausreichende Urteilsfähigkeit<br />

verfügen. Um von diesem Vetorecht Gebrauch machen zu können, sind auch minderjährige Patienten entsprechend<br />

aufzuklären, wobei allerdings der Arzt im Allgemeinen darauf vertrauen kann, dass die Aufklärung und Einwilligung der<br />

Eltern genügt(vgl. Senatsurteile vom 22. 06.1971 - VI ZR 230/69 - VersR 1971, 929 f. und vom 16. 04.1991 - VI ZR 176/90 - VersR 1991, 812, 813; Geiß/Greiner Arzthaftpflichtrecht 5. Aufl. Rn. C<br />

115; Steffen/Pauge Arzthaftungsrecht 10. Aufl. Rn. 432; differenzierend Wölk MedR 2001, 80, 83 ff.). Es kann dahinstehen, ob die Klägerin 1992 bereits über eine<br />

ausreichende Urteilsfähigkeit verfügte, denn nach den insoweit nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des<br />

Berufungsgerichts wurde dem Selbstbestimmungsrecht der Klägerin hinreichend Rechnung getragen. Sie war bei den<br />

einzelnen Aufklärungsgesprächen anwesend und hat durch ihre Unterschrift unter die Einwilligungserklärung vom 18.<br />

02.1992 bekundet, dass sie mit dem Eingriff einverstanden sei.<br />

b) Keine Bedenken bestehen auch gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, dass der Vater, soweit er bei den<br />

zwischen der Mutter der Klägerin und den Ärzten geführten Gesprächen nicht anwesend war, ausreichend informiert<br />

worden ist, weil ihm von der Mutter die erhaltenen Informationen mitgeteilt und mit ihm besprochen worden sind. Bei<br />

den maßgebenden Aufklärungsgesprächen waren außerdem beide Elternteile anwesend, da die jeweiligen<br />

Einwilligungserklärungen von beiden Elternteilen unterzeichnet worden sind.<br />

c) Schließlich ist nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht unter den Umständen des Streitfalls die Aufklärung<br />

für rechtzeitig hielt. Zwar wäre das Aufklärungsgespräch am Vortag der risikoreichen und umfangreichen Operation<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 148


zweifellos verspätet gewesen, wenn die früheren Aufklärungsgespräche nicht einzubeziehen wären (vgl. zur rechtzeitigen Aufklärung<br />

etwa Senatsurteil vom 25. 03.2003 - VI ZR 131/02 - VersR 2003, 1441 ff. m. w. N.). Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats hängt die<br />

Wirksamkeit der Einwilligung davon ab, ob unter den Thöns jeweils gegebenen Umständen der Patient ausreichend<br />

Gelegenheit hat, sich innerlich frei zu entscheiden. Je nach den Vorkenntnissen des Patienten von dem<br />

bevorstehenden Eingriff kann bei stationärer Behandlung eine Aufklärung im Verlauf des Vortages genügen, wenn sie<br />

zu einem Zeitpunkt erfolgt, der dem Patienten die Wahrung seines Selbstbestimmungsrechts erlaubt (vgl. Senatsurteil vom 17.<br />

03.1998 - VI ZR 74/97 - VersR 1998, 766, 767). Es bestehen keine Bedenken dagegen, dass das Berufungsgericht die drei<br />

Aufklärungsgespräche in einem zeitlichen Zusammenhang gesehen hat. Nachdem die Eltern der Klägerin bereits in<br />

zwei Gesprächen am 25. 09.1990 und 12. 01.1991 über Risiken der Operation informiert worden waren und die<br />

Operation seit 1990 stets im Raume stand, erfolgte die abschließende Aufklärung am 18. 02.1992 zwar noch<br />

rechtzeitig, doch ist sie inhaltlich unzureichend.<br />

d) Soweit die Revision allerdings die Ausführungen des Berufungsgerichts zur hinreichenden Aufklärung über das<br />

Querschnittrisiko, die Möglichkeit des Materialbruchs und die eingeschränkten Erfolgsaussichten des Eingriffs in<br />

Zweifel zieht, begibt sie sich unter den Umständen des Streitfalls auf das ihr verschlossene Gebiet der<br />

Tatsachenwürdigung und setzt ihre eigene Beurteilung an die Stelle derjenigen des Berufungsgerichts. Aus<br />

Rechtsgründen bestehen insoweit keine Bedenken gegen dessen Ausführungen.<br />

e) Doch ist die Aufklärung deshalb inhaltlich unvollständig, weil die Risiken der Falschgelenkbildung und des operativen<br />

Zugangswegs von vorne durch die Brust in den Aufklärungsgesprächen nicht erörtert worden sind. Gegenstand der<br />

Risikoaufklärung sind generell alle behandlungstypischen Risiken, deren Kenntnis beim Laien nicht vorausgesetzt<br />

werden kann, die aber für die Entscheidung des Patienten über die Zustimmung zur Behandlung ernsthaft ins Gewicht<br />

fallen (Geiß/Greiner aaO, Rn. C 49). Auch über ein gegenüber dem Hauptrisiko weniger schweres Risiko ist deshalb aufzuklären,<br />

wenn dieses dem Eingriff spezifisch anhaftet, es für den Laien überraschend ist und durch die Verwirklichung des<br />

Risikos die Lebensführung des Patienten schwer belastet würde (BGH BGHZ 126, 386, 389; Senat, Urteil vom 12. 12.1989 - VI ZR 83/89 - VersR 1990, 522,<br />

523). Nach den tatsächlichen Feststellungen im Berufungsurteil handelt es sich bei den in Rede stehenden Risiken um<br />

operationsspezifische Komplikationen, die sich tatsächlich verwirklicht haben und das Leben der Klägerin nachhaltig<br />

beeinträchtigen. Zutreffend ist deshalb der Ansatz des Berufungsgerichts, dass auch diese Risiken im Rahmen der<br />

Aufklärung anzusprechen waren, obwohl über das schwerere Risiko der Querschnittlähmung aufgeklärt worden ist. Der<br />

Hinweis auf das Risiko der Querschnittlähmung, das überdies von den beteiligten Ärzten als äußerst gering dargestellt<br />

worden war, vermochte kein realistisches Bild davon zu vermitteln, welche sonstigen Folgen die Verwirklichung der<br />

weiteren Risiken der Operation für die künftige Lebensgestaltung der Klägerin mit sich bringen konnte. Bei dieser<br />

Sachlage führt die fehlerhafte Aufklärung grundsätzlich zur Haftung des Beklagten für die Folgen des ohne wirksame<br />

Einwilligung durchgeführten Eingriffs.<br />

f) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts fehlt nicht das für die Haftung erforderliche Verschulden des<br />

Beklagten. Soweit der Streithelfer meint, der Beklagte sei vor dem Aufklärungsgespräch am 18. 02.1992 nicht mit dem<br />

Fall der Klägerin befasst gewesen, ist dies in tatsächlicher Hinsicht unzutreffend, weil der Beklagte nach den von den<br />

Beteiligten nicht in Zweifel gezogenen tatsächlichen Feststellungen bereits 1990 den Eltern der Klägerin die Operation<br />

vorschlug. Der Arzt, der seinem Patienten zur Operation rät und ihn über Art und Umfang sowie mögliche Risiken<br />

dieser Operation aufklärt, begründet dadurch eine Garantenstellung gegenüber dem sich ihm anvertrauenden<br />

Patienten (vgl. Senatsurteil vom 22. 04.1980 - VI ZR 37/79 - VersR 1981, 456, 457). Durch die Übernahme der ärztlichen Aufklärung vor der Operation<br />

ist er dafür verantwortlich, dass die Einwilligung des Patienten in die Operation wirksam ist. Davon geht auch das<br />

Berufungsgericht aus. Jedoch durfte sich der Beklagte im Hinblick auf den Inhalt der Dokumentation zur Aufklärung<br />

nicht ohne weiteres darauf verlassen, dass in den beiden vorangegangenen Aufklärungsgesprächen eine ausreichende<br />

Risikoaufklärung erfolgt sei. Da die Risiken der Pseudarthrose und des operativen Zugangsweges ersichtlich nicht<br />

angesprochen worden waren, oblag es dem Beklagten, die Aufklärung hinreichend zu vervollständigen und zu diesem<br />

Zweck sich vor dem abschließenden Aufklärungsgespräch am Tag vor der Operation durch einen Einblick in die<br />

Behandlungsunterlagen zu vergewissern, inwieweit bereits aufgeklärt worden war. Dass er dies unterlassen hat,<br />

obwohl er den Mangel hätte erkennen können, begründet einen Verschuldensvorwurf hinsichtlich der Aufklärung.<br />

2. Zu Recht rügt die Revision, die Auffassung des Berufungsgerichts, die Eltern hätten die Einwilligung in die Operation<br />

auch bei gehöriger Aufklärung über diese Risiken erteilt, beruhe auf verfahrensfehlerhaften tatsächlichen<br />

Feststellungen (§ 286 Abs. 1 ZPO). Die Haftung durfte auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen im Streitfall nicht<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 149


deshalb verneint werden, weil ein Entscheidungskonflikt der Eltern der Klägerin nicht plausibel, sondern vielmehr<br />

anzunehmen sei, dass die Einwilligung auch bei Kenntnis der unerwähnt gebliebenen Risiken erteilt worden wäre.<br />

a) Entgegen der Auffassung der Revision haben sich der Beklagte und der Streithelfer bereits in erster Instanz auf eine<br />

hypothetische Einwilligung der Eltern der Klägerin berufen. Dem Berufungsgericht war es folglich nicht versagt, diese<br />

Frage zu prüfen (vgl. Senatsurteile vom 17. 03.1998 - VI ZR 74/97 - VersR 1998, 766, 767 und vom 14. 06.1994 - VI ZR 260/93 - VersR 1994, 1302).<br />

b) Der Verpflichtung, plausibel darzulegen, weshalb aus ihrer Sicht bei Kenntnis der aufklärungspflichtigen Umstände<br />

ihre Eltern vor einem Entscheidungskonflikt gestanden hätten, ob sie den ihnen empfohlenen Eingriff gleichwohl<br />

ablehnen sollten (vgl. Senat BGHZ 90, 103, 111 ff.; Urteile vom 1. 02.2005 - VI ZR 174/03 - VersR 2005, 694 und vom 26. 06.1990 - VI ZR 289/89 - VersR 1990, 1238, 1239), ist die<br />

Klägerin - entgegen der Auffassung des Streithelfers - hinreichend nachgekommen. Bereits in der Klageschrift hat sie<br />

vorgetragen, dass sie vor der Operation nicht unter Leidensdruck gestanden habe und alle altersüblichen Sportarten<br />

habe ausüben können. Bei Kenntnis der Operationsrisiken hätte sie eine Einwilligung hierzu nicht erteilt. Es wäre in<br />

jedem Fall ihre Volljährigkeit abgewartet worden, damit sie die Entscheidung selbst hätte treffen können. Zum Beweis<br />

für diesen Vortrag hat die Klägerin ihre Eltern als Zeugen angeboten. Auch in der Berufungsbegründung vom 19.<br />

04.2004 hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass wegen ihres Befindens eine Operation weder nötig noch dringend<br />

gewesen sei. Sie habe keine Beschwerden gehabt, sei leistungsmäßig nicht eingeschränkt gewesen, habe nicht über<br />

Schmerzen geklagt, am Turnunterricht teilgenommen und intensiv Reit- und Fahrsport mit Pferden betrieben. Die<br />

Operation sei zwei Mal verschoben worden, einem weiteren Aufschub hätte nichts entgegengestanden. Diese<br />

Ausführungen genügen den Anforderungen, die der erkennende Senat an die Substantiierung der Plausibilität des<br />

Entscheidungskonflikts durch den Patienten stellt (vgl. Senat BGHZ 90, 103, 111 ff.). xxxxxxx<br />

c) Bei dieser Sachlage durfte das Berufungsgericht nicht ohne die im Hinblick auf ihr Vetorecht gebotene persönliche<br />

Anhörung der Klägerin und ohne die Vernehmung der Eltern als Zeugen zu dem Ergebnis gelangen, dass die<br />

Voraussetzungen für eine hypothetische Einwilligung (vgl. dazu etwa Senatsurteil vom 14. 06.1994 - VI ZR 260/93 - VersR 1994, 1302 f. und vom 1. 02.2005 - VI ZR<br />

174/03 - VersR 2005, 694) vorliegen. Dabei hat es in unzulässiger Weise seine eigene Beurteilung des Konflikts an die Stelle<br />

derjenigen der Klägerin und ihrer Eltern gesetzt, ohne sich ein eigenes Bild durch deren Vernehmung als Zeugen bzw.<br />

die persönliche Anhörung der Klägerin zu verschaffen.<br />

Die Revision rügt zu Recht, dass das Landgericht, auf dessen Urteil das Berufungsgericht insoweit Bezug nimmt, die<br />

Klägerin und ihre Eltern nicht zu dem hier in Rede stehenden Entscheidungskonflikt gehört hat. Bei der Anhörung vor<br />

dem Landgericht ging es um die Einwilligung in das Querschnittrisiko und nicht um die Risiken der Pseudarthrose und<br />

des operativen Zugangswegs. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts lässt sich aus der Tatsache,<br />

dass die Eltern der Klägerin in das Risiko einer Querschnittlähmung eingewilligt haben, nicht schließen, die Aufklärung<br />

über die hier in Rede stehenden weniger schweren Risiken hätte keinen Einfluss auf die Einwilligung in die Operation<br />

gehabt. Es kann nicht außer Acht gelassen werden, dass nach den insoweit revisionsrechtlich nicht zu<br />

beanstandenden Feststellungen des Berufungsgerichts in verschiedenen Gesprächen vor der Operation das Risiko der<br />

Querschnittlähmung als äußerst gering dargestellt worden ist. Im Hinblick darauf konnte der Eindruck entstanden sein,<br />

dass dieses Risiko zu vernachlässigen sei. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass die Operation ohnehin nur einen<br />

Teilerfolg erwarten ließ und deswegen selbst bei geglückter Operation nicht mit völliger Beschwerdefreiheit gerechnet<br />

werden konnte. Hingegen waren bei Verwirklichung der unerwähnt gebliebenen Risiken erhebliche weitere<br />

Belastungen für die Lebensführung der noch jugendlichen Klägerin gegeben. Nach den bisherigen Feststellungen des<br />

Berufungsgerichts ist danach nicht auszuschließen, dass die Eltern der Klägerin bei Kenntnis der möglichen Folgen,<br />

die mit der konkreten Operationstechnik verbunden waren, Bedenken bekommen und von dem Eingriff Abstand<br />

genommen hätten, um Zeit zu gewinnen und sich in Ruhe über ihre Einwilligung in den Eingriff schlüssig zu werden<br />

oder um ihn bis zur Volljährigkeit der Klägerin aufzuschieben.<br />

Hätte die gebotene Aufklärung zur Versagung der Einwilligung und infolgedessen zur Vermeidung der Operation<br />

geführt, hat der Beklagte grundsätzlich für deren sämtliche Folgen einzustehen (vgl. Senatsurteil vom 30. 01.2001 - VI ZR 353/99 - VersR 2001,<br />

592).<br />

3. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts sind die im Streit befindlichen Ansprüche der Klägerin nicht<br />

verjährt.<br />

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a) Zu Recht geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass für die nach § 852 Abs. 1 BGB a. F. für den Lauf der<br />

Verjährung deliktischer Ansprüche erforderliche Kenntnis von Schädigungshandlung und Schädigung nicht auf das<br />

Wissen der minderjährigen Klägerin, sondern auf die Kenntnis ihrer Eltern als ihrer gesetzlichen Vertreter abzustellen<br />

ist, denn auf deren Wissensstand kommt es an, solange der Geschädigte beschränkt geschäftsfähig oder<br />

geschäftsunfähig ist (vgl. Senatsurteil vom 16. 05.1989 - VI ZR 251/88 - NJW 1989, 2323 m. w. N.). Auch hat es mit Recht den Kenntnisstand der<br />

Rechtsanwälte, die die Eltern der Klägerin mit der Ermittlung und Geltendmachung der Ansprüche beauftragt hatten, in<br />

die Prüfung miteinbezogen. Nach den Grundsätzen, die die Rechtsprechung unter Heranziehung des<br />

Rechtsgedankens des § 166 Abs. 1 BGB zum so genannten Wissensvertreter entwickelt hat, muss sich derjenige, der<br />

einen anderen mit der Erledigung bestimmter Angelegenheiten in eigener Verantwortung betraut, das in diesem<br />

Rahmen erlangte Wissen des anderen zurechnen lassen; dies gilt insbesondere dann, wenn der Geschädigte bzw.<br />

dessen gesetzlicher Vertreter einen Rechtsanwalt mit der Aufklärung eines Sachverhalts beauftragt hat (vgl. BGHZ 83, 293, 296;<br />

Senat, Urteile vom 19. 03.1985 - VI ZR 190/83 - VersR 1985, 735 f. und vom 16. 05.1989 - VI ZR 251/88 - aaO).<br />

b) Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen jedoch die Ausführungen, mit denen das Berufungsgericht<br />

annimmt, die für den Verjährungsbeginn maßgebende Kenntnis der Eltern der Klägerin im Sinne des § 852 Abs. 1 BGB<br />

a. F. sei bereits seit 1992/1993 gegeben.<br />

(1) Zwar geht das Berufungsgericht zutreffend davon aus, dass bei Schadensersatzansprüchen wegen<br />

Aufklärungsmängeln die Verjährung in der Regel nicht schon beginnt, sobald der nicht aufgeklärte Patient einen<br />

Schaden aufgrund der medizinischen Behandlung feststellt. Hinzutreten muss vielmehr<br />

auch die Kenntnis, dass der Schaden nicht auf einem Behandlungsfehler beruht, sondern eine spezifische<br />

Komplikation der medizinischen Behandlung ist, über die der Patient - was dem behandelnden Arzt bekannt sein<br />

musste - hätte aufgeklärt werden müssen (vgl. Senatsurteil vom 10. 04.1990 - VI ZR 288/89 - VersR 1990, 795). Auch ist zutreffend, dass die<br />

Vorschrift des § 852 BGB a. F. für den Beginn der Verjährungsfrist nur auf die Kenntnis der anspruchsbegründenden<br />

Tatsachen abstellt, nicht jedoch auf deren zutreffende rechtliche Würdigung. Fehlen dem Geschädigten die hierfür<br />

erforderlichen Kenntnisse, muss er versuchen, sich insoweit rechtskundig zu machen (vgl. Senatsurteil vom 20. 09.1983 - VI ZR 35/82 - VersR<br />

1983, 1158, 1159).<br />

(2) Soweit aber das Berufungsgericht im Streitfall eine Erkundigungspflicht der klagenden Partei annimmt, kann diese<br />

sich nicht auf die fachspezifisch medizinische Frage beziehen, inwieweit eine Aufklärung zu erfolgen hatte. Der Patient<br />

und sein Prozessbevollmächtigter sind nämlich nicht verpflichtet, sich im Hinblick auf einen Haftungsprozess<br />

medizinisches Fachwissen anzueignen (vgl. Senat, BGHZ 159, 245, 254). Da die erteilte Aufklärung insoweit erhebliche Lücken<br />

aufwies (oben 1 e), hat die Klägerin erst mit Zugang des Gutachtens des Prof. Dr. P. im 06.1997 davon Kenntnis erlangt,<br />

dass es sich bei den eingetretenen Komplikationen der Pseudarthrose und des operativen Zugangswegs, über die<br />

nicht aufgeklärt worden ist, nicht um die Folgen eines Operationsfehlers oder schicksalhafte Zufälle handelt, sondern<br />

um Risiken, die dem Eingriff spezifisch anhaften und über die deshalb hätte aufgeklärt werden müssen. Danach greift<br />

die Verjährungseinrede im Streitfall nicht.<br />

III.<br />

Das Berufungsurteil ist nach alledem aufzuheben und die Sache zur Klärung der Frage des Entscheidungskonflikts an<br />

das Berufungsgericht zurückzuverweisen.<br />

Müller Greiner Wellner<br />

Diederichsen Zoll<br />

Vorinst.:LG München I, Entscheidung vom 11.02.2004 - 9 O 8807/00 -<br />

OLG München, Entscheidung vom 24.03.2005 - 1 U 2427/04 -<br />

Thöns5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29.06.2006<br />

Verurteilung des behandelnden Narkosearztes, weil er einen akuten Herzinfarkt im Voruntersuchungs-EKG<br />

nicht beachtete.<br />

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...<br />

für Recht erkannt<br />

Die Berufungen der Beklagten gegen das am 7. 12.2005 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Mainz<br />

werden auf ihre Kosten zurückgewiesen.<br />

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.<br />

Die Beklagten können die Zwangsvollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu<br />

vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.<br />

Die Revision wird nicht zugelassen.<br />

Entscheidunqsgründe<br />

1. Die Klägerin ist die Witwe des D... L..., der am 23. 04.1996 nach einer Operation in der Klinik G... verstarb.<br />

Sie macht Ersatzansprüche geltend und begehrt die Feststellung der Verpflichtung zur Zahlung weiteren<br />

Unterhaltsschadens.<br />

Die Beklagte zu 1) war die verantwortliche Anästhesistin, der Beklagte zu 2) führte die Operation durch.<br />

Am 18. 04.1996 begab sich D... L..., der bereits im 02.1996 an der Halswirbelsäule operiert worden war, wegen<br />

Beschwerden in die Klinik in G.... Man diagnostizierte einen Bandscheibenvorfall zwischen dem 4. und 5. Halswirbel.<br />

In dem Aufklärungs- und Anamnesebogen gab der Verstorbene eine Herzerkrankung nicht an, obwohl bereits 1995 das<br />

Anfangsstadium einer coronaren Herzerkrankung festzustellen war.<br />

Ihm war aufgegeben worden, er solle zum Hausarzt gehen; dieser solle ein EKG und Laboruntersuchungen<br />

vornehmen. Die Ergebnisse solle er mitbringen. So geschah es.<br />

Kurze Zeit nach der Operation verstarb D... L....<br />

Die Klägerin hat geltend gemacht:<br />

Die Beklagten hätten ihre Pflicht zur Aufklärung über die Operationsrisiken verletzt. Die Beklagte zu 1) habe die<br />

Beatmung im Wege der Intubation nicht fehlerfrei durchgeführt. Wegen der Koronarerkrankung habe die Narkose eine<br />

unzumutbare Gefahr dargestellt. Das Herzleiden sei von den Beklagten verkannt worden. Die Klägerin hat beantragt,<br />

1. die Beklagten zu verurteilen, gesamtschuldnerisch an sie 14.909,10 DM zzgl.<br />

4% Zinsen ab Rechtshängigkeit zu zahlen;<br />

2. die Beklagten zu verurteilen, gesamtschuldnerisch an sie eine monatliche Geld- rente in Höhe von 2.000 DM,<br />

beginnend ab dem 23.2.2000 zu zahlen. Die Zahlungen haben monatlich im Voraus zu erfolgen;<br />

3. die Beklagten zu verurteilen, gesamtschuldnerisch an sie einen Betrag von<br />

94.000 DM zu zahlen zzgl. 4% Zinsen ab Rechtshängigkeit der Klage;<br />

4. festzustellen, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, ihr jeden weiteren über die Anträge<br />

hinausgehenden Unterhaltsschaden aus dem Tod ihres Mannes am 23.4.1996 zu ersetzen.<br />

Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen. Die Beklagte zu 1) hat vorgebracht:<br />

Aus dem mitgebrachten EKG seien keine Veränderungen am Herzen erkennbar gewesen. Über die Risiken<br />

derAnästhesie sei D... L.. zweimal aufgeklärt worden. Der Tubus sei in Ordnung gewesen und von Beginn bis zum<br />

Ende der Narkose verblieben.<br />

Der Beklagte zu 2) hat vorgetragen:<br />

Seine neuroradiologischen Untersuchungen seien ausreichend gewesen. Die Einwilligung zur Operation habe<br />

vorgelegen. Ein Neurochirurg habe mit der Beurteilung eines EKG nichts zu tun.<br />

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Zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes erster Instanz wird auf die tatsächlichen Feststellungen im Urteil<br />

des Landgerichts (BI. 629655 GA) Bezug genommen ( 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Das Landgericht hat eine umfangreiche Beweisaufnahme<br />

durchgeführt (vgl. die Bezugnahmen 81. 639/640 GA). Es hat der Klage zum Teil stattgegeben unter Berücksichtigung eines häufigen<br />

Mitverschuldens des Verstorbenen.<br />

Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:<br />

Eine hinreichende Aufklärung sei durch beide Beklagte erfolgt. Dies ergebe sich aus dem Aufklärungs- und<br />

Anamnesebogen sowie der Aussage des Zeugen 5 Die gestellte Diagnose sei richtig und die Operation dringend<br />

notwendig gewesen.<br />

Die Beatmung im Wege der Intubation sei nicht zu beanstanden. Die Beschwerden und das Erbrechen des D... L...<br />

hätten nicht auf eine akute Koronarerkrankung schließen lassen.<br />

Den Beklagten sei jedoch zur Last zu legen, dass sie dem mitgebrachten EKG zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt<br />

hätten.<br />

Zum Zeitpunkt der EKGAufzeichnung sei ein Herzinfarkt im Gange gewesen. Nach den Ausführungen des<br />

Sachverständigen Prof. Dr. M... müsse eine Anästhesistin die krankhaften Veränderungen anhand des EKG erkennen.<br />

Die Haftung treffe auch den Beklagten zu 2). Er sei behandelnder Arzt gewesen. Wenn dem Patienten aufgegeben<br />

werde, bestimmte Unterlagen und Befunde mitzubringen, müsse der verantwortliche Operateur diese auch einsehen<br />

und bewerten.<br />

Da der Verstorbene nicht auf die Koronarerkrankung hingewiesen habe, sei ein hälftiges Mitverschulden den<br />

gerechtfertigten Ansprüchen entgegenzusetzen.<br />

Gegen die Entscheidung des Landgerichts richten sich die Berufungen der Beklagten, die eine vollständige Abweisung<br />

der Klage begehren.<br />

Die Beklagte zu 1) bringt im Kern vor<br />

Mit der Heranziehung des Sachverständigen Prof Dr. M... habe das Landgericht gegen den Grundsatz verstoßen,<br />

einen Sachverständigen der gleichen Fachrichtung auszuwählen. Nur das Gutachten des Anästhesisten Prof. Dr. D...<br />

sei zu verwerten. Dieser sei zu dem eindeutigen Ergebnis gekommen, dass die Beklagte zu 1) bereits<br />

auf Grund ihrer Ausbildung den Infarkt auf dem EKG nicht habe erkennen können.<br />

Der Beklagte zu 2) bringt im Kern vor:<br />

In Folge der „horizontalen Arbeitsteilung― sei es nicht seine Aufgabe gewesen, sich das EKG des Verstorbenen<br />

anzusehen. Die Frage der Beurteilung des Gesundheitszustandes der zu operierenden Person obliege dem<br />

Anästhesisten und die Durchführung einer ordnungsgemäßen Operation dem Chirurgen. Dies sei unter Beweis gestellt<br />

worden durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Dem sei das Landgericht jedoch nicht nachgegangen.<br />

Dem ist die Klägerin entgegengetreten.<br />

Zur weiteren Sachdarstellung wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze und die beigezogenen<br />

Strafakten Bezug genommen.<br />

II. Die Rechtsmittel der Beklagten sind zulässig. Sie haben in der Sache aber keinen Erfolg.<br />

Mit dem Landgericht ist davon auszugehen, dass beide Beklagten D... L... fehlerhaft behandelt haben.<br />

Auf die ausführliche und zutreffende Begründung im angefochtenen Urteil wird vorab Bezug genommen.<br />

Das Berufungsvorbringen rechtfertigt keine andere Beurteilung.<br />

1. Haftung der Beklagten zu 1)<br />

a) Das Landgericht folgt im Ergebnis der Beurteilung durch den Sachverständigen Prof. Dr. M... und verweist darauf,<br />

der Sachverständige Prof. Dr. D... habe sich selbst darauf berufen, gemäß den in der Bundesrepublik Deutschland<br />

geltenden Weiterbildungsrichtlinien solle der Facharzt für Anästhesie speziell in der EKGDiagnostik eingehende<br />

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Kenntnisse erwerben (vgl. Bl. 413 GA). Schon hieraus sei zu folgern, so das Landgericht (Urteil 5. 17), dass auch ein Anästhesist in<br />

der Lage sein müsse, zu erkennen, dass überhaupt manifeste Abweichungen des vorliegenden EKG von einem<br />

Normalbefund vorliegen würden.<br />

Dem folgt der Senat.<br />

b) Gem. § 276 BGB schuldet der Arzt dem Patienten vertraglich wie deliktisch die im Verkehr erforderliche Sorgfalt.<br />

Diese bestimmt sich weitgehend nach dem medizinischen Standard des jeweiligen Fachgebiets. Der Arzt muss<br />

diejenigen Maßnahmen ergreifen, die von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt aus berufsfachlicher Sicht<br />

seines Fachbereichs vorausgesetzt und erwartet werden (BGH NJW 1995, 776). Ob ein Arzt seine berufsspezifische<br />

Sorgfaltspflicht verletzt hat, ist in erster Linie eine Frage, die sich nach medizinischen Maßstäben richtet. Der Richter<br />

muss den berufs- fachlichen Sorgfaltsmaßstab mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen ermitteln und hat<br />

eigenverantwortlich zu prüfen, ob dessen Beurteilung dem medizinischen Standard entspricht (BGH a.a.O.).<br />

c) Den Standard „Beurteilung eines EKG― und „Erkennen erheblicher Abweichungen― in Bezug auf einen Anästhesisten<br />

stellt der Sachverständige Prof. Dr. D... selbst nicht in Abrede. Die EKGVeränderung ist laut dem Gutachter Prof.- Dr.<br />

M... so markant, dass sie auch einem Nichtspezialisten in der Abweichung auffallen (vgl. Bl. 376, 462<br />

GA).<br />

Der Sachverständige differenziert auch hinsichtlich des Standards (81. 473/474 GA):<br />

„Für einen Anästhesisten gelten in der Beurteilung eines EKG nicht dieselben Kriterien. Nach meiner Einschätzung<br />

sollte ein Anästhesist soweit geschult und in der EKGBefundung kundig sein, dass er die beschriebenen<br />

EKGVeränderungen als vom Normalbefund abweichend erkennen kann. Im Falle einer Fehlinterpretation ist demnach<br />

von einem Diagnosefehler auszugehen. Die Abweichungen des EKG sind jedoch nicht so markant, dass im Falle eines<br />

Anästhesisten von einem „groben Diagnosefeh1er― ausgegangen werden kann.―<br />

Danach kann nicht davon ausgegangen werden, der Sachverständige Prof. Dr. D... habe einen anderen —zu<br />

fordernden — Standard zu Grunde gelegt, als der Sachverständige Prof. Dr. M.. .‚ so dass im Ergebnis dessen<br />

Beurteilung zu folgen ist. d) Der Senat folgt des Weiteren der Argumentation des Landgerichts zur Widersprüchlichkeit<br />

des Gutachtens D... in den Punkten „beauftragte Ärzte―, „präoperative Untersuchungen― und „Auflage, EKG<br />

mitzubringen― (Urteil 5. 17/18; u.a. zu Bl. 449/450 GA). Die Ausführungen des Sachverständigen zu diesen Punkten sind spekulativ.<br />

2. Haftung des Beklagten zu 2)<br />

a) Dieser wehrt sich gegen seine Verantwortlichkeit im Wesentlichen mit dem Argument, es sei nicht Sache des<br />

Operateurs, ein EKG zur Kenntnis zu nehmen.<br />

b) Zwar liegt eine horizontale Arbeitsteilung vor (vgl. dazu Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. A., § 101, Rn. 46 m.w.N.). Dies spricht hier aber<br />

nicht gegen eine Haftung des Beklagten zu 2).<br />

Von Bedeutung ist die präoperative Phase. Der Operateur entscheidet — primär — ob der Eingriff durchgeführt wird<br />

und ob die Voraussetzungen gegeben sind. Das hat er eigenständig zu prüfen (vgl. Opderbecke, Forensische Probleme in der Anästhesiologie, 5.<br />

13ff.).<br />

Hinzutritt im vorliegenden Fall, dass der Beklagte zu 2) den Verstorbenen zuvor behandelt und ihm aufgegeben hatte,<br />

ein EKG seines Hausarztes mitzubringen. Er musste dies dann auch eigenständig prüfen (und hat es wohl auch getan —Bl. 65 GA)<br />

unabhängig davon, dass auch die Beklagte zu 1) sich das EKG anzusehen hatte. Er kann nicht darauf verweisen, der<br />

Operateur brauche das nicht. Auf die Bewertung der Anästhesistin durfte er sich nicht verlassen, zumal ein schwerer<br />

Eingriff bevorstand und es keinen erheblichen Aufwand erforderte, das EKG zu kontrollieren (vgl. RumlerDetzel, VersR 1994, 254/255).<br />

Es kann vor diesem besonderen Hintergrund dann dahinstehen, ob der Operateur grundsätzlich nicht gehalten ist, im<br />

Rahmen der Befunde EKG zu berücksichtigen (vgl. Beklagter zu 2) 81. 678 GA).<br />

3. Dass D... L... auch ohne die Operation an den folgen des Infarkts gestorben wäre, ist nicht bewiesen.<br />

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Angriffe zur Höhe der Forderungen sind im Berufungsverfahren nicht geführt. 4.:Die Kosten- und<br />

Vollstreckbarkeitsentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1, 708 Nr. 10,711 ZPO.<br />

Für die Zulassung der Revision fehlt es an den gesetzlichen Voraussetzungen. Der Streitwert des Berufungsverfahrens<br />

beträgt 43.969, 06 €.<br />

Kaltenbach Kaltenbach, zugleich für SteinVorsitzender ROLG Dr. Menzel, der Richter<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 323/04 vom 13.06.2006<br />

Zur Anwendung einer neuen medizinischen Behandlungsmethode und zum Umfang der hierfür erforderlichen<br />

Aufklärung des Patienten. Der Arzt obsiegte gegenüber dem Patienten.<br />

BGB § 823 Aa<br />

BGH, Urteil vom 13. 06.2006 - VI ZR 323/04 - OLG Frankfurt a.M.<br />

LG Frankfurt a.M.<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 13. 06.2006 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr<br />

für Recht erkannt:<br />

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 7.<br />

12.2004 wird zurückgewiesen.<br />

Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Klägerin verlangt von den Beklagten Schadensersatz wegen einer nach ihrer Behauptung fehlerhaft und ohne die<br />

erforderliche Aufklärung durchgeführten ärztlichen Behandlung in der Klinik des Beklagten zu 1, deren ärztlicher<br />

Direktor der Beklagte zu 2 war. Im 09.1995 implantierte der Beklagte zu 3 der Klägerin mit Hilfe eines<br />

computerunterstützten Fräsverfahrens (Robodoc) eine zementfreie Hüftgelenksendoprothese. Die Operation dauerte 5 ½<br />

Stunden. Die Prothese wurde exakt implantiert. Bei der Operation wurde ein Nerv der Klägerin geschädigt. Sie leidet<br />

seither unter Beeinträchtigungen der Bein- und Fußfunktion. Die Vorinstanzen haben sowohl einen Behandlungs fehler<br />

als auch einen Aufklärungsfehler verneint und die Klage abgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen<br />

Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

Das Berufungsgericht, dessen Urteil u.a. in NJWRR 2005, 173 veröffentlicht ist, hat ausgeführt:<br />

Die Klägerin habe einen Behandlungsfehler nicht nachweisen können. Die Anwendung der RobodocMethode als<br />

solche stelle keinen Arztfehler dar. Die behandelnden Ärzte seien berechtigt gewesen, der Klägerin das Verfahren trotz<br />

seiner Neuheit und der damit verbundenen Risiken vorzuschlagen, da es dem herkömmlichen manuellen Verfahren bei<br />

Abwägung der Vor- und Nachteile nicht unterlegen gewesen sei und das OperationsTeam der Klinik aus besonders<br />

trainierten Ärzten bestanden habe, so dass die Komplikationsrate hier niedriger gewesen sei als in anderen<br />

Krankenhäusern. Auch ein konkreter Behandlungsfehler sei nicht nachgewiesen. Das Auftreten eines Nervschadens,<br />

wie er bei der Klägerin in Form einer Schädigung des Nervus ischiadicus eingetreten sei, stelle kein Indiz für einen<br />

Operationsfehler dar. Der Sachverständige Prof. St. habe ausgeführt, dass beim Einsetzen einer neuen Hüftpfanne<br />

wegen der engen räumlichen Verhältnisse die Möglichkeit der Überdehnung des Nervs bestehe, welche der Operateur<br />

nicht in jedem Fall vermeiden könne. Die Dauer des Eingriffs von 5 ½ Stunden sei nach den Ausführungen des<br />

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Sachverständigen ebenfalls kein Anzeichen eines Behandlungsfehlers. Im Übrigen habe der Sachverständige<br />

festgestellt, dass die Operationsdauer auf die Entstehung ei nes Nervschadens keinen Einfluss habe. Demnach könne<br />

aus der langen Dauer des Eingriffs nicht auf Fehler der Operateure geschlossen werden. Unter diesen Umständen<br />

komme es nicht darauf an, ob die Beweislast durch etwaige Dokumentationsmängel auf die Beklagten verlagert worden<br />

sei.<br />

Ein Aufklärungsmangel liege ebenfalls nicht vor. Stünden mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte<br />

Behandlungsmethoden zur Verfügung, die unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen aufwiesen, bestehe also eine<br />

echte Wahlmöglichkeit für den Patienten, müsse diesem durch entsprechende vollständige ärztliche Belehrung die<br />

Entscheidung darüber überlassen bleiben, auf welchem Weg die Behandlung erfolgen solle und auf welches Risiko er<br />

sich einlassen wolle. Nach diesen Kriterien sei die Klägerin über die verschiedenen Operationsmethoden, nämlich das<br />

herkömmliche Verfahren mit manueller Technik einerseits und das robotergestützte Vorgehen andererseits aufzuklären<br />

gewesen. Dies habe hier bereits deswegen zu gelten, weil das robotergestützte Vorgehen eine Methode gewesen sei,<br />

die im Zeitpunkt des Eingriffs im Jahre 1995 noch nicht allgemein etabliert gewesen sei. Im Streitfall sei eine solche<br />

Information der Patientin nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in ausreichendem Maße erfolgt. Insbesondere sei<br />

der Klägerin auch mitgeteilt worden, dass es sich um eine neue Operationsmethode gehandelt habe.<br />

II.<br />

Die Revision hat keinen Erfolg.<br />

1. Sie wendet sich nicht gegen die nach sachverständiger Beratung getroffene Feststellung des Berufungsgerichts,<br />

dass die Anwendung des "Robodoc" genannten computerunterstützten Fräsverfahrens als solches keinen Be<br />

handlungsfehler darstellt. Hiergegen ist auch aus revisionsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern. Insbesondere hat das<br />

Berufungsgericht bedacht, dass die Anwendung einer neuen Behandlungsmethode nur dann erfolgen darf, wenn die<br />

verantwortliche medizinische Abwägung und ein Vergleich der zu erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer<br />

abzusehenden und zu vermutenden Nachteile mit der standardgemäßen Behandlung unter Berücksichtigung des<br />

Wohles des Patienten die Anwendung der neuen Methode rechtfertigt (vgl. Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., Rn. 484, 486, 511, 673, 690, 393; ders. in:<br />

Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 130 Rn. 23 m.w.N.; Siebert, MedR 1983, 216, 219). Anhaltspunkte für eine in diesem Sinne fehlerhafte oder<br />

ungenügende Abwägung durch die Behandlungsseite sind von der Revision nicht dargelegt worden. Soweit sie neue<br />

Tatsachen dazu vorträgt, dass es sich bei der Anwendung des RobodocVerfahrens seinerzeit um eine experimentelle<br />

Methode gehandelt habe, kann ihr Vorbringen im Revisionsrechtszug keine Berücksichtigung finden.<br />

2. Auch einen Behandlungsfehler bei der Durchführung der Operation hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler<br />

verneint.<br />

a) Das Berufungsgericht erachtet es - sachverständig beraten - als erwiesen, dass dem Beklagten zu 3 als Operateur<br />

kein Fehler unterlaufen ist. Die hiergegen gerichteten Angriffe der Revision bleiben ohne Erfolg. Insbesondere ist aus<br />

Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht aus der langen Operationsdauer nicht auf ein<br />

behandlungsfehlerhaftes Vorgehen des Beklagten zu 3 geschlossen hat.<br />

Die Dauer der Operation von 5 ½ Stunden hat das Berufungsgericht im Hinblick auf das angewendete Verfahren und<br />

den dokumentierten Ablauf des Eingriffs in nachvollziehbarer Weise nicht beanstandet. Die Operationsdauer beim<br />

roboterassistierten Verfahren werde bereits allein aufgrund des Einsatzes des RobodocSystems durch die Installation<br />

der Geräte, das Ausmessen und die Datenermittlung verlängert. 5 ½ Stunden könnten nach den Ausführungen des<br />

Sachverständigen Prof. St. durchaus erforderlich sein. Im Fall der Klägerin habe noch eine Pfannendachplastik<br />

hergestellt werden müssen, was zusätzliche Zeit benötige. Aus dem Operationsbericht ergebe sich außerdem, dass<br />

wegen des verkürzten Schenkelhalses und der Subluxationsstellung im Hüftgelenk eine Darstellung des Nervus<br />

ischiadicus notwendig erschienen sei. Es sei hinzugekommen, dass bei der Klägerin eine fast 15 cm dicke<br />

Fettgewebeschicht habe durchtrennt werden müssen. Beide Maßnahmen erforderten erfahrungsgemäß zusätzlich Zeit.<br />

Mit ihren hiergegen gerichteten Angriffen begibt sich die Revision in unzulässiger Weise auf das Gebiet tatrichterlicher<br />

Beweiswürdigung. Der Sachverständige hat auch unter Berücksichtigung der Dauer der Operation keinen Anhaltspunkt<br />

für einen Behandlungsfehler gesehen. Bei dieser Sachlage bestand für das Berufungsgericht kein Anlass, der Frage<br />

nach den Gründen für die Dauer der Operation noch intensiver nachzugehen (vgl. auch Senatsurteil vom 9. 11.1993 - VI ZR 248/92 - VersR 1994, 682,<br />

683). Andere Anhaltspunkte für einen Behandlungsfehler als die Dauer der Operation zeigt die Revision nicht auf.<br />

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) Da das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht angreifbarer Weise die Dauer der Operation nicht als Anzeichen<br />

für einen Behandlungsfehler gewertet hat, kommt es nicht darauf an, ob aufgrund etwaiger Dokumentationsmängel die<br />

Beweislast auf die Beklagten verlagert worden ist. Auch die Angriffe der Revision gegen die - hilfsweisen -<br />

Ausführungen des Berufungsgerichts, der Sachverständige habe im Übrigen festgestellt, dass die Operationsdauer auf<br />

die Entstehung des Nervschadens keinen Einfluss gehabt habe, bleiben ohne Erfolg. Ob die Dauer der Operation für<br />

eine Nervschädigung kausal sein kann, ist unerheblich, wenn die lange Operationsdauer - wie hier - nicht auf einem<br />

Behandlungsfehler beruht.<br />

3. Auch die Begründung, mit der das Berufungsgericht einen Aufklärungsfehler verneint, hält den Angriffen der<br />

Revision - jedenfalls im Ergebnis - stand.<br />

a) Die Revision nimmt die Auffassung des Berufungsgerichts, die Patientin habe über beide Operationsmethoden<br />

aufgeklärt werden müssen, als ihr günstig hin; sie meint aber, die Klägerin sei nicht ausreichend über die Risiken der<br />

neuen Methode aufgeklärt worden, insbesondere nicht über das höhere Risiko einer Nervschädigung infolge einer<br />

längeren Operationsdauer.<br />

aa) Zutreffend hat das Berufungsgericht eine Verpflichtung der Beklagten zur Aufklärung darüber bejaht, dass zwei<br />

Behandlungsalternativen zur Verfügung standen, wovon eine seinerzeit ein Neulandverfahren war. Nach der<br />

Rechtsprechung des erkennenden Senats ist die Wahl der Behandlungsmethode zwar primär Sache des Arztes<br />

(Senatsurteile BGHZ 102, 17, 22; 106, 153, 157; vom 11. 05.1982 - VI ZR 171/80 - VersR 1982, 771, 772; vom 24. 11.1987 - VI ZR 65/87 - VersR 1988, 190, 191 und vom 15. 03.2005 - VI ZR 313/03 - VersR<br />

2005, 836; OLG Zweibrücken, OLGR 2001, 79, 81 mit NABeschluss des Senats vom 19. 12.2000 - VI ZR 171/00 ; OLG Karlsruhe, MedR 2003, 229, 230). Die Wahrung des<br />

Selbstbestimmungsrechts des Patienten erfordert aber eine Unterrichtung über eine alternative<br />

Behandlungsmöglichkeit, wenn für eine medizinisch sinnvolle und indizierte Therapie mehrere gleichwertige<br />

Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen<br />

oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten (Senatsurteile BGHZ 102, 17, 22; 106, 153, 157; vom 14. 09.2004 - VI ZR 186/03 - VersR 2005, 227; vom<br />

15. 03.2005 - VI ZR 313/03 - aaO; Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 331 f.; MünchKommBGB/Wagner, 4. Aufl., § 823 Rn. 707 f.; Staudinger/Hager, BGB, 13. Bearbeitung [1999], § 823, Rn. I 92 m.w.N.).<br />

Dass danach im Streitfall die Pflicht zur Aufklärung über die alternativen Möglichkeiten der manuellen bzw.<br />

computergestützten Operation bestand, hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler bejaht. Auch die Feststellung des<br />

Berufungsgerichts, die Klägerin sei über die damals bekannten Vor- und Nachteile der Behandlungsmethoden<br />

ordnungsgemäß aufgeklärt worden, ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, insbesondere unter<br />

Berücksichtigung dessen, dass der Patient auch bei Anwendung einer neuen Behandlungsmethode wie sonst nur "im<br />

großen und ganzen" über Chancen und Risiken der Behandlung aufgeklärt werden muss (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsurteile BGHZ<br />

90, 103, 106; 144, 1, 7 und vom 7. 04.1992 - VI ZR 192/91 - VersR 1992, 960, 961). Soweit die Revision gegen die Feststellungen zum Umfang der<br />

erteilten Aufklärung Verfahrensrügen erhebt, hat der Senat diese geprüft und für nicht durchgreifend erachtet (§ 564 ZPO).<br />

Gleichwohl war die der Patientin erteilte Aufklärung nicht in jeder Hinsicht ausreichend.<br />

bb) Bei standardgemäßer Behandlung sind allgemeine Überlegungen dazu, dass der Eintritt bislang unbekannter<br />

Komplikationen in der Medizin nie ganz auszuschließen ist, für die Entscheidungsfindung des Patienten nicht von<br />

Bedeutung. Sie würden ihn im Einzelfall sogar nur unnötig verwirren und beunruhigen (Senatsurteil vom 12. 12.1989 - VI ZR 83/89 - 1990, 522,<br />

523). Im Falle des computerunterstützten Fräsverfahren Robodoc bei Implantation einer Hüftgelenksendoprothese<br />

handelte es sich jedoch 1995 um eine neue Operationsmethode. Die Methode wurde 1992 erstmals in den USA<br />

klinisch erprobt. Bei dem Beklagten zu 1 war Robodoc erst seit 1994 im Einsatz. Das Verfahren ist nach den<br />

Feststellungen des Berufungsgerichts bis heute umstritten. Will der Arzt aber keine allseits anerkannte<br />

Standardmethode, sondern ei ne - wie im Streitfall - relativ neue und noch nicht allgemein eingeführte Methode mit<br />

neuen, noch nicht abschließend geklärten Risiken anwenden, so hat er den Patienten nach der Rechtsprechung der<br />

Instanzgerichte auch darüber aufzuklären und darauf hinzuweisen, dass unbekannte Risiken derzeit nicht<br />

auszuschließen sind (vgl. OLG Celle, VersR 1992, 749 f.; OLG Köln, NJWRR 1992, 986, 987; OLG Oldenburg, VersR 1997, 491; OLG Zweibrücken, aaO; OLG Bremen, OLGR 2004, 320, 321<br />

f.; OLG Karlsruhe, VersR 2004, 244, 245; OLG Düsseldorf, VersR 2004, 386; Frahm/Nixdorf, Arzthaftungsrecht, 3. Aufl, Rn. 185; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl., C, Rn. 39; Steffen/Dressler,<br />

Arzthaftungsrecht, 9. Aufl., Rn. 387; vgl. auch Katzenmeier, aaO, S. 312; MünchKommBGB/Wagner, aaO, § 823 Rn. 710). Der erkennende Senat teilt diese Auffassung.<br />

Die Anwendung neuer Verfahren ist für den medizinischen Fortschritt zwar unerlässlich. Am Patienten dürfen sie aber<br />

nur dann angewandt werden, wenn diesem zuvor unmissverständlich verdeutlicht wurde, dass die neue Methode die<br />

Möglichkeit unbekannter Risiken birgt. Der Patient muss in die Lage versetzt werden, für sich sorgfältig abzuwägen, ob<br />

er sich nach der herkömmlichen Methode mit bekannten Risiken operieren lassen möchte oder nach der neuen<br />

Methode unter besonderer Berücksichtigung der in Aussicht gestellten Vorteile und der noch nicht in jeder Hinsicht<br />

bekannten Gefahren. Hiernach hätte es zumindest eines ausdrücklichen Hinweises auf die Möglichkeit noch nicht<br />

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ekannter Risiken bedurft, der der Klägerin nach den getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht erteilt<br />

worden ist.<br />

b) Soweit die Klägerin darüber hinaus geltend macht, sie hätte auch darüber aufgeklärt werden müssen, dass die<br />

längere Dauer der Operation das Risiko einer Nervschädigung erhöhe, betrifft auch dies den Umfang der Aufklärung<br />

bei einer Neulandmethode. Ob ein Hinweis auf ein solches Risiko erforderlich gewesen wäre, bedarf im Streitfall keiner<br />

abschließenden Beurteilung.<br />

Im Allgemeinen besteht eine Aufklärungspflicht nur dann, wenn ernsthafte Stimmen in der medizinischen Wissenschaft<br />

auf bestimmte mit einer Behandlung verbundene Gefahren hinweisen, die nicht lediglich als unbeachtliche<br />

Außenseitermeinungen abgetan werden können, sondern als gewichtige Warnungen angesehen werden müssen<br />

(Senatsurteile vom 12. 12.1989 - VI ZR 83/89 - VersR 1990, 522, 523 und vom 21. 11.1995 - VI ZR 329/94 - VersR 1996, 233 m.w.N.; OLG Oldenburg, VersR 2006, 517 mit NZBBeschluss des Senats vom 31.<br />

01.2006 - VI ZR 87/05 - aaO; Geiß/Greiner, aaO, Rn. 46; Steffen/Dressler, aaO, Rn. 391). Bei einer Neulandmethode können zum Schutz des Patienten je<br />

nach Lage des Falles strengere Anforderungen gelten. Auch hier ist allerdings nicht über bloße Vermutungen<br />

aufzuklären. Etwas anderes kann aber gelten, wenn diese sich so weit verdichtet haben, dass sie zum Schutz des<br />

Patienten in dessen Entscheidungsfindung einbezogen werden sollten.<br />

Derart konkrete Vermutungen hat das Berufungsgericht im Streitfall nicht festgestellt. Nach den verfahrensfehlerfreien<br />

Feststellungen existierten zum damaligen Zeitpunkt noch keine repräsentativen wissenschaftlichen Studien, die<br />

verlässliche Vergleiche der beiden Methoden erlaubt hätten. Das von der Revision herangezogene und vom<br />

Berufungsgericht berücksichtigte Gutachten Dr. Sch. stammt aus dem Jahre 2004. Nach den insoweit nicht<br />

angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Sachverständige in diesem Gutachten sämtliche<br />

verfügbaren Publikationen zum RobodocVerfahren ausgewertet. Zwar zeigt eine der ausgewerteten und vom<br />

Berufungsgericht berücksichtigten Studien eine höhere Komplikationsrate hinsichtlich von Nervschädigungen bei<br />

Robodoc im Vergleich zu der manuellen Implantation. Diese Studie stammt jedoch erst aus dem Jahr 2003. Der<br />

Sachverständige Prof. St. hat allerdings in seiner mündlichen Anhörung vor dem Berufungsgericht bekundet, dass<br />

Kritiker des Verfahrens im Jahre 1995 nicht begründete Vermutungen ge äußert hätten. Über den Inhalt dieser<br />

Vermutungen ist aber nichts mitgeteilt. Insbesondere ist nichts dafür ersichtlich, dass sich diese auf einen möglichen<br />

Zusammenhang zwischen Operationsdauer und Nervschädigung bezogen hätten. Tatrichterlicher Feststellungen über<br />

den Inhalt oder die Tragweite dieser Vermutungen bedarf es im Streitfall nicht, weil sich das angefochtene Urteil aus<br />

einem anderen Grund als richtig erweist.<br />

c) Die oben erörterten Mängel der Aufklärung wirken sich nämlich unter den besonderen Umständen des Streitfalles<br />

nicht aus, weil sich mit der Nervschädigung ein Risiko verwirklicht hat, über das die Klägerin vollständig - wenn auch im<br />

Zusammenhang mit der herkömmlichen Operationsmethode - aufgeklärt worden ist. Nach den vom Berufungsgericht<br />

getroffenen Feststellungen hat der Zeuge Dr. S. der Klägerin im Einzelnen erklärt, welche Nerven bei der Operation<br />

geschädigt werden könnten und wie sich dies auswirke. Er hat dargestellt, dass die Bewegung und Belastung der<br />

Beine betroffen sein könne, dass es zu Verrenkungen des Gelenks kommen könne und dass auch die Streckung des<br />

Knies beeinträchtigt werden könne, je nachdem welcher Nerv geschädigt werde. Auch die Zeugin C., damals<br />

Stationsärztin bei dem Beklagten zu 1, hat die Klägerin bei einem erneuten Aufklärungsgespräch zwei Tage vor der<br />

Operation auf die Gefahr einer Nervschädigung hingewiesen. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats<br />

kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob auch über andere - hier möglicherweise noch unbekannte - Risiken, die<br />

sich nicht verwirklicht haben, hätte aufgeklärt werden müssen, wenn sich (nur) ein Risiko verwirklicht, über das aufgeklärt<br />

werden musste und über das auch tatsächlich aufgeklärt worden ist. Denn die Klägerin hat in Kenntnis des später<br />

verwirklichten Risikos ihre Einwilligung gegeben. Hat der Patient bei seiner Einwilligung das später eingetretene Risiko<br />

in Kauf genommen, so kann er bei wertender Betrachtungsweise nach dem Schutzzweck der Aufklärungspflicht aus<br />

der Verwirklichung dieses Risikos keine Haftung herleiten (Senatsurteile<br />

BGHZ 144, 1, 7 f.; vom 12. 03.1991 - VI ZR 232/90 - VersR 1991, 777, 779 und vom 30. 01.2001 - VI ZR 353/99 - VersR 2001, 592; Frahm/Nixdorf, aaO, Rn. 205; Geiß/Greiner, aaO, Rn. 157;<br />

MünchKommBGB/Wagner, aaO, § 823, Rn. 725; Steffen/Dressler, aaO, Rn. 450a).<br />

III.<br />

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.<br />

Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr<br />

Vorinst.:LG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 29.08.2003 - 2/21 O 362/98 -<br />

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OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 07.12.2004 - 8 U 194/03 -<br />

OLG Hamm MedR 2006, 358<br />

Sorgfaltwidrig handelt, wer die Anforderungen, die an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen aus dem<br />

Verkehrskreis des Täters in dessen sozialer Rolle bei einer Betrachtung der Gefahrenlage ex ante gestellt<br />

werden, nicht erfüllt… Dabei sind an das Maß der ärztlichen Sorgfalt hohe Anforderungen zu stellen. …<br />

Maßgebend ist der Standard eines erfahrenen Facharztes, also das zum Behandlungszeitpunkt in der ärztlichen<br />

Praxis und Erfahrung bewährte, nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis gesicherte, von einem<br />

durchschnittlichen Facharzt verlangte Maß an Kenntnis und Können. … Ein Patient, der sich in die Fachklinik<br />

eines Krankenhauses begibt, hat Anspruch auf ärztliche Behandlung, die dem Standard eines erfahrenen<br />

Facharztes entspricht.<br />

Thöns BVerG - 1 BvR 347/98 06122005 vom 06.12.2005<br />

Es ist mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2<br />

Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder<br />

regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende<br />

Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten<br />

Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf<br />

eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.<br />

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT<br />

- 1 BvR 347/98 Im Namen des Volkes<br />

In dem Verfahren<br />

über<br />

die Verfassungsbeschwerde<br />

des Herrn F... - Bevollmächtigte:<br />

Rechtsanwälte Berner, Fischer & Partner,Andreaswall 2, 27283 Verden - gegen<br />

das Urteil des Bundessozialgerichts vom 16. 09.1997 - 1 RK 28/95<br />

hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat – unter Mitwirkung<br />

des Präsidenten Papier,der Richterin Haas,der Richter Hömig,Steiner,der Richterin HohmannDennhardt,<br />

und der Richter HoffmannRiem,Bryde,Gaier<br />

am 6. 12.2005 beschlossen:<br />

1. Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 16. 09.1997 - 1 RK 28/95 - verletzt den Beschwerdeführer in seinen<br />

Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Artikel 2<br />

Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Bundessozialgericht<br />

zurückverwiesen. 2. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu<br />

erstatten. Gründe:<br />

A. 1<br />

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für so genannte neue<br />

Behandlungsmethoden in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung im Rahmen der<br />

ambulanten ärztlichen Versorgung.<br />

I.<br />

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1. Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland, der gegenwärtig etwa 62 Millionen Menschen als<br />

Pflichtversicherte und knapp neun Millionen Menschen als freiwillige Versicherte angehören, beruht auf dem<br />

Grundkonzept, dass Menschen bei Eintritt von Krankheit unabhängig von der Höhe ihrer am Prinzip der individuellen<br />

Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung erhalten. Die Versicherten<br />

tragen gemeinschaftlich das sich individuell entfaltende Risiko der Krankheit. Ihnen wird nach dem die gesetzliche<br />

Krankenversicherung prägenden Sachleistungsprinzip ein Anspruch auf Gewährung freier ärztlicher Behandlung<br />

gewährt.<br />

Die für das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung maßgebliche Vorschrift des § 2 des Fünften Buches<br />

Sozialgesetzbuch (SGB V) in der Fassung des Gesetzes vom 19. 06.2001 (BGBl I S. 1046) hat, soweit hier von Interesse,<br />

folgenden Wortlaut:<br />

Leistungen<br />

(1) Die Krankenkassen stellen den Versicherten die im Dritten Kapitel genannten Leistungen unter Beachtung des<br />

Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12) zur Verfügung, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten<br />

zugerechnet werden. Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besonderen Therapierichtungen sind nicht<br />

ausgeschlossen. Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen<br />

Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen.<br />

(2) Die Versicherten erhalten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen, soweit dieses oder das Neunte Buch<br />

nichts Abweichendes vorsehen. Über die Erbringung der Sach- und Dienstleistungen schließen die Krankenkassen<br />

nach den Vorschriften des Vierten Kapitels Verträge mit den Leistungserbringern.<br />

(3) und (4) ...<br />

Zu § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V führt die Gesetzesbegründung (BTDrucks 11/2237, S. 157) aus:<br />

Der "allgemein anerkannte Stand der medizinischen Kenntnisse" schließt Leistungen aus, die mit wissenschaftlich nicht<br />

anerkannten Methoden erbracht werden. Neue Verfahren, die nicht ausreichend erprobt sind, oder<br />

Außenseitermethoden (paramedizinische Verfahren), die zwar bekannt sind, aber sich nicht bewährt haben, lösen keine<br />

Leistungspflicht der Krankenkasse aus. Es ist nicht Aufgabe der Krankenkassen, die medizinische Forschung zu<br />

finanzieren. Dies gilt auch dann, wenn neue Methoden im Einzelfall zu einer Heilung der Krankheit oder Linderung der<br />

Krankheitsbeschwerden führen.<br />

Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur Behandlung einer Krankheit.<br />

§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V bestimmt im Zusammenhang mit den Vorschriften, die diesen Leistungsanspruch<br />

konkretisieren, dass Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung haben, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit<br />

zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach § 27 Abs. 1<br />

Satz 2 SGB V gehört zur Krankenbehandlung unter anderem die ärztliche Behandlung (Nr. 1). Die ärztliche Behandlung<br />

umfasst die Tätigkeit des Arztes, die zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten nach den Regeln<br />

der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig ist (§ 28 Abs. 1 Satz 1 SGB V).<br />

Nach dem in § 12 Abs. 1 SGB V geregelten Wirtschaftlichkeitsgebot müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig<br />

und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder<br />

unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die<br />

Krankenkassen nicht bewilligen. Dem entspricht, soweit es um die Beziehungen zwischen den Krankenkassen und den<br />

Ärzten als Leistungserbringern geht, § 70 SGB V. Nach § 13 Abs. 1 SGB V darf die Krankenkasse anstelle der Sach-<br />

oder Dienstleistung Kosten nur erstatten, soweit es das SGB V oder das SGB IX vorsehen. § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V<br />

trifft eine für den vorliegenden Fall wichtige Regelung zur Kostenerstattung. Konnte die Krankenkasse eine<br />

unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch<br />

Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der<br />

entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Mit der Durchbrechung des<br />

Sachleistungsgrundsatzes trägt § 13 Abs. 3 SGB V dem Umstand Rechnung, dass die gesetzlichen Krankenkassen<br />

eine umfassende Versorgung ihrer Mitglieder sicherstellen müssen (vgl. BSGE 81, 54 ).<br />

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2. a) Nach § 92 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB V beschließt der Gemeinsame Bundesausschuss, der seit dem Gesetz<br />

zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14. 11.2003 (BGBl I S. 2190) an die Stelle der bisherigen, im<br />

Zeitpunkt der hier angegriffenen Entscheidung des Bundessozialgerichts zuständigen Bundesausschüsse getreten ist,<br />

die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende,<br />

zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten. Er wird durch die Kassenärztlichen<br />

Bundesvereinigungen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft, die Bundesverbände der Krankenkassen, die Deutsche<br />

Rentenversicherung KnappschaftBahnSee und die Verbände der Ersatzkassen gebildet (§ 91 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Nach § 92<br />

Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V soll er Richtlinien beschließen über die Einführung neuer Untersuchungs- und<br />

Behandlungsmethoden. Dafür sieht § 135 Abs. 1 SGB V ein besonderes Verfahren vor. Die Vorschrift lautet wie folgt:<br />

Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen in der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen<br />

Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss auf Antrag<br />

einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder eines Spitzenverbandes der<br />

Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 Empfehlungen abgegeben hat über<br />

1. die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische<br />

Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit - auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachte Methoden -<br />

nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung,<br />

2. die notwendige Qualifikation der Ärzte, die apparativen Anforderungen sowie Anforderungen an Maßnahmen der<br />

Qualitätssicherung, um eine sachgerechte Anwendung der neuen Methode zu sichern, und<br />

3. die erforderlichen Aufzeichnungen über die ärztliche Behandlung. 17<br />

Der Gemeinsame Bundesausschuss überprüft die zu Lasten der Krankenkassen erbrachten vertragsärztlichen und<br />

vertragszahnärztlichen Leistungen daraufhin, ob sie den Kriterien nach Satz 1 Nr. 1 entsprechen. Falls die Überprüfung<br />

ergibt, dass diese Kriterien nicht erfüllt werden, dürfen die Leistungen nicht mehr als vertragsärztliche oder<br />

vertragszahnärztliche Leistungen zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden. 18<br />

b) Gegenwärtig gilt die "Richtlinie zur Bewertung medizinischer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden" (BUBRichtlinie)<br />

in der Fassung vom 1. 12.2003. Sie ist am 23. 03.2004 veröffentlicht worden (Bundesanzeiger Nr. 57) und am 24. 03.2004 in<br />

Kraft getreten. In verschiedenen Anlagen werden einerseits die anerkannten Untersuchungs- und<br />

Behandlungsmethoden (Anlage A) und andererseits die Methoden aufgelistet, die nicht als vertragsärztliche Leistungen zu<br />

Lasten der Krankenkassen erbracht werden dürfen (Anlage B). Die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses<br />

definiert Untersuchungs- und Behandlungsmethoden als neu, wenn sie noch nicht als abrechnungsfähige ärztliche<br />

Leistungen im "Einheitlichen Bewertungsmaßstab für die ärztlichen Leistungen" (EBM) enthalten sind. Er ist Bestandteil<br />

der Bundesmantelverträge nach § 87 Abs. 1 Satz 1 SGB V und enthält ein abgeschlossenes Leistungsverzeichnis. Nur<br />

die dort genannten Leistungspositionen können von den Ärzten mit der Kassenärztlichen Vereinigung abgerechnet<br />

werden.<br />

c) Für das Recht des SGB V vertritt das Bundessozialgericht in inzwischen ständiger Rechtsprechung (vgl. BSGE 78, 70 ; 81,<br />

54 ) die Auffassung, das Gesetz inkorporiere die Richtlinie unmittelbar in den Bundesmantelvertrag und die<br />

Gesamtverträge. Die Vorschriften des § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V über das Leistungserbringungsrecht und die<br />

leistungsrechtliche Vorschrift des § 12 Abs. 1 SGB V stünden in einem unmittelbaren sachlogischen Zusammenhang.<br />

Die Richtlinie binde den Vertragsarzt, präzisiere aber auch den Umfang der Leistungspflicht der Krankenkassen<br />

gegenüber den Versicherten. Der Umfang der zu gewährenden Krankenversorgung im Verhältnis von Versicherten zu<br />

Krankenkassen sei kein anderer als im Verhältnis der ärztlichen Leistungserbringer zu den Kassenärztlichen<br />

Vereinigungen und wiederum zu den Krankenkassen. Gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V in seiner Auslegung durch<br />

die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts steht gesetzlich Krankenversicherten ein Leistungsanspruch auf neue<br />

medizinische Behandlungsmethoden gegen ihre Krankenkasse nur dann zu, wenn der zuständige Bundesausschuss<br />

(jetzt: Gemeinsamer Bundesausschuss) die jeweilige Methode "zugelassen" hat. Daran sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit<br />

gebunden. Grundsätzlich dürfen sie nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung im einzelnen Leistungsfall nur dann<br />

prüfen, ob eine neue Behandlungsmethode medizinisch notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich ist, wenn im<br />

Zusammenhang mit dem Verfahren vor dem Bundesausschuss Fehler aufgetreten sind, die ein so genanntes<br />

Systemversagen begründen.<br />

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II.<br />

1. Der im 07.1987 geborene Beschwerdeführer war im streitgegenständlichen Zeitraum von 1992 bis 1994 in der<br />

Barmer Ersatzkasse als Familienangehöriger (§ 10 SGB V) versichert. Er leidet an der Duchenne'schen Muskeldystrophie<br />

(englische Abkürzung: DMD). Es handelt es dabei um eine so genannte progressive Muskeldystrophie. Darunter werden sehr<br />

variable Muskelerkrankungen zusammengefasst, die durch einen pathologischen Umbau des Gewebes mit erheblichen<br />

Funktionsstörungen gekennzeichnet sind. Die DMD ist die häufigste Form der progressiven Muskeldystrophien. Sie<br />

wird xchromosomalrezessiv vererbt. DMD tritt ausschließlich beim männlichen Geschlecht auf, und zwar mit einer<br />

Häufigkeit von 1 zu 3.500. Die Krankheit manifestiert sich in den ersten Lebensjahren; ihr prognostizierter Verlauf ist<br />

progredient. Mit dem Verlust der Gehfähigkeit ist normalerweise zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr zu<br />

rechnen; es tritt zunehmende Ateminsuffizienz auf. Die Krankheit äußert sich auch in Wirbelsäulendeformierungen,<br />

Funktions- und Bewegungseinschränkungen von Gelenken sowie in Herzmuskelerkrankungen. Die Lebenserwartung<br />

ist stark eingeschränkt. Die Krankheit geht nach den heutigen Erkenntnissen auf das DystrophinGen zurück.<br />

Üblicherweise wird nur eine symptomorientierte Behandlung (Cortisonpräparate, Operationen, Krankengymnastik) durchgeführt. Bislang gibt<br />

es keine wissenschaftlich anerkannte Therapie, die eine Heilung oder eine nachhaltige Verzögerung des<br />

Krankheitsverlaufs bewirken kann (vgl. http://www.duchenneforschung.de/richtli1.htm).<br />

Seit 09.1992 befindet sich der Beschwerdeführer in Behandlung bei Dr. B., Facharzt für Allgemeinmedizin, der über<br />

keine Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung verfügt. Bei dieser Behandlung werden neben Thymuspeptiden,<br />

Zytoplasma und homöopathischen Mitteln hochfrequente Schwingungen ("Bioresonanztherapie") angewandt. Bis Ende 1994<br />

hatten die Eltern des Beschwerdeführers dafür einen Betrag von 10.000 DM aufgewandt. Die Ärzte der Orthopädischen<br />

Klinik der Technischen Hochschule A. hielten den bisherigen Krankheitsverlauf für günstig. Seit Herbst 2000 ist der<br />

Beschwerdeführer, der eine öffentliche Schule besucht, auf einen Rollstuhl angewiesen, zunächst für Wegstrecken<br />

außerhalb des Hauses, seit Frühjahr 2001 aber auch im Haus. Eine mitbetreuende Ärztin stufte seinen<br />

Gesundheitszustand trotz des Verlustes der Gehfähigkeit im Vergleich zu anderen Betroffenen als gut ein.<br />

2. Der Antrag auf Übernahme der Kosten für die Therapie bei Dr. B. wurde von der zuständigen Krankenkasse<br />

abgelehnt. Im Widerspruchsverfahren hat die Krankenkasse Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der<br />

Krankenversicherung Niedersachsen eingeholt. Die Kinderärztin Dr. F. vertrat in ihrer Stellungnahme nach Aktenlage<br />

die Auffassung, Muskeldystrophien seien nicht heilbar, aber behandelbar. Ein Therapieerfolg der von Dr. B.<br />

angewandten Methoden sei wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Nach Auffassung der Fachärztin für Neurologie,<br />

Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. W.V. überwog im damaligen Stadium der Erkrankung die altersbedingte motorische<br />

Weiterentwicklung gegenüber dem progredienten Krankheitsverlauf. Die Behandlung durch Dr. B. sei für die Besserung<br />

des Zustandes nicht kausal.<br />

3. Die gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts eingelegte Berufung hatte Erfolg (NZS 1996, S. 74). Das<br />

Landessozialgericht holte einen Befundbericht bei der Orthopädischen Klinik der Technischen Hochschule A. ein, bei<br />

der sich der Beschwerdeführer in regelmäßigen Abständen vorstellt. Die Klinik empfahl, die Therapie wegen der<br />

günstigen Verlaufsform fortzusetzen. Ferner hörte das Gericht den behandelnden Arzt Dr. B. in der mündlichen<br />

Verhandlung als sachverständigen Zeugen. Das Landessozialgericht hob das Urteil des Sozialgerichts auf und<br />

verurteilte die beklagte Krankenkasse, dem Beschwerdeführer die ab 03.1993 entstandenen Kosten für die Therapie<br />

des Dr. B. zu erstatten. Das SGB V sehe keine Begrenzung des Leistungsanspruchs des Versicherten auf die<br />

Schulmedizin vor. Aus § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V folge, dass ein gewisser Qualitätsstandard gewahrt sein müsse. Auf<br />

den allgemein anerkannten Stand der schulmedizinischen Erkenntnisse komme es aber nicht an. Ansonsten würde<br />

durch § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V die grundsätzliche Einbeziehung der besonderen Therapierichtungen in die Versorgung<br />

weitgehend in Frage gestellt. Maßgeblich könne nur sein, ob die besondere Therapierichtung nach ihrem eigenen<br />

Denkansatz plausibel sei. Dies sei hier der Fall.<br />

Die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (im Folgenden: Bundesausschuss), die damals gegolten<br />

haben, seien nicht geeignet, den Leistungsanspruch des Versicherten zu definieren. Der Ausschuss habe nicht die<br />

Kompetenz, das Leistungsrecht zu regeln. Dafür fehle es bereits an der gesetzlichen Ermächtigung. Die im<br />

Leistungserbringungsrecht vorgesehenen Institutionen könnten das Leistungsrecht schon deswegen nicht<br />

konkretisieren, weil deren Vorschriften keine Verbindlichkeit gegenüber den Versicherten besäßen. Darüber hinaus<br />

habe der Ausschuss über drei der vier von Dr. B. zu einem Gesamtkonzept verbundenen Einzeltherapien keine<br />

Stellungnahme abgegeben. Die Auffassung, der Versicherte könne nur die Leistungen beanspruchen, über die der<br />

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Ausschuss positiv entschieden habe, finde im Gesetz keine Stütze. Soweit der Ausschuss das Bioresonanzverfahren<br />

mit der Begründung abgelehnt habe, es handle sich dabei um "Mystik", stelle dies kein akzeptables Ergebnis einer<br />

ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Diskussion dar. Eine die Therapie des Beschwerdeführers ausschließende<br />

Leistungsbegrenzung wäre im Übrigen auch verfassungswidrig.<br />

4. Auf die von der beklagten Krankenkasse eingelegte Revision hat das Bundessozialgericht das Urteil des<br />

Landessozialgerichts aufgehoben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückgewiesen (BSGE 81, 54).<br />

Die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 SGB V für die Erstattung der Kosten der als einheitliches Behandlungskonzept<br />

einzustufenden, aber nicht den bekannten besonderen Therapierichtungen (Homöopathie, Anthroposophie, Phytotherapie)<br />

zuzurechnenden Therapie durch Dr. B. seien nicht erfüllt, weil die Krankenkasse die Leistung nicht zu Unrecht<br />

abgelehnt habe. Ein Kostenerstattungsanspruch könne nur insoweit bestehen, als die zur Anwendung gekommene<br />

Untersuchungs- oder Behandlungsmethode zu den von den gesetzlichen Krankenkassen geschuldeten Leistungen<br />

gehöre.<br />

Das sei aber nicht der Fall. Dass die in Streit stehenden Behandlungen nicht zum Leistungsspektrum der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung gehörten, ergebe sich aus § 135 Abs. 1 SGB V in Verbindung mit den Richtlinien des<br />

Bundesausschusses über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, wie sie damals gegolten<br />

haben. Für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sehe § 135 Abs. 1 SGB V eine Art Verbot mit<br />

Erlaubnisvorbehalt vor. Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden seien so lange von der Abrechnung zu<br />

Lasten der Krankenkasse ausgeschlossen, bis der Bundesausschuss sie als zweckmäßig anerkannt habe. Bei der<br />

streitgegenständlichen Therapie handle es sich um eine neue Behandlungsmethode. Die hier angewandte Therapie -<br />

das Bundessozialgericht bezeichnet sie als immunbiologische Therapie - sei bisher nicht Bestandteil des<br />

vertragsärztlichen Leistungsspektrums gewesen. Eine vorherige Anerkennung durch den Bundesausschuss liege<br />

bezüglich dieser Therapie nicht vor.<br />

Dem stehe nicht entgegen, dass sich § 135 Abs. 1 SGB V vordergründig nicht mit dem Verhältnis zwischen<br />

Versicherten und Krankenkassen befasse. Der systematische Zusammenhang zwischen Leistungsrecht und<br />

Leistungserbringungsrecht führe dazu, dass das Leistungsrecht gegenüber dem Leistungserbringungsrecht nicht<br />

vorrangig sei. Die Regelungen im Leistungsrecht gewährten nur Rahmenrechte. Ein unmittelbar durchsetzbarer<br />

Anspruch werde nicht begründet. Das Rahmenrecht werde durch den Arzt konkretisiert, dessen Handlungsspielraum<br />

seinerseits durch die gesetzlichen Regelungen und damit auch durch die Richtlinien des Bundesausschusses<br />

abgesteckt werde. Die Vorschriften des Vertragsarztrechts einschließlich der Richtlinien des Bundesausschusses<br />

bestimmten den Leistungsanspruch für Krankenkassen, Leistungserbringer und Versicherte gleichermaßen verbindlich.<br />

Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten sei es nicht zu beanstanden, dass § 135 Abs. 1 SGB V die für die<br />

vertragsärztliche Behandlung freigegebenen neuen Methoden nicht selbst nenne, sondern insoweit auf die Richtlinien<br />

verweise. Diese seien nunmehr in die Bundesmantelverträge und die Gesamtverträge über die vertragsärztliche<br />

Versorgung eingegliedert und nähmen an deren normativer Wirkung teil. Für die vertragsunterworfenen Krankenkassen<br />

und Vertragsärzte setzten sie unmittelbar verbindliches, außenwirksames Recht. Die im Schrifttum dagegen<br />

geäußerten verfassungsrechtlichen Einwände teile das Gericht nicht.<br />

Angesichts der Verbindlichkeit der Richtlinien auch im Verhältnis zum Versicherten sei dem Versicherten, der sich eine<br />

vom Bundesausschuss nicht empfohlene Behandlung auf eigene Rechnung beschaffe, im Kostenerstattungsverfahren<br />

der Einwand abgeschnitten, die Methode sei gleichwohl zweckmäßig und in seinem konkreten Fall wirksam gewesen<br />

oder lasse einen Behandlungserfolg zumindest als möglich erscheinen. Etwas anderes gelte nur dann, wenn ein<br />

Systemmangel vorliege. Davon sei insbesondere auszugehen, wenn der Bundesausschuss innerhalb vertretbarer Zeit<br />

noch keine Stellungnahme zu einer Behandlungsmethode abgegeben habe, etwa weil er eine solche aus willkürlichen<br />

Erwägungen blockiere oder verzögere. Anhaltspunkte dafür bestünden im vorliegenden Fall nicht.<br />

Allerdings habe der Beschwerdeführer bislang keine Gelegenheit gehabt, hierzu Stellung zu nehmen, weil es nach der<br />

bisherigen Rechtsauffassung des Bundessozialgerichts darauf nicht angekommen sei. Eine Zurückverweisung an das<br />

Berufungsgericht sei jedoch entbehrlich, weil bereits jetzt davon ausgegangen werden könne, dass die Methode von<br />

Dr. B. nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspreche. Für die immunbiologische<br />

Therapie lägen Wirksamkeitsnachweise nicht vor. Allerdings stoße ein Wirksamkeitsnachweis für eine Behandlung<br />

der DMD auf erhebliche Schwierigkeiten. Letztlich könne der Verlauf der Krankheit weder erklärt noch gezielt<br />

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eeinflusst werden; nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse komme bestenfalls eine<br />

symptomatische Behandlung in Frage. Beschränkten sich die Einwirkungsmöglichkeiten anerkannter<br />

Behandlungsmethoden wie hier auf eine mehr oder weniger vorübergehende und nur begrenzt objektivierbare<br />

Unterdrückung der Krankheitssymptome, genüge es nicht, sich zur Ablehnung der Kostenerstattung für noch nicht<br />

empfohlene Methoden auf den fehlenden oder mangelhaften Wirksamkeitsnachweis zu berufen. Maßstab könne dann<br />

nur entweder die naturwissenschaftlichmedizinische Prüfung oder die Bewertung der Methode durch die Verwaltung<br />

und die Gerichte sein oder die Feststellung, ob der neuen Methode in der medizinischen Fachdiskussion bereits ein<br />

solches Gewicht zukomme, dass eine Überprüfung und Entscheidung durch den Bundesausschuss veranlasst<br />

gewesen wäre.<br />

Dieser letztgenannte Prüfungsansatz richte sich nicht an medizinischen Kategorien aus, sondern an der tatsächlichen<br />

Verbreitung in der Praxis und in der fachlichen Diskussion. Daran sei hier anzuknüpfen. Es könne nicht Sinn eines<br />

Gerichtsverfahrens sein, die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft voranzutreiben oder in wissenschaftlichen<br />

Auseinandersetzungen Position zu beziehen. Eine Behandlungsmethode sei dann erstattungsfähig, wenn sie in der<br />

medizinischen Fachdiskussion eine breite Resonanz gefunden habe und von einer erheblichen Anzahl von Ärzten<br />

angewandt werde. Die von Dr. B. eingesetzte Behandlungsmethode erfülle diese Voraussetzungen nicht.<br />

5. Gegen dieses Urteil richtet sich die Verfassungsbeschwerde. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 2<br />

Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 sowie von Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.<br />

Pflichtleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung unterlägen dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG. Sie seien<br />

ein Äquivalent eigener Arbeit und Leistung. Aus Art. 14 Abs. 1 GG folge ein verfassungsrechtlich garantierter Anspruch<br />

des Versicherten auf Gewährung von Krankenbehandlung im Fall von Krankheit. Die Regelungen des SGB V seien als<br />

Inhaltsbestimmung zu sehen. § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V begrenzten die Leistungsansprüche auf solche<br />

Behandlungen, die nach Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse<br />

entsprächen und darüber hinaus das Wirtschaftlichkeitsgebot beachteten. Weiter gehende Einschränkungen durch die<br />

Richtlinien des Bundesausschusses seien nicht möglich. Eine entsprechende normative Wirkung lasse sich weder<br />

einfachrechtlich noch verfassungsrechtlich begründen.<br />

Somit dürfe das Begehren des Beschwerdeführers nur am Maßstab des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V gemessen werden.<br />

Dabei sei der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung maßgeblich. Das<br />

Landessozialgericht habe in seinem Urteil, an dessen tatsächliche Feststellungen das Bundessozialgericht gebunden<br />

sei, festgestellt, dass die Behandlung des Beschwerdeführers über eine solche so genannte Binnenanerkennung<br />

verfüge. Aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG resultiere das Recht des Beschwerdeführers,<br />

selbstbestimmt über seine Behandlung zu entscheiden. Da die Richtlinien des Bundesausschusses nicht zur<br />

verfassungsmäßigen Ordnung gehörten, könne ein Leistungsanspruch nicht von einer Anerkennung durch sie<br />

abhängig gemacht werden. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folge, dass bei der Ausfüllung des Rahmenrechts auf<br />

Krankenbehandlung solche Maßnahmen zu berücksichtigen seien, die zumindest geeignet seien, die Verschlimmerung<br />

einer Krankheit zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Das treffe nach den Feststellungen des<br />

Landessozialgerichts auf die Behandlung des Beschwerdeführers zu.<br />

Auch sei Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Soweit nunmehr das Bundessozialgericht auch auf die Verbreitung der Methode<br />

abstelle, sei dies für den Beschwerdeführer völlig überraschend gewesen. Da die Kriterien in dem Urteil erstmals<br />

festgelegt worden seien, hätten weder das Berufungsgericht noch er selbst Veranlassung gehabt, dazu Stellung zu<br />

nehmen. Der Rechtsstreit hätte daher zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Berufungsgericht zurückverwiesen<br />

werden müssen.<br />

III.<br />

Zur Verfassungsbeschwerde haben die Bundesregierung, der AOKBundesverband, die Barmer Ersatzkasse als<br />

Beklagte des Ausgangsverfahrens und der Verband der privaten Krankenversicherung Stellung genommen. Der<br />

Bundesausschuss und der Gemeinsame Bundesausschuss haben ihnen vom Bundesverfassungsgericht gestellte<br />

Fragen beantwortet.<br />

1. Die Bundesregierung sieht sowohl die bedarfsgerechte Verteilung der begrenzten Mittel als auch die finanzielle<br />

Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung gefährdet, wenn neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in<br />

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der vertragsärztlichen Versorgung anerkannt würden, deren Nutzen wissenschaftlich nicht belegt sei. Mit § 2 Abs. 1<br />

Satz 3 SGB V verfolge das Gesetz neben dem gesundheitspolitischen Ziel der Qualitätsverbesserung insbesondere<br />

das finanzpolitische Ziel der Kostendämpfung. Nur bei dessen konsequenter Verfolgung sei gewährleistet, dass allen<br />

Versicherten eine dem medizinischtechnischen Fortschritt entsprechende medizinische Versorgung zur Verfügung<br />

gestellt werden könne. Es dürfe nicht sein, dass die Solidargemeinschaft der Versicherten mit den Kosten einer<br />

Behandlung belastet würde, deren medizinischer Nutzen nicht belegt sei.<br />

Das gelte auch dann, wenn die Wirksamkeit im Einzelfall nachgewiesen oder zumindest sehr wahrscheinlich sei. Bei<br />

der Bewertung eines lediglich im Einzelfall eingesetzten Verfahrens könne eine positive Veränderung sowohl wegen als<br />

auch trotz der ergriffenen Maßnahme eingetreten sein; es sei nicht möglich, beobachtete Wirkungen auf die<br />

durchgeführte Maßnahme zurückzuführen. Jede Aussage über die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode erfordere<br />

einen Vergleich; denn nur so lasse sich beurteilen, ob der beobachtete klinisch relevante Effekt auf die medizinische<br />

Intervention zurückzuführen oder ob er als Spontanverlauf oder PlaceboEffekt zu werten sei. Eine solche<br />

Einzelfallbetrachtung würde in eine Therapiebeliebigkeit münden.<br />

2. Nach Auffassung des AOKBundesverbands, der sich auch im Namen der übrigen Spitzenverbände der<br />

Krankenkassen geäußert hat, verletze die angegriffene Entscheidung des Bundessozialgerichts den Beschwerdeführer<br />

weder in Grundrechten noch in grundrechtsähnlichen Rechten.<br />

Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergebe sich kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkasse auf<br />

Bereitstellung bestimmter Gesundheitsleistungen. Zwar folge aus ihm eine objektivrechtliche Pflicht des Staates, sich<br />

schützend und fördernd vor das Rechtsgut des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen. Angesichts des weiten<br />

Gestaltungsspielraums bei der Erfüllung der Schutzpflichten könne aber nur geprüft werden, ob die öffentliche Gewalt<br />

Vorkehrungen zum Schutz der Grundrechte treffe, die nicht völlig ungeeignet oder unzulänglich seien.<br />

Die Richtlinien des Bundesausschusses beschränkten den Leistungsanspruch des Versicherten nicht, sondern<br />

konkretisierten ihn lediglich. Unmittelbar aus dem Gesetz ergebe sich kein Leistungsanspruch. Dieser werde in den<br />

meisten Fällen erst durch die zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern geschlossenen Verträge und<br />

Richtlinien konkret ausgestaltet. § 135 Abs. 1 SGB V gestalte unmittelbar das Leistungsrecht. Das Bundessozialgericht<br />

gehe in der angegriffenen Entscheidung gerade nicht davon aus, die Richtlinien des Bundesausschusses verkörperten<br />

Akte autonomer Rechtsetzung im Rahmen einer Satzungsautonomie. Vielmehr qualifiziere es sie als untergesetzliche<br />

Rechtsnormen und damit als materielles Recht eigener Art. Einen numerus clausus zulässiger Rechtsetzungsformen<br />

sehe das Grundgesetz nicht vor. Weitere Typen untergesetzlicher Rechtsnormen seien jedenfalls unter bestimmten<br />

Voraussetzungen zulässig; zu ihnen gehörten auch die Richtlinien des Bundesausschusses. Sie seien Teil eines<br />

historisch gewachsenen umfassenden Gefüges untergesetzlicher Normen der gemeinsamen Selbstverwaltung<br />

zwischen Krankenkassen und Ärzten, dessen Wurzeln bis in die vorkonstitutionelle Zeit zurückreichten.<br />

3. Die Barmer Ersatzkasse sieht den Beschwerdeführer nicht in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten<br />

verletzt. Der Bundesausschuss sei paritätisch mit Vertretern der Ärzte und der Krankenkassen, zwei weiteren<br />

unparteiischen Mitgliedern sowie einem ebenfalls unparteiischen Vorsitzenden besetzt. Die Prüfung von<br />

Behandlungsmethoden, die bisher noch nicht Gegenstand der vertragsärztlichen Versorgung gewesen seien, erfolge<br />

unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnis. Eine Ablehnung durch den<br />

Bundesausschuss bedeute zugleich auch, dass die abgelehnte Außenseitermethode nicht zur notwendigen<br />

Krankenbehandlung gehöre, so dass die Versicherten nach Maßgabe des § 27 SGB V keinen Anspruch gegenüber der<br />

Krankenkasse hätten. Die Richtlinien stellten somit außenwirksames Recht dar. Der Bundesausschuss sei hierfür auch<br />

verfassungsrechtlich ausreichend legitimiert.<br />

4. Nach Auskunft des Verbandes der privaten Krankenversicherung sind in der privaten Krankenversicherung, sowohl<br />

in der Voll- als auch in der Zusatzversicherung, nach den einschlägigen Musterbedingungen Kosten alternativer<br />

Behandlungsmethoden in jedem Krankheitsfall dann erstattungsfähig, wenn sie sich in der Praxis als ebenso Erfolg<br />

versprechend bewährt hätten wie schulmedizinische Verfahren und wenn die Alternativmethode keine höheren Kosten<br />

verursache. Darüber hinaus seien die Kosten alternativer Behandlungsmethoden dann zu erstatten, wenn es sich um<br />

unheilbare Erkrankungen handle, für die keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stünden.<br />

Dies dürfte nach Einschätzung des Verbandes nur vergleichsweise selten der Fall sein, weil die schulmedizinischen<br />

Behandlungsformen nicht nur die Heilung, sondern auch die Linderung, Besserung und Verhinderung einer<br />

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Verschlechterung umfassten. Im Übrigen müsse auch die Heilbehandlung nach alternativen Methoden auf einem nach<br />

medizinischen Erkenntnissen nachvollziehbaren Ansatz beruhen, der die prognostizierte Wirkungsweise auf das<br />

angestrebte Behandlungsziel zu erklären vermöge. Dabei reiche es aus, wenn die Erreichung des Behandlungsziels<br />

mit einer nicht nur ganz geringen Erfolgsaussicht möglich erscheine.<br />

Für das Vorliegen dieser Voraussetzungen sei der Versicherungsnehmer nachweispflichtig. Dabei dürfte die Berufung<br />

auf die "Binnenanerkennung" abzulehnen sein, weil mit diesem Verfahren die medizinische Wirksamkeit und<br />

Notwendigkeit jeder neuen Alternativmethode zwangsläufig bejaht würde. Vielmehr müsse eine objektive Bewertung<br />

der Erforderlichkeit möglich sein und die medizinische Notwendigkeit einer Heilbehandlung vom Standpunkt der<br />

Schulmedizin aus beurteilt werden. Dabei seien noch nicht abschließend gesicherte Erkenntnisse mit zu<br />

berücksichtigen. Neben den üblichen Versicherungen gebe es im Übrigen Spezialtarife, die bestimmte Leistungen aus<br />

dem Spektrum der besonderen Therapierichtungen ausdrücklich zusagten.<br />

5. Der Bundesausschuss und der Gemeinsame Bundesausschuss haben auf die Fragen des<br />

Bundesverfassungsgerichts eingehend geantwortet und insbesondere ausgeführt: Eine Kostenübernahme durch die<br />

gesetzliche Krankenversicherung in Fällen, in denen eine nicht allgemein wissenschaftlich anerkannte Methode im<br />

konkreten Fall Wirkung zeige, werde nicht befürwortet. Der Wirkungsnachweis im Einzelfall sei nicht zu führen. Der<br />

vermeintliche Erfolg einer Therapie stelle sich oftmals nur als positive Krankheitsentwicklung heraus, die kurze Zeit<br />

später durch einen Rückfall in die alten Leiden beendet werde. Selbst wenn eine Krankheit als ausgeheilt gelten könne,<br />

sei es nicht möglich nachzuweisen, dass der Heilerfolg auf die gewählte Behandlungsmethode zurückzuführen sei. Das<br />

liege daran, dass Krankheiten in vielen Fällen in einem nicht vorhersehbaren oder rekonstruierbaren Spontanverlauf<br />

heilten. Bekannt sei auch die Wirkung von Behandlungen ohne medizinischphysischen Ursachenzusammenhang<br />

(PlaceboEffekt).<br />

Würde sich die Ansicht durchsetzen, die Krankenkassen seien auch bei Wirkung einer Methode im Einzelfall zur<br />

Kostentragung verpflichtet, sähe man sich mit dem Grundproblem konfrontiert, dass sich die Wirkung einer Therapie<br />

allenfalls ex post feststellen lasse, Arzt und Patient aber vor dem Behandlungsbeginn die geeignete Therapie<br />

bestimmen müssten. Eine Kostenerstattung aufgrund eines Wirksamkeitsnachweises im Einzelfall würde die<br />

medizinisch unverantwortliche Entscheidung für unerforschte, riskante Methoden mit geringer<br />

Wirkungswahrscheinlichkeit bei Auftreten eines eher zufälligen Behandlungserfolgs belohnen. Zudem wäre der Patient,<br />

bei dem die Methode zufällig nicht angeschlagen habe, finanziell benachteiligt. Des Weiteren würden unkontrollierte<br />

Heilversuche zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung unterstützt. Schließlich würde eine Flut von<br />

Rechtsstreiten darüber ausgelöst, ob ein Behandlungserfolg vorliege und was die Ursache für ihn gewesen sei.<br />

B.<br />

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Bundessozialgerichts beruht auf einer Auslegung der<br />

leistungsrechtlichen Vorschriften des § 1 Satz 1, § 2 Abs. 1, § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V,<br />

die mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) sowie mit Art. 2 Abs. 2<br />

Satz 1 GG nicht vereinbar ist.<br />

I.<br />

1. a) Vorrangiger Maßstab für die verfassungsrechtliche Prüfung ist Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem<br />

grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip.<br />

Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit ist betroffen, wenn der Gesetzgeber Personen der<br />

Pflichtversicherung in einem System der sozialen Sicherheit unterwirft (vgl. BVerfGE 29, 221 ; 29, 245 ; 29, 260 ; 109, 96 ;<br />

stRspr). Dies gilt auch für die Begründung der Pflichtmitgliedschaft mit Beitragszwang in der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung.<br />

Auch Regelungen, die das öffentlichrechtliche Sozialversicherungsverhältnis, vor allem in Bezug auf die Beiträge der<br />

Versicherten und die Leistungen des Versicherungsträgers, näher ausgestalten, sind am Grundrecht des Art. 2 Abs. 1<br />

GG zu messen (vgl. BVerfGE 75, 108 ; 97, 271 ; 106, 275 ). Sein Schutzbereich wird berührt, wenn der Gesetzgeber durch<br />

die Anordnung von Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflicht in einem öffentlichrechtlichen Verband der<br />

Sozialversicherung die allgemeine Betätigungsfreiheit des Einzelnen durch Einschränkung ihrer wirtschaftlichen<br />

Voraussetzungen nicht unerheblich einengt (vgl. BVerfGE 97, 271 ). Ein solcher Eingriff bedarf der Rechtfertigung durch eine<br />

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entsprechende Ausgestaltung der ausreichenden solidarischen Versorgung, die den Versicherten für deren Beitrag im<br />

Rahmen des Sicherungszwecks des Systems zu erbringen ist. Für die Hinterbliebenenrenten der gesetzlichen<br />

Rentenversicherung hat das Bundesverfassungsgericht Art. 2 Abs. 1 GG als verfassungsrechtlichen Maßstab<br />

herangezogen, wenn der Gesetzgeber gesetzlich zugesagte und beitragsfinanzierte Leistungen dieses<br />

Versicherungszweigs wesentlich vermindert (vgl. BVerfGE 97, 271 ). In Bezug auf die gesetzliche Krankenversicherung ist<br />

verfassungsgerichtlich entschieden, dass eine gesetzliche Regelung das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit<br />

des Versicherten berührt, wenn die Freiheit zur Auswahl unter Arznei- und Hilfsmitteln, die ihm als Sachleistung zur<br />

Verfügung gestellt werden, eingeschränkt wird (vgl. BVerfGE 106, 275 ).<br />

Der in einem System der Sozialversicherung Pflichtversicherte hat typischerweise keinen unmittelbaren Einfluss auf die<br />

Höhe seines Beitrags und auf Art und Ausmaß der ihm im Versicherungsverhältnis geschuldeten Leistungen. In einer<br />

solchen Konstellation der einseitigen Gestaltung der Rechte und Pflichten der am Versicherungsverhältnis Beteiligten<br />

durch Gesetz (vgl. § 31 SGB I) und durch die auf ihm beruhenden Rechtsakte der Leistungskonkretisierung, schützt das<br />

Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG den beitragspflichtigen Versicherten vor einer Unverhältnismäßigkeit von Beitrag und<br />

Leistung. Daraus lässt sich in der gesetzlichen Krankenversicherung zwar kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf<br />

bestimmte Leistungen der Krankenbehandlung ableiten. Jedoch sind gesetzliche oder auf Gesetz beruhende<br />

Leistungsausschlüsse und Leistungsbegrenzungen daraufhin zu prüfen, ob sie im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG<br />

gerechtfertigt sind. Gleiches gilt, wenn die gesetzlichen Leistungsvorschriften - wie hier - durch die zuständigen<br />

Fachgerichte eine für den Versicherten nachteilige Auslegung und Anwendung erfahren.<br />

b) Bei der näheren Bestimmung und Entfaltung der dargestellten Schutzfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG kommt dem<br />

grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip maßgebliche Bedeutung zu. Der Schutz des Einzelnen in Fällen von Krankheit<br />

ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Grundaufgabe des Staates. Ihr ist der Gesetzgeber<br />

nachgekommen, indem er durch Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung als öffentlichrechtlicher<br />

Pflichtversicherung für den Krankenschutz eines Großteils der Bevölkerung, Sorge getragen und die Art und Weise der<br />

Durchführung dieses Schutzes geregelt hat (vgl. BVerfGE 68, 193 ). In Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips richtet er die<br />

Beiträge an der - regelmäßig durch das Arbeitsentgelt oder die Rente bestimmten - wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit<br />

des einzelnen Versicherten (§ 226 SGB V) und nicht am individuellen Risiko aus (vgl. BVerfGE 103, 172 ), ist ferner auf Stabilität der<br />

Beitragssätze bedacht (§ 71 SGB V), wirkt auf Beitragssenkungen hin (§ 220 Abs. 4 SGB V) und nimmt auch bei der Ausgestaltung<br />

der Verpflichtung zur Erbringung von Zuzahlungen zu gesetzlichen Leistungen (vgl. § 61 SGB V) auf die soziale Situation des<br />

Einzelnen Rücksicht (§ 62 SGB V). Damit geht der Gesetzgeber davon aus, dass den Versicherten regelmäßig erhebliche<br />

finanzielle Mittel für eine zusätzliche selbständige Vorsorge im Krankheitsfall und insbesondere für die Beschaffung von<br />

notwendigen Leistungen der Krankenbehandlung außerhalb des Leistungssystems der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung nicht zur Verfügung stehen.<br />

In der sozialen Krankenversicherung sind abhängig Beschäftigte mit mittleren und niedrigen Einkommen sowie Rentner<br />

pflichtversichert (vgl. BVerfGE 103, 172 ). Die gesetzliche Krankenversicherung erfasst nach der gesetzlichen Typisierung<br />

jedenfalls die Personengruppen, die wegen ihrer niedrigen Einkünfte eines Schutzes für den Fall der Krankheit<br />

bedürfen, der durch Zwang zur Eigenvorsorge erreicht werden soll (vgl. BVerfGE 102, 68 ). Mit dieser Versicherungsform wird<br />

auch einkommensschwachen Bevölkerungsteilen ein voller Krankenversicherungsschutz zu moderaten Beiträgen<br />

ermöglicht (vgl. BVerfGE 103, 172 ). Es bedarf daher einer besonderen Rechtfertigung vor Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit<br />

dem Sozialstaatsprinzip, wenn dem Versicherten Leistungen für die Behandlung einer Krankheit und insbesondere<br />

einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung durch gesetzliche Bestimmungen oder durch deren<br />

fachgerichtliche Auslegung und Anwendung vorenthalten werden.<br />

Dabei macht es grundsätzlich keinen Unterschied, ob es um den Leistungsanspruch eines Versicherten oder - wie<br />

hier - einer nach § 10 SGB V mitversicherten Person (vgl. dazu BVerfGE 107, 205 ) geht. Der Beitrag wird zwar in diesem Fall<br />

vom Versicherten gezahlt, der dadurch jedoch seiner Pflicht zum Unterhalt nachkommt, zu dem auch der Aufwand für<br />

einen angemessenen Krankenversicherungsschutz gehört (vgl. BVerfGE 107, 205 ).<br />

c) Maßstab für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

und seiner fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung im Einzelfall sind darüber hinaus auch die Grundrechte auf<br />

Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Zwar folgt aus diesen Grundrechten regelmäßig<br />

kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere<br />

spezieller Gesundheitsleistungen (vgl. BVerfGE 77, 170 ; 79, 174 ; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. 03.1997, NJW 1997, S. 3085; MedR<br />

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1997, S. 318 und vom 15. 12.1997, NJW 1998, S. 1775 ). Die Gestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

hat sich jedoch an der objektivrechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die<br />

Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen (vgl. BVerfGE 46, 160 ; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. 12.1997, a.a.O.;<br />

Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. 11.2002, NJW 2003, S. 1236 ; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. 03.2004, NJW 2004, S. 3100 ). Insofern<br />

können diese Grundrechte in besonders gelagerten Fällen die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten Auslegung der<br />

maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. 08.1998,<br />

NJW 1999, S. 857 f.).<br />

Dies gilt insbesondere in Fällen der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung. Denn<br />

das Leben stellt einen Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung dar (vgl. BVerfGE 39, 1 ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des<br />

Ersten Senats vom 11. 08.1999, NJW 1999, S. 3399 ). Behördliche und gerichtliche Verfahren müssen dieser Bedeutung und der im<br />

Grundrecht auf Leben enthaltenen grundlegenden objektiven Wertentscheidung (vgl. BVerfGE 39, 1 ; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des<br />

Ersten Senats vom 19. 03.2004, NJW 2004, S. 3100 ) gerecht werden und sie bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen<br />

Vorschriften des Krankenversicherungsrechts berücksichtigen (vgl. BVerfGE 53, 30 ; zur Frage eines originären Leistungsanspruchs aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1<br />

GG vgl. auch SchmidtAßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, 2001, S. 23 ff. m.w.N.).<br />

2. a) Danach ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die gesetzliche Krankenversicherung den<br />

Versicherten Leistungen nach Maßgabe eines allgemeinen Leistungskatalogs (§ 11 SGB V) nur unter Beachtung des<br />

Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) zur Verfügung stellt, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der<br />

Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Gleiches gilt für die Entscheidung des Gesetzgebers, die nähere<br />

Konkretisierung der durch unbestimmte Gesetzesbegriffe festgelegten Leistungsverpflichtung im Einzelfall im Rahmen<br />

der kassenärztlichen Vorgaben, insbesondere der kassenärztlichen Verträge (§§ 82 ff., 87, 125, 127, 131 SGB V), vor allem den<br />

Ärzten vorzubehalten (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB V; BSGE 73, 271), die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen (§ 95 SGB V; vgl. auch<br />

BVerfGE 106, 275 ). Dem Arzt kommt dabei nicht nur die Feststellung des Eintritts des Versicherungsfalls Krankheit<br />

zu, sondern auch und gerade die von ihm zu verantwortende Einleitung, Durchführung und Überwachung einer den<br />

Zielen des § 27 Abs. 1 SGB V gerecht werdenden Behandlung (vgl. BSGE 82, 158 ). Es steht auch mit dem Grundgesetz<br />

im Einklang, wenn der Gesetzgeber vorsieht, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend,<br />

zweckmäßig und wirtschaftlich zu sein haben und nicht das Maß des Notwendigen überschreiten dürfen (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGB<br />

V).<br />

b) Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung darf auch von finanzwirtschaftlichen Erwägungen<br />

mitbestimmt sein (vgl. BVerfGE 68, 193 ; 70, 1 ). Gerade im Gesundheitswesen hat der Kostenaspekt für gesetzgeberische<br />

Entscheidungen erhebliches Gewicht (vgl. BVerfGE 103, 172 ). Dem Gesetzgeber ist es im Rahmen seines<br />

Gestaltungsspielraums grundsätzlich erlaubt, den Versicherten über den Beitrag hinaus zur Entlastung der<br />

Krankenkassen und zur Stärkung des Kostenbewusstseins in der Form von Zuzahlungen zu bestimmten Leistungen zu<br />

beteiligen, jedenfalls, soweit dies dem Einzelnen finanziell zugemutet werden kann (vgl. BVerfGE 70, 1 ; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer<br />

des Ersten Senats vom 7. 03.1994, NJW 1994, S. 3007). Die gesetzlichen Krankenkassen sind nicht von Verfassungs wegen gehalten, alles zu<br />

leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des<br />

Ersten Senats vom 5. 03.1997, NJW 1997, S. 3085).<br />

c) Es ist dem Gesetzgeber schließlich nicht von Verfassungs wegen verwehrt, zur Sicherung der Qualität der<br />

Leistungserbringung, im Interesse einer Gleichbehandlung der Versicherten und zum Zweck der Ausrichtung der<br />

Leistungen am Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ein Verfahren vorzusehen, in dem neue Untersuchungs- und<br />

Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung auf ihren diagnostischen und therapeutischen Nutzen<br />

sowie ihre medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse sachverständig geprüft werden, um die Anwendung dieser Methoden zu Lasten der Krankenkassen auf<br />

eine fachlichmedizinisch zuverlässige Grundlage zu stellen.<br />

Ob für die Erfüllung dieser Aufgabe das nach § 135 SGB V vorgesehene Verfahren der Entscheidung durch den<br />

Gemeinsamen Bundesausschuss verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats<br />

vom 19. 03.2004, NJW 2004, S. 3100 ), ist hier nicht zu entscheiden. Das Bundessozialgericht hat in dem mit der<br />

Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil zur Begründung seiner Entscheidung im Ergebnis allein darauf abgestellt,<br />

dass die umstrittene Behandlungsmethode nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Forschung<br />

entspreche und keine erfahrungsgemäß wirksame Methode sei. Davon hat die verfassungsrechtliche Beurteilung<br />

auszugehen. Das Bundesverfassungsgericht hat daher keinen Anlass zu prüfen, ob die Rechtsprechung des<br />

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Bundessozialgerichts zur demokratischen Legitimation der Bundesausschüsse und des Gemeinsamen<br />

Bundesausschusses und zur rechtlichen Qualität der von ihnen erlassenen Richtlinien als außenwirksamen<br />

untergesetzlichen Rechtssätzen (vgl. dazu BSGE 78, 70 ; 81, 54 ; 81, 73 ) mit dem Grundgesetz in Einklang steht (siehe dazu aus<br />

dem umfangreichen Schrifttum Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 119 ff., 153 ff.; Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, 2001, S. 454 ff.; Schnapp, in: von<br />

Wulffen/Krasney , Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 497 ff.; Hase, MedR 2005, S. 391; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 176 ff., jeweils m.w.N.).<br />

3. Das angegriffene Urteil des Bundessozialgerichts genügt jedoch nicht den Anforderungen aus Art. 2 Abs. 1 GG in<br />

Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip sowie aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und verletzt den Beschwerdeführer in<br />

seinem Recht auf eine Leistungserbringung durch die gesetzliche Krankenversicherung, die dem Schutz seines Lebens<br />

gerecht wird.<br />

a) Nicht zu entscheiden ist dabei, ob die Annahme des Bundessozialgerichts, wegen des eindeutigen Wortlauts des<br />

§ 135 Abs. 1 SGB V sei die Anwendung einer neuen Behandlungsmethode durch die Leistungserbringer im System der<br />

gesetzlichen Krankenversicherung von der vorherigen Anerkennung durch den Bundesausschuss abhängig (vgl. BSGE 81, 54<br />

; 86, 54 ; BSG SozR 42500 § 135 Nr. 1), mit dem Grundgesetz auch in den Fällen vereinbar ist, in denen die medizinische<br />

Wissenschaft wegen der Eigenart der lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Krankheit über eine<br />

wissenschaftlich gesicherte, an Gesichtspunkten der statistischen Evidenz, gegebenenfalls auch niedrigerer<br />

Evidenzstufen bei seltenen Krankheiten (vgl. § 20 Abs. 2 Satz 3 der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses in der Fassung vom 20. 09.2005),<br />

ausgerichtete Therapie auf der Grundlage klinischer oder sonstiger Studien nicht oder noch nicht verfügt (vgl. auch BVerfG,<br />

Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. 03.2004, NJW 2004, S. 3100 ). Denn das Bundessozialgericht stellt in Fällen, in denen - wie<br />

hier - eine solche Anerkennung nicht vorliegt und auch kein Fall eines so genannten Systemmangels (vgl. BSGE 81, 54 ; 86,<br />

54 ; 88, 51 ) gegeben ist, entscheidend darauf ab, ob sich die Methode in der medizinischen Praxis durchgesetzt<br />

hat. Ist dies nicht der Fall, dann lehnt das Gericht, wie in der angegriffenen Entscheidung, die Annahme einer<br />

gesetzlichen "Versorgungslücke" ab, die durch eine richterliche Entscheidung im Einzelfall zu schließen wäre. Damit<br />

wird - wie sich aus der weiteren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zeigt - die Übernahme von Kosten durch<br />

die gesetzlichen Krankenkassen auch in den Fällen einer lebensbedrohlichen oder vorhersehbar tödlich verlaufenden<br />

Krankheit ausgeschlossen, für die eine dem allgemein anerkannten medizinischen Standard entsprechende<br />

Behandlungsmethode nicht existiert (vgl. BSGE 86, 54 ), der behandelnde Arzt jedoch eine Methode zur Anwendung bringt,<br />

die nach seiner Einschätzung im Einzelfall den Krankheitsverlauf positiv zu Gunsten des Versicherten beeinflusst.<br />

b) Dies steht nicht im Einklang mit dem Grundgesetz.<br />

aa) Es ist mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, den<br />

Einzelnen unter den Voraussetzungen des § 5 SGB V einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge<br />

die notwendige Krankheitsbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer<br />

lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische<br />

Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode durch die<br />

Krankenkasse auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung zu verweisen. Dabei muss allerdings die vom Versicherten gewählte andere<br />

Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf<br />

eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen. Ein solcher Fall ist hier gegeben. Für die<br />

Behandlung der Duchenne'schen Muskeldystrophie steht gegenwärtig allein ein symptomatisches Therapiespektrum<br />

zur Verfügung, zu dem auch operative Maßnahmen gehören. Eine unmittelbare Einwirkung auf die Krankheit und ihren<br />

Verlauf mit gesicherten wissenschaftlichen Methoden, ist noch nicht möglich (vgl. http://www.duchenneforschung.de/richtli1.htm).<br />

bb) Die angegriffene Auslegung der leistungsrechtlichen Vorschriften des SGB V durch das Bundessozialgericht ist in<br />

der extremen Situation einer krankheitsbedingten Lebensgefahr auch nicht mit der Schutzpflicht des Staates für das<br />

Leben aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu vereinbaren. Übernimmt der Staat mit dem System der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung Verantwortung für Leben und körperliche Unversehrtheit der Versicherten, so gehört die<br />

Vorsorge in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung unter den genannten<br />

Voraussetzungen zum Kernbereich der Leistungspflicht und der von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geforderten<br />

Mindestversorgung (vgl. auch Wiedemann, in: Umbach/Clemens , Grundgesetz, Bd. I, 2002, Art. 2 Rn. 376; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. I, Art. 2 Abs. 2 Rn. 94<br />

; SchmidtAßmann, NJW 2004, S. 1689 ).<br />

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c) Die im Streitfall vom Versicherten angerufenen Sozialgerichte haben in solchen Fällen, gegebenenfalls mit<br />

sachverständiger Hilfe, zu prüfen, ob es für die vom Arzt nach gewissenhafter fachlicher Einschätzung vorgenommene<br />

oder von ihm beabsichtigte Behandlung ernsthafte Hinweise auf einen nicht ganz entfernt liegenden Erfolg der Heilung<br />

oder auch nur auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf im konkreten Einzelfall gibt (vgl. auch Schulin, in:<br />

Schulin , Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 6 Rn. 22). Solche Hinweise auf einen individuellen<br />

Wirkungszusammenhang können sich aus dem Gesundheitszustand des Versicherten im Vergleich mit dem Zustand<br />

anderer, in gleicher Weise erkrankten, aber nicht mit der in Frage stehenden Methode behandelter Personen ergeben<br />

sowie auch mit dem solcher Personen, die bereits auf diese Weise behandelt wurden oder behandelt werden.<br />

Insbesondere bei einer länger andauernden Behandlung können derartige Erfahrungen Folgerungen für die<br />

Wirksamkeit der Behandlung erlauben. Weitere Bedeutung kommt der fachlichen Einschätzung der Wirksamkeit der<br />

Methode im konkreten Einzelfall durch die Ärzte des Erkrankten zu, die die Symptome seiner Krankheit behandeln.<br />

Hinweise auf die Eignung der im Streit befindlichen Behandlung können sich auch aus der wissenschaftlichen<br />

Diskussion ergeben; in Bezug auf die Duchenne'sche Muskeldystrophie liegen inzwischen weltweit Beiträge vor.<br />

Auf die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode im Einzelfall jedenfalls bei seltenen Krankheiten abzustellen, ist auch<br />

dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht fremd. Nach § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V kann der Vertragsarzt<br />

Arzneimittel, die aufgrund der Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen<br />

sind, ausnahmsweise dennoch in medizinisch begründeten Einzelfällen verordnen. Auch das Bundessozialgericht hat<br />

sich in seiner jüngeren Rechtsprechung bei einer Krankenbehandlung mit Arzneimitteln einer Einzelfallbetrachtung<br />

unter bestimmten Voraussetzungen nicht verschlossen. Nach seiner Auffassung sind Maßnahmen zur Behandlung<br />

einer Krankheit, die so selten auftritt, dass ihre systematische Erforschung praktisch ausscheidet, vom<br />

Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil der zuständige<br />

Bundesausschuss dafür keine Empfehlung abgegeben hat (vgl. BSGE 93, 236 ).<br />

II.<br />

Da das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil gegen Verfassungsrecht verstößt, ist es gemäß § 95 Abs. 2<br />

BVerfGG aufzuheben. Ob es noch weitere Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt, kann vorliegend dahinstehen.<br />

Die Sache ist an das Bundessozialgericht zurückzuverweisen, das auf der Grundlage der in dieser Entscheidung<br />

entwickelten Grundsätze neu über die Revision der beklagten Krankenkasse zu befinden haben wird.<br />

Papier, Haas, Hömig, Steiner, Hohmann-Dennhardt, HoffmannRiem, Bryde, Gaier<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 319/04 vom 8. 11.2005<br />

1. Im kooperativen Belegarztwesen verbundenen Ärzten stehen dieselben Rechtsformen zur Organisation ihrer<br />

Zusammenarbeit offen wie bei ambulanter ärztlicher Tätigkeit. 2. Zur Frage der gesamtschuldnerischen<br />

Haftung einer Belegärztegemeinschaft.<br />

BGB §§ 705, 425; SGB V 115 Abs. 2<br />

BGH, Urteil vom 8. 11.2005 - VI ZR 319/04 - OLG Zweibrücken, LG Kaiserslautern<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 8. 11.2005 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr für Recht erkannt:<br />

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom<br />

23. 11.2004 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Der Kläger erlitt bei seiner Geburt am 23. 08.1985 in der Privatklinik K. aufgrund ärztlicher Behandlungsfehler<br />

erhebliche gesundheitliche Schäden. Die Beklagten waren neben Dr. R. und Dr. S. Mitglieder einer Gruppe von vier<br />

einzeln niedergelassenen Gynäkologen, die gemeinsam als Belegärzte in der Klinik tätig waren. Dr. R. hatte die<br />

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Schwangerschaft ambulant betreut und die Mutter des Klägers stationär in die Belegklinik eingewiesen. Dr. S. leitete<br />

die Geburt. Dabei unterliefen ihm schwerwiegende Behandlungsfehler, die zu einer massiven Hirnschädigung des<br />

Klägers führten. Dr. S. wurde deswegen zum Ersatz der dem Kläger entstandenen materiellen und immateriellen<br />

Schäden verurteilt. Hinsichtlich der materiellen Schäden wurde in einem weiteren Rechtsstreit auch die Ersatzpflicht<br />

von Dr. R. festgestellt.<br />

Nunmehr nimmt der Kläger auch die Beklagten als Gesamtschuldner neben Dr. R. und Dr. S. auf Ersatz seiner<br />

materiellen Schäden in Anspruch. Er macht geltend, alle vier Gynäkologen hätten eine Belegärztegemeinschaft in Form<br />

einer BGBGesellschaft gebildet.<br />

Das Landgericht hat der Klage wegen Verletzung des Behandlungsvertrages stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat<br />

die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen, mit der die Beklagten ihr<br />

Klageabweisungsbegehren weiterverfolgen.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

Das Berufungsgericht, dessen Urteil in GesR 2005, 121 veröffentlicht ist, bejaht eine gesamtschuldnerische Haftung<br />

der Beklagten, da der Behandlungsvertrag der Mutter des Klägers, in dessen Schutzbereich der Kläger einbezogen<br />

gewesen sei, mit allen vier Belegärzten der Klinik zustande gekommen sei. Diese hätten sich nach außen erkennbar<br />

als Gemeinschaftspraxis organisiert und seien auch gemeinschaftlich aufgetreten.<br />

II.<br />

Das angefochtene Urteil hält den Angriffen der Revision stand.<br />

1. Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zu Recht die Ersatzpflicht der Beklagten hinsichtlich der materiellen Schäden<br />

des Klägers bejaht. Die Beklagten haften wegen positiver Verletzung des Behandlungsvertrages in Verbindung mit §§<br />

705, 425 BGB. Dies folgt aus den Grundsätzen, die der erkennende Senat zur Haftung im Rahmen der ärztlichen<br />

Gemeinschaftspraxis entwickelt hat. Sie gelten nicht nur für die ärztliche Zusammenarbeit in der ambulanten ärztlichen<br />

Versorgung, sondern sind auch auf das Belegarztwesen anwendbar. Die vom Berufungsgericht vorgenommene<br />

Vertragsauslegung wird diesen Grundsätzen gerecht und ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die der<br />

Auslegung zugrunde liegenden Feststellungen sind von der Revision nicht angegriffen worden.<br />

a) Nach der gesetzlichen Definition im Vertragsarztrecht sind Belegärzte im Sinne der dort geltenden<br />

Vergütungsregelungen nicht am Krankenhaus angestellte Vertragsärzte, die berechtigt sind, ihre Patienten (Belegpatienten)<br />

im Krankenhaus unter Inanspruchnahme der hierfür bereitgestellten Dienste, Einrichtungen und Mittel stationär oder<br />

teilstationär zu behandeln, ohne hierfür vom Krankenhaus eine Vergütung zu erhalten (vgl. § 18 KHEntgG für die seit 1.1.2005 geltende<br />

Belegarztvergütung im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung; identische Definitionen finden sich in § 121 Abs. 2 SGB V i.d.F. vom 20. 12.1988 und i.d.F. vom 21. 12.1992 sowie in § 23 Abs. 1 BPflVO<br />

1994). Dieses Verständnis des Belegarztwesens liegt auch den Vergütungsregeln des zum Zeitpunkt der Geburt des<br />

Klägers geltenden § 3 BPflVO zugrunde; die belegärztliche Tätigkeit wird nämlich schon in § 368 RVO und nachfolgend<br />

auch in §§ 115, 121 SGB V erwähnt und als im vertragsärztlichen System zur Gewährleistung einer nahtlosen<br />

Versorgung der Versicherten förderungswürdig bezeichnet.<br />

Für die Belegarzttätigkeit mit privatärztlicher Abrechnung hat der Gesetzgeber keine gesonderte Definition getroffen;<br />

die des Vertragsarztrechts gilt auch für privatärztliche Belegärzte (vgl. Geiß, Die Haftung des Belegarztes, 91, 94 f., in: Das Belegarztsystem, Recht der<br />

Medizin, Bd. 1, 1994). Aus § 121 Abs. 1 SGB V ergibt sich, dass die belegärztliche Tätigkeit durch einen EinzelBelegarzt<br />

ausgeübt werden kann, vorzugsweise jedoch durch mehrere Belegärzte gleicher Fachrichtung (kooperatives Belegarztwesen)<br />

ausgeübt werden soll. Damit trägt § 121 Abs. 1 SGB V der strukturellen Entwicklung Rechnung, die vom traditionellen<br />

EinzelBelegarzt zunehmend zum kooperativen Belegarztwesen führt. Dieser Wandel fand bereits Mitte der 70er Jahre<br />

Niederschlag in schriftlichen Empfehlungen von Ärztevereinigungen (vgl. Grundsatzpapier von Bundesärztekammer, Kassenärztlicher Bundesvereinigung<br />

und Deutscher Krankenhausgesellschaft zur Förderung des kooperativen Belegarztwesens, DÄBl 1981, 749 ff. zur Auslegung der 1959 verabschiedeten Grundsätze für die Gestaltung von Verträgen zwischen<br />

Krankenhausträgern und Belegärzten, DÄBl 1959, 1247 ff).<br />

b) Für die Art und Weise der ärztlichen Zusammenarbeit gibt es keine besonderen gesetzlichen Regelungen. Eine<br />

bestimmte Rechtsform für das kooperative Belegarztwesen hat der Gesetzgeber auch im Rahmen der<br />

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vertragsärztlichen Versorgung nicht vorgeschrieben. Vielmehr steht den kooperierenden Belegärzten sowohl im<br />

vertragsärztlichen als auch im privatärztlichen Bereich die gesamte Bandbreite der Zusammenarbeitsformen offen, die<br />

auch kooperierenden zur ambulanten Versorgung niedergelassenen Ärzten zur Verfügung steht (vgl. Bergmann, Das Belegarztsystem -<br />

Qualitätssicherung durch Vertragsgestaltung, S. 75, 86, in: Das Belegarztsystem, aaO; Weber/Müller, Chefarzt- und Belegarztvertrag, 1999, Teil A, Rn. 36; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 19.<br />

Aufl., Teil II - Sozialgesetzbuch V, § 115 SGB V Rn. 5; Jung in: von Maydell, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung, GKSGB V, Stand 30. 09.1994, § 121, Rn. 4;<br />

vgl. Dolinski, Der Belegarzt, Diss. Konstanz [1996], § 2 ff. der Beratungs- und Formulierungshilfe für den Abschluss eines Belegarztvertrages [kooperatives Belegarztwesen], S. 118 ff.; Grundsatzpapier von<br />

Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Deutscher Krankenhausgesellschaft zur Förderung des kooperativen Belegarztwesens, aaO, S. 750 f., insbesondere Hinweise 2 und 4; vgl. auch Senatsurteil BGHZ<br />

144, 296, 309). Mithin richten sich sowohl die Vergütung der Mitglieder einer Gemeinschaft kooperierender Belegärzte als<br />

auch deren Haftung für Versäumnisse anderer Mitglieder nach der rechtlichen Struktur ihrer Zusammenarbeit.<br />

Entspricht diese den Kriterien, die der erkennende Senat für eine Gemeinschaftspraxis aufgestellt hat (vgl. Senatsurteil BGHZ 142,<br />

126, 135 f.), so müssen auch deren Haftungsregeln Anwendung finden.<br />

c) Unter Beachtung dieser Grundsätze hat das Berufungsgericht die vertragliche Haftung der Beklagten zu Recht<br />

bejaht, denn nach den getroffenen Feststellungen war die "Belegärztegemeinschaft" zwischen den Beklagten sowie Dr.<br />

S. und Dr. R. nach Art einer Gemeinschaftspraxis organisiert.<br />

aa) Unter dem Begriff "Gemeinschaftspraxis" wird die gemeinsame Ausübung ärztlicher Tätigkeit durch mehrere Ärzte<br />

der gleichen oder verwandter Fachgebiete in gemeinsamen Räumen mit gemeinschaftlichen Einrichtungen und mit<br />

einer gemeinsamen Büroorganisation und Abrechnung verstanden, wobei die einzelnen ärztlichen Leistungen für den<br />

jeweiligen Patienten während der Behandlung von einem wie von dem anderen Partner erbracht werden können (vgl.<br />

Senatsurteile BGHZ 97, 273, 276; 142, 126, 137; 144, 296, 308). Sind diese Voraussetzungen gegeben, ist auch bei einer Belegärztegemeinschaft<br />

der hier zu beurteilenden Art davon auszugehen, dass der jeweils behandelnde Arzt die Rechtsbeziehungen zum<br />

Patienten zugleich auch für seine ärztlichen Kollegen begründet; ebenso ist aus der Interessenlage und der<br />

Verkehrsauffassung zu entnehmen, dass der Patient zu all diesen Ärzten in vertragliche Beziehungen tritt, so dass<br />

gemäß § 164 BGB der Arztvertrag zwischen dem Patienten und allen Ärzten der Gemeinschaftspraxis zustande kommt<br />

(Senatsurteil BGHZ 142, 126, 137; vgl. auch Senatsurteil BGHZ 97, 273, 277; Uhlenbruck/Schlund in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 18, Rn. 14).<br />

Dem steht nicht entgegen, dass bei einer derartigen belegärztlichen Zusammenarbeit aufgrund der zwischen<br />

Krankenhausträger und Belegarzt/Belegärzten üblicherweise getroffenen vertraglichen Gestaltung des<br />

Belegarztverhältnisses die Räumlichkeiten und die medizinischen sowie pflegerischen Einrichtungen vom Klinikträger<br />

gestellt werden. Ausschlaggebend ist, wie diese Zusammenarbeit der Belegärzte im Einzelfall organisiert ist und in<br />

welcher Weise die Ärzte nach außen gegenüber den Patienten auftreten (gemeinsame Nennung der Ärzte auf einem Praxisschild, gemeinsame<br />

Briefbögen, Rezepte und Überweisungsscheine, gemeinschaftliche Leistungsabrechnung).<br />

bb) Sowohl die Organisation der belegärztlichen Zusammenarbeit zwischen den Beklagten sowie Dr. S. und Dr. R. als<br />

auch ihr Auftreten nach außen gegenüber den Patienten erfüllen diese Merkmale einer "Gemeinschaftspraxis".<br />

Die betreffenden Ärzte hatten sich vertraglich als "Belegärztegemeinschaft" organisiert und die "gemeinsame Führung<br />

der Klinik K." übernommen, an der seinerzeit keine weiteren Belegärzte tätig waren. Sie hatten ihre Zusammenarbeit<br />

vertraglich geregelt und dabei vereinbart, dass alle durch ihre klinische Arbeit anfallenden Honorare auf ein<br />

gemeinschaftliches Konto eingezahlt werden sollten. Ihre Einnahmen sollten nachträglich zu gleichen Teilen an alle<br />

verteilt werden. Diese Verteilung wurde nach den unangegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichtes auch<br />

durchgeführt. Jedenfalls für die Behandlung von Privatpatienten - der Mutter des Klägers wurde vorliegend eine<br />

Privatrechnung erstellt - erfolgte die Rechnungslegung unter einem Briefkopf, der alle vier Belegärzte namentlich<br />

nannte. Soweit ersichtlich, ist die ärztliche Korres pondenz der Belegärztegemeinschaft, die belegärztliche Behandlung<br />

betreffend, auf Briefpapier erfolgt, das den Kopf "Klinik K." ohne weitere Differenzierung (wie etwa: "Belegarzt Dr. ..") trägt. Da die<br />

Klinik keine weiteren Belegärzte vertraglich an sich gebunden und in den Verträgen mit ihren Belegärzten eine<br />

Vereinbarung getroffen hatte, wonach sicherzustellen sei, dass sich nach außen hin "die Klinik und ihre Belegärzte ...<br />

als Einheit darstellen", spricht auch die Verwendung dieses Briefkopfes (neben dem "Rechnungsbriefkopf") für eine gemeinsame<br />

Außendarstellung der Belegärztegemeinschaft unter der Bezeichnung "Klinik K.". Diese Form des Auftretens nach<br />

außen entspricht derjenigen einer ambulanten Gemeinschaftspraxis (vgl. Senatsurteil BGHZ 97, 273, aaO).<br />

Die von den Beklagten sowie Dr. S. und Dr. R. für die jeweilige Patientin erbrachten ärztlichen Leistungen während der<br />

Behandlung konnten von einem wie von dem anderen Partner erbracht werden. Nach den unangegriffenen<br />

Feststellungen des Berufungsgerichts sah der gemeinsame Dienstplan nicht etwa vor, dass Patientinnen zwingend von<br />

"ihrem" Belegarzt behandelt wurden. Die Geburten und Operationen wurden vielmehr von dem jeweils<br />

"diensthabenden" Arzt geleitet. Dem steht nicht entgegen, dass Patientinnen, die zuvor von einem der Belegärzte<br />

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ambulant behandelt worden waren, nach Möglichkeit von diesem weiterbehandelt werden sollten. Diese Form der<br />

ärztlichen Betreuung entspricht der üblichen Arbeitsteilung in einer Gemeinschaftspraxis, in der der Patient<br />

normalerweise zu "seinem" Arzt geht, jedoch von einem anderen Praxismitglied behandelt wird, wenn ersterer<br />

verhindert ist (Senatsurteil BGHZ 142, 126, 136 f.). Entgegen der Auffassung der Revision handelt es sich insoweit nicht um eine bloße<br />

Vertretungsregelung, sondern vielmehr um ein typisches Kennzeichen einer Gemeinschaftspraxis.<br />

cc) Aus dem Umstand, dass die Mutter des Klägers den Vertrag über ihre ambulante Behandlung - unstreitig - nur mit<br />

einem der Belegärzte (Dr. S.)<br />

geschlossen hat, folgt nicht, dass sich dieses Vertragsverhältnis bei ihrer stationären belegärztlichen Behandlung auch<br />

nur mit diesem einzelnen Belegarzt fortgesetzt hat. Zu Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass sich etwas<br />

anderes auch nicht aus der Rechtsprechung des erkennenden Senates ergibt. Das in diesem Zusammenhang erörterte<br />

Senatsurteil BGHZ 144, 296 betraf einen Sachverhalt, in dem ein Patient, der in einer ambulanten Gemeinschaftspraxis<br />

behandelt worden war, anschließend stationär in einer Klinik belegärztlich von einem der Ärzte aus dieser Praxis<br />

weiterbehandelt wurde. Für diesen Fall hat der erkennende Senat entschieden, dass sich der mit allen Ärzten einer<br />

Gemeinschaftspraxis geschlossene ambulante Behandlungsvertrag mit diesen fortsetzt, wenn der Patient stationär in<br />

einer Klinik behandelt wird, in der die Ärzte der Gemeinschaftspraxis belegärztlich tätig sind. Dies gelte auch, wenn die<br />

tatsächliche stationäre Behandlung nur von einem dieser Ärzte durchgeführt werde und hänge nicht davon ab, ob die<br />

Belegärzte auch ihre stationäre Tätigkeit in Form einer Gemeinschaftspraxis organisiert hätten. Das entspricht dem bei<br />

der Gestaltung von Verträgen zwischen Krankenhausträgern und Belegärzten geltenden Grundsatz, dass die<br />

stationäre belegärztliche Behandlung nur die Fortsetzung der ambulanten Behandlung durch den gleichen Arzt darstellt<br />

(OLG Celle, VersR 1993, 360 mit NABeschluss des erkennenden Senats vom 17. 11.1992 - VI ZR 58/92; Franzki/Hansen, NJW 1990, 737; vgl. auch Senatsurteil BGHZ 144, 296, 309 f.). Daraus<br />

lässt sich jedoch nicht der Umkehrschluss ziehen, dass ein Patient, der zuvor lediglich von einem der Belegärzte<br />

ambulant behandelt worden ist, bei Aufnahme in die Belegklinik nicht auch mit den anderen Belegärzten in vertragliche<br />

Beziehungen tritt, wenn diese ihre Zusammenarbeit im Krankenhaus nach Art einer Gemeinschaftspraxis organisiert<br />

haben. Der erkennende Senat hat bereits in jener Entscheidung erwogen, dass bei entsprechenden tatsächlichen<br />

Feststellungen in Betracht komme, dass die Belegärzte hinsichtlich der im Krankenhaus erfolgten Behandlung als<br />

"Gemeinschaftspraxis" aufgetreten<br />

"Gemeinschaftspraxis" aufgetreten seien (BGHZ 144, 296, 309). Solche Feststellungen liegen hier vor und rechtfertigen die vom<br />

Berufungsgericht gezogene Folgerung, dass der von der Mutter des Klägers bei ihrer Aufnahme in die Klinik<br />

geschlossene Behandlungsvertrag mit allen vier Belegärzten zustande gekommen ist und die Beklagten deshalb<br />

vertraglich für die Versäumnisse von Dr. S. einzustehen haben. Bei dieser Sachlage kommt es nicht darauf an, ob sich<br />

ihre Einstandspflicht auch auf der Grundlage der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur akzessorischen<br />

Haftung der Gesellschafter bürgerlichen Rechts für Verbindlichkeiten der Gesellschaft gemäß § 128 HGB ergä<br />

dd) Ohne Erfolg macht die Revision geltend, bei den vertraglichen Vereinbarungen zwischen den Belegärzten handele<br />

es sich vorliegend nur um eine Regelung im Innenverhältnis. Dies mag für die Vorstellungen der beteiligten Ärzte<br />

hinsichtlich der Reichweite ihrer Vereinbarung zutreffen; für die rechtliche Bewertung ihrer Zusammenarbeit kommt es<br />

jedoch nicht nur auf den Inhalt der zwischen ihnen getroffenen Vereinbarungen, sondern auch darauf an, in welcher<br />

Weise sie nach außen gegenüber den Patientinnen auftreten. Soweit die Revision die tatrichterlichen Feststellungen<br />

zum Auftritt der "Belegärztegemeinschaft" nach außen anders wertet als das Berufungsgericht, kann sie damit<br />

revisionsrechtlich keinen Erfolg haben.<br />

III.<br />

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.<br />

Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr<br />

Vorinst.:LG Kaiserslautern, Entscheidung vom 07.05.2003 - 4 O 772/02 -<br />

OLG Zweibrücken, Entscheidung vom 23.11.2004 - 5 U 11/03 -<br />

Thöns SG Lüneburg, S 30 AS 328/05<br />

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Eilantrag gegen Krankenkasse zur Kostenübernahme hat Erfolg.<br />

Eilverfahren, Arbeitslosengeld II, Kosten medizinischer Behandlung, Erhöhung Regelleistung, verfassungskonforme<br />

Auslegung Sozialgericht Lüneburg S 30 AS 328/05 ER Beschluss In dem Rechtsstreit A. Antragstellerin,<br />

Prozessbevollmächtigte:<br />

B. gegen<br />

C. Antragsgegnerin,<br />

hat die 30. Kammer des Sozialgerichts Lüneburg am 11. 08.2005 durch die Richterin am Sozialgericht Groenke -<br />

Vorsitzende ­beschlossen: Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der<br />

Antragstellerin ab 07.2005 einen Betrag in Höhe der nachgewiesenen Kosten monatlich zu zahlen, solange dies zur<br />

Behandlung der Krankheit ihrer Tochter D. medizinisch erforderlich ist. Die Antragsgegnerin trägt die<br />

außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Gründe I. Die Antragstellerin ist<br />

Bezieherin von Arbeitslosengeld II. Sie lebt in einer Bedarfsgemeinschaft mit ihren Töchtern D. und E. Mit Bescheid<br />

vom 15. 12.2004 wurden ihr Leistungen in Höhe von 980,67 € monatlich bewilligt. Hierin waren enthalten die<br />

Regelleistung für die Antragstellerin sowie ein Mehrbedarf wegen Alleinerziehung, das Sozialgeld für ihre beiden<br />

Töchter und Kosten der Unterkunft und Heizung. Mit Schreiben vom 12. 01.2005 beantragte die Antragstellerin bei der<br />

Antragsgegnerin einen Mehrbedarf für ihre 12jährige Tochter D. Diese leidet unter chronischer Neurodermitis sowie<br />

verschiedenen Nahrungsmittelallergien. Die Antragstellerin machte geltend, dass ihre Tochter für eine konsequente<br />

Dauertherapie bestimmte Pflegeprodukte sowie Medikamente benötigt, die sie nicht finanzieren könne. Sie legte ein<br />

Attest der behandelnden Kinderärztin vor, in dem bestätigt wurde, dass D. eine konsequente Dauertherapie mit<br />

Pflegeprodukten für die Haut sowie bei Juckreiz antiallergische und Juckreiz hemmende Medikamente benötige. Aus<br />

dem Attest ging auch hervor, dass diese Medikamente rezeptfrei erhältlich sind und daher nicht zu Lasten der<br />

Krankenkasse verordnet werden können. Weiter legte die Antragstellerin ein fachärztliches Attest des Oberarztes des<br />

Städtischen Krankenhauses F. – Kinderklinik – vor, aus dem hervorgeht, dass D. im 03.2005 stationär dort betreut<br />

wurde. Der Oberarzt G. legt dar, dass bei ihr eine starke Allergie und auch im Vergleich zu anderen Patienten eine<br />

erhöhte Pflegebedürftigkeit der Haut bekannt sei. Weiter wird bestätigt, dass es aus medizinischer Sicht erforderlich<br />

sei, durch einen verstärkten Einsatz von Hautpflegemitteln einer erneuten gesundheitlichen Beeinträchtigung<br />

vorzubeugen. D. war seit Herbst 2004 insgesamt dreimal zu einem längeren stationären bzw. Kuraufenthalt in der<br />

Klinik. Mit Bescheid vom 24. 03.2005 lehnte die Antragsgegnerin die Übernahme von zusätzlichen Kosten für die<br />

Pflege von D. ab. Sie begründete dies damit, dass eine Erstattung von Leistungen zusätzlich zum Regelbedarf in den<br />

Vorschriften des SGB II nicht vorgesehen ist. Mit Schreiben vom 22. 04.2005 legte die Antragstellerin Widerspruch<br />

gegen diesen Bescheid ein. Sie begründete diesen damit, dass D. durch das vorliegende Krankheitsbild erheblich<br />

belastet sei. Sie sei mit schweren Schüben einer atopischen Dermatitis im Klinikum F. stationär aufgenommen worden.<br />

Es sei jedoch erforderlich, dass die Linderung der Krankheit durch weitere Versorgung auch im präventiven Bereich<br />

notwendig sei. Dies sei insbesondere damit verbunden, dass erhebliche Kosten im Hinblick der Reinigung der<br />

Kleidung, der Anschaffung der Kleidung sowie der notwendigen Hautpflegeprodukte erforderlich seien. Zusätzlich<br />

wurde ein Befundbericht von G. vorgelegt, aus dem hervorgeht, dass D. auf Grund ihrer Krankheit stark angespannt ist<br />

und depressiv sowie schmerzgequält und unruhig wirkt. Weiter geht hieraus hervor, dass D. einen hohen Verbrauch an<br />

differenten und indifferenten Hautpflegeprodukten hat. Die Antragsgegnerin schaltete im Rahmen des<br />

Wiederspruchsverfahrens ihren ärztlichen Dienst ein. Dieser bestätigte gutachterlich vorhandene chronisch<br />

entzündliche Veränderungen der Haut, ein überempfindliches Bronchialsystem sowie eine leichte seelische<br />

Erkrankung. Ein Mehrbedarf für Ernährung sei entsprechend den Hinweisen nach § 21 Abs. 5 SGB II erforderlich und<br />

werde voraussichtlich die Dauer von 12 Monaten übersteigen. Mit Bescheid vom 9. 02.2005 bewilligte die<br />

Antragsgegnerin der Antragstellerin daraufhin Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung in Höhe von 25,56 €<br />

monatlich. Zugleich wurde erneut der medizinische Dienst eingeschaltet und angefragt, ob auf Grund der Besonderheit<br />

des Einzelfalles ein höherer Mehrbedarf gewährt werden könne. Der ärztliche Dienst der Antragsgegnerin äußerte sich<br />

dahingehend, dass sich der Mehrbedarf ausschließlich auf die Ernährung beziehe und nach den vorliegenden<br />

Unterlagen eine Erhöhung des angegebenen Bedarfs medizinisch nicht gerechtfertigt sei. Mit Widerspruchsbescheid<br />

vom 14.06.2005 wurde der Antrag der Antragstellerin, soweit der Mehrbedarf die Höhe von 25, 56 € monatlich<br />

übersteigt, zurückgewiesen. Begründet wurde dies damit, dass für den Bedarf von Pflegeprodukten das SGB II keine<br />

Leistungen vorsieht. Hiergegen hat die Antragstellerin am 11. 07.2005 Klage erhoben und zugleich den Erlass einer<br />

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einstweiligen Anordnung beantragt. Die Antragstellerin trägt vor, aufgrund der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen<br />

ergäbe sich, dass D. schwer an Neurodermitis erkrankt sei und zur weiteren Behandlung hohe Verbrauchsmengen an<br />

verschiedenen Pflegeprodukten habe. Der Bedarf sei in diesem Fall so hoch, dass er ca. 240,00 € monatlich betrage.<br />

Diese Kosten könnte die Antragstellerin nicht tragen, da das Arbeitslosengeld II hierfür nicht ausreiche. Da die Kosten<br />

weithin laufend anfielen, sei der notwendige Lebensunterhalt nicht gewährleistet. Die ärztlichen Atteste ergäben des<br />

Weiteren, dass eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes drohe. Die Antragstellerin beantragt, die<br />

Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr einen zusätzlichen Betrag in Höhe von<br />

240,00 € monatlich bzw. in Höhe der tatsächlich nachgewiesenen Kosten monatlich zu zahlen, solange dies zur<br />

Krankheit der Tochter D. medizinisch erforderlich ist. Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzulehnen. Sie trägt<br />

vor, wegen der Erkrankung des Kindes sei bereits ein Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung in Höhe von<br />

monatlich 25,56 € anerkannt worden. Das SGB II sehe keine darüber hinausgehende Erstattungsmöglichkeit für Kosten<br />

für Heil- und Pflegemittel vor. Im Übrigen bezieht sie sich auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Hinsichtlich<br />

der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der<br />

Antragsgegnerinnen sowie der Gerichtsakten Bezug genommen. II. Der Antrag hat Erfolg. Nach § 86 b Abs. 2 SGG<br />

kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung<br />

in bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden<br />

Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.<br />

Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges<br />

Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das<br />

Gericht der Hauptsache ist das Gericht des ersten Rechtszuges. Voraussetzung für den Erlass der hier vom<br />

Antragsteller begehrten Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG, mit der er die Gewährung von<br />

Leistungen nach dem SGB II begehrt, ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) ein<br />

Anspruch des Antragstellers auf die begehrte Regelung (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch<br />

sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Dabei darf die einstweilige Anordnung des Gerichts wegen<br />

des summarischen Charakters dieses Verfahrens grundsätzlich nicht die endgültige Entscheidung in der Hauptsache<br />

vorwegnehmen, weil sonst die Erfordernisse, die bei einem Hauptsacheverfahren zu beachten sind, umgangen<br />

würden. Auch besteht die Gefahr, dass eventuell in einem Eilverfahren vorläufig, aber zu Unrecht gewährte Leistungen<br />

später nach einem Hauptsacheverfahren, dass zu Lasten des Antragstellers ausginge, nur unter sehr großen<br />

Schwierigkeiten erfolgreich wieder zurückgefordert werden könnten. Daher ist der vorläufige Rechtsschutz nur dann zu<br />

gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abzuwendende Nachteile entstünden, zur deren<br />

Beseitigung eine spätere Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69, 74 m.w.N.). Der<br />

Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Zahlung der tatsächlich<br />

entstehenden Kosten für Heil- und Pflegeprodukte für ihre an Neurodermitis erkrankte Tochter nach § 23 Abs. 1 SGB II.<br />

Es handelt sich bei den Kosten für die Medikamente und Pflegeprodukte um einen von den Regelleistungen umfassten<br />

und nach den Umständen unabweisbaren Bedarf zu Sicherung des Lebensunterhaltes. Die Regelleistung umfasst nach<br />

§ 20 Abs. 1 SGB II insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege u.a. Hierzu gehören auch Kosten für Medikamente<br />

und Produkte, die von der gesetzlichen Krankenkasse nicht übernommen wird, so z. B. auch die Praxisgebühr. Es<br />

handelt sich daher bei Körperpflegeprodukten und nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten um einen von der<br />

Regelleistung umfassten Bedarf. Dieser ist auch unabweisbar, da es sich im vorliegenden Fall jedenfalls nach<br />

summarischer Prüfung um einen medizinisch notwendigen Bedarf handelt. Dies ist belegt durch das von der<br />

Antragstellerin vorgelegte Attest der Kinderärztin und das fachärztliche Attest des Klinikarztes G. vom 15. 03.2005<br />

sowie durch den ebenfalls vorgelegten Befundbericht von G. vom 17. 03.2005. Soweit die Antragsgegnerin sich darauf<br />

beruft, nach Ansicht ihres ärztlichen Dienstes sei dieser Bedarf medizinisch nicht notwendig, kann dies nach den<br />

vorgelegten Unterlagen nicht überzeugen. Die Stellungnahme des ärztlichen Dienstes lautet wörtlich: „Der Mehrbedarf<br />

bezieht sich ausschließlich auf die Ernährung und hier ist nach den vorliegenden Unterlagen keine Erhöhung des<br />

angegebenen Bedarfs medizinisch gerechtfertigt.― Diese Stellungnahme lässt eine Auseinandersetzung mit den<br />

vorgelegten Attesten nicht erkennen. Es fehlt auch an einer Begründung, weshalb trotz der schweren Neurodermitis<br />

der beantragte Bedarf medizinisch nicht gerechtfertigt sei. Darüber hinaus wurde die Stellungnahme nach Aktenlage<br />

abgegeben, so dass keine Untersuchung des Kindes D. durch den ärztlichen Dienst erfolgt ist. Im Gegensatz dazu<br />

stammen die von der Antragstellerin vorgelegten Atteste von behandelnden Ärzten des Kindes. Darüber hinaus sind<br />

jedenfalls in dem Befundbericht vom 17. 03.2005 der Gesundheitszustand und die medizinische Vorgeschichte des<br />

Kindes ausführlich dargestellt. Die Antragstellerin hat weiter mittels der vorgelegten Atteste glaubhaft vorgetragen, dass<br />

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ihr deutlich erhöhte Ausgaben für die Hautpflegeprodukte und nicht verschreibungspflichtigen Medikamente entstehen.<br />

Da die Ausgaben für die benötigten Heil- und Körperpflegemittel von der Krankenkasse nicht übernommen werden,<br />

sind sie grundsätzlich von der Antragstellerin aus der Regelleistung zu zahlen. Angesichts der Höhe der Ausgaben ist<br />

jedoch offensichtlich, dass die Regelleistungen zur Bedarfsdeckung nicht ausreichen, weil sie die in diesem Rahmen<br />

üblicherweise anzusetzenden Beträge für derartige Produkte weit überschreiten. Die im Antrag angegebene Höhe der<br />

Ausgaben mit ca. 240.- € monatlich ist jedoch nicht glaubhaft gemacht, jedenfalls nicht als Bedarf, der in dieser Höhe<br />

regelmäßig jeden Monat anfällt. Die (Anfang Juli) vorgelegten Nachweise für den Monat Juni belegen Kosten in Höhe von<br />

92, 67 €. Es ist daher davon auszugehen, dass der Bedarf entsprechend dem Gesundheitszustand von D. erheblich<br />

schwanken kann. Aus diesem Grund sind die Kosten von der Antragsgegnerin jeweils in der Höhe zu übernehmen, wie<br />

sie nachgewiesen werden. Die Leistungen sind nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II als Darlehen zu erbringen. Allerdings<br />

erscheint problematisch, dass dieses Darlehen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB II durch monatliche Aufrechnung in<br />

Höhe von bis zu 10 von Hundert der an die Antragstellerin zu zahlenden Regelleistung zu tilgen ist. Im Hinblick auf die<br />

Höhe der zu gewährenden Leistungen könnte darin möglicherweise ein Verfassungsverstoß liegen. Wie oben bereits<br />

dargelegt, ist im Rahmen des Eilverfahrens davon auszugehen, dass es sich um einen medizinisch notwendigen<br />

Bedarf an Heil- und Körperpflegeprodukten handelt. Dieser ist im speziellen Fall des Kindes D. überdurchschnittlich<br />

hoch. Aus diesem Grund reicht die Regelleistung zur Deckung des Bedarfes nicht aus. Das SGB II muss jedoch, um<br />

eine Grundsicherung zu gewährleisten, einen solchen medizinisch notwendigen Bedarf gewähren. Zwar gibt es keine<br />

Vorschrift im SGB II, wonach in besonders begründeten Einzelfällen die Regelleistungen zu erhöhen wären oder eine<br />

nicht rückzahlbare Beihilfe zu zahlen wäre. Jedoch gebietet der Individualisierungsgrundsatz, dass dieser Bedarf zu<br />

decken ist. Der Individualisierungsgrundsatz ist Ausdruck der an der Menschenwürde ausgerichteten Zielsetzung der<br />

Sozialhilfe und damit verfassungsrechtlich unverzichtbar (Brünner in LPK – SGB II, RdNr. 22 zu § 20). Im früheren BSHG war der<br />

Individualisierungsgrundsatz in § 3 geregelt. Eine entsprechende Regelung findet sich heute in § 9 SGB XII; im SGB II<br />

ist jedoch keine entsprechende Vorschrift vorhanden. Eine Öffnung der Regelleistung für die individuelle<br />

Bedarfssituation ist damit weitgehend verhindert (Hauck/Noftz SGB II, Rd.Nr. 6 zu § 20). Da es jedoch – wie im vorliegenden Fall - in<br />

Einzelfällen vorkommen kann, dass die Regelleistung für den individuell anzuerkennenden Bedarf nicht ausreicht,<br />

würde in derartigen Einzelfällen die Regelleistung das soziokulturelle Existenzminimum nicht mehr abdecken. Sie wäre<br />

damit unangemessen niedrig und verfassungswidrig. In diesen Fällen ist es angebracht, im Wege der<br />

verfassungskonformen Auslegung im Einzelfall einen höheren Bedarf anzuerkennen (Eicher/Spellbrink, SGB II, Rd.Nr. 8 zu § 20; Brünner in LPK<br />

–SGB II, Rd.Nr. 23 zu § 20). Da im Fall des Kindes der Antragstellerin die Kosten für Heil- und Körperpflegemittel zur<br />

Gewährleistung der medizinischen Versorgung und zur Gesunderhaltung notwendig sind, könnte in der Rückforderung<br />

des Darlehens möglicherweise ein Verfassungsverstoß liegen, weil die Tochter der Antragstellerin dann durch<br />

Wahrnehmung ihres Grundrechtes aus Artikel 2 Grundgesetz auf Dauer finanziell benachteiligt wird. Wenn die<br />

Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II für längere Zeit – etwa mehr als ein Jahr - zu zahlen sind, wird die<br />

Antragsgegnerin zu prüfen haben, ob sie im Wege der Ermessungsausübung von einer Aufrechnung absieht. Denn im<br />

Wege verfassungskonformer Auslegung könnte dazu Anlass bestehen (s. für den Fall der Wahrnehmung des Umgangsrechts Beschluss des LSG<br />

NiedersachsenBremen vom 28. 04.2005, Aktenzeichen L 8 AS 57/05 ER). Die von der Antragstellerin favorisierte Heranziehung von § 47 ff. SGB XII<br />

kommt nicht in Betracht. Nach § 48 SGB XII werden Leistungen zur Krankenbehandlung entsprechend dem Dritten<br />

Kapitel 5. Abschnitt ersten Titel des Fünften Buches erbracht. Damit gewährt die Vorschrift Hilfe bei Krankheit im<br />

selben Umfang wie die gesetzliche Krankenversicherung. Wie der von der Antragstellerin vorgelegte Nachweis ihrer<br />

Krankenversicherung zeigt, übernimmt diese derartige Leistungen jedoch nicht. Die Anwendung von § 73 SGB XII<br />

scheitert daran, dass unter Geltung des BSHG die hier fraglichen Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt und nicht<br />

der Hilfe in besonderen Lebenslagen zugeordnet worden wären. Die Vorschrift des § 73 SGB XII entspricht der<br />

Vorschrift des § 27 Abs. 2 BSHG, die sich in dem Abschnitt über die Hilfe in besonderen Lebenslagen befand. Auch<br />

wenn das SGB XII die ausdrückliche Unterscheidung zwischen Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen<br />

Lebenslagen nicht mehr erkennt, ist sie in der Sache beibehalten worden. Es besteht keinen Anlass, unter Geltung des<br />

SGB II bzw. des SGB XII zu einer anderen Betrachtungsweise überzugehen (ebenso LSG NiedersachenBremen, Beschluss vom 28. 04.2005, a.a.O.),<br />

also die Kosten für die Heil- und Körperpflegemittel nunmehr der Hilfe in besonderen Lebenslagen zuzuordnen. Die<br />

Vorschrift des § 28 SGB XII in der eine Erhöhung eines Mehrbedarfs vorgesehen ist, kann nicht herangezogen werden,<br />

da nach § 5 Abs. 2 SGB II diese Leistung ausgeschlossen ist für Empfänger von Arbeitslosengeld II. Im Hinblick darauf,<br />

dass die Ermessensausübung der Antragsgegnerin bei der Darlehensrückforderung sich an einer<br />

verfassungskonformen Auslegung zu orientieren hat, kann von einer Schlechterstellung der SGB IIEmpfänger<br />

gegenüber den Sozialhilfeempfängern nicht ausgegangen werden. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Abs. 1,<br />

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193 Abs. 1 SGG. Rechtsmittelbelehrung Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde zulässig. Sie ist binnen eines<br />

Monats nach Bekanntgabe des Beschlusses beim Sozialgericht Lüneburg, Lessingstraße 1, 21335 Lüneburg, schriftlich<br />

oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Hilft das Sozialgericht der Beschwerde<br />

nicht ab, legt es sie dem Landessozialgericht NiedersachsenBremen zur Entscheidung vor. Die Beschwerdefrist ist<br />

auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem Landessozialgericht NiedersachsenBremen,<br />

GeorgWilhelmStraße 1, 29223 Celle, oder bei der Zweigstelle des Landessozialgerichts NiedersachsenBremen, Am<br />

Wall 201, 28195 Bremen, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 196/03 vom 21.12.2004<br />

Die mit der Geburt eines durch eine Erkrankung der Mutter an Röteln schwer geschädigten Kindes<br />

verbundenen wirtschaftlichen Belastungen, sind nicht allein deshalb Gegenstand des jeweiligen<br />

Behandlungsvertrages mit dem Hausarzt oder dessen niedergelassenem Urlaubsvertreter, weil die Mutter<br />

diese Ärzte zur Abklärung und Behandlung eines Hautausschlags aufgesucht und im Laufe der Behandlung<br />

ihre Schwangerschaft erwähnt hatte. Der Patient obsiegte.<br />

BGH, Urteil vom 21. 12.2004 – VI ZR 196/03 – KG Berlin LG Berlin<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 21. 12.2004 durch die Vorsitzende<br />

Richterin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Rechtsmittel der Beklagten werden das Urteil des<br />

20. Zivilsenats des Kammergerichts Berlin vom 2. 06.2003 aufgehoben und das Urteil des Landgerichts Berlin vom 19.<br />

07.2001 im Kostenpunkt und insoweit abgeändert, als es zum Nachteil der Beklagten ergangen ist. Die Klage der<br />

Klägerin zu 2 wird abgewiesen.<br />

Von den Gerichtskosten und den außergerichtlichen Kosten der Beklagten, sowie den Kosten der Streithelfer in der<br />

ersten Instanz tragen der Kläger zu 1 91% und die Klägerin zu 2 9%.<br />

Von den Gerichtskosten der zweiten Instanz tragen der Kläger zu 1 67% und die Klägerin zu 2 33%. Von den<br />

außergerichtlichen Kosten beider Beklagten sowie den Kosten der Streithelfer in der zweiten Instanz tragen der Kläger<br />

zu 1 54% und die Klägerin zu 2 46%.<br />

Die Gerichtskosten der Revisionsinstanz sowie die außergerichtlichen Kosten beider Beklagten und der Streithelfer in<br />

der Revisionsinstanz trägt die Klägerin zu 2.<br />

Ihre eigenen außergerichtlichen Kosten tragen die Kläger jeweils selbst.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Klägerin zu 2 (im weiteren: die Klägerin) verlangt von den Beklagten Ersatz von Unterhaltsaufwendungen für ihren Sohn, den<br />

Kläger zu 1 (im weiteren: der Kläger).<br />

Der inzwischen verstorbene frühere Beklagte zu 1 (im weiteren: der Beklagte), dessen alleinige Erbin die jetzige Beklagte zu 1 ist,<br />

war der langjährige Hausarzt der Klägerin. Die Beklagte zu 2 (im weiteren: die Beklagte) nahm in der Zeit vom 24. 07.1996 bis zum<br />

2. 08.1996 seine Urlaubsvertretung wahr.<br />

Am 24. 07.1996 begab sich die Klägerin wegen eines deutlichen Hautausschlags in die Praxis der Beklagten. Diese<br />

diagnostizierte eine allergische Reaktion auf ein Medikament, das der Klägerin von ihrem Orthopäden verordnet<br />

worden war, und verschrieb der Klägerin das Medikament Z.. Da das Beschwerdebild sich nicht besserte, stellte die<br />

Beklagte die Medikation zwei Tage später um. Bei einer erneuten Vorstellung am 1. 08.1996 war wiederum keine<br />

Besserung festzustellen. An diesem Tag teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass möglicherweise eine<br />

Schwangerschaft bestehe. Da der Hautausschlag noch nicht abgeklungen war, schrieb die Beklagte die Klägerin bis<br />

zum<br />

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5. 08.1996 krank und wies sie an, den Beklagten nach dessen Urlaubsrückkehr an diesem Tag aufzusuchen. In einem<br />

Bericht an den medizinischen Dienst vom 16. 08.1996 hielt die Beklagte als Diagnose fest: "Ekzem unklarer Genese".<br />

Am 2. 08.1996 begab sich die Klägerin zu dem Streithelfer zu 1, einem Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe,<br />

der eine Schwangerschaft in der sechsten Woche feststellte. Am 5. 08.1996 suchte die Klägerin den Beklagten auf,<br />

den die Beklagte bereits telefonisch über die Krankheit der Klägerin und deren mögliche Schwangerschaft informiert<br />

hatte. Am 15. 08.1996 veranlaßte der Streithelfer zu 1 einen Rötelntest, der von der Streithelferin zu 2 vorgenommen<br />

wurde und einen HAHTiter von mehr als 1:32 ergab.<br />

Am 10. 04.1997 wurde der Kläger mit einer Rötelnembryopathie geboren. Er leidet u.a. unter allgemeiner<br />

Entwicklungsretardierung, infantiler Cerebralparese, offenem ductus arteriosus Botalli, Sehbehinderungen und<br />

Schwerhörigkeit. Der Grad seiner Behinderung beträgt 100.<br />

Die Klägerin wirft den Beklagten vor, eine bestehende Rötelnerkrankung nicht erkannt zu haben. Bei Kenntnis des<br />

Vorliegens einer Rötelninfektion zu Beginn der Schwangerschaft und des sich daraus ergebenden hohen<br />

Mißbildungsrisikos für das Kind würde sie sich zu einer Abtreibung entschlossen haben, da sie ihre soziale Situation als<br />

problematisch angesehen habe.<br />

Das Landgericht hat die Klage des Klägers auf Schadensersatz und Schmerzensgeld abgewiesen, der Klage der<br />

Klägerin auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe des jeweils geltenden doppelten Regelunterhalts jedoch<br />

stattgegeben. Das Berufungsgericht hat die Berufungen der Beklagten zurückgewiesen. Der Kläger hatte seine<br />

Berufung bereits zuvor zurückgenommen. Mit ihren vom Berufungsgericht zugelassenen Revisionen verfolgen die<br />

Beklagten ihre Anträge auf Klageabweisung weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I. Das Berufungsgericht hat Behandlungsfehler beider Beklagten bejaht. Sie hätten es fehlerhaft unterlassen, die<br />

Klägerin darauf hinzuweisen, dass sie den Gynäkologen von der Hautreaktion unterrichten und ihm insbesondere<br />

mitteilen solle, dass die von den Beklagten gestellte Diagnose einer Medikamentenallergie nicht gesichert sei.<br />

Mit dem Sachverständigen sei davon auszugehen, dass die Klägerin eine Rötelnerkrankung durchgemacht habe,<br />

deren Beginn auf den 22. 07.1996 zu datieren sei. Es sei davon auszugehen, dass der Gynäkologe bei<br />

ordnungsgemäßer therapeutischer Aufklärung der Klägerin die dann gebotene erweiterte Titerbestimmung<br />

vorgenommen hätte.<br />

Dass die Klägerin abgetrieben hätte, wenn sie gewusst hätte, welches Risiko eine Rötelninfektion für den Fötus<br />

bedeute und mit welchen schweren Mißbildungen der Kläger geboren werden könnte, sei ohne weiteres<br />

nachvollziehbar und bedürfe keiner besonderen Begründung, weil hierfür eine tatsächliche Vermutung streite. Die<br />

gesetzliche Beseitigung der eugenischen Indikation ab dem 1. 10.1995 ergebe nichts anderes, weil es hier nicht um<br />

pränatale Diagnostik, sondern um das erhebliche Risiko eines durch Rötelninfektion schwerstbehinderten Kindes gehe.<br />

II. Das hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.<br />

1. a) Das Berufungsgericht hat eine Pflicht der Beklagten zur therapeutischen Aufklärung der Klägerin darüber<br />

angenommen, diese müsse den die Schwangerschaft begleitenden Frauenarzt von ihrer Hautreaktion und<br />

insbesondere davon unterrichten, die Diagnose einer allergischen Reaktion sei nicht gesichert, ohne sich dazu auf ein<br />

Gutachten eines medizinischen Sachverständigen stützen zu können. Das beanstandet die Revision der Beklagten<br />

ausdrücklich. Es bedarf jedoch keiner Abklärung durch das Gutachten eines Sachverständigen, denn ein<br />

Schadensersatzanspruch der Klägerin besteht schon aus anderen Gründen nicht. Der geltend gemachte Schaden<br />

einer Unterhaltsbelastung der Klägerin durch die Existenz des Klägers ist entgegen der beiläufig geäußerten Ansicht<br />

des Berufungsgerichts nicht vom Schutzzweck des Behandlungsvertrages umfaßt.<br />

b) Zutreffend weisen beide Revisionskläger darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats<br />

eine Haftung des behandelnden Arztes für den durch die Geburt eines Kindes verursachten Vermögensschaden nur<br />

dann in Betracht kommt, wenn sich dabei ein Risiko verwirklicht hat, auf dessen Vermeidung die Behandlung der<br />

Mutter durch die behandelnden Ärzte im Rahmen eines bestehenden Behandlungsvertrages gerichtet war. Ging es bei<br />

der Behandlung nicht um die Abwendung einer Belastung der Patientin durch ein Kind, dann darf auch nicht<br />

angenommen werden, dass die Bewahrung vor den Unterhaltsaufwendungen infolge der Geburt des Kindes zum<br />

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Schutzumfang des Behandlungsvertrages gehörte (vgl. Senatsurteile BGHZ 124, 128, 137 f.; 143, 389, 393 ff.; 151, 133, 136; vom 25. 06.1985 VI ZR 270/83 VersR 1985,<br />

1068, 1069).<br />

Anders als in dem der Senatsentscheidung vom 18. 01.1983 (VI ZR 114/81 BGHZ 86, 240 ff.) zugrundeliegenden Sachverhalt hatten<br />

im hier zu entscheidenden Fall beide Beklagte keinen derartigen ärztlichen Auftrag erhalten.<br />

Unter den vom Berufungsgericht festgestellten Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Abklärung<br />

der Ursache des Ekzems wegen befürchteter Auswirkungen auf die der Klägerin und beiden Beklagten nach Beginn<br />

der Behandlung bekannt gewordene Schwangerschaft erfolgen sollte.<br />

Anders als ein die Schwangerschaft begleitender Frauenarzt waren der beklagte Hausarzt und seine Urlaubsvertreterin<br />

nicht im Hinblick auf die Schwangerschaft und nicht zu deren medizinischer Begleitung eingeschaltet worden (vgl. OLG<br />

Düsseldorf NJW 1995, 1620 f.; Gehrlein NJW 2000, 1771, 1772). Daran ändert sich nichts deshalb, weil jeweils beiden Beklagten vor dem Ende<br />

der Behandlung das Ergebnis des Schwangerschaftstests der Klägerin bekannt geworden war. Auch wenn die<br />

Beklagten hiernach mit einer Schwangerschaft der Klägerin zu rechnen hatten, reicht allein dieser Umstand nicht aus,<br />

um zu einer Erweiterung des Behandlungsvertrages im Sinne einer zielgerichteten Absprache über eine Verhinderung<br />

der Geburt zu führen. So hat der erkennende Senat in einem Fall, in dem die Patientin bei der Vorbereitung auf eine<br />

orthopädische Operation zur Abklärung von Unterleibsbeschwerden einem Gynäkologen vorgestellt, aber eine<br />

bestehende Schwangerschaft übersehen worden war, einen Zusammenhang zwischen dem Zweck des ärztlichen<br />

Handelns und der Geburt des Kindes verneint und die auf Ersatz des Unterhalts gerichtete Klage abgewiesen (BGHZ 143,<br />

389, 395). Dort war die Zielsetzung des ärztlichen Handelns nicht auf die Vermeidung einer Geburt gerichtet. Gleiches gilt<br />

erst recht im hier zu entscheidenden Fall, in dem die Klägerin die Beklagten ausschließlich zur Abklärung und<br />

Behandlung eines Hautausschlags aufsuchte. Dementsprechend war eine Beratung über Möglichkeiten zur<br />

Unterbrechung der Schwangerschaft nicht Inhalt der Behandlungsverträge zwischen der Klägerin und den beiden<br />

Beklagten, sondern konnte nur in die Zuständigkeit des die Schwangerschaft begleitenden Facharztes fallen.<br />

d) Hatten nach allem die Behandlungsverträge mit den Beklagten nicht den Zweck, die Klägerin vor den Folgen einer<br />

Unterhaltsbelastung zu bewahren, so hätte sich eine Beratung der Klägerin über die Möglichkeit eines<br />

Schwangerschaftsabbruchs allenfalls als Reflex und zudem nach der Beurteilung des gerichtlichen Sachverständigen<br />

nur bei einer maximalen hausärztlichen Versorgung der Klägerin ergeben. Diese lediglich mittelbare Folge rechtfertigt<br />

ebenfalls nicht die Annahme einer Erweiterung des Behandlungsvertrages.<br />

2. Schon deshalb kann die Klage keinen Erfolg haben. Aus diesem Grund bedarf es auch keiner abschließenden<br />

Beurteilung, ob bei einer entsprechenden Fallgestaltung ein Anspruch der Klägerin auch deshalb nicht in Betracht<br />

käme, weil keine der Voraussetzungen für eine rechtmäßige medizinische Indikation nach § 218a Abs. 2 StGB (vgl.<br />

Senatsurteile BGHZ 151, 133, 138 f.; vom 15. 07.2003 VI ZR 203/02 VersR 2003, 1541 f.,<br />

jeweils m.w.N.) vorgetragen oder vom Berufungsgericht festgestellt ist.<br />

Ob schließlich die schuldhafte Vereitelung eines allein auf § 218a Abs. 1 StGB gestützten Schwangerschaftsabbruchs<br />

nach der Gesetzeslage für einen Schadensersatzanspruch ausreichen könnte, ist angesichts der Rechtsprechung des<br />

erkennenden Senats (vgl. Senatsbeschluß vom 24. 06.2003 VI ZR 130/03 FamRZ 2003, 1378; Senatsurteil vom 19. 02.2002 VI ZR 190/01 VersR 2002, 767, 768; BVerfGE aaO 295 f.)<br />

zweifelhaft, bedarf aber nach Lage des Falles keiner Entscheidung, weil es bereits an einem auf entsprechende<br />

Beratung gerichteten Behandlungsvertrag fehlt. Es ist deshalb nicht zu prüfen, ob sich die Klägerin unter den<br />

gegebenen Umständen darauf berufen könnte, dass die Beklagten durch ihr Fehlverhalten die Möglichkeit eines<br />

legalen straflosen Abbruchs der Schwangerschaft nach der im Juli/08.1996 geltenden Regelung der §§ 218a Abs. 1,<br />

219 Abs. 2 StGB in der Fassung des Art. 8 Nr. 3, 6 des Gesetzes vom 21. 08.1995 (Schwangerenund Familienhilfeänderungsgesetz; BGBl I 1050,<br />

1055; vgl. Senatsurteile BGHZ 129, 178, 184 ff.; vom 19. 02.2002 VI ZR 190/01 VersR 2002, 767 f.; vom 1. 04.2003 VI ZR 366/02 VersR 2003, 777 f.; vom 7. 12.2004 VI ZR 308/03 zur Veröffentlichung<br />

bestimmt; BVerfGE 88, 203, 273 ff., 279 ff.) in nicht vertretbarer Weise schuldhaft vereitelt haben und deshalb zum Ersatz der mit der<br />

Unterhaltspflicht für den Kläger verbundenen materiellen Schäden verpflichtet sein könnten.<br />

III. Nach alledem waren die Urteile der Vorinstanzen im Kostenpunkt und insoweit aufzuheben, als sie zum Nachteil der<br />

Beklagten ergangen sind. Die Klage war insgesamt abzuweisen. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91 Abs. 1, 97<br />

Abs. 1, 100 Abs. 1, 101 und 516 Abs. 3 ZPO.<br />

Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll<br />

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ThönsBGH VI<br />

ZR 328/03 vom 16. 11.2004<br />

Eine Verletzung der Pflicht des behandelnden Arztes zur therapeutischen Aufklärung (Sicherungsaufklärung), die als<br />

grober Behandlungsfehler zu werten ist, führt regelmäßig zu einer Umkehr der objektiven Beweislast für den<br />

ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden, wenn sie<br />

geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; eine Wahrscheinlichkeit für ein Ergebnis einer<br />

Kontrolluntersuchung ist in einem solchen Fall nicht erforderlich (Fortführung von BGH, Urteil vom 27. 04.2004 VI ZR 34/03 VersR 2004, 909, zur<br />

Veröffentlichung in BGHZ bestimmt). Der Patient obsiegte.<br />

BGB § 823 Aa, C; ZPO §286 G<br />

BGH, Urteil vom 16. 11.2004 VI ZR 328/03 OLG Braunschweig LG Braunschweig<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 16. 11.2004 durch die Vorsitzende<br />

Richterin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Rechtsmittel des Klägers werden das Urteil des<br />

1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 16. 10.2003 aufgehoben und das Urteil der 4. Zivilkammer<br />

des Landgerichts Braunschweig vom 10. 10.2002 abgeändert. Der Anspruch des Klägers auf Zahlung eines<br />

Schmerzensgeldes und Ersatz des bezifferten materiellen Schadens des Klägers ist dem Grunde nach gerechtfertigt.<br />

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger jeden nach Schluß der mündlichen Verhandlung vor<br />

dem Berufungsgericht aus der unterlassenen therapeutischen Aufklärung bei der Behandlung vom 6. 01.2000<br />

entstandenen und künftig entstehenden materiellen Schaden zu ersetzen, soweit der Ersatzanspruch nicht auf<br />

Sozialversicherungsträger übergegangen ist.<br />

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche weiteren aus der unterlassenen<br />

therapeutischen Aufklärung bei der Behandlung vom 6. 01.2000 künftig entstehenden immateriellen Schäden zu<br />

ersetzen. Zur Entscheidung über den Betrag des Zahlungsanspruchs wird der Rechtsstreit an das Berufungsgericht<br />

zurückverwiesen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Der Kläger, der am 6. 01.2000 abends Lichtblitze in seinem linken Auge bemerkt hatte, begab sich noch am selben<br />

Tag in den augenärztlichen Bereitschaftsdienst, den die Beklagte wahrnahm. Gesichtsfeldmessungen und Messungen<br />

des Augeninnendrucks ergaben keinen auffälligen Befund. Auch bei einer Untersuchung des Augenhintergrundes nach<br />

Erweiterung der Pupille stellte die Beklagte keine pathologischen Veränderungen fest. Am 11. 01.2000 trat beim Kläger<br />

eine massive Ablösung der Netzhaut im linken Auge auf. Trotz zweier Operationen in der Universitätsklinik, bei denen<br />

die Netzhaut angelegt und stabilisiert wurde, ist die Sehfähigkeit des Klägers beeinträchtigt.<br />

Der Kläger hält die Untersuchung durch die Beklagte für fehlerhaft; auch habe sie ihn nicht in gehöriger Weise darauf<br />

hingewiesen, dass er alsbald Kontrolluntersuchungen durchführen lassen müsse. Er begehrt Schmerzensgeld, Ersatz<br />

materiellen Schadens sowie die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihm sämtliche nach Schluß der<br />

mündlichen Verhandlung aus dem Behandlungsfehler der Beklagten vom 6. 01.2000 entstehenden materiellen und<br />

immateriellen Schäden zu ersetzen. Seine Klage hatte in beiden Tatsacheninstanzen keinen Erfolg. Mit seiner vom<br />

Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt er sein Klageziel weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Berufungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, es sei an die<br />

Feststellungen des Landgerichts gebunden, die Beklagte habe den Kläger nicht auf die Gefährdung der Netzhaut durch<br />

eine fortschreitende GlaskörperAbhebung hingewiesen und ihn auch nicht aufgefordert, diesen Vorgang unbedingt<br />

weiter überwachen zu lassen. Da beim Kläger eine beginnende GlaskörperAbhebung vorgelegen und die Beklagte das<br />

auch erkannt habe, habe sie den Kläger über diese mögliche Diagnose und das dabei bestehende vergleichsweise<br />

geringe Risiko einer Netzhautablösung unterrichten müssen. Sie habe den Kläger auffordern müssen, sich auch ohne<br />

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Zunahme der Symptome zu einer Kontrolluntersuchung beim Augenarzt vorzustellen. Diese Unterlassungen seien als<br />

"einfache" Behandlungsfehler zu werten. Dass die Beklagte den Kläger nicht zusätzlich darauf hingewiesen habe, er<br />

müsse bei Fortschreiten der Symptome sofort einen Augenarzt aufsuchen, sei als ein grober Behandlungsfehler zu<br />

werten.<br />

Der Ursachenzusammenhang zwischen diesem groben Behandlungsfehler und dem Körperschaden des Klägers sei<br />

zwar nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger nach eigenen Angaben keine sich ausweitende oder<br />

verschlimmernde Symptomatik bemerkt habe. Es sei nämlich nicht ausgeschlossen, dass der Kläger bei zutreffender<br />

Information auch ohne Verschlechterung seines Zustandes zu einer augenärztlichen Kontrolle gegangen wäre und ein<br />

Augenarzt dann Anzeichen für eine beginnende Netzhautablösung festgestellt hätte. Möglicherweise hätte dann<br />

erfolgreich Vorsorge gegen die spätere Netzhautablösung getroffen werden können. Ein Ursachenzusammenhang<br />

könne jedoch nicht festgestellt werden. Es sei zwar davon auszugehen, dass der Kläger nach ordnungsgemäßer<br />

Beratung durch die Beklagte innerhalb von zwei oder drei Tagen zu einer Kontrolluntersuchung gegangen wäre. Es sei<br />

aber vorstellbar, dass die GlaskörperAbhebung, die der Netzhautablösung vorangehe, sehr plötzlich und sehr massiv<br />

eingesetzt und dann sehr schnell eine erst am 11. 01.2000 erkennbare Netzhautablösung nach sich gezogen habe.<br />

Daher sei völlig offen, ob es zuvor Anzeichen für eine solche Ablösung gegeben habe, die bei einer<br />

Kontrolluntersuchung erkennbar gewesen wären. Dem Kläger sei keine Beweislastumkehr für den<br />

Ursachenzusammenhang zuzubilligen. Es fehle an einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit dafür, dass bei einer<br />

augenärztlichen Kontrolle Anzeichen für die Netzhautablösung erkennbar gewesen wären. Dass eine solche Kontrolle<br />

Aufschluß darüber gegeben hätte, ob sich zu jenem Zeitpunkt Anzeichen für eine Netzhautablösung gezeigt hätten, sei<br />

keine ausreichende Grundlage für eine Beweislastumkehr. Zwar liege es nicht fern, das Gesamtverhalten der<br />

Beklagten ohne Differenzierung zu den einzelnen Unterlassungen als grob fehlerhaft anzusehen. Selbst dann aber sei<br />

es nicht gerechtfertigt, dem Kläger ohne jede Wahrscheinlichkeit in die eine oder die andere Richtung eine<br />

Beweislastumkehr hinsichtlich des Auftretens von Gefährdungsanzeichen bei der hypothetischen Kontrolluntersuchung<br />

zuzubilligen. II. Diese Ausführungen des Berufungsgerichts halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.<br />

1. Das Berufungsgericht wertet im Anschluss an die Ausführungen des Sachverständigen und im Einklang mit der<br />

Rechtsprechung des erkennenden Senats als grob fehlerhaft, dass die Beklagte den Kläger nach Abschluß der<br />

Notfalluntersuchung nicht darauf hingewiesen hat, er müsse bei Fortschreiten der Symptome sofort einen Augenarzt<br />

aufsuchen (vgl. dazu Senatsurteile vom 29. 05.2001 VI ZR 120/00 VersR 2001, 1030; vom 3. 07.2001 VI ZR 418/99 VersR 2001, 1116, 1117; vom 28. 05.2002 VI ZR 42/01 VersR 2002, 1026 jeweils<br />

m.w.N.). Die Revision nimmt dies als ihr günstig hin; auch die Revisionserwiderung erhebt insoweit keine<br />

Beanstandungen. Beim Kläger lag eine beginnende GlaskörperAbhebung als Vorstufe einer Netzhautablösung nahe<br />

und die Beklagte hatte dies erkannt. Sie war infolgedessen verpflichtet, dem Kläger ihre Erkenntnisse ebenso wie ihren<br />

Verdacht bekannt zu geben (Diagnoseaufklärung; vgl. Senatsurteil BGHZ 29, 176, 183 f.; OLG Nürnberg AHRS 3130/108). Dementsprechend hatte sie den<br />

Kläger im Rahmen der ihr obliegenden therapeutischen Aufklärungspflicht darauf hinzuweisen, er müsse bei<br />

fortschreitenden Symptomen sofort einen Augenarzt einschalten und im Übrigen alsbald den Befund überprüfen<br />

lassen, damit der Kläger mögliche Heilungschancen wahrnehmen konnte. Das hat die Beklagte versäumt. Im Ansatz<br />

zutreffend hat das Berufungsgericht in dieser unterlassenen therapeutischen Aufklärung einen Behandlungsfehler<br />

gesehen (vgl. Senatsurteil vom 27. 06.1995 VI ZR 32/94 VersR 1995, 1099, 1100) und ihn als grob bewertet.<br />

2. Zuzustimmen ist dem Berufungsgericht auch darin, dass der Ursachenzusammenhang zwischen diesem groben<br />

Behandlungsfehler und dem entstandenen Körperschaden des Klägers nicht schon deshalb ausgeschlossen ist, weil<br />

der Kläger keine sich ausweitende oder verschlechternde Symptomatik bemerkt hat. Das Oberlandesgericht stellt ohne<br />

Rechtsfehler fest, dass nicht auszuschließen ist, ein zur Kontrolluntersuchung eingeschalteter Augenarzt hätte vom<br />

Kläger selbst noch nicht bemerkte, aber für den Facharzt erkennbare Anzeichen einer beginnenden Netzhautablösung<br />

entdecken und daraufhin eine erfolgreiche Therapie durchführen können. 3. Rechtsfehlerhaft verneint das<br />

Berufungsgericht jedoch eine Umkehr der Beweislast für den Ursachenzusammenhang zwischen der unterlassenen<br />

Aufklärung und dem Schaden des Klägers, weil eine solche Beweislastumkehr dem Kläger nicht "ohne jede<br />

Wahrscheinlichkeit in die eine oder andere Richtung" zugebilligt werden könne. Damit zieht das Berufungsgericht nicht<br />

die gebotenen Folgerungen aus dem Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers. a) Wie der Senat wiederholt<br />

ausgesprochen hat, führt ein grober Behandlungsfehler grundsätzlich zu einer Umkehr der objektiven Beweislast für<br />

den Ursachenzusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden.<br />

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aa) Eine Umkehr der Beweislast ist schon dann anzunehmen, wenn der grobe Behandlungsfehler geeignet ist, den<br />

eingetretenen Schaden zu verursachen; nahelegen oder wahrscheinlich machen muss der Fehler den Schaden<br />

dagegen nicht (vgl. Senatsurteile BGHZ 85, 212, 216 f.; vom 24. 09.1996 VI Thöns ZR 303/95 VersR 1996, 1535, 1537; vom 1. 10.1996 VI ZR 10/96 VersR 1997, 362, 363; vom 27. 04.2004 VI ZR<br />

34/03 VersR 2004, 909, 911).<br />

Eine Verlagerung der Beweislast auf die Behandlungsseite ist nur ausnahmsweise ausgeschlossen, wenn ein<br />

haftungsbegründender Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist (vgl. Senatsurteile BGHZ 129, 6, 12; 138, 1, 8; vom 1. 10.1996 VI ZR<br />

10/96 aaO; vom 27. 04.2004 VI ZR 34/03 aaO). Gleiches gilt, wenn sich nicht das Risiko verwirklicht hat, dessen Nichtbeachtung den<br />

Fehler als grob erscheinen läßt (vgl. Senatsurteil vom 16. 06.1981 VI ZR 38/80 VersR 1981, 954, 955), oder wenn der Patient durch sein Verhalten<br />

eine selbständige Komponente für den Heilungserfolg vereitelt hat und dadurch in gleicher Weise wie der grobe<br />

Behandlungsfehler des Arztes dazu beigetragen hat, dass der Verlauf des Behandlungsgeschehens nicht mehr<br />

aufgeklärt werden kann (vgl. Senatsurteile vom 28. 05.2002 VI ZR 42/01 VersR 2002, 1026, 1028; vom 27. 04.2004 VI ZR 34/03 aaO; KG VersR 1991, 928 mit Nichtannahmebeschluß des<br />

Senats vom<br />

19. 02.1991 VI ZR 224/90; OLG Braunschweig VersR 1998, 459, 461 mit Nichtannahmebeschluß des Senats vom 20. 01.1998 VI ZR 161/97). Das Vorliegen einer solchen<br />

Ausnahme hat allerdings die Behandlungsseite zu beweisen (vgl. Senatsurteil vom 27. 04.2004 VI ZR 34/03 aaO). bb) Hiernach war es Sache<br />

der Beklagten darzulegen und zu beweisen, dass ein ordnungsgemäßer Hinweis an den Kläger, er solle bei<br />

Befundverschlechterung umgehend eine Kontrolluntersuchung durchführen lassen, eine Netzhautablösung mit den<br />

eingetretenen Folgen weder verhindert noch abgemildert hätte. Wie auch das Berufungsgericht nicht verkennt, war ein<br />

solcher Hinweis geeignet, den Kläger zu einer kurzfristigen Kontrolluntersuchung zu veranlassen; eine solche wäre<br />

geeignet gewesen, Anzeichen einer beginnenden Netzhautablösung erkennbar zu machen und frühzeitiger<br />

Behandlungsmaßnahmen durchzuführen, die ihrerseits die später eingetretene Netzhautablösung verhindern oder<br />

feststellbar hätten vermindern können.<br />

cc) Dass ein haftungsbegründender Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich wäre, hat das<br />

Berufungsgericht nicht feststellen können. Solches ergibt sich nicht aus den gutachtlichen Äußerungen des<br />

Sachverständigen; das wird auch von der Revisionserwiderung nicht geltend gemacht. Soweit diese darauf abstellt,<br />

das Berufungsgericht habe keine Wahrscheinlichkeit für Anzeichen einer beginnenden Netzhautablösung feststellen<br />

können, ist das nicht gleichbedeutend damit, dass ein Ursachenzusammenhang zwischen der unterlassenen<br />

Aufklärung des Patienten und der Netzhautablösung äußerst unwahrscheinlich war.<br />

dd) Einer Umkehr der Beweislast steht auch nicht entgegen, dass der Kläger weitergehende Anzeichen als die bis<br />

dahin aufgetretenen Lichtblitze nicht bemerkt hat. Die Beklagte hätte den Kläger durch einen Hinweis auf die Gefahr<br />

einer Netzhautablösung, die infolge der Glaskörperabhebung drohte, zu einer baldigen Kontrolle des<br />

Augenhintergrundes veranlassen müssen, um das eingetretene Risiko möglichst gering zu halten. Das hat sie<br />

versäumt. Die Netzhautablösung ist eingetreten und hat zu einer Verringerung des Sehvermögens auf dem Auge<br />

geführt. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass der Kläger auch ohne Fortschreiten der Symptome alsbald eine<br />

Kontrolluntersuchung hätte durchführen lassen, wäre er ordnungsgemäß über die Diagnose und die Gefahr für sein<br />

Sehvermögen aufgeklärt und auf die Notwendigkeit einer sofortigen Kontrolluntersuchung bei Verschlechterung<br />

hingewiesen worden. Das hätte, wie bereits ausgeführt, zur Vermeidung des Gesundheitsschadens führen können.<br />

Ohnehin ist die vom Berufungsgericht vorgenommene Aufspaltung in eine "einfache" und eine "grobe" Pflichtwidrigkeit<br />

verfehlt, weil insoweit eine Gesamtbetrachtung der geschuldeten therapeutischen Aufklärung geboten ist, die sich als<br />

insgesamt grob fehlerhaft erweist, ohne dass es hierzu weiterer tatsächlicher Feststellungen bedarf. b) Das<br />

Berufungsgericht hat den Ursachenverlauf in seine einzelnen Bestandteile aufgespalten und dann Anzeichen für eine<br />

Netzhautablösung vor dem 11. 01.2000 sowie für den Erfolg einer vorbeugenden Behandlung vermißt. Eine Umkehr<br />

der Beweislast zugunsten des Klägers hat es verneint, weil zu den genannten Umständen auch keine<br />

Wahrscheinlichkeiten feststellbar seien. Das widerspricht den Grundsätzen des erkennenden Senats zu den<br />

Rechtsfolgen eines groben Behandlungsfehlers.<br />

aa) Eine Unterteilung des Ursachenzusammenhangs in unmittelbare und mittelbare Ursachen ist dem Haftungsrecht<br />

fremd (vgl. Senatsurteile vom 11. 11.1997 VI ZR 146/96 VersR 1998, 200 f.; vom 26. 01.1999 VI ZR 374/97 VersR 1999, 862; vom 27. 06.2000 – VI ZR 201/99 – VersR 2000, 1282, 1283). Beim<br />

groben Behandlungsfehler umfaßt die in Betracht stehende Umkehr der Beweislast den Beweis der Ursächlichkeit des<br />

Behandlungsfehlers für den haftungsbegründenden Primärschaden, der ohne die Beweislastumkehr dem Patienten<br />

nach § 286 ZPO obläge. Auf die haftungsausfüllende Kausalität, d.h. den Kausalzusammenhang zwischen körperlicher<br />

oder gesundheitlicher Primärschädigung und weiteren Gesundheitsschäden des Patienten wird die Beweislastumkehr<br />

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nicht ausgedehnt, es sei denn, der sekundäre Gesundheitsschaden wäre typisch mit dem Primärschaden verbunden<br />

und die als grob zu bewertende Mißachtung der ärztlichen Verhaltensregel sollte gerade auch solcherart Schädigungen<br />

vorbeugen (vgl. Senatsurteile vom 21. 10.1969 VI ZR 82/68 VersR 1969, 1148, 1149; vom 9. 05.1978 VI ZR 81/77 VersR 1978, 764, 765). Eine Zerlegung des<br />

Kausalzusammenhangs in seine einzelnen logischen Bestandteile im Übrigen kommt nicht in Betracht. bb) Nach diesen<br />

Grundsätzen durfte das Berufungsgericht hier eine Umkehr der Beweislast nicht verneinen. Die Parteien streiten nicht<br />

um einen Sekundärschaden des Klägers. Vielmehr beruht die Schädigung des Sehvermö<br />

gens auf dem Primärschaden der Netzhautablösung, die der Kläger als Schädigung geltend macht (vgl. zur Abgrenzung zwischen<br />

Primärund Sekundärschaden Senatsurteile vom 28. 06.1988 VI ZR 210/87 VersR 1989, 145; vom 21. 07.1998 VI ZR 15/98 VersR 1998, 1153, 1154). 4. Nach allem ist die Klage zum<br />

Zahlungsanspruch dem Grunde nach gerechtfertigt (§§ 823 Abs. 1, 847 BGB a.F.; 304 Abs. 1, 555 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Feststellungsklage hat<br />

im Rahmen des gestellten Antrags ebenfalls Erfolg. Sie ist zulässig. Die Beklagte hat ihre haftungsrechtliche<br />

Verantwortlichkeit in Abrede gestellt und Verjährung droht; die Möglichkeit eines weiteren Schadenseintritts kann nicht<br />

verneint werden, das erforderliche Feststellungsinteresse ist daher gegeben (vgl. Senatsurteil vom 16. 01.2001 VI ZR 381/99 VersR 2001, 874).<br />

Der Feststellungsantrag ist auch begründet, denn Gegenstand der Feststellungsklage ist ein befürchteter<br />

Folgeschaden aus der Verletzung eines deliktsrechtlich geschützten absoluten Rechtsguts (vgl. Senatsurteil vom 16. 01.2001 VI ZR 381/99<br />

aaO). Auch der Vorbehalt hinsichtlich künftiger noch ungewisser und bei der Ausurteilung der Zahlungsklage auf<br />

Schmerzensgeld noch nicht berücksichtigungsfähiger immaterieller Schäden ist zulässig (vgl. Senatsurteil vom 20. 01.2004 VI ZR 70/03 NJW<br />

2004, 1243, 1244). Zum Betrag der Zahlungsklage ist die Sache nicht entscheidungsreif. Insoweit ist sie an das<br />

Berufungsgericht zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.<br />

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ThönsOLG Naumburg<br />

1 U 97/03 verkündet am: 14.11.2004<br />

Im Anschlusss an einen kleinen operativne Eingriff bei einem Kleinkind kam es im Aufwachraum zu einem<br />

Herzstillstand. Der Narkosearzt wurde verurteilt.<br />

Der beklagte Narkosearzt hat bei der Behandlung des Klägers den fachärztlichen anästhesiologischen<br />

Standard fahrlässig verletzt, indem er dem Kläger während eines ambulanten Kurzeingriffs insgesamt 3 mg<br />

Rapifen ® injizierte. Nach den überzeugenden Ausführungen des Privatsachverständigen Dr. med. und der<br />

gerichtlichen anästhesiologischen Sachverständigen Dr. med. P. und Dr. med. Gi. ist die beim Kläger maximal<br />

zu rechtfertigende Dosierung des vorgenannten Opioids um mehr als das Doppelte überschritten worden. Der<br />

Beklagte Narkosearzt hat den fachärztlichen anästhesiologischen Standard weiter zumindest fahrlässig<br />

dadurch verletzt, dass er keine lückenlose intensive Überwachung des Klägers nach der Operation organisiert<br />

und sichergestellt hat. Ob dieser Behandlungsfehler hier als ein grober Behandlungsfehler zu bewerten ist,<br />

kann offen bleiben. 1 U 97/03<br />

Oberlandesgericht Naumburg<br />

verkündet am: 14. 09.2004<br />

601130/01<br />

Landgericht Magdeburg<br />

gez. Solty, JAnge., als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle<br />

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch den Vizepräsidenten des 0- berlandesgerichts Zink und<br />

die Richter am Oberlandesgericht Wiedemann und Grimm auf die mündliche Verhandlung vom<br />

14. 09.2004 für Recht erkannt<br />

Auf die Berufung der Beklagten zu 1) wird unter Zurückweisung der Berufung des<br />

Beklagten zu 2) das am 23. 10.2003 verkündete Urteil des Landgerichts<br />

Magdeburg, 6 0 1130101, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:<br />

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1. Der Beklagte zu 2) wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 150.000,00 EUR nebst 4% Zinsen<br />

hieraus seit dem 7. 06.2001 zu zahlen.<br />

2. Der Beklagte zu 2) wird weiter verurteilt, an den Kläger auf dessen Lebenszeit eine monatliche Schmerzensgeldrente<br />

in Höhe von 255,64 EUR, beginnend am 1. 08.1999, zu zahlen, wobei die Zahlung jeweils für drei Monate im Voraus zu<br />

erfolgen hat, fällig jeweils zum dritten Werktag eines jeden Quartals.<br />

3. Der Beklagte zu 2) wird weiter verurteilt, an den Kläger 1.263,91 EUR zu zahlen.<br />

4. Es wird festgestellt, dass der Beklagte zu 2) verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche künftige materiellen und<br />

immateriellen Schäden zu ersetzen, die dem Kläger aus der ärztlichen Behandlung durch den Beklagten zu 2) am 23.<br />

04.1998 entstehen, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen<br />

ist.<br />

5. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.<br />

Die Gerichtskosten sowie die außergerichtlichen Auslagen des Klägers in beiden Instanzen haben der Kläger selbst<br />

und der Beklagte zu 2) jeweils zur Hälfte zu tragen. Die außergerichtlichen Auslagen der Beklagten zu 1) in beiden<br />

Instanzen fallen dem Kläger zur Last. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt. Das Urteil ist vorläufig<br />

vollstreckbar<br />

Der Beklagte zu 2) kann die Zwangsvollstreckung durch den Kläger durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des<br />

zu vollstreckenden bzw. des tatsächlich vollstreckten Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der Kläger Sicherheit in<br />

gleicher Höhe geleistet hat. Ihm wird nachgelassen, die zu erbringende Sicherheit durch selbstschuldnerische<br />

Bürgschaft einer deutschen Großbank, Volksbank oder öffentlichen Sparkasse zu leisten.<br />

Der Kläger kann die Zwangsvollstreckung durch die Beklagte zu 1) wegen ihrer außergerichtlichen Auslagen durch<br />

Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu volistreckenden bzw. des tatsächlich vollstreckten Betrages abwenden,<br />

wenn nicht zuvor die Beklagte zu 1) Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.<br />

Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer übersteigt 20.000 EUR.<br />

Gründe<br />

Der minderjährige Kläger begehrt von den Beklagten als Gesamtschuldner materiellen Schadenersatz,<br />

Schmerzensgeld in Form eines Kapitalbetrages und einer monatlichen Rente sowie die Feststellung der<br />

Einstandspflicht beider Beklagter für künftige materielle und immaterielle Schäden aus einer ambulanten Behandlung<br />

am 23. 04.1998, insbesondere des während dieser Behandlung erlittenen Atem- und Kreislaufstillstandes.<br />

Am 23. 04.1998 führte die Beklagte zu 1) als niedergelassene Chirurgin bei dem damals ca. fünfeinhalb Jahre alten<br />

Klägerin ambulanter Operation eine Zirkumzision (d.h. eine kreisförmige Entfernung der Vorhautblätter des Penis) zur Beseitigung einer Phimose<br />

(d.h. einer Vorhautverengung) durch. Der Eingriff wurde unter Allgemeinnarkose in Kombination mit einem Peniswurzelblock (d.h. einer<br />

lokalen Betäubung der Peniswurzel) vorgenommen. Hierfür hatte die Beklagte zu 1) den Beklagte zu 2) hinzugezogen, der als<br />

Anästhesist u.a. einen mobilen Anästhesiedienst betreibt und bereits seit 1993 regelmäßig an Operationen in der<br />

Gemeinschaftspraxis der Beklagten zu 1) und des Dr med. G. mitgewirkt hatte. Für ihre Zusammenarbeit haften die<br />

Beklagten keine gesonderte Vereinbarung geschlossen. Die Beklagte zu 1) stellte dem Beklagten zu 2) in der<br />

chirurgischen Gemeinschaftspraxis einen Aufwachraum zur Verfügung. Der Beklagte zu 2) brachte die von ihm<br />

benötigten Geräte, Apparate und Verbrauchsstoffe und eigenes Personal mit. Am 23. 04.1998 begleiteten ihn die<br />

damals ca. seit drei Jahren im Beruf stehende Anästhesieschwester L. und die Auszubildende Ka. ; der Beklagte zu 2)<br />

führte auch die fachärztlich geforderte apparative Ausstattung mit EKGMonitor, Blutdruckmessgeräten,<br />

Sauerstoffinsuiflation, Pulsoxymetrie und Absaugung bei sich.<br />

Der chirurgische Eingriff begann 9:40 Uhr. In der Zeit von 9:35 Uhr bis 10:05 Uhr verabreichte der Beklagte zu 2) dem<br />

Kläger Disoprivan ® (Wirkstoff: Propofol), ein schnell und schonend wirkendes Hypnotikum, insgesamt 220 mg. Daneben<br />

injizierte der Beklagte zu 2) dem Kläger jeweils um 9:35 Uhr, 9:40 Uhr und 9:45 Uhr je 1 mg Rapifen ® (Wirkstoff: Alfentanil), ein<br />

stark wirksames, morphinartiges Hypnotikum. Während der gesamten Operationszeit betrug die Sauerstoffsättigung<br />

des Blutes 99 %. Zusätzlich legte der Beklagte zu 2) einen s.g. Peniswurzelblock mit dem Lokalanästhetikum<br />

Bupivacain ®.<br />

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Um 10:00 Uhr war der chirurgische Eingriff abgeschlossen. Der Kläger wurde in den Aufwachraum verbracht; er war<br />

unmittelbar nach Abschluss der Operation ansprechbar und reflexaktiv. Im Aufwachraum fand eine apparategestützte<br />

Überwachung der Vitalfunktionen, z.Bsp. durch EKGMonitoring oder Anschluss eines Pulsoxymeters, jedenfalls nicht<br />

statt. Zwischen den Parteien des Rechtsstreits ist umstritten, ob und ggfs. in welchem Umfang eine postoperative<br />

Überwachung der Vitalfunktionen des Klägers durch den Beklagten zu 2) bzw. dessen Schwestern erfolgte. Der Kläger<br />

hat behauptet, dass er seinen im Aufwachraum anwesenden Eltern übergeben worden sei. Der Beklagte zu 2) hat dies<br />

bestritten und insoweit zuletzt behauptet, dass er selbst jeweils 10:35 Uhr und 10:45 Uhr Nachschau gehalten habe,<br />

ohne Auffälligkeiten zu entdecken, und dass er jederzeit verfügbar gewesen wäre. Der Kläger war nach der Operation<br />

zunächst kurzzeitig wach und wurde dann schläfrig. Nach einer Visite der Beklagten zu 1), die dem Kläger wegen<br />

seiner Schmerzen nochmals ein Analgetikum (Paracetamol 250) verabreichte, schlief der Kläger gegen 10:45 Uhr ein. Etwa<br />

IÖ:55 Uhr wurden beim Kläger Hautverfärbungen entdeckt, wobei zwischen den Parteien des Rechtsstreits streitig ist,<br />

ob der Vater des Klägers diese als erster bemerkte und die Auszubildende Ka. informierte oder ob umgekehrt Frau Ka.<br />

die Veränderungen bemerkte und die Eltern des Klägers danach fragte, seit wann diese Auffälligkeiten bestünden. Der<br />

Beklagte zu 2) wurde sofort hinzugezogen und stellte einen Atem- und Kreislaufstillstand sowie einen fehlenden<br />

Pupillenreflex fest. Er führte eine Notfallbehandlung durch. Nach Kreislaufstabilisierung, die etwa 11:15 Uhr erreicht<br />

war, wurde der Kläger mit dem Rettungsdienst in das Krankenhaus B. zur weiteren Behandlung verlegt. Gegen 12:05<br />

Uhr setzte beim Kläger eine Schnappatmung ein. Gegen 12:30 Uhr wurde der Kläger mit RettungsdienstHubschrauber<br />

in die Universitätsklinik in Gö. verlegt, wo er bis zum 28. 05.1998 in stationärer Behandlung verblieb. Dem schloss sich<br />

eine weitere Behandlung in der Neurologischen Rehabilitationsklinik in Ge. bis zum 23. 07.1999 an. Für mehrere<br />

Monate war eine Versorgung des Klägers nur über eine transnasale Magensonde möglich; der Kläger konnte seinen<br />

Urin- und Stuhlabgang nicht willentlich steuern und kontrollieren. Die neurologische Behandlung umfasste intensives<br />

und umfangreiches Training in den Bereichen Bewegung und Fortbewegung, Sensorik und Sprechen bis hin zum<br />

Esstraining. Bei der Entlassungsuntersuchung wurde diagnostiziert, dass der Kläger an einer noch mittelschweren,<br />

aber rückläufigen rechtsbetonten Tetraparese (d.h. einer inkompletten Lähmung aller vier Gliedmaßen) leidet. Das Stehen und Gehen weniger<br />

Schritte war dem Kläger mit einer Gehhilfe möglich, im Übrigen war er zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl<br />

angewiesen. Es wurden weiter cerebrale Bewegungsstörungen im Sinne einer Choreoathetose (d.h. eine krankhaft gesteigerte Motorik in<br />

Kombination des Veitstanzsyndroms und langsamer, bizarr geschraubter Bewegungen insbesondere der weiter vom Rumpf entfernten Teile der Extremitäten, z.Bsp. der Hand- und Fingergelenke) mit<br />

erheblicher Beeinträchtigung der Gleichgewichtsreaktion diagnostiziert. Neben den neurologischen Störungen des<br />

Bewegungsapparates wurde ein schweres hirnorganisches Psychosyndrom mit starker psychomotorischer<br />

Verlangsamung, begrenzter Aufmerksamkeitsspanne und Ausdauer, mit Antriebsminderung, Konzentrations- und<br />

Merkfähigkeitsstörungen sowie mittelschwere zentrale Sprach- und Artikulationsstörungen und eine begrenzt aktive<br />

Sprachproduktion festgestellt.<br />

Der Kläger hat behauptet, dass er aufgrund des Atem- und Kreislaufstillstandes am 23. 04.1998 einen irreversiblen<br />

Hirnschaden mit erheblichen Bewegungsstörungen und fehlender Gleichgewichtsreaktion erlitten habe, dessen<br />

Auswirkungen im Wesentlichen dem Ergebnis der Entlassungsuntersuchung vom 23. 07.1999 in Ge. entsprechen. Es<br />

sei schon jetzt absehbar, dass der Kläger wegen der Tetraparese lebenslang Orthesen werde tragen müssen und dass<br />

er weiter gehende Körperschäden erleiden werde, insbesondere an den Kniescheiben und an der Wirbelsäule. Auf<br />

Grund der erlittenen Gesundheitsschäden sei ihm der Besuch einer Regelschule verwehrt. Er werde sein ganzes<br />

Leben auf fremde Hilfe angewiesen bleiben.<br />

Die Eltern des Klägers wendeten für Fahrtkosten, und zwar für eigene Krankenhausbesuche und für Transportkosten<br />

für die Heimfahrten des Klägers während der neurologischen Rehabilitationsbehandlung in Ge. ‚ insgesamt 2,472,00<br />

DM (= 1.263,91 EUR) auf.<br />

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, dass beide Beklagte für den Atem- und Kreislauf- stillstand am 23. 04.1998<br />

und die hieraus entstandenen Schäden materiell verantwortlich seien. Er hat behauptet, dass der Beklagte zu 2) das<br />

bei der Allgemeinnarkose verwendete Hypnotikum Rapifen © pflichtwidrig überdosiert habe und dass er es versäumt<br />

habe, eine kontinuierliche, individuelle Clberwachung der Aufwachphase des Klägers nach der Operation<br />

durchzuführen oder zu veranlassen. Die Beklagte zu 1) habe nach seiner Auffassung pflichtwidrig versäumt, die<br />

Tätigkeit des Beklagten zu 2) zu überwachen; insoweit hat sich der Kläger auf Rechtsprechung zum<br />

Organisationsverschulden von Krankenhausträgern bei der Sicherstellung der postoperativen Kontrollen bezogen.<br />

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Der Kläger hat ein angemessenes Schmerzensgeld sowie die Zuerkennung einer Schmerzensgeldrente geltend<br />

gemacht, wobei er auf Grund des Ausmaßes und der Schwere seiner psychischen und physischen Schäden ein<br />

Schmerzensgeld in Höhe von 200.000,00 DM (= 102.258,37 EUR) sowie die Zuerkennung einer Schmerzensgeldrente in Höhe<br />

von monatlich<br />

500,00 DM (=255,64 EUR) für angemessen erachtet. Er hat weiter neben dem o.g. materiellen Schaden die Feststellung der<br />

Einstandspflicht der Beklagten für Zukunftsschäden begehrt. Die Beklagten haben sich gegen die Klage verteidigt. Die<br />

Beklagte zu 1) hat die Auffassung vertreten, dass die postoperative Überwachung des Klägers allein in den<br />

Verantwortungsbereich des Beklagten zu 2) falle. Sie habe sich — berechtigter Weise — auf eine ordnungsgemäße<br />

postoperative Nachsorge durch den Beklagten zu 2) verlassen.<br />

Der Beklagte zu 2) hat bestritten, dass seine Behandlung nicht dem fachärztlichen Standard entsprochen habe.<br />

Nachdem die Haftpflichtversicherung des Beklagten zu 2) vorgerichtlich mit Schreiben vom 8. 03.1999 die Dosierung<br />

des Rapifen © noch als sachgerecht verteidigt hatte, hat der Beklagte zu 2) im Verlaufe des Rechtsstreits eingeräumt,<br />

dass die Dosierung ungewöhnlich hoch sei und dies damit gerechtfertigt, dass der Beklagten zu 1) beim operativen<br />

Eingriff das Schnittinstrument abgerutscht sei und der Fehischnitt eine heftige Schmerzreaktion beim Kläger ausgelöst<br />

habe, die wiederum eine zusätzliche Gabe des Opioid Rapifen ® erforderlich gemacht habe. In der postoperativen<br />

Phase sei ein apparatives Monitoring medizinisch nicht geboten gewesen.<br />

Der Beklagte zu 2) hat darüber hinaus einen Zusammenhang zwischen der Allgemeinnarkose und dem Atem- und<br />

Kreislaufstillstand des Klägers am Behandlungstag unter Hinweis auf den zeitlichen Abstand von ca. 45 Minuten zum<br />

Narkoseende in Abrede gestellt und dagegen behauptet, dass der lebensbedrohende Zustand des Klägers durch einen<br />

Krampfanfall oder das Zurückfallen der Zunge ausgelöst worden sei. Selbst wenn jedoch der Atem- und<br />

Kreislaufstillstand des Klägers durch eine engmaschigere Überwachung früher entdeckt worden wäre, wäre eine<br />

Sauerstoffunterversorgung des Klägers unvermeidbar gewesen, die die hier behaupteten Gesundheitsschäden<br />

hervorgerufen hätte.<br />

Das Landgericht hat neben den Krarikenunterlagen der Beklagten über die Behandlung des Klägers am 23. 04.1998<br />

und der Produktinformation des Herstellers von Rapifen ® (vgl. GA Bd. II Bl. 37 f.) das von der Krankenversicherung des Klägers<br />

eingeholte Gutachten des Anästhesisten Dr. med. A. T. vom 12. 02.1999 (GA Bd. 1 81. 30 bis 34) nebst Ergänzung vom 29.<br />

10.1999 (GA Bd. 1 81. 102104) im Wege des Urkundsbeweises verwertet. Es hat die Zeugen H. - J. G. (Mitinhaber der chirurgischen Ge<br />

meinschaftspraxis), M. Ga. (Krankenschwester der Beklagten zu 1)), 0. Ka.<br />

und A. L. (Krankenschwestern des Beklagten zu 2)) vernommen (vgl. Sitzungs<br />

protokolle vom 22. 11.2001, GA Bd. 1 81. 123 bis 129, und vom 29. 11.2001, GA Bd. 1 Bl. 130 bis 132) allgemein zur Organisation der postoperativen<br />

Überwachung sowie zum Verlauf der Behandlung des Klägers am 23. 04.1998. Die Kammer hat ein gerichtliches<br />

Gutachten der Anästhesisten Dres. med. P. und Gi. ‚ Direktor und Oberarzt der Abteilung Anästhesiologie der<br />

Medizinischen Hochschule H. eingeholt (Gutachten vom 7. 04.2003, GA Bd. II Bl. 57 bis 88), welches durch den Sachverständigen Dr. med.<br />

Gi. in der Sitzung am 2. 10.2003 erläutert worden ist (vgl. Sitzungsprotokoll GA Bd. II 81. 131 bis 135), sowie ein gerichtliches Gutachten<br />

des Neurologen Dr. med. 8. ‚ des kommissarischen Leiters des Zentrums für Neurologische Medizin der Medizinischen<br />

Hochschule H. (Gutachten vom 21. Juni2002, CA Bd. 1 81. 156 bis 171).<br />

Wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere wegen der widerstreitenden Rechtsauffassungen der Parteien des<br />

Rechtsstreits und wegen des Verlaufs des Verfahrens in erster Instanz, nimmt der Senat auf die tatsächlichen<br />

Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.<br />

Das Landgericht Magdeburg hat der Klage gegen beide Beklagte als Gesamtschuldner im vollen Umfange<br />

stattgegeben und diese Entscheidung im Wesentlichen darauf gestützt, dass der Beklagte zu 2) wegen eigener<br />

Behandlungsfehler, nämlich einer Überdosierung des Hypnotikums Rapifen ® während der Allgemeinnarkose sowie<br />

einer unzureichenden postoperativen Überwachung des Patienten, hafte und die Beklagte zu 1) deshalb, weil sie sich<br />

nicht „blind darauf habe verlassen dürfen, dass der Beklagte zu 2) alle notwendigen Vorkehrungen zu einer<br />

ordnungsgemäßen postoperativen Überwachung getroffen habe.<br />

Die Beklagte zu 1) hat gegen das ihr am 4. 11.2003 zugestellte Urteil mit einem am 19. 11.2003 beim<br />

Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese Berufung innerhalb der ihr insgesamt bis<br />

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zum 1. 03.2004 verlängerten Berufungsbegründungsfrist begründet. Sie macht insbesondere geltend, dass sie wegen<br />

der zwischen ihr und dem Beklagten zu 2) bestehenden horizontalen Arbeitsteilung grundsätzlich nicht verpflichtet sei,<br />

die anästhesiologische Behandlung des Patienten durchzuführen oder zu kontrollieren. Sie bestreitet, dass im<br />

konkreten Fall Anlass zur Besorgung einer unzureichenden Überwachung bestanden habe, weil der Beklagte zu 2) alle<br />

erforderlichen Geräte und zahlenmäßig ausreichend Personal mitgebracht habe und weil allein der Umstand, dass sich<br />

der Beklagte zu 2) nicht ständig im Aufwachraum aufhalten konnte, nicht darauf schließen lasse, dass die postoperative<br />

Überwachung nicht gewährleistet sei. Im Übrigen vermisst sie erstinstanzliche Feststellungen zur Kausalität zwischen<br />

ihrer vermeintlichen Pflichtverletzung und den vom Kläger behaupteten Schäden.<br />

Der Beklagte zu 2) hat gegen das ihm am 31. 10.2003 zugestellte Urteil mit einem am 27. 11.2003 beim<br />

Oberlandesgericht vorab per Fax eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese Berufung innerhalb der ihm<br />

insgesamt bis zum 27. 02.2004 verlängerten Berufungsbegründungsfrist begründet. Der Beklagte zu 2) wendet sich<br />

zunächst gegen die Feststellung einer pflichtwidrigen Überdosierung von Rapifen ® und verweist insoweit auf seinen<br />

erstinstanzlichen Vortrag zum Anlass der Höherdosierung (Beweisantritt: Zeugenvernehmung Dr. G. ). Im Übrigen erachtet er das<br />

Verständnis des Gerichts von einer ‚engen Überwachung― für überzogen. Dies gelte umso mehr, als die unmittelbare<br />

Phase der postoperativen Überwachung bei Auftreten der Komplikation wegen Zeitablaufs bereits beendet gewesen<br />

sei. Schließlich habe das Gericht die Ausführungen des Sachverständigen zur Kausalität überinterpretiert.<br />

Die Beklagten beantragen jeweils,<br />

unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Klage insgesamt abzuweisen. Der Kläger beantragt,<br />

die Berufungen beider Beklagter jeweils zurückzuweisen.<br />

Er verteidigt im Wesentlichen das erstinstanzliche Urteil.<br />

Der Senat hat am 14. 09.2004 mündlich zur Sache verhandelt; wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des<br />

Sitzungsprotokolls des Senats vom 14. 09.2004 (vgl. GA Bd. III Bl. 162 f.) Bezug genommen.<br />

Die Berufungen beider Beklagter sind jeweils zulässig; insbesondere wurden sie form- und fristgemäß eingelegt und<br />

begründet. In der Sache hat nur die Berufung der Beklagten zu 1) Erfolg; das Rechtsmittel des Beklagten zu 2) ist<br />

hingegen unbegründet.<br />

Das Landgericht hat zutreffend eine zumindest fahrlässig pflichtwidrige medizinische Versorgung des Klägers bei der<br />

Durchführung der Allgemeinnarkose sowie während der postoperativen Überwachung der Vitalfunktionen festgestellt.<br />

Beide Behandlungsfehler fallen im Rahmen der zwischen den beiden Beklagten bestehenden horizontalen<br />

Arbeitsteilung in den Aufgaben- und Verantwortungsbereich des Beklagten zu 2). Entgegen der Auffassung des<br />

Landgerichts hat die Beklagte zu 1) die ihr im Rahmen der Behandlung vom 23. 04.1998 obliegenden Pflichten nicht<br />

verletzt; das Landgericht hat insoweit den Pflichtenkreis der Beklagten zu 1) überspannt. Zutreffend ist das Landgericht<br />

weiter davon ausgegangen, dass die beim Kläger festgestellten neurologischen Gesundheitsschäden und —<br />

beeinträchtigungen auf die vorgenannten Behandlungsfehler zurückzuführen sind. Die erstinstanzliche Verurteilung ist<br />

in der Höhe nicht angegriffen worden; sie lässt Fehler zuungunsten der Beklagten auch nicht erkennen. Lediglich der<br />

Feststellungsausspruch war in seiner Formulierung zu korrigieren, allerdings i.S. einer Urteilsberichtigung nach § 319<br />

ZPO.<br />

Im Einzelnen:<br />

1. Der Beklagte zu 2) hat bei der Behandlung des Klägers am 23. 04.1998 den fachärztlichen anästhesiologischen<br />

Standard fahrlässig verletzt, indem er dem Kläger während eines ambulanten Kurzeingriffs insgesamt 3 mg Rapifen ®<br />

injizierte. Sowohl nach der (fachübergreifenden) Deutung des gerichtlichen neurologischen Sachverständigen Dr. med. 8. (vgl.<br />

Gutachten vom 21. 06.2002, 5. 26 f. = GA Bd. 1 Bl. 168 Rs., 169) als auch nach den überzeugenden Ausführungen des Privatsachverständigen Dr.<br />

med. T. (vgl. ergänzendes Gutachten vom 29. 10.1999, 5. 2 f = GA Bd. 1 81. 103 f.) und der gerichtlichen anästhesiologischen Sachverständigen Dr.<br />

med. P. und Dr. med. Gi. (vgl. Gutachten vom 7. 04.2003, 5. 5 f. = GA Bd. II Bl. 61 f. sowie Sitzungsprotokoll vom 2. 10.2003, 5. 1 f. = GA Bd. II Bl. 131 f.) ist die beim Kläger<br />

maximal zu rechtfertigende Dosierung des vorgenannten Opioids um mehr als das Doppelte überschritten worden. Als<br />

entscheidende Anknüpfungspunkte für die Ermittlung der zulässigen Maximaldosierung beim Kläger am Operationstag<br />

haben die Sachverständigen die Körpermasse — hier 18 kg — sowie die Dauer des chirurgischen Eingriffs — hier 20<br />

min—angegeben. Die so ermtelte Maximaldosierung von 1,1 mg (das Landgericht ist zugunsten des Beklagten zu 2) sogar von 1,5 mg<br />

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ausgegangen) orientierte sich an der Verträglichkeit aus Patientensicht und schloss Nachinjektionen, z. Bsp. wegen<br />

fortbestehender Schmerzempfindlichkeit, ausdrücklich ein. Sie durfte aus keinem Grunde überschritten werden.<br />

Insoweit ist das nunmehrige Verteidigungsvorbringen des Beklagten zu 2) von der Notwendigkeit einer Nach- injektion<br />

(tatsächlich hat es ja zwei Nachinjektionen gegeben) schon unerheblich.<br />

Darüber hinaus hält der Senat — ebenso wie die Kammer — die Behauptung von einer Schmerzreaktion auf das<br />

»Abrutschen eines Schneideinstruments der Beklagten zu 1) für widerlegt, weil sich für ein solches Geschehen in den<br />

Krankenunterlagen kein Anhaltspunkt findet. Die Verabreichung von Rapifen © in regelmäßigen 5MinutenAbständen<br />

und in jeweils gleicher Dosis deutet vielmehr auf ein von vornherein geplantes Vorgehen hin. Der Senat folgt auch darin<br />

den vom Sachverständigen Dr. med. Gi. geäußerten Zweifeln, die sich aus der Aufzeichnung der Vitalparameter des<br />

Klägers während der Operation ergeben (vgl. Sitzungsprotokoll vom 2. 10.2003, 5. 2 = GA Bd. II 81. 132). Schließlich hat der Senat auch<br />

berücksichtigt, dass sich der Beklagte zu 2) erstmals mit Schriftsatz vom 5 05.2003, also mithin erstmals mehr als fünf<br />

Jahre nach der Operation und etwa dreieinhalb Jahre nach erstmaliger Feststellung der Überdosierung durch das<br />

Ergänzungsgutachten des Privatsachverständigen Dr. med. T. (vgl. GA Bd. l 81. 103 f.), auf den angeblichen Fehlschnitt der<br />

Beklagten zu 1) berufen hat, ohne dass erkennbar wäre, worauf nach dieser langen Zeit die sichere Erinnerung<br />

beruhen soll. Entsprechende Aufzeichnungen hat der Beklagte zu 2) seiner Zeit nicht angefertigt.<br />

2. Der Beklagte zu 2) hat den fachärztlichen anästhesiologischen Standard weiter zumindest fahrlässig dadurch<br />

verletzt, dass er keine lückenlose intensive Überwachung des Klägers nach der Operation organisiert und sichergestellt<br />

hat. Ob dieser Behandlungsfehler hier als ein grober Behandlungsfehler zu bewerten ist, kann offen bleiben. 2.1. Nach<br />

den auch insoweit nachvollziehbaren, übereinstimmenden und sachlich überzeugenden Ausführungen der drei<br />

gerichtlichen Sachverständigen sowie des von der Krankenversicherung des Klägers beauftragten Sachverständigen<br />

Dr. med. T. besteht das besondere Risiko einer Opioidgabe u.a. gerade in ausgeprägten Atemdepressionen, dieses<br />

Risiko wurde hier durch die hohe Dosierung des Opioids erheblich erhöht und durch den Schlaf des Patienten<br />

nochmals verstärkt. Erfordert jede postoperative Überwachung ohnehin die sorgfältige Überwachung durch<br />

qualifiziertes Personal, so war hier gerade unter Berücksichtigung des Operationsverlaufs eine besonders sorgfältige<br />

Überwachung des Klägers nach der Operation notwendig (vgl. Privatgutachten Dr. med. T. vom 12. 02.2002, 5. 5 bis 8 = CA Bd. 1 Bl. 32 bis 33; Gutachten Dr. med.<br />

8. vom 21. 06.2002, 8. 28 = GA Bd. 1 Bl. 169 Rs.; Gutachten Dres. med. P. & Ci. vom 7. 04.2003, 8. 6 bis 9 und 11 f. = GA Bd. II 81. 62 bis 68; Sitzungsprotokoll vom 2. 10.2003, 5. 3 f. = CA Bd. II 81. 133 f.;<br />

ebenso Gebrauchsinformation des Herstellers zu Rapifen ® = CA Bd. II Bl. 70). Jedenfalls angesichts der hier bestehenden besonderen Risiken war<br />

auch eine Verwendung eines Minimalmonitorings, zumindest auch eines Pulsoxymeters, erforderlich (vgl. ebenda, insbesondere o.a.<br />

Sitzungsprotokoll, 5. 3 f. = CA Bd. II 81. 133 f.). Ebenso war es nötig, den Kläger wach zu halten. Zutreffend haben alle Sachverständigen<br />

insoweit auch auf den Inhalt der Leitlinie der DGAI (Stand 11. 10.1997) hingewiesen, die eine Übertragung der postoperativen<br />

Überwachung an nichtärztliches Personal selbstverständlich eröffnet, aber eben nur an Personal mit entsprechender<br />

Ausbildung oder Erfahrung 1<br />

2.1.1. Unstreitig sind apparatgestützte Kontrollmessungen nicht durchgeführt worden. Die vom Beklagten zu 2) für<br />

diese Unterlassung angeführte Begründung — Minderjährige würden durch Kopfbewegungen häufig die Messfühler<br />

abstreifen und dadurch jeweils einen Fehl- alarm auslösen — ist, wie der Sachverständige Dr. med. Ci. in seiner<br />

Anhörung vor der Kammer zutreffend angemerkt hat, völlig verfehlt. Angesichts der hohen Risiken eines längere Zeit<br />

unbemerkt bleibenden Atem- und Kreislaufstillstandes kann der Beklagte zu 2) mit seinem »Bequemlichkeitsargument―<br />

kein Gehör finden.<br />

2.1.2. Zur Überzeugung des Senats hat der Beklagte zu 2) den Kläger zudem unmittelbar nach der Operation im<br />

Wesentlichen unter die Aufsicht seiner Eltern, also medizinischer Laien, gestellt. Die postoperative Überwachung durch<br />

sein Personal hatte der Beklagte zu 2) nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme schon im Allgemeinen nicht<br />

hinreichend organisiert, weil es keine festen Zuständigkeiten für die postoperative Überwachung und deren<br />

Aufzeichnung gab. Hinzu kommt, dass es auch keine Anweisungen an sein Personal wegen der Besonderheiten der<br />

stattgefundenen Behandlung gegeben hat. Keine der beiden Schwestern des Beklagten zu 2) hat solche Anweisungen<br />

geschildert oder auch nur geäußert, dass sie von der Gabe eines Opioids und der hier stattgefundenen hohen<br />

Dosierung Kenntnis gehabt hätte (vgl. ZV Ka. ‚ Sitzungsprotokoll vom 22. 11.2001, 5. 5 f. = GA Bd. 1 Bl. 127 f.; ZV L. ‚ Sitzungsprotokoll vom 29. November2001, S. 2 f. = CA Bd. 1 Bl.<br />

131 f.). Sowohl in den Krankenunterlagen des Klägers als auch im vorprozessualen Schriftwechsel der Parteien bzw. ihrer<br />

Vertreter ist übereinstimmend von der »Übergabe― des Klägers an seine Eltern unmittelbar nach Verbringen in den<br />

Aufwachraum die Rede (vgl. Patientenkartei Dr. Kn. ‚ CA Bd. 1 Bl. 54; Arztbrief Dr. Kn. vom 26. 06.1998, CA Bd. 1 Bl. 56; Arztbrief Kreiskrankenhaus 8. vom 23. 04.1998 über die Angaben<br />

der Eltern des Klägers bei Aufnahme, CA Bd. 1 Bl. 57; kein Bestreiten im Schreiben der Haftpflichtversicherung des Beklagten zu 2) vom 8. 03.1999 CA Bd. 1 Bl. 43 f.). Als<br />

direktes Ergebnis fehlender Zuständigkeiten sind keinerlei laufende Aufzeichnungen über die post- operative<br />

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Überwachung vorhanden. Nach diesem Beweisergebnis kann offen bleiben, ob eine entsprechende Instruktion der<br />

Zeugin Ka. angesichts des geringen Ausbildungs- und Erfahrungsstandes u.U. ohnehin nicht ausgereicht hätte. Es<br />

kann auch dahin stehen, ob der Beklagte zu 2), wie von ihm behauptet, zweimal im Abstand von zehn Minuten nach<br />

dem Kläger gesehen hätte. Denn selbst wenn der Senat die angebliche persönliche Nachschau um 10:35 Uhr und um<br />

10:45 Uhr als wahr unterstellt, änderte dies nichts daran, dass eine kontinuierliche postoperative Überwachung nicht<br />

sicher gestellt war (so auch ausdrücklich auf Vorhalt Dr. med. Ci. ‚ Sitzungsprotokoll vom 2. 10.2003, 5. 4 = CA Bd. II Bl. 134). Der vorliegende Fall zeigt gerade,<br />

welche schwer wiegende Folgen eine zehnminütige Überwachungslücke haben kann; ein solches vermeidbares Risiko<br />

ist als fachärztlicher Standard nicht hinnehmbar. Insoweit bestehen auch keinerlei Unterschiede zwischen einer<br />

stationären und einer ambulanten Behandlung,<br />

2.2. Entgegen der Behauptung des Beklagten zu 2) ereignete sich der Atem- und Kreislauf- stillstand des Klägers nicht<br />

nach Abschluss der anästhesiologischen Behandlung. Die post- operative Überwachungspflicht endet erst dann, wenn<br />

die Vitalfunktionen des Patienten (Schutzreflexe, Atmung und Kreislaufregulation) vollständig wiederhergestellt sind und solche unmittelbar<br />

mit der Narkose zusammenhängende Komplikationen nicht mehr zu besorgen sind (vgl. Gutachten Dres. med. P. & Ci. ‚ 5. 9. = CA Bd. II Bl. 65;<br />

Sitzungsprotokoll 5. 3 bis 5 = CA Bd. II Bl. 133 bis 135; ebenso BGH VersR 1989, 1296; OLC Düsseldorf VersR 2002, 1151). Im vorliegenden Fall bestand aus den<br />

vorgenannten Cründen auch aus exanteSicht des Beklagten zu 2) gegen 10:45 Uhr noch die Cefahr nachlassender<br />

Vigilanz (d.h. Bereitschaft zur Aufmerksamkeit) und aufkommender Atemdepression, so dass eine Fortdauer — bzw. hier nach dem<br />

Beweisergebnis eine erstmalige Aufnahme — einer kontinuierlichen postoperativer, Überwachung geboten war (vgl. o.a.<br />

Gutachten S. 10 = CA Bd. II Bl. 66; o.a. Sitzungsprotokoll 5. 4 f. = CA Bd. II 81. 134 f.).<br />

2.3. Es spricht vieles dafür, dass die fehlende Organisation und Absicherung einer kontinuierlichen postoperativen<br />

Überwachung durch qualifiziertes Personal als grober Behandlungsfehler zu bewerten ist. Das lässt sich den<br />

Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. med. Gi. auf die Vorhalte der Kammer und des<br />

Prozessbevollmächtigten des Beklagten zu 2) in seiner Anhörung vor dem Landgericht entnehmen (so auch die Bewertung der<br />

Kammer, UA 5. 10) und findet sich als ausdrückliche Aussage in dem ergänzenden Gutachten des Privatsachverständigen Dr.<br />

med. T. vom 29. 10.1999 (vgl. 5. 2 f = GA Bd. 1 Bl. 103 f.). Der Senat hat von einer ergänzenden Anhörung des Sachverständigen<br />

Dr. med. Gi. zum Zwecke einer direkten Nachfrage abgesehen, weil es nach dem Ergebnis der bisherigen<br />

Beweisaufnahme auf die Bewertung des o.g. Behandlungsfehlers als grob nicht ankommt.<br />

3. Dem gegenüber ist eine Pflichtverletzung der Beklagten zu 1) gegenüber dem Kläger nicht nachgewiesen.<br />

3.1. Die Beklagte zu 1) haftet grundsätzlich nicht für Behandlungsfehler des Beklagten zu 2), weil beim<br />

Zusammenwirken mehrerer Ärzte im Rahmen der s.g. horizontalen Arbeitsteilung jeder Arzt grundsätzlich nur den<br />

Facharztstandard desjenigen medizinischen Fachbereiches zu gewährleisten hat, in den die von ihm übernommene<br />

Behandlung fällt. Danach haftet der Chirurg grundsätzlich weder für eine fehlerhafte Dosierung eines Hypnotikums<br />

noch für eine unzureichende postoperative Kontrolle der Kreislauf- und Atmungsstabilität, weil beide Aufgaben in den<br />

Verantwortungsbereich des Anästhesisten fallen (vgl. Gutachten Dr. med. T. vom 12. 02.1999, 5. 5 GA Bd. 1 Bl. 32; Gutachten Dres. med. P. & Gi. vom 7. 04.2003, 5. 13 =<br />

GA Bd. II Bl. 69; vgl. auch GeißlGreiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl. 2001, Rn. 197; 221, 234 m.w.N.; BGH VersR 1991, 694; OLG Düsseldorf VersR 1993, 865 und VersR 2002, 1151). Hiervon ist<br />

auch das Landgericht im Ansatz zutreffend ausgegangen.<br />

Etwas Anderes könnte gelten, wenn die Beklagte zu 1) überobligatorisch auch Behandlungspflichten des Beklagten zu<br />

2) mit übernommen hätte; hierfür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Beide Beklagte und auch der Zeuge Dr. G. haben<br />

angegeben, dass es keine gesonderte allgemeine Abreden dieser Art gab und dass auch keine konkret auf den Kläger<br />

bezogene Mitübernahme anästhesiologischer Leistungen durch die Beklagte zu 1) vorlag.<br />

Ausnahmsweise könnten eigene Koordinierungspflichten des Chirurgen schließlich daraus entstehen, dass sich<br />

Behandlungsrisiken gerade aus der relativen Unvereinbarkeit der von ihm und dem Anästhesisten angewandten<br />

Methoden oder Instrumenten ergeben (vgl. BGH VersR 1999, 579) — dies ist hier nach den übereinstimmenden Ausführungen<br />

aller einbezogenen Sachverständigen jedoch gerade nicht der Fall.<br />

3.2. Es besteht weiter grundsätzlich auch keine gegenseitige Überwachungspflicht beim Zusammenwirken mehrerer<br />

Ärzte im Rahmen der horizontalen Arbeitsteilung (vgl. BGH NJW 1987, 2293; OLGR Hamm 1994, 145; OLGR Hamburg 1996, 56). Soweit das<br />

Landgericht der Beklagten zu 1) deren Gleichgültigkeit gegenüber der Art und Weise der Arbeitsorganisa tion des<br />

Beklagten zu 2) und deren ‚blindes Vertrauen in die fachgerechte Erbringung der anästhesiologischen Behandlung als<br />

Pflichtverletzung vorwirft, überspannt es die Anforderungen an die Chirurgin. Dieses Postulat läuft letztlich darauf<br />

hinaus, dass das Landgericht eine ständige Überwachung und Kontrolle des Spezialisten — hier des Facharztes für<br />

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Anästhesiologie — durch einen Nichtspezialisten — eines Arztes aus einem anderen medizinischen Fachbereich —<br />

verlangt. Es fragt sich auch, mit welchem Ziel die Überwachung erfolgen sollte, weil der Sinn der horizontalen<br />

Arbeitsteilung gerade darin besteht, den Sachverstand verschiedener medizinischer Fachbereiche zu bündeln, was<br />

grundsätzlich einschließt, dass jeder Arzt diejenigen Entscheidungen im Rahmen der Gesamtbehandlung trifft, die in<br />

seinen Fachbereich fallen.<br />

Ausnahmen hat die Rechtsprechung anerkannt, wenn Qualifikationsmängel des mitwirkenden Arztes des anderen<br />

medizinischen Fachbereiches offensichtlich sind (vgl. OLG Zweibrücken VersR 1988, 165 »Anfängeroperation―; weitere Beispiele bei Ulsenheimer in:<br />

Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 140 Rn. 20), was hier jedenfalls nicht zutrifft, bzw. wenn ein Arzt Fehlleistungen des<br />

hinzugezogenen Arztes erkennt bzw. wegen Evidenz hätte erkennen müssen (vgl. BGH VersR 1989, 186). Auf diesen<br />

letztgenannten Fall beruft sich das Landgericht — jedoch zu Unrecht.<br />

Der Kläger selbst macht nicht geltend, dass die Beklagte zu 1) die Überdosierung des Rapifen © erkannt hatte bzw.<br />

hätte erkennen müssen. Hierfür gibt es auch keinerlei Anhaltspunkte.<br />

Die Beweisaufnahme hat darüber hinaus gerade nicht ergeben, dass die unzureichende postoperative Überwachung<br />

des Klägers für die Beklagte zu 1) offensichtlich war. Die Beklagte zu 1) befand sich während der gesamten Zeit der<br />

postoperativen Behandlungsphase unstreitig im Operationssaal — mit einer Ausnahme, nämlich ihrer eigenen (chirurgischen)<br />

Entlassungsuntersuchung gegen 10:45 Uhr. Dem Kläger ist zwar darin zu folgen, dass sie anlässlich dieser Kontrolle<br />

hätte feststellen können, dass keinerlei apparatives Monitoring (mehr) im Einsatz war. Dafür, dass es für die Beklagte zu<br />

1) — in Unkenntnis der Überdosierung des Rapifen ® - auch offensichtlich gewesen sein soll, dass die postoperative<br />

anästhesiologische Kontrolle noch nicht abgeschlossen werden durfte, hat der Senat keine Anhaltspunkte.<br />

4. Die durch das neurologische Gutachten des Dr. med. 8. nachgewiesenen körperlichen und geistigen<br />

Gesundheitsbeeinträchtigungen des Klägers sind kausal auf die Behandlungsfehler des Beklagten zu 2)<br />

zurückzuführen.<br />

4.1. Im Falle der Feststellung eines groben Behandlungsfehlers hätte es dem Beklagten zu<br />

2) oblegen, den Nachweis zu führen, dass es keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen der pflichtwidrigen<br />

anästhesiologischen Behandlung des Klägers und dessen Schädigungen gibt (vgl. zur Umkehr der Beweislast bei grobem Behandlungsfehler BGH<br />

VersR 1995, 46; ders. VersR 1998, 585; MDR 2002, 1120; zuletzt GesR 2004, 290 m.w,N.). Dies hat der Beklagte zu 2) schon nicht behauptet, auch nicht<br />

hilfsweise im Rahmen seines Berufungsvorbringens.<br />

4.2. Das Landgericht hat zutreffend festgestellt, dass der Kläger sogar den positiven Nachweis eines ursächlichen<br />

Zusammenhangs geführt hat. Ein Atemstillstand, wie hier vom Kläger am 23. 04.1998 erlitten, ist nicht nur als typische<br />

Nebenwirkung des überdosierten Rapifen © bekannt; der gerichtliche Sachverständige Dr. med. Gi. hat vielmehr jede<br />

andere mögliche Ursache — wie einen Krampfanfall oder ein Zurückfallen der Zunge — nach der stattgefundenen<br />

Beweisaufnahme durch Vernehmung von Zeugen und Anhörung der Part&en über den klinischen Verlauf der<br />

Behandlung sicher ausgeschlossen (vgl. Gutachten vom 7. 04.2003, 5. 12 = GA Bd. II Bl. 68; Sitzungsprotokoll vom 2. 10.2003, S. 5 = GA Bd.<br />

II Bl. 135). Er hat darüber hinaus überzeugend ausgeführt, dass bei pflichtgemäßer postoperativer Überwachung des<br />

Klägers der Atem- und Kreislaufstillstand so rechtzeitig erkannt worden wäre, dass eine hypoxische Hirnschädigung<br />

„mit großer Wahrscheinlichkeit― hätte vermieden werden können (vgl. Gutachten vom 7. 04.2003, S. 12, 13 = GA Bd. II Bl. 68, 69). Dies genügt für<br />

den Nachweis der Kausalität.<br />

5. Der Senat erachtet das von der Kammer festgesetzte Schmerzensgeld in Kombination eines Kapitalbetrages in<br />

Höhe von 150.000,00 EUR und einer monatlichen Rente in Höhe von 255,64 EUR für angemessen i.S.v. § 847 BGB.<br />

Der Beklagte zu 2) hat hiergegen keine Einwendungen erhoben.<br />

Fehler bei der Ermessensausübung sind weder hinsichtlich der Teilbeträge noch im Hinblick auf den Gesamtbetrag des<br />

Schmerzensgeldes ersichtlich. Es ist lediglich zur Klarstellung anzumerken, dass entgegen des Zitats des Landgerichts<br />

§ 843 BGB für die Schmerzensgeldrente nicht einschlägig ist.<br />

Der Senat hat dabei berücksichtigt, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Bundes- gerichtshofes und der<br />

Obergerichte, auch des erkennenden Senats, die Zuerkennung einer Schmerzensgeldrente neben einem Kapitalbetrag<br />

nur im Ausnahmefall in Betracht kommt. Hier können die schweren und lebenslangen körperlichen und geistigen<br />

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Behinderungen des Klägers, insbesondere die erhebliche Reduzierung der Fähigkeiten zum gezielten Einsatz seines<br />

Bewegungsapparates sowie zur Ausbildung eines selbständigen Sprachvermögens, nicht durch einen einmaligen<br />

Betrag abgegolten werden (vgl. BGH VersR 1976, 967ff; OLG Naumburg, Urteil vom 28. 11.2001, 1 U 161/99 = VersR 2002, 1295). Dem Kläger wird es aufgrund<br />

der ihm zugefügten Schwerstschäden zeit seines Lebens schwer fallen, seine ihm angeborene Menschenwürde in<br />

unserer Leistungsgesellschaft fortdauernd zu behaupten. Dem zuzubilligenden Schmerzensgeld kommt daher auch die<br />

besondere Aufgabe zu, gewissermaßen symbolhaft zu bestätigen, dass der Kläger trotz der ihm zugefügten<br />

körperlichen und geistigen Behinderungen seine Menschenwürde nicht verloren hat.<br />

Die für den Kapitalbetrag erkannte Verzinsung ist jedenfalls auch aus § 291, 288 BGB begründet.<br />

6. Gegen die haftungsausfüllende Kausalität und die Höhe der geltend gemachten materiellen<br />

Schadenersatzansprüche hat der Beklagte zu 2) keine Einwendungen erhoben. Es bestehen insoweit auch keine<br />

Zweifel an den tatsächlichen Feststellungen der Kammer; Rechtsfehler sind nicht ersichtlich.<br />

7. Das Landgericht hat zu Recht auch einen Anspruch auf Feststellung der Einstandspflicht des Beklagten zu 2) für<br />

künftige Schäden des Klägers aus der pflichtwidrigen anästhesiologischen Behandlung vom 23. 04.1998 für begründet<br />

erachtet. Der Urteilsausspruch war insoweit dem tatsächlichen Begehren des Klägers und der Intension des<br />

erstinstanzlichen Gerichts, welche jeweils auf einen Vorbehalt für künftige materielle und immaterielle Schäden<br />

begrenzt waren, nach § 319 ZPO anzupassen.<br />

III.<br />

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen beruht auf § 92 Abs. 1 und 2, 97 Abs. 1,100<br />

Abs. 1 ZPO.<br />

Die weiteren Nebenentscheidungen ergeben sich aus § 26 Nrn. 7 und 8 EGZPO i.V.m. § 708 Nr. 10, 711 5. 1 sowie<br />

543, 544 Abs. 1 S. 1 ZPO.<br />

Die Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO war nicht zuzulassen, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat<br />

noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des<br />

Revisionsgerichts erfordert.<br />

gez. Zink gez. Grimm gez. Wiedemann<br />

ThönsBGH, Urteil<br />

vom 04.11.2004- III ZR 201/04 - OLG Brandenburg<br />

Zur Pflicht eines Krankenhauses, den Patienten vor Abschluß einer Wahlleistungsvereinbarung über die<br />

Entgelte und den Inhalt der wahlärztlichen Leistungen zu unterrichten (Fortführung der Senatsurteile 8GHZ 157, 87ff, vom 8. 01.2004 - III ZR<br />

375/02 - NJW 2004, 686 und vom 22. 07.2004- III ZR 355/03 - NJWRR 2004, 1428).<br />

BPflV § 22 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2<br />

LG Potsdam<br />

Der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündUche \‗erhandlung vom 4. 11.2004 durch den Vorsitzenden<br />

Richter Schlick und die Richter Dr. Wurm, Streck, börr und Dr. Herrmann<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 11. Zivilsenats<br />

des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 10. Februar<br />

2004 aufgehoben.<br />

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil der 11. Zivilkammer<br />

des Landgerichts Potsdam vom 3. 07.2003 wird zurückgewiesen.<br />

Der Beklagte hat auch die Kosten der Rechtsmittelzüge zu tragen.<br />

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Von Rechts wegen<br />

Tatbestand<br />

Der Kläger ist Chefarzt der Abteilung für HerzThoraxGefäßchirurgie des D. H. in B. . Der Beklagte befand sich dort<br />

wegen eines Herzinfarkts und Schlaganfalls vom 15. bis 25. 02.2002 in stationärer Behandlung. Der Kläger operierte<br />

ihn am 16. 02.2002.<br />

In der von dem aufnehmenden Krankenhausmitarbeiter und dem Beklagten unterzeichneten schriftlichen<br />

Wahlleistungsvereinbarung vom 15, 02.2002 kreuzte dieser unter Überschrift ―Ich wünsche die folgenden<br />

Wahlleistungen― unter anderem das Kästchen ―ärztliche Leistungen aller an der Behandlung beteiligten Ärzte des<br />

Krankenhauses, soweit diese zur gesonderten Berechnung ihrer Leistungen berechtigt sind, ...― an. Der Vordruck mit<br />

der Wahlleistungsvereinbarung enthielt den Hinweis, dass die Inanspruchnahme der Wahileistungen nicht auf einzelne<br />

liquidationsberechtigte Ärzte des Krankenhauses beschränkt werden könne. Eine Vereinbarung über wahlärztliche<br />

Leistungen erstrecke sich auf alle an der Behandlung des Patienten beteiligten Ärzte des Krankenhauses,<br />

einschließlich der von diesen Ärzten veranlaßten Leistungen von Ärzten und ärztlich geleiteten Einrichtungen<br />

außerhalb des Krankenhauses.<br />

Zusammen mit dem Vordruck der Wahlleistungsvereinbarung wurde dem Beklagten ein Informationsblatt über die<br />

Vereinbarung wahlärztlicher Leistungen ausgehändigt. Der Text dieses Schriftstückes lautet, soweit hier von<br />

Interesse:<br />

―Die BPfIV unterscheidet zwischen allgemeinen Krankenhausleistungen und Wahlleistungen.<br />

1. Allgemeine Krankenhausleistungen sind Krankenhausleistungen, die unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit<br />

des Krankenhauses im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinisch zweckmäßige und<br />

ausreichende Versorgung des Patienten notwendig sind. Sofern Sie gesetzlich krankenversichert sind, entstehen Ihnen<br />

für die Inanspruchnahme der allgemeinen Krankenhausleistungen außer den gesetzlichen Zuzahlungen keine<br />

gesonderten Kosten.<br />

Wahileistungen hingegen sind über die allgemeinen Krankenhaus- leistungen hinausgehende Sonderleistungen. Diese<br />

sind gesondert zu vereinbaren uhd vom Patienten zu bezahlen.<br />

2. Für sogenannte wahlärztliche Leistungen bedeutet dies, dass Sie sich damit die persönliche Zuwendung und<br />

besondere fachliche Qualifikation und Erfahrung der liquidationsberechtigten Ärzte des Krankenhauses (i.d.R. Chefärzte oder<br />

Oberärzte) hinzu kaufen.<br />

Selbstverständlich werden Ihnen auch ohne Abschluß der Wahlleistungsvereinbarungen alle medizinisch erforderlichen<br />

Leistungen zuteil, jedoch richtet sich dann die Person des behandelnden Arztes ausschließlich nach der medizinischen<br />

Notwendigkeit.<br />

3. Im einzelnen richtet sich die konkrete Abrechnung nach den Regeln der amtlichen GOÄ/Gebührenordnung für<br />

Zahnärzte (GOÄIGOZ). Diese Gebührenwerke weisen folgende Grundsystematik auf:<br />

In einer ersten Spalte wird die abrechenbare Leistung mit einer Gebührenziffer versehen. Dieser Grundziffer ist in einer<br />

zweiten Spalte die verbale Beschreibung der abrechenbaren Leistungen zugeordnet. In einer dritten Spalte wird die<br />

Leistung mit einer Punktzahl bewertet. Dieser Punktzahl ist ein für die ganze GOÄ einheitlicher Punktwert zugeordnet,<br />

welcher in Cent ausgedrückt ist. Der ab 01.01 .2002 gültige Punktwert liegt gemäß § 5 Abs. 1 GOÄ bei 5,82873 Cent.<br />

Aus der Multiplikation von Punktzahl und Punktwert ergibt sich der Preis für diese Leistung, welche in einer Spalte 4<br />

der GOA ausgewiesen ist.<br />

Beispiel:<br />

Ziffer Leistungsbeschreibung Punktzahl Preis (Einfachsatz)<br />

1 Beratung - auch mittels Fernsprecher 80 €4,66<br />

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Bei dem so festgelegten Preis handelt es sich um den sogenannten GOÄEinfachsatz. Dieser Einfachsatz kann sich<br />

durch Steigerungsfaktoren erhöhen. Diese berücksichtigen die Schwierigkeit und den Zeitaufwand der einzelnen<br />

Leistung oder die Schwierigkeit des Krankheitsfalles. Innerhalb des normalen Gebührenrahmens gibt es<br />

Steigerungssätze zwischen dem Einfachen und dem 3,5fachen des Gebührensatzes, bei technischen Leistungen<br />

zwischen dem Einfachen und<br />

dem 2,5fachen des Gebührensatzes und bei Laborleistungen zwischen dem Einfachen und dem 1,3fachen des<br />

Gebührensatzes. Der Mittelwert liegt für technische Leistungen bei 1,8, für Laborleistungen bei 1,15 und für alle<br />

anderen Leistungen bei 2,3.<br />

Welche Gebührenpositionen bei Ihrem Krankheitsbild zur Abrechnung gelangen und welche Steigerungssätze<br />

angewandt werden, läßt sich nicht abstrakt vorhersagen. Hierfür kommt es darauf an, welche Einzelleistungen konkret<br />

erbracht werden, welchen Schwierigkeitsgrad die Leistung besitzt und welchen Zeitaufwand sie erfordert.<br />

Insgesamt kann die Vereinbarung wahlärztlicher Leistungen eine nicht unerhebliche finanzielle Belastung bedeuten.<br />

Prüfen Sie bitte, ob Ihre private KrankenversicherunglBeihilfe etc. diese Kosten deckt‗.<br />

Ferner enthielt das Informationsblatt den Hinweis, dass die GOÄIGOZ jederzeit zur Einsicht zur Verfügung stehe.<br />

Die auf Zahlung von 5.769,14€ gerichtete Honorarklage hatte mit Ausnahme eines Teils der Zinsforderung in erster<br />

Instanz Erfolg. Das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die vom Berufungsgericht<br />

zugelassene Revision des Klägers.<br />

Entscheidungsgründe<br />

Die zulässige Revision hat auch in der Sache Erfolg.<br />

Das Berufungsgericht hat zur Begründung der Klageabweisung ausgeführt, die Wahlleistungsvereinbarung sei nicht<br />

wirksam zustande gekommen, weH die Belehrung des Beklagten unzureichend gewesen sei. Zwar genügten die dem<br />

Beklagten erteilten Hinweise ―dem Grunde nach‗ den an eine Belehrung zu stellenden Anforderungen, jedoch<br />

verharmlose das in dem Informationsblatt angeführte Berechungsbeispiel für die Arztgebühren, das anhand der gering<br />

bewerteten Gebührennummer 1 entwickelt worden sei, in irreführender Weise die auf den Patienten zukommenden<br />

finanziellen Lasten.<br />

II.<br />

Hiergegen wendet sich die Revision mit Recht.<br />

1. Die zwischen den Parteien geschlossene Wahlleistungsvereinbarung ist wirksam. Sie verstößt insbesondere nicht<br />

gegen § 22 Abs. 2 Satz 1 der hier anwendbaren Bundespflegesatzverordnung (BPflV) vom 26. 09.1994 (BGBI. 1 5. 2750). Nach<br />

dieser Bestimmung sind Wahlleistungen vor der Erbringung schriftlich zu vereinbaren; der Patient ist vor Abschluß der<br />

Vereinbarung über die Entgelte der Wahlleistungen und deren Inhalt im einzelnen zu unterrichten. Nach der ständigen<br />

Rechtsprechung des Senats ist eine Wahlleistungsvereinbarung, die ohne hinreichende vorherige Unterrichtuhg des<br />

Patienten abgeschlossen worden ist, unwirksam (vgl. zuletzt Senatsurteile BGHZ 157, 87, 90; vom 8. 01.2004 - III ZR 375/02 - NJW 2004, 686 und vom<br />

22. 07.2004 - III ZR 355/03 - NJWRR 2004, 1428 jeweils m.w.N.). Die Vorinstanz hat zu Unrecht angenommen, der Beklagte sei nicht zureichend<br />

unterrichtet worden.<br />

2. Der Senat hat inzwischen die Anforderungen präzisiert, die an eine ausreichende Unterrichtung zu steilen sind (Urteile<br />

BGHZ aaC, 5. 5 f; vom 8. 01.2004 aaC, 5. 687 f und vom 22. 07.2004 aaO; siehe auch Kern, LMK 2004, 59 f). Danach reicht es einerseits nicht aus, wenn der Patient<br />

lediglich darauf hingewiesen wird, dass die Abrechnung eines selbst liquidierenden Chefarztes nach der GOÄ erfolge;<br />

andererseits ist es nicht erforderlich, dass dem Patienten unter Hinweis auf die mutmaßlich in Ansatz zu bringenden<br />

Nummern des Gebührenverzeichnisses der Geboihrenordnung für Ärzte detailliert und auf den Einzelfall abgestellt die<br />

Höhe der voraussichtlich entstehenden Arztkosten - etwa in Form eines im Wesentlichen zutreffenden<br />

Kostenanschlags - mitgeteilt wird. Der Senat hat vielmehr Kriterien aufgestellt, an denen sich die Unterrichtung des<br />

Patienten zu orientieren hat. Ausreichend ist danach in jedem Fall:<br />

- eine kurze Charakterisierung des Inhalts wahiärztiicher Leistungen, wobei zum Ausdruck kommt, dass hierdurch ohne<br />

Rücksicht auf Art und Schwere der Erkrankung die persönliche Behandlung durch die liquidationsberechtigten Ärzte<br />

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sichergestellt werden soll, verbunden mit dem Hinweis darauf, dass der Patient auch ohne Abschluß einer<br />

Wahlleistungsvereinbarung die medizinisch notwendige Versorgung durch hinreichend qualifizierte Ärzte erhält;<br />

- eine kurze Erläuterung der Preisermittlung für ärztliche Leistungen nach der GOÄ (GOÄ) bzw. für Zahnärzte<br />

(GOZ)(Leistungsbeschreibung anhand der Nummern des Gebührenverzeichnisses; Bedeutung von Punktzahl und Punktwert; Möglichkeit, den Gebührensatz je nach Schwierigkeit und Zeitaufwand zu<br />

erhöhen); Hin- »‗eis auf Gebührenminderung nach § 6a GOA;<br />

- ein Hinweis darauf, dass die Vereinbarung wahlärztlicher Leistung eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung zur<br />

Folge haben kann;<br />

- ein Hinweis darauf, dass sich bei der Inanspruchnahme wahlärztilcher<br />

Leistungen die Vereinbarung zwingend auf alle an der Behandlung des<br />

Patienten beteiligten liquidationsberechtigten Ärzte erstreckt (vgl. § 22<br />

Abs. 3 Satz 1 BPflV);<br />

- und ein Hinweis darauf, dass die GOÄ/Gebühren- ordnung für Zahnärzte auf Wunsch eingesehen werden kann; die<br />

ungefragte Vorlage dieser Texte erscheint demgegenüber entbehrlich, da diesen für sich genommen kein besonderer<br />

Informationswert zukommt. Der durchschnittliche Wahlleistungspatient ist auch nicht annähernd in der Lage, sich selbst<br />

anhand des Studiums dieser umfänglichen und komplizierten Regelungswerke einen Überblick über die Höhe der auf<br />

ihn zukommenden Arztkosten zu verschaffen.<br />

3. Den hiernach zu stellenden Anforderungen an die Unterrichtung des Patienten gemäß § 22 Abs. 2 Satz 1 BPfIV<br />

werden der Vordruck für die Wahlleistungsvereinbarung und das lnfomationsblatt im Wesentlichen gerecht.<br />

a) Die Charakterisierung des Inhalts wahlärztlicher Leistungen befindet sich in Nummer 1 des Informationsblattes.<br />

Nummer 2 bringt zum Ausdruck, dass d!e Wahlleistungsvereinbarung die persönliche Behandlung durch die<br />

liquidationsberechtigten Ärzte sicherstellt. Der Hinweis darauf, dass der Patient auch ohne Abschluß, der<br />

Wahlleistungsvereinbarung die medizinisch notwendige Versorgung durch hinreicend quaNfizierte Ärzte erhält, st<br />

ebenfalls in Num‗ mer 2 des lnformationsblattes in Fettdruck hervorgehoben - enthalten.<br />

Der Beklagte macht demgegenüber geltend, diese ihm rnitgeteilte Information genüge nicht den gesetzlichen<br />

Anforderungen, weil Nummer 2 Abs. 2 des lnformationsblattes nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck bringe, dass<br />

das Krankenhaus auch ohne Abschluß der Wahlleistungsvereinbarung einen Arzt einsetzen werde, der für die jeweils<br />

erforderlichen Leistungen die notwendige ärztliche Qualifikation habe.<br />

Dem ist nicht beizupflichten. Die Information bringt zum Ausdruck, dass der Patient auch dann alle medizinisch<br />

erforderlichen Leistungen erhält, wenn er die Wahlleistungsvereinbarung nicht abschließt. Die Person des<br />

behandelnden Arztes richtet sich nach der medizinischen Notwendigkeit. Der Erhalt der medizinisch erforderlichen<br />

Leistungen schließt, wie sich für einen durchschnittlich verständigen Leser ohne weiteres erschließt, die Behandlung<br />

durch Ärzte ein, die über die hierfür notwendige Qualifikation verfügen. Anderenfalls wäre nicht gewährleistet, dass die<br />

Leistungen den medizinischen Erfordernissen entsprechen. Die Qualifikation der ―Regelbehandlungsärzte― muss nicht<br />

gesondert herausgestellt werden.<br />

b) Die Erläuterung der Preisermittlung für ärztliche Leistungen nach der GOÄ unter Einschluß des Hinweises auf die<br />

Leistungsbeschreibung anhand der Nummern des Gebührenverzeichnisses, der Bedeutung von Punktzahl und<br />

Punktwert sowie der Möglichkeit, der Gebührensatz je nach Schwierigkeit und Zeitaufwand zu erhöhen, befindet sich in<br />

Nummer 3 des lnformationsblattes. Die dort gegebenen detaillierten Informationen enthalten alle notwendigen<br />

Elemente und ind klar und verständlich aufgebaut.<br />

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts wirkt das dort anhand der punktmäßig gering zählenden<br />

Gebührennummer 1 entwickelte Berechnungsbeispiel nicht verharmlosend und irreführend. Es ist für den hinreichend<br />

verständigen Leser ohne weiteres zu erkennen, dass es sich lediglich um ein Beispiel zur Erläuterung des zuvor<br />

abstrakt beschriebenen Berechnungsvorganges handelt, und dass es Gebühren gibt, die mit höheren Punktzahlen<br />

bewertet sind (vgl. auch Senatsurteil vom 8. 01.2004 aaC, 5. 688). Hinzu tritt, dass im fünften Absatz von Nummer 3 des lnformationsblattes<br />

ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass sich eine Vorhersage, welche Gebührenpositionen bei dem jeweiligen<br />

Krankheitsbild zur Abrechnung gelangen und welche Steigerungssätze anzuwenden sind, nicht treffen lasse. Dies<br />

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unterstreicht den lediglich exemplarischen Charakter des anhand der Gebührennummer 1 der GOA vorgenommenen<br />

Berechnungsbeispiels.<br />

c) Der Hinweis auf die möglichen erheblichen finanziellen Mehrbelastungen infolge des Abschlusses der<br />

Wahlleistungsvereinbarung ist auf Seite 2 des lnformationsblattes in Fettdruck enthalten. Wie der Senat bereits in<br />

seinem Urteil vom 8. 01.2004 (aaC) entschieden hat, ist die dort gewählte Formulierung mit der doppelten Verneinung<br />

―nicht unerhebliche finanzielle Belastung― selbst bei oberflächlicher Lektüre verständlich.<br />

Der Beklagte meint demgegenüber, die Belehrung über die möglichen finanziellen Mehrbelastungen sei intransparent,<br />

da der entsprechend& Passus erst auf der zweiten Seite des lnformationsblattes enthalten sei. Die erste Seite<br />

des Blattes lasse nicht erkennen, dass es überhaupt noch eine Fortsetzung der Informationen auf einer zweiten gebe.<br />

Der Text zur Erläuterung der GOA sei mit dem letzten Satz auf der ersten Seite inhaltlich abgeschlossen. Ein Hinweis<br />

auf die zweite Seite sei nicht vorhanden.<br />

Auch dem ist nicht zu folgen. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass dem Beklagten beide Seiten des<br />

lnformationsblattes übergeben wurden. Von einem durchschnittlich informierten und verständigen Patienten kann<br />

erwartet werden, dass er sich vergewissert, ob die erste Seite eines lnformationsblattes ihre Fortsetzung auf einer<br />

zweiten findet, auch wenn die auf der ersten Seite gegebenen Informationen inhaltlich abgeschlossen zu sein<br />

scheinen. Dabei spielt es entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung keine Rolle, ob die zweite Seite auf einem<br />

gesonderten Blatt oder auf der Rückseite eines einzigen Blattes abgedruckt ist. Es ist deshalb unbeachtlich, dass das<br />

Berufungsgericht insoweit keine Feststellungen getroffen hat.<br />

d) Die Unterrichtung darüber, dass sich die Vereinbarung bei der Inanspruchnahme wahlärztlicher Leistungen auf alle<br />

an der Behandlung des Patienten beteiligten liquidationsberechtigten Ärzte erstreckt ( 22 Abs. 3 Satz 1 BPfIV), ist unter Angabe<br />

dieser Vorschrift in den Hinweisen des Wahlleistungsvereinbarungsvordrucks enthalten.<br />

e) Die Angabe der Möglichkeit, die GOÄ einzusehen, befindet sich in der letzten Zeile des lnformationsblattes. f) In den<br />

Vordrucken fehlt allerdings eine Verweisung auf § 6a GOÄ, wonach die Gebühren der behandelnden Ärzte bei<br />

stationären und teilstationären ‗Leistungen um 15 v.H. zu mindern sind. Dies ist hir jedoch unschädlich. Die nach § 22<br />

Abs. 2 Satz 1 BPflV erforderliche Information über Entgelte der Wahlleistungen und deren Inhalt dient dazu, den<br />

Patienten vor finanzieflen Belastungen, die möglicherweise nicht von seinem Krankenversicherungsschutz gedeckt<br />

sind, zu warnen, und ihn so vor übereilten Entscheidungen zu bewahren, die seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit<br />

oder willigkeit überfordern. Zur Wahrung dieses Warn- und Schutzzweckes ist es nicht erforderlich, den Patienten, der<br />

ärztliche Wahlleistungen in Anspruch genommen hat, nur deshalb von Forderungen aus dem Vertrag freizuhalten, weil<br />

er nicht zuvor über § 6a GOÄ belehrt worden war. Der Patient würde treuwidrig handeln, wenn er sich zur Vermeidung<br />

jeglicher Zahlung auf die Unvollständigkeit einer Belehrung berufen würde, der nur der Hinweis auf eine<br />

kostenmindernde Bestimmung fehlt (vgl. Senatsurteil vom 8. Januar2004 aaC).<br />

4. Die Vorinstanzen haben - von dem Beklagten unbeanstandet - festgestellt, dass er bei Abschluß der<br />

Wahlleistungsvereinbarung geschäftsfähig war und seine Willenserklärung nicht wegen Irrtums oder arglistiger<br />

Täuschung anfechtbar ist. Gegen die Höhe der geltend gemachten Forderung erhebt der Beklagte keine<br />

Einwendungen. Es sind auch keine ersichtlich.<br />

Da der Rechtsstreit zur Entscheidung reif ist, hat der Senat in der Sache selbst entschieden ( 563 Abs. 3 ZPO).<br />

Schlick Wurm Streck<br />

LG Augsburg Az 3 KLs 400 vom 30.09.2004<br />

Bei fachübergreifendem Bereitschaftsdienst führt eine nicht fachgerechte Behandlung nach einer<br />

Schilddrüsenoperation zum Tod der Patientin. Das Verfahren gegen den bereitschaftsdienstleistenden<br />

Assistenzarzt der Inneren Medizin wird gegen Geldzahlung eingestellt, der chirurgische Chefarzt wird wegen<br />

fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt.<br />

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„Bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte der Angeklagte die postoperative ärztliche Versorgung von<br />

Schilddrüsenpatienten durch entsprechende organisatorische Maßnahmen so gestalten müssen, dass die<br />

bestehende Nachblutung bei der Patientin rechtzeitig erkannt worden wäre.―<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 186/03 vom 14.09.2004<br />

Bestehen bei einer Zwillingsschwangerschaft für Mutter oder Kind im Falle eines Zuwartens erhebliche<br />

Risiken, so ist über die Alternative einer primären Schnittentbindung aufzuklären. Der Patient obsiegte.<br />

BGH, Urteil vom 14. 09.2004 VI ZR 186/03 OLG Bamberg LG Würzburg<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 14. 09.2004 durch die Vorsitzende<br />

Richterin Dr. Müller, die Richter Dr. Greiner und Wellner, die Richterin Diederichsen und den Richter Stöhr<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des<br />

4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. 05.2003 aufgehoben und das Urteil des Landgerichts<br />

Würzburg vom 5. 10.2000 abgeändert. Der Anspruch der Klägerin auf Zahlung eines Schmerzensgeldes ist gegen den<br />

Beklagten zu 2) dem Grunde nach gerechtfertigt.<br />

Es wird festgestellt, dass die Beklagten zu 1) und 2) gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, der Klägerin allen<br />

materiellen Schaden zu ersetzen, der ihr im Zusammenhang mit ihrer Geburt entstanden ist und entstehen wird, soweit<br />

Ersatzansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.<br />

In diesem Umfang werden die Berufungen der Beklagten zurückgewiesen.<br />

Die Sache wird zur Entscheidung über die Höhe des Schmerzensgeldes an das Berufungsgericht zurückverwiesen,<br />

das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Mutter der Klägerin wurde am 14. 06.1991 wegen grenzwertiger Hypertonie und der Risiken bei EPHGestose und<br />

einer Zwillingsschwangerschaft stationär in die Universitäts Frauenklinik, deren Träger der Beklagte zu 2) ist,<br />

aufgenommen. Sie schloß mit dem Beklagten zu 1) einen Behandlungsvertrag als Privatpatientin. Der errechnete<br />

Entbindungstermin war der 8. 07.1991.<br />

Die Mutter der Klägerin war bei einem Gespräch am 24. 06.1991<br />

(38. Schwangerschaftswoche) mit einem "zunächst expektativen Vorgehen" einverstanden. Am 3. 07.1991 wurde sie nach<br />

mehreren CTGAbleitungen um 19.45 Uhr in den Kreißsaal gebracht. Ab 21.00 Uhr zeigte sich bei einer<br />

Ultraschalluntersuchung kaum Fruchtwasser, die Herzfrequenz des einen (rechten) Zwillings war nicht darstellbar. Um<br />

21.30 Uhr entschloß sich der geburtsleitende Arzt zur Schnittentbindung. Die Klägerin wurde als erster Zwilling aus der<br />

Beckenendlage um 21.58 Uhr lebend, der zweite (rechte) ebenfalls weibliche Zwilling um 21.59 Uhr tot mit Leichenflecken<br />

geboren. Bei der Klägerin besteht infolge der erlittenen Asphyxie und Anämie eine schwere zerebrale<br />

Bewegungsstörung, sie ist fast blind und leidet an einer schlecht behandelbaren Epilepsie und einer globalen mentalen<br />

Entwicklungsverzögerung. Sie erlitt ein Hirnödem mit Hirnsubstanzverlust und ist infolge ihrer Mehrfachbehinderung<br />

schwer pflegebedürftig. Als Todesursache für den tot geborenen zweiten Zwilling wurde ein intrauteriner Fruchttod bei<br />

Asphyxie festgestellt mit Verdacht auf fetofetale Transfusion. Die Klägerin nimmt den Beklagten zu 2) auf Zahlung von<br />

Schmerzensgeld und beide Beklagte auf Feststellung ihrer materiellen Schadensersatzpflicht in Anspruch.<br />

Das Landgericht hat den Beklagten zu 2) verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld von 300.000 DM zu zahlen;<br />

ferner hat es die gesamtschuldnerische Ersatzpflicht der Beklagten für allen materiellen Schaden festgestellt, der der<br />

Klägerin im Zusammenhang mit ihrer Geburt entstanden ist und entstehen wird, soweit Ersatzansprüche nicht auf Dritte<br />

übergegangen sind. Hiergegen haben die Beklagten Berufung und die Klägerin Anschlussberufung wegen einer<br />

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Erhöhung des Schmerzensgeldes eingelegt. Das Oberlandesgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen. Mit der vom<br />

erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I. Das Berufungsgericht führt in dem angefochtenen Urteil aus:<br />

Die den Beklagten vorgeworfenen Fehler seien weitgehend nicht bewiesen; soweit ein Fehler vorliegen könnte, lasse<br />

sich jedenfalls seine Ursächlichkeit für den Gesundheitsschaden der Klägerin nicht feststellen. Eine Beweislastumkehr<br />

unter dem Gesichtspunkt eines groben Behandlungsfehlers komme nicht in Betracht. Soweit der Privatgutachter Prof.<br />

Dr. Re. eine Schwangerschaftsbeendigung durch eine primäre Schnittentbindung in der<br />

38. Schwangerschaftswoche unter Hinweis auf die drohende Plazentainsuffizienz gefordert habe, könne eine solche<br />

nach den Ausführungen des Gerichtssachverständigen bis zum Nachmittag/Abend des 3. 07.1991 ausgeschlossen<br />

werden. Zudem könne das Unterlassen einer primären Schnittentbindung bei Zwillingsgravidität in der 38.<br />

Schwangerschaftswoche und führendem ersten Zwilling in Beckenendlage nicht eo ipso als Behandlungsfehler<br />

gewertet werden. Bei dem Vorwurf der unterlassenen Aufklärung der Mutter der Klägerin über die Vorund Nachteile<br />

einer Schnittentbindung bzw. eines abwartenden Verhaltens nach Aufnahme in die stationäre Behandlung handele es<br />

sich nicht um eine Einwilligungsaufklärung, sondern um eine „Selbstbestimmungsaufklärung (therapeutische Aufklärung)―. Diese<br />

sei Teil der Behandlung; ein Verstoß gegen sie stelle deshalb einen Behandlungsfehler, nicht aber eine<br />

Aufklärungspflichtverletzung dar. Einen solchen Verstoß habe die Klägerin nicht bewiesen. Insoweit stünden sich die<br />

Angaben des Zeugen Prof. Dr. R. und der Mutter der Klägerin als Partei gegenüber, ohne dass der Senat die<br />

Richtigkeit der einen oder anderen Version bejahen könne.<br />

II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand.<br />

1. Ersichtlich geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Mutter der Klägerin spätestens bei dem Gespräch am 24.<br />

06.1991 über die Vorund Nachteile einer primären Schnittentbindung bzw. eines abwartenden Verhaltens hätte<br />

aufgeklärt werden müssen. Dieser rechtliche Ansatz wird von den Beklagten nicht in Zweifel gezogen. Er entspricht<br />

auch der Rechtsprechung des erkennenden Senats.<br />

Hiernach ist eine Unterrichtung über eine alternative Behandlungsmöglichkeit erforderlich, wenn für eine medizinisch<br />

sinnvolle und indizierte Therapie mehrere gleichwertige Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die zu<br />

jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten<br />

(vgl. Senatsurteile BGHZ 102, 17, 22; 144, 1, 10; vom 21. 11.1995 VI ZR 329/94 VersR 1996, 233). Gemäß diesem allgemeinen Grundsatz braucht der<br />

geburtsleitende Arzt zwar in einer normalen Entbindungssituation, bei der die Möglichkeit einer Schnittentbindung<br />

medizinisch nicht indiziert und deshalb keine echte Alternative zur vaginalen Geburt ist, ohne besondere Veranlassung<br />

die Möglichkeit einer Schnittentbindung nicht zur Sprache bringen. Anders liegt es aber, wenn für den Fall, dass die<br />

Geburt vaginal erfolgt, für das Kind ernstzunehmende Gefahren drohen, daher im Interesse des Kindes gewichtige<br />

Gründe für eine Schnittentbindung sprechen und diese unter Berücksichtigung auch der Konstitution und der<br />

Befindlichkeit der Mutter in der konkreten Situation eine medizinisch verantwortbare Alternative darstellt (vgl. Senatsurteile BGHZ<br />

106, 153, 157; vom 16. 02.1993 VI ZR 300/91 VersR 1993, 703, 704; vom 19. 01.1993 VI ZR 60/92 VersR 1993, 835, 836). Dabei macht es keinen Unterschied, ob die<br />

Risiken für die Mutter oder das Kind entstehen, weil die Mutter die natürliche Sachwalterin der Belange auch des<br />

Kindes ist (vgl. Senatsurteil BGHZ 106, 153, 157 f.).<br />

Hierzu verweist die Revision auf die Ausführungen des Gerichtssachverständigen, wonach eine primäre<br />

Schnittentbindung als echte Alternative in Betracht gekommen ist. Zudem ergibt sich aus dem Berufungsurteil, dass der<br />

Gerichtssachverständige in einer solchen Situation eine primäre Schnittentbindung als den zu bevorzugenden Modus<br />

angesehen hat. Das Unterlassen einer Schnittentbindung bei Zwillingsgravidität in der 38. Schwangerschaftswoche und<br />

führendem ersten Zwilling in Beckenendlage hat das Berufungsgericht nur deswegen nicht "eo ipso" als<br />

Behandlungsfehler gewertet, weil damit nicht gegen eindeutig festgelegte Behandlungskriterien verstoßen worden sei.<br />

Unter diesen Umständen ist gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass eine Aufklärung über die<br />

Behandlungsalternative erfolgen mußte, aus revisionsrechtlicher Sicht nichts einzuwenden.<br />

2. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist auch nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht keine<br />

Überzeugung gewinnen konnte, ob eine Aufklärung erfolgt ist. Dessen auf einer sorgfältigen Abwägung der Aussagen<br />

des Zeugen Prof. Dr. R. und der Mutter der Klägerin beruhende Beweiswürdigung läßt keine revisionsrechtlich<br />

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elevanten Fehler erkennen. Zwar dürfen an den Beweis der ordnungsgemäßen Aufklärung keine übertriebenen und<br />

unbilligen Anforderungen gestellt werden. Solche lassen sich aber nicht daraus ableiten, dass das Berufungsgericht<br />

nicht der Aussage des Zeugen Prof. Dr. R. den Vorzug gegenüber der detaillierten Darstellung der Mutter der Klägerin<br />

gegeben hat, zumal dieser nur pauschal erklärt hat, es sei Usus gewesen, die Patientinnen entsprechend dem Inhalt<br />

der mündlichen Erläuterung des Sachverständigen zu informieren. Unter diesen Umständen läßt die Wertung des<br />

Tatsachengerichts im konkreten Fall Rechtsfehler nicht erkennen. 3. Mit Recht rügt jedoch die Revision, dass das<br />

Berufungsgericht hinsichtlich der Frage, ob die gebotene Aufklärung erfolgte, die Beweislast verkannt hat. Entgegen<br />

der Auffassung des Berufungsgerichts handelt es sich nicht um einen Fall der sog. Sicherheitsoder therapeutischen<br />

Aufklärung, also der ärztlichen Beratung über ein therapierichtiges Verhalten zur Sicherstellung des<br />

Behandlungserfolgs und zur Vermeidung möglicher Selbstgefährdungen des Patienten. In diesem Bereich wären<br />

ärztliche Versäumnisse allerdings als Behandlungsfehler anzusehen, so dass sie den von der Rechtsprechung hierzu<br />

entwickelten Regeln folgen und die Klägerin wie vom Berufungsgericht angenommen beweisen müßte, dass die<br />

gebotene Aufklärung unterblieben ist oder unzureichend war (vgl. dazu Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl. 2001, Rdn. B 95 ff.; Steffen/Dressler,<br />

Arzthaftungsrecht, 9. Aufl. 2002, Rdn. 325, 574 ff.). Bei der im Streitfall maßgebenden Frage einer Aufklärung über eine primäre<br />

Schnittentbindung als Behandlungsalternative zu der durchgeführten zunächst abwartenden Behandlung handelt es<br />

sich jedoch um einen Fall der sog. Eingriffsoder Risikoaufklärung, die der Unterrichtung des Patienten über das Risiko<br />

des beabsichtigten ärztlichen Vorgehens dient, damit dieser sein Selbstbestimmungsrecht ausüben kann. Die<br />

Beweislast für die Erfüllung dieser Aufklärungspflicht liegt beim Arzt (vgl. Senatsurteile vom 22. 05.2001 VI ZR 268/00 VersR 2002, 120, 121; vom 29.<br />

09.1998 VI ZR 268/97 VersR 1999, 190, 191; vom 12. 11.1991 VI ZR 369/90 VersR 1992, 237, 238; vom 8. 01.1985 VI ZR 15/83 VersR 1985, 361, 362; vom 21. 09.1982 VI ZR 302/80 VersR 1982, 1193,<br />

1194). 4. Auf dieser Verkennung der Beweislast beruht das angefochtene Urteil. Das Berufungsgericht konnte sich<br />

aufgrund der Beweisaufnahme keine Überzeugung bilden, ob die Angaben des Zeugen Prof. Dr. R. oder die der Mutter<br />

der Klägerin hinsichtlich einer erfolgten Aufklärung über die Vorund Nachteile einer Schnittentbindung bzw. eines<br />

abwartenden Verhaltens zutreffen. Das ergibt sich entgegen der Auffassung der Revisionsbeklagten eindeutig aus der<br />

abschließenden Beweiswürdigung in den Gründen des angefochtenen Urteils. Als Folge dieses "non liquet" ist nach<br />

den oben dargelegten Grundsätzen davon auszugehen, dass die erforderliche Aufklärung über die<br />

Behandlungsalternative nicht erfolgt ist.<br />

Soweit die Beklagten einwenden, eine Verletzung der Aufklärungspflicht sei für die Schädigung der Klägerin nicht<br />

kausal geworden, kann dem nicht gefolgt werden, ohne dass es hierzu noch tatsächlicher Feststellungen bedarf. Die<br />

Beklagten gehen selbst davon aus, dass die Schädigung der Klägerin erst am 3. 07.1991 erfolgt sei. Das steht in<br />

Einklang mit den Ausführungen des Gerichtssachverständigen. Danach ist der rechte Zwilling nämlich erst in den<br />

späten Nachmittagsstunden des 3. 07.1991 verstorben, wobei die Klägerin höchstwahrscheinlich erst nach dem Tod<br />

des rechten Zwillings geschädigt worden sei. Hierzu verweist die Revision auf die Aussage des Sachverständigen, man<br />

könne mit Sicherheit sagen, dass eine Schnittentbindung noch am 3. 07.1991 gegen etwa 16.00 Uhr "das schwere Leid<br />

von den Kindern genommen hätte". Zu diesem Zeitpunkt hätte jedoch die erforderliche Aufklärung längst erfolgt sein<br />

müssen.<br />

Erfolglos machen die Beklagten geltend, dass die Aufklärung erst am 3. 07.1991 geboten gewesen sei. Wie eingangs<br />

dargelegt, nimmt das Berufungsgericht an, dass die Aufklärung bereits am 24. 06.1991 erfolgen mußte, bevor die<br />

Entscheidung für ein "zunächst expektatives Vorgehen" getroffen wurde. Das erweist sich unter den Umständen des<br />

Streitfalls als zutreffend und entspricht der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats. Hiernach muss die<br />

Aufklärung so rechtzeitig erfolgen, dass der Patient, hier die Mutter der Klägerin, durch hinreichende Abwägung der für<br />

und gegen die Behandlungsalternativen sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein<br />

Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahren kann (vgl. Senatsurteile vom 23. 03.2003 VI ZR 131/02 VersR 2003, 1441, 1443; vom 17. 03.1998 VI<br />

ZR 74/97 VersR 1998, 766, 767; vom 4. 04.1995 VI ZR 95/94 VersR 1995, 1055, 1056 f.; vom 14. 06.1994 VI ZR 178/93 VersR 1994, 1235, 1236; vom 7. 04.1992 VI ZR 192/91 VersR 1992, 960 f.). 5. Im<br />

Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen kommt es auf die weiteren Rügen der Revision und insbesondere auf das<br />

Vorliegen eines ursächlichen Behandlungsfehlers nicht mehr an. Schon wegen des oben dargestellten<br />

Aufklärungsfehlers haftet nämlich der Beklagte zu 2) hinsichtlich des geltend gemachten Schmerzensgeldanspruchs<br />

dem Grunde nach und haften beide Beklagten hinsichtlich des Feststellungsanspruchs als Gesamtschuldner für den<br />

Schaden der Klägerin. III. Bei dieser Sachlage kann der erkennende Senat über den Grund des<br />

Schmerzensgeldanspruchs und über den Feststellungsantrag entscheiden. Eine abschließende Entscheidung über die<br />

Höhe des Schmerzensgeldes kommt hingegen nicht in Betracht, weil das Berufungsgericht – aus seiner Sicht<br />

folgerichtig – keine Feststellungen zur Höhe und insbesondere zur Anschlussberufung der Klägerin getroffen hat.<br />

Insoweit ist die Sache daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.<br />

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Müller Greiner WellnerDiederichsen Stöhr<br />

Thöns BSG Az. B 6 KA 14/03 R vom 8.9.2004<br />

1. Veranlassen Vertragsärzte nach von ihnen in ihrer vertragsärztlichen Praxis durchgeführten Operationen<br />

ihre Patienten, einen stationären Aufenthalt in einer Klinik zu nehmen, sind die Operationen nicht der<br />

ambulanten vertragsärztlichen Versorgung zuzurechnen.<br />

2. Dem Vertragsarzt steht für Leistungen, die er nicht gemäß den Bestimmungen des Vertragsarztrechts<br />

erbracht hat, auch kein Vergütungsanspruch auf bereicherungsrechtlicher Grundlage zu (Fortführung der ständigen<br />

Rechtsprechung des BSG; Abgrenzung zu BSG vom 4.3.2004 - B 3 KR 4/03 R = BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 39 Nr. 1). Tatbestand<br />

1 Die Beteiligten streiten über die Berichtigung von Honoraranforderungen.<br />

2 Die Kläger sind als Orthopäden zur vertragsärztlichen Versorgung in P. zugelassen und in Gemeinschaftspraxis tätig.<br />

Sie führen in großer Zahl orthopädische Operationen wie arthroskopische und Kreuzbandoperationen durch. Sie<br />

operieren in den von ihnen angemieteten Operationsräumen einer orthopädische Privatklinik, die sich in dem<br />

Stockwerk über der Praxis der Kläger befindet. Der Kläger zu 1. ist Mehrheitseigner der GmbH, die die Privatklinik<br />

betreibt. Diese verfügt über acht Betten in einer Wachstation und über 20 Betten auf der Normalstation. Eine ärztliche<br />

Betreuung ist durchgängig sichergestellt.<br />

3 In für die Patienten bestimmten Merkblättern zu verschiedenen Operationen wie Kreuzbandplastiken und<br />

Schulteroperationen empfahlen die Kläger den Aufenthalt in der Privatklinik nach der Operation. In den Merkblättern<br />

wurde darauf hingewiesen, dass keine Verträge mit den gesetzlichen Krankenkassen bestünden und dass die Kosten<br />

der Leistungen, die von der Privatklinik in Anspruch genommen<br />

würden, von den Patienten selbst getragen werden müssten. Im Quartal I/1998 betrug der allgemeine Tagessatz im<br />

DreiBettZimmer 395,00 DM.<br />

4 Nachdem Krankenkassen die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) auf die Praxis der Kläger hingewiesen<br />

hatten, Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen im Anschluss an ambulant durchgeführte Operationen in der<br />

Privatklinik aufzunehmen, setzte die Beklagte mit Bescheid vom 15. 07.1998 von den Honoraranforderungen der<br />

Kläger für das Quartal I/1998 die von diesen erbrachten Operationsleistungen ab, da es sich nicht um ambulante<br />

Operationen, sondern um stationäre Behandlungen gehandelt habe. Mit ihrem Widerspruch machten die Kläger<br />

geltend, die Patienten seien auf ihren eigenen Wunsch in der Privatklinik untergebracht worden. In keinem Fall habe<br />

eine medizinische Notwendigkeit für einen stationären Aufenthalt bestanden. Mit Widerspruchsbescheid vom 18.<br />

08.1999 änderte die Beklagte den Bescheid vom 15. 07.1998 und hob die Honorarberichtigung für diejenigen<br />

Leistungen auf, die die Kläger bei Patienten erbracht hatten, die nach ihrer ambulanten Operation am selben Tag nach<br />

Hause entlassen worden waren. Den weitergehenden Widerspruch wies die Beklagte zurück (verbleibende Honorarkürzung von 439.013<br />

DM).<br />

5 Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 1. 03.2000). Die Kläger hätten keinen Vergütungsanspruch für die<br />

streitigen Leistungen, da es sich bei diesen nicht um ambulante Behandlungen gehandelt habe. Solche lägen nur dann<br />

vor, wenn der Patient behandelt werde, ohne dass er Unterkunft und Verpflegung erhalte, insbesondere also, wenn er<br />

nach der Operation und der Anästhesie wieder nach Hause entlassen werde.<br />

6 Im Urteil vom 4. 12.2002, mit dem das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen hat, ist zur Begründung<br />

ausgeführt, die Beklagte habe die Honoraranforderungen der Kläger zu Recht berichtigt. Die in den streitigen Fällen<br />

gegenüber den Patienten erbrachten Leistungen könnten nicht mehr der ambulanten Versorgung zugerechnet werden.<br />

Es handele sich vielmehr um stationäre Leistungen. Diese seien, wie sich aus verschiedenen Vorschriften ergebe,<br />

dadurch gekennzeichnet, dass den Patienten neben der medizinischen Versorgung Unterkunft und Verpflegung<br />

gewährt würden. Kein geeignetes Kriterium für die Abgrenzung von ambulanter zu stationärer Behandlung sei es, ob<br />

eine stationäre Aufnahme aus medizinischer Sicht erforderlich sei. Auch nicht notwendige stationäre Behandlungen<br />

blieben stationäre Behandlungen. Der vom Patienten mit der Klinik geschlossene Behandlungsvertrag über einen<br />

"stationären Aufenthalt" und gerade nicht über einen "normalen Hotelaufenthalt" belege, dass hier stationäre<br />

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Leistungen erbracht worden seien. Es habe für die frisch operierten Patienten auch Sinn gemacht, im Anschluss an die<br />

Operation in der Klinik zu übernachten,<br />

um beim Auftreten von Komplikationen deren medizinischen Apparat in Anspruch nehmen zu können. Die Preise für<br />

eine Übernachtung im DreiBettZimmer von knapp 400 DM bzw. von 520 DM für ein Einzelzimmer sprächen ebenfalls<br />

dagegen, dass die Patienten nur übernachten wollten. Deren Höhe sei nur gerechtfertigt, wenn mit ihnen eine<br />

pflegerische und medizinische Betreuung mit abgegolten sei. Demgegenüber greife der von den Klägern erhobene<br />

Einwand, die Übernachtung in der Klinik sei ohne medizinische Indikation auf eigenen Wunsch der Patienten erfolgt,<br />

nicht durch. Zum einen hätten sie gegenüber den Patienten den Eindruck erweckt, die Übernachtung in der Klinik sei<br />

medizinisch sinnvoll. In den von ihnen herausgegebenen Merkblättern werde für den Regelfall empfohlen, nach der<br />

ambulanten Operation für ein bis drei Tage in der Klinik zu verbleiben. Dies vermittle den Eindruck, ein Patient handele<br />

medizinisch unvernünftig, wenn er nach der Operation nicht in der Klinik verbleibe. Darüber hinaus habe der Einwand<br />

der Kläger, die Aufenthalte in der Klinik seien medizinisch nicht notwendig gewesen, nicht bestätigt werden können.<br />

Entgegen der Aufforderung durch das Gericht hätten sie es unterlassen, in 50 Behandlungsfällen die OPBerichte<br />

vorzulegen, die die Beklagte exemplarisch auf die medizinische Notwendigkeit hätte überprüfen sollen. Damit sei davon<br />

auszugehen, dass die betroffenen Patienten in den streitigen Fällen im Anschluss an die durchgeführten Operationen<br />

in der Klinik stationär aufgenommen worden seien.<br />

Mit ihrer Revision rügen die Kläger eine Verletzung materiellen Rechts. Das LSG habe verkannt, dass der Vertragsarzt<br />

mit Inanspruchnahme seiner Leistung durch den Patienten einen Vergütungsanspruch erwerbe, sofern er eine nach<br />

dem Leistungsverzeichnis abrechnungsfähige Leistung erbracht habe. Das sei bei ihnen - den Klägern - mit der<br />

Durchführung der ambulanten Operationen der Fall gewesen. Daran habe sich nichts dadurch geändert, dass<br />

bestimmte Patienten im Anschluss daran in der Klinik übernachtet hätten. Es habe den Patienten völlig frei gestanden,<br />

nach der Abschlussuntersuchung nach Durchführung der ambulanten Operation sich zB nach Hause zu begeben, sich<br />

einer professionellen häuslichen Krankenpflege zu bedienen, sich in einem Hotel betreuen zu lassen oder als<br />

Selbstzahler in einer Privatklinik zu übernachten. Eine ambulante Operation verliere selbst dann nicht ihren Charakter<br />

als ambulant erbrachte Leistung, wenn von vornherein wegen der Art der Erkrankung, dem Zustand des Patienten und<br />

der Art der Operation mit der Notwendigkeit einer stationären Behandlung zu rechnen sei und der Patient deshalb am<br />

selben Tage wegen der selben Erkrankung in stationäre Krankenhausbehandlung aufgenommen werden müsse. An<br />

dem Charakter der von ihnen durchgeführten ambulanten Operation als ambulante Leistungen ändere sich auch nichts<br />

für den Fall, dass es sich bei den Empfehlungen über die Vorteile einer Übernachtung in der Privatklinik um fehlerhafte<br />

Maßnahmen gehandelt habe. Schließlich sei die Schlussfolgerung des LSG nicht zu halten, es habe sich nicht<br />

erwiesen, dass die Aufenthalte in der Privatklinik nicht medizinisch<br />

notwendig gewesen seien. Dafür hatten sie, die Kläger, ohnehin nicht die Beweislast. Im Übrigen seien sie auf Grund<br />

ihrer Verschwiegenheitsverpflichtung weder berechtigt noch verpflichtet gewesen, die OPBerichte vorzulegen.<br />

8 Die Kläger beantragen sinngemäß,<br />

9 die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 4. 12.2002 und des Sozialgerichts Karlsruhe vom 1.<br />

03.2000 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15. 07.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.<br />

08.1999 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Leistungen zu vergüten, die sie - die Kläger - im Quartal<br />

I/1998 gegenüber denjenigen Patienten erbracht haben, die in der Liste Nr. 2 unter Nr. 1 bis 275 aufgeführt sind.<br />

10 Die Beklagte beantragt,<br />

11 die Revision zurückzuweisen.<br />

12 Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Aus den vom LSG festgestellten Tatsachen ergebe sich, dass die<br />

Kläger die Patienten in den streitigen Fällen nach der Operation stationär aufgenommen hätten. Damit entfalle ein<br />

Vergütungsanspruch für ambulante Operationen.<br />

13 Die übrigen Beteiligten haben sich im Verfahren zur Sache nicht geäußert.<br />

14 Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des<br />

Sozialgerichtsgesetzes ) einverstanden erklärt.<br />

Entscheidungsgründe<br />

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15 Die Revision der Kläger ist nicht begründet. Zutreffend hat das LSG entschieden, dass die Beklagte ihre<br />

Honoraranforderung für das Quartal I/1998 zu Recht berichtigt hat.<br />

16 Rechtsgrundlage für die sachlichrechnerische Richtigstellung der Honoraranforderung durch die Beklagte sind § 45<br />

Abs 2 Satz 1 BundesmantelvertragÄrzte in der seit 1. 01.1995 geltenden Fassung und § 34 Abs 4 Satz 2<br />

ErsatzkassenvertragÄrzte in der seit<br />

1. 07.1994 geltenden Fassung, die auf der Grundlage von § 83 Abs 3 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (idF des GesundheitsReformgesetzes vom 20. 12.1988, BGBl I 2477) zunächst abgeschlossen, dann auf der Grundlage des § 83 Abs 1 SGB V (idF<br />

des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21. 12.1992, BGBl I 2266) geändert wurden. Nach diesen im Wesentlichen gleichlautenden<br />

Vorschriften hat die KÄV die Aufgabe, die von den Vertragsärzten eingereichten Abrechnungen rechnerisch und<br />

gebührenordnungsmäßig zu prüfen und nötigenfalls richtig zu stellen, was auch im Wege nachgehender Richtigstellung<br />

erfolgen kann. Dabei kann die KÄV das Richtigstellungsverfahren von Amts wegen oder auf Antrag einer<br />

Krankenkasse durchführen (vgl BSGE 89, 90, 93 f = SozR 32500 § 82 Nr. 3 S 6 zum ärztlichen Bereich; ebenso zuletzt - zum zahnärztlichen Bereich - BSG Urteil vom 28. 04.2004 - B 6 KA<br />

19/03 R , zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). 17 Hiernach war die Beklagte berechtigt, die Honoraranforderung der Kläger für die von<br />

ihnen in den streitbefangenen Behandlungsfällen erbrachten Operationsleistungen sachlichrechnerisch richtig zu<br />

stellen, weil es sich nicht um ambulante Leistungen handelte. Voraussetzung für die Vergütung von Leistungen durch<br />

die beklagte KÄV ist, dass die abgerechneten Leistungen der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung zuzurechnen<br />

sind. Ist das nicht der Fall, weil eine stationäre Leistung erbracht worden ist, scheidet ein Vergütungsanspruch gegen<br />

die KÄV aus.<br />

18 Damit kommt der Abgrenzung von Leistungen, die der ambulanten Versorgung, und solchen, die der stationären<br />

zuzurechnen sind, entscheidende Bedeutung zu. Nach § 39 Abs 1 Satz 1 SGB V wird die Krankenhausbehandlung<br />

vollstationär, teilstationär, vor- und nachstationär (§ 115a SGB V) sowie ambulant (§ 115b SGB V) erbracht. Sie umfasst im Rahmen<br />

des Versorgungsauftrags des Krankenhauses alle Leistungen, die im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für<br />

die medizinische Versorgung der Versicherten im Krankenhaus notwendig sind, insbesondere ärztliche Behandlung,<br />

Krankenpflege, Versorgung mit Arznei, Heil- und Hilfsmitteln, Unterkunft und Verpflegung (Abs 1 Satz 3 aaO). Dabei dürfen die<br />

Krankenkassen gemäß § 108 SGB V Krankenhausbehandlung nur durch zugelassene Krankenhäuser (Hochschulkliniken im Sinne<br />

des Hochschulbauförderungsgesetzes bzw. Krankenhäuser, die in den Krankenhausplan eines Landes aufgenommen sind , oder Krankenhäuser, die einen Versorgungsvertrag mit den<br />

Verbänden der Krankenkassen abgeschlossen haben) erbringen. Nach den im maßgeblichen Zeitraum geltenden Richtlinien des<br />

Bundesausschusses der Ärzte und<br />

Krankenkassen über die Verordnung von Krankenhauspflege (KrankenhauspflegeRichtlinien) vom 26. 02.1982 (Beilage Nr. 32/02 zum BAnz Nr.<br />

125) setzte die Verordnung von Krankenhauspflege durch den Vertragsarzt voraus, dass nach Art und Schwere der<br />

Krankheit die medizinische Versorgung gemeinsam mit der pflegerischen Betreuung nur mit den Mitteln eines<br />

Krankenhauses möglich ist, dh die ambulante vertragsärztliche Behandlung nicht ausreicht (Nr. 1.2. aaO).<br />

19 Die Abgrenzung, ob eine ambulante oder eine stationäre Behandlung erbracht worden ist, erweist sich gerade bei<br />

Operationen als schwierig, da diese entweder ambulant, teilstationär oder stationär durchgeführt werden können. Der<br />

3. Senat des BSG hat im Urteil vom 4. 03.2004<br />

- B 3 KR 4/03 R (zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen) im Einzelnen die in Betracht kommenden Abgrenzungsgesichtspunkte<br />

aufgezeigt. Danach sind zB weder die Durchführung einer Vollnarkose, die Inanspruchnahme eines<br />

Krankenhausbettes, die "Aufnahme" in das Krankenhaus oder die zeitweise Gewährung von Unterkunft und<br />

Verpflegung aussagekräftige Abgrenzungskriterien. Eine Definition, die die bestehenden Abgrenzungsschwierigkeiten<br />

von vollstationärer, teilstationärer und ambulanter Krankenhausbehandlung weitestgehend vermeide, könne nur vom<br />

Merkmal der Aufenthaltsdauer ausgehen. Danach liege eine stationäre Behandlung vor, wenn eine physische und<br />

organisatorische Eingliederung des Patienten in das spezifische Versorgungssystem des Krankenhauses gegeben sei,<br />

die sich zeitlich über mindestens einen Tag und eine Nacht erstrecke. Ein operativer Eingriff finde demgemäß nur<br />

"ambulant" iS des § 115b SGB V statt, wenn der Patient weder die Nacht vor noch die Nacht nach dem Eingriff im<br />

Krankenhaus verbringe. Die Entscheidung zum Verbleib des Patienten über Nacht werde in der Regel zu Beginn der<br />

Behandlung vom Krankenhausarzt getroffen, könne aber im Einzelfall auch später erfolgen. So stelle sich eine<br />

Behandlung mit einem operativen Eingriff, nach dem der Patient wegen möglicher Komplikationen im nachoperativen<br />

Bereich ausnahmsweise nicht am gleichen Tag nach Hause entlassen werden könne und im Krankenhaus verbleiben<br />

müsse, als einheitliche vollstationäre Krankenhausbehandlung dar. Dementsprechend gingen auch die<br />

Vertragsparteien des Vertrages nach § 115b SGB V zutreffend davon aus, dass die Vergütung der im Katalog<br />

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aufgeführten ambulanten Operationen dann nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) bzw. der<br />

Bundespflegesatzverordnung erfolge, wenn der Patient am selben Tage in unmittelbarem Zusammenhang mit einer<br />

ambulanten Operation "stationär aufgenommen" werde (BSG aaO). 20 Diesen für den Bereich der ambulanten Operationen<br />

im Krankenhaus (§ 115b SGB V) gewonnenen Kriterien schließt sich der erkennende Senat für die generelle Abgrenzung von<br />

ambulant und stationär erbrachten Operationen an.<br />

21 Nach den aufgezeigten Maßstäben handelt es sich bei den hier streitigen Operationsleistungen der Kläger um<br />

solche, die der stationären Behandlung zuzurechnen sind. Nach den den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des<br />

LSG haben die Kläger den Patienten bei verschiedenen Operationsleistungen in Merkblättern angeraten, im Anschluss<br />

an die durchgeführte Operation einen Aufenthalt von ein bis drei Tagen in der Privatklinik zu nehmen. Damit haben die<br />

Kläger zwar keine Krankenhauspflege "verordnet", abgesehen davon, dass die Einweisung eines Patienten durch<br />

einen Vertragsarzt in ein Plan- oder gar in ein NichtPlankrankenhaus ohnehin nicht die Leistungspflicht der<br />

gesetzlichen Krankenkassen auslöst (s BSGE 82, 158, 161 = SozR 32500 § 39 Nr. 5 S 26 f; zur Leistungspflicht bei Notfallbehandlungen in nicht zugelassenen Krankenhäusern s<br />

BSGE 89, 39 = SozR 32500 § 13 Nr. 25). Sie haben aber durch ihre Vorgehensweise - das Anbieten einer Unterbringung in der Klinik<br />

und das Anraten dieser Maßnahme - die Aufenthalte in der Privatklinik veranlasst, sodass sie ihrem<br />

Verantwortungsbereich zuzurechnen sind. Dem steht auch nicht entgegen, dass ihre vertragsärztliche Praxis rechtlich<br />

von der Privatklinik getrennt ist und nur in der Person des Klägers zur 1., der Mehrheitseigner des Rechtsträgers der<br />

Privatklinik ist, eine rechtliche Verbindung besteht. Nicht zu beanstanden ist weiterhin, dass das LSG diesen Aufenthalt<br />

nicht als bloße Hotelunterkunft, sondern als stationäre Behandlung gewertet hat. Zu Recht hat das Berufungsgericht<br />

darauf hingewiesen, dass neben der vertraglichen Ausgestaltung des Aufnahmevertrages, in dem von einem<br />

stationären Aufenthalt die Rede ist, weitere Indizien für die Annahme einer stationäre Behandlung sprechen. So stand<br />

in der Klinik eine ärztliche Betreuung rund um die Uhr zur Verfügung. Auch der Preis von annähernd 400 DM für eine<br />

Übernachtung in einem DreiBettZimmer belegt, dass bei dem Aufenthalt in der Klinik die ärztliche und pflegerische<br />

Betreuung und nicht die bloße Übernachtung im Vordergrund gestanden hat.<br />

22 Das Verhalten der Kläger führt im Ergebnis dazu, dass die Vorgaben der nach dem KHG durchzuführenden<br />

staatlichen Krankenhausbedarfsplanung unterlaufen werden. Danach müssen in ausreichendem Umfang<br />

Krankenhausbetten für die stationäre Behandlung vorgehalten werden, um eine bedarfsgerechte Versorgung der<br />

Bevölkerung mit leistungsfähigen, eigenverantwortlich wirtschaftenden Krankenhäusern zu gewährleisten (§ 1 Abs 1 KHG).<br />

Die Krankenhausplanung kann insgesamt nur sachgerecht durchgeführt und ihren Zielen gerecht werden, wenn<br />

Leistungen, die typischerweise eine stationäre Behandlung erfordern, auch stationär erbracht und nicht über die<br />

Inanspruchnahme von Krankenhauspflege in nicht zugelassenen Kliniken in die ambulante Versorgung verlagert<br />

werden. Die Vorgehensweise der Kläger erschöpfte sich damit nicht in einem Verstoß gegen die Zuordnung von<br />

Leistungen zur vertragsärztlichen bzw. stationären Versorgung der Versicherten. Sie waren vielmehr dadurch, dass sie<br />

ihren Patienten im Anschluss an die Operationen eine stationäre Betreuung im selben Haus in einer<br />

Privatklinik anbieten konnten, in der Lage, auch Operationen durchzuführen, die generell nur stationärer Behandlung<br />

zugänglich waren. Damit hatten sie die Möglichkeit, unzulässigerweise ihr operatives Angebot zu erweitern und<br />

zunächst zu Lasten der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung Leistungen zu erbringen, die an sich zur stationären<br />

Versorgung gehören, auch wenn dadurch bei den Krankenkassen keine Inanspruchnahme für stationäre Aufenthalte<br />

angefallen sein sollte.<br />

Die Kläger können von der beklagten KÄV eine Vergütung der von ihnen erbrachten Operationsleistungen auch nicht<br />

aus anderen rechtlichen Gesichtspunkten, etwa auf Grund entsprechender Anwendung der Vorschriften über die<br />

Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung (§§ 812 ff, § 818 Abs 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches), beanspruchen. Dem steht<br />

entgegen, dass die Leistungen unter Verstoß gegen vertragsarztrechtliche Bestimmungen erbracht worden sind. Nach<br />

der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Vertragsarztrecht und zum Leistungsrecht der<br />

gesetzlichen Krankenversicherung haben Bestimmungen, die die Vergütung ärztlicher oder sonstiger Leistungen von<br />

der Erfüllung bestimmter formaler oder inhaltlicher Voraussetzungen abhängig machen, innerhalb dieses Systems die<br />

Funktion, zu gewährleisten, dass sich die Leistungserbringung nach den für die vertragsärztliche Versorgung geltenden<br />

gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen vollzieht. Das wird dadurch erreicht, dass dem Vertragsarzt oder dem<br />

sonstigen Leistungserbringer für Leistungen, die unter Verstoß gegen derartige Vorschriften bewirkt werden, auch dann<br />

keine Vergütung zusteht, wenn diese Leistungen im Übrigen ordnungsgemäß erbracht worden sind (zum Vertragsarztrecht: BSG<br />

Urteil vom 4. 05.1994, BSGE 74, 154, 158 = SozR 32500 § 85 Nr. 6 S 35 f, mwN aus der älteren Rechtsprechung; Urteil vom 10. 05.1995 - 6/14a RKa 3/93 - USK 95122; Urteil vom 10. 05.1995, SozR 35525 §<br />

32 Nr. 1 S 3 f; Urteil vom 21. 06.1995, BSGE 76, 153, 155 f = SozR 32500 § 95 Nr. 5 S 22 f; Urteil vom 13. 11.1996, BSGE 79, 239, 249 f = SozR 32500 § 87 Nr. 14 S 57 f; Urteil vom 18. 12.1996, BSGE 80, 1,<br />

3 f = SozR 35545 § 19 Nr. 2 S 8 f; Urteil vom 28. 01.1998 = SozR 31500 § 97 Nr. 3 S 7; Urteil vom 26. 01.2000 - B 6 KA 59/98 R - USK 200097; zum Leistungsrecht: BSG Urteil vom 28. 03.2000, BSGE 86, 66,<br />

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76 = SozR 32500 § 13 Nr. 21 S 97 f). Denn die Bestimmungen des Leistungserbringungsrechts über die Erfüllung bestimmter formaler<br />

oder inhaltlicher Voraussetzungen der Leistungserbringung könnten ihre Steuerungsfunktion nicht erfüllen, wenn der<br />

Vertragsarzt oder der mit ihm zusammenarbeitende nichtärztliche Leistungserbringer die rechtswidrig bewirkten<br />

Leistungen über einen Wertersatzanspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung im Ergebnis dennoch vergütet bekäme<br />

(so schon BSGE 74, 154, 158 = SozR 32500 § 85 Nr. 6 S 35 f). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Ihr steht das bereits angesprochene<br />

Urteil des BSG vom<br />

4. 03.2004 - B 3 KR 4/03 R - nicht entgegen. In jenem Verfahren, in<br />

dem die Krankenkasse einen Anspruch des Krankenhauses in Höhe der Kosten für eine ambulante Operation<br />

anerkannt hatte, ist ein Bereicherungsanspruch des Krankenhausträgers bejaht worden, weil lediglich die Art und Höhe<br />

der Abrechnung der Leistung, nicht aber die grundsätzliche Berechtigung zur Abrechnung streitig war. Es ging nur<br />

darum, ob die erbrachte Krankenhausleistung als stationäre Behandlung nach § 109 SGB V einzustufen und deshalb<br />

pflegesatzrechtlich zu vergüten oder als ambulante Operation nach § 115b SGB V anzusehen war.<br />

24 Nach alledem hatte die Beklagte die streitigen Operationsleistungen nicht zu vergüten.<br />

25 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und 4, § 194 SGG in der bis zum 1. 01.2002 geltenden und hier<br />

noch anzuwendenden Fassung (vgl BSG SozR 32500 § 116 Nr. 24 S 115 ff).<br />

Thöns BFH Az. V R 27/03 vom 15. 07.2004<br />

Für die Umsatzsteuerfreiheit von Schönheitsoperationen nach § 4 Nr. 14 UStG 1993 reicht es nicht aus, dass<br />

die Operationen nur von einem Arzt ausgeführt werden können, vielmehr müssen sie der medizinischen<br />

Behandlung einer Krankheit oder einer anderen Gesundheitsstörung und damit dem Schutz der menschlichen<br />

Gesundheit dienen.<br />

UStG 1993 § 4 Nr. 14 Richtlinie 77/388/EWG Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c<br />

Vorinstanz: FG Berlin vom 12. 11.2002 7 K 7264/02 (EFG 2003, 418)<br />

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Arzt für Mund, Kiefer- und Gesichtschirurgie. Im Rahmen von<br />

Privatliquidationen führte er medizinisch nicht indizierte Schönheitsoperationen gegen Entgelt durch. Umsatzsteuer<br />

wurde gegen den Kläger zunächst nicht festgesetzt. Aufgrund einer Außenprüfung gelangte der Beklagte und<br />

Revisionsbeklagte (das Finanzamt FA) zu der Auffassung, dass die medizinisch nicht indizierten Schönheitsoperationen der<br />

Umsatzsteuer zu unterwerfen seien, da sie nicht vom Regelungsbereich der Steuerbefreiung gemäß § 4 Nr. 14 des<br />

Umsatzsteuergesetzes 1993 (UStG) umfasst seien, und erließ für die Streitjahre 1996 bis 1998 entsprechende<br />

Umsatzsteuerbescheide.<br />

Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg (vgl. Entscheidungen der Finanzgerichte EFG- 2003, 418).<br />

Gegen das Urteil des Finanzgerichts (FG) wendet sich der Kläger mit der vorliegenden Revision. Er rügt in erster Linie<br />

Verletzung des § 4 Nr. 14 UStG. Der Kläger meint, die Befreiungsvorschrift erfasse die Ausübung der Heilkunde durch<br />

einen Arzt, auch wenn sie keinem therapeutischen Ziel im Sinne des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen<br />

Gemeinschaften (EuGH) vom 14. 09.2000 Rs. C384/98, D (Slg. 2000, I6795, UmsatzsteuerRundschau UR- 2000, 432) diene.<br />

Schließlich macht der Kläger geltend, dass die Finanzverwaltung selbst aus dem Urteil des EuGH in Slg. 2000, I6795,<br />

UR 2000, 432 unterschiedliche Folgerungen ziehe; im Übrigen verweist er auf ein Schreiben des Bundesministeriums<br />

der Finanzen vom 27. 05.2003 IV D 1 S 7170- 27/03, nach dem nicht zu beanstanden ist, wenn vor dem 1. 01.2003<br />

erbrachte Leistungen auf dem Gebiet der Schönheitschirurgie als steuerfrei behandelt werden, soweit durch Erlasse<br />

oder Verfügungen oder einzelne Auskünfte in den Ländern entsprechende Vertrauenstatbestände geschaffen wurden.<br />

Er meint deshalb, die Steuer sei auch aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 der Abgabenordnung (AO 1977) auf 0 DM/€<br />

herabzusetzen.<br />

Der Kläger beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Umsatzsteuer für 1996, 1997 und 1998 auf jeweils 0<br />

DM/€ festzusetzen; hilfsweise, die Umsatzsteuer gemäß § 163 AO 1977 aus Billigkeitsgründen auf 0 DM/€<br />

festzusetzen.<br />

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Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.<br />

II. Die Revision ist unbegründet. 1. Nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG sind "die Umsätze aus der Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt,<br />

Heilpraktiker, Krankengymnast, Hebamme oder aus einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit im Sinne des § 18 Abs. 1<br />

Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes und aus der Tätigkeit als klinischer Chemiker" steuerfrei. 2. Das FG hat<br />

rechtsfehlerfrei entschieden, dass diese Vorschrift richtlinienkonform restriktiv dahin auszulegen ist, dass nur<br />

Tätigkeiten zur Diagnose, Behandlung und soweit wie möglich- Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen<br />

steuerfrei sind. a) Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts, durch das Richtlinien der EG<br />

umgesetzt worden sind, ergibt sich bereits daraus, dass der nationale Gesetzgeber mit dem Erlass der nationalen<br />

Normen die Vorgaben der Richtlinie umsetzen wollte; sie folgt aber auch aus der gemeinschaftsrechtlichen<br />

Verpflichtung der Gerichte und der sonstigen Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, im Rahmen ihrer<br />

Zuständigkeiten alle zur Erreichung des durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Zieles erforderlichen Maßnahmen zu<br />

treffen (ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. z.B. Urteil vom 18. 12.1997 Rs. C129/96, InterEnvironnement Wallonie, Slg. 1997, I7411 Randnr. 40).<br />

b) § 4 Nr. 14 UStG beruht soweit für den Streitfall von Interesse- auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten<br />

Richtlinie des Rates vom 17. 05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die<br />

Umsatzsteuern 77/388/EWG Richtlinie 77/388/EWG- (so auch die Regierungsbegründung zu § 4 Nr. 14 UStG 1980).<br />

aa) Die Bestimmung des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG lautet:<br />

"(1) Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur<br />

Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung<br />

vonSteuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer: ... c) die<br />

Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden<br />

Mitgliedstaat definierten ärztlichen oder arztähnlichen Berufe erbracht werden."<br />

Diese Bestimmung ist nach der Rechtsprechung des EuGH dahin auszulegen, dass medizinische Leistungen, die nicht<br />

in der medizinischen Betreuung von Personen durch das Diagnostizieren und Behandeln einer Krankheit oder einer<br />

anderen Gesundheitsstörung bestehen, nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fallen; befreit sind nur<br />

diejenigen Leistungen, deren Zweck der Schutz der menschlichen Gesundheit ist; die befreiten Leistungen müssen der<br />

medizinischen Behandlung einer Krankheit oder einer anderen Gesundheitsstörung dienen (EuGHUrteile in Slg. 2000, I6795, UR 2000, 432;<br />

vom 6. 11.2003 Rs. C45/01, ChristophDornierStiftung für Klinische Psychologie, UR 2003, 584 Randnr. 48; vom 20. 11.2003 Rs. C212/01, Margarete Unterpertinger, UR 2004, 70; vom 20. 11.2003 Rs.<br />

C307/01, Peter d´Ambrumenil, UR 2004, 75). bb) Demnach fallen nicht unter die Steuerbefreiung nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der<br />

Richtlinie 77/388/EWG: anthropologischerbbiologische Untersuchungen im Rahmen eines Vaterschaftsprozesses (EuGH in<br />

Slg. 2000, I6795, UR 2000, 432), - die Erstellung eines Gutachtens zum Gesundheitszustand einer Person im Rahmen eines<br />

Verfahrens wegen Gewährung einer Invaliditätspension (EuGHUrteil in UR 2004, 70), das Ausstellen von ärztlichen<br />

Bescheinigungen für Zwecke eines Kriegsrentenanspruchs, - ärztliche Untersuchungen für die Erstellung von<br />

Gutachten für Haftungsfragen und die Bemessung des Schadens von Personen, die die Erhebung einer Klage wegen<br />

Körperverletzung in Erwägung ziehen, - die Erstellung von ärztlichen Gutachten im Anschluss an solche<br />

Untersuchungen sowie die Erstellung von Gutachten auf der Grundlage von Arztberichten ohne Durchführung ärztlicher<br />

Untersuchungen, - ärztliche Untersuchungen für die Erstellung von Gutachten über ärztliche Kunstfehler für Personen,<br />

die die Erhebung einer Klage in Erwägung ziehen, - die Erstellung von ärztlichen Gutachten im Anschluss an solche<br />

Untersuchungen sowie die Erstellung von Gutachten auf der Grundlage von Arztberichten ohne Durchführung ärztlicher<br />

Untersuchungen (EuGHUrteil in UR 2004, 75). cc) Dasselbe muss für eine Schönheitsoperation gelten, deren Zweck nicht der<br />

Schutz der menschlichen Gesundheit ist. Die Ansicht, dass "ärztliche" Leistungen der Schönheitschirurgen ohne<br />

Rücksicht auf ihre medizinische Indikation steuerfrei sind, ist mit der Bestimmung des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c<br />

der Richtlinie 77/388/EWG und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EuGH unvereinbar.<br />

c) Die Vorschrift des § 4 Nr. 14 UStG ist entgegen der Ansicht des Klägers einer richtlinienkonformen Auslegung<br />

zugänglich. Sie ist nicht eindeutig im Sinne des Klagebegehrens.<br />

Bereits zu § 4 Nr. 14 UStG 1967, auf den der Wortlaut des § 4 Nr. 14 UStG 1993 zurückgeht, hat der Bundesfinanzhof<br />

(BFH) entschieden, dass nicht alle vom Arzt ausgeführten Umsätze steuerfrei sind, sondern nur diejenigen, die er in<br />

Ausübung seiner heilkundlichen Tätigkeit bewirkt (BFHUrteil vom 26. 05.1977 V R 95/76, BFHE 123, 199, BStBl II 1977, 879). Wie weit die<br />

heilkundliche Tätigkeit geht, war seit jeher umstritten. Unstreitig war z.B., dass die Gutachtertätigkeit eines Arztes zur<br />

Erhaltung und Wiederherstellung der menschlichen Gesundheit eine nach § 4 Nr. 14 UStG steuerfreie "Tätigkeit als<br />

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Arzt" ist; streitig war hingegen bereits bei Einführung des § 4 Nr. 14 UStG 1967, ob hierunter auch die<br />

Gutachtertätigkeit des Arztes in Wahrnehmung anderer als gesundheitlicher Zwecke gehört (vgl. Salch, UR 1968, 298).<br />

Bis zum Ergehen des EuGHUrteils in Slg. 2000, I6795, UR 2000, 432 bejahte die wohl herrschende Meinung eine<br />

Tätigkeit als Arzt bereits dann, wenn die Gutachtertätigkeit nur durch einen Arzt erfolgen konnte (vgl. Sauer in Plückebaum/Malitzky,<br />

Umsatzsteuergesetz, 10. Aufl., Stand 03.1999, Köln/Berlin/Bonn/ München, § 4 Nr. 14 Rz. 70). Dem entspricht, dass auch die Leistungen der<br />

Schönheitschirurgen als steuerfrei behandelt wurden (so noch Oberfinanzdirektion OFD- Karlsruhe/ Stuttgart, Verfügung vom 25. 03.2002, Steuererlasse in Karteiform<br />

StEK, Umsatzsteuergesetz 1980, § 4 Ziff. 14, Nr. 81), da auch sie nur durch einen Arzt durchgeführt werden können.<br />

Die Finanzverwaltung ist von dieser weiten Auslegung der Vorschrift des § 4 Nr. 14 UStG jedoch zu Recht abgerückt,<br />

und vertritt nunmehr die Auffassung, dass ästhetischplastische Leistungen eines Chirurgen (Schönheitsoperationen)<br />

steuerpflichtig sind, wenn nicht nach den Umständen des Einzelfalls eine medizinische Indikation vorliegt (OFD<br />

München/Nürnberg, Verfügung vom 7. 04.2003, StEK, Umsatzsteuergesetz 1980, § 4 Ziff. 14, Nr. 85). Nach den Grundsätzen der zitierten Rechtsprechung des<br />

EuGH reicht es nicht aus, dass die Operationen nur von einem Arzt ausgeführt werden können, vielmehr müssen sie<br />

der medizinischen Behandlung einer Krankheit oder einer anderen Gesundheitsstörung und damit dem Schutz der<br />

menschlichen Gesundheit dienen; nur dann liegt eine ärztliche Ausübung der Heilkunde vor.<br />

3. Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG waren die streitigen Schönheitsoperationen medizinisch nicht<br />

indiziert; ihre Kosten wurden von den Sozialversicherungsträgern nicht getragen. Sie dienten nicht der medizinischen<br />

Behandlung einer Krankheit oder einer anderen Gesundheitsstörung und sind deshalb nicht nach § 4 Nr. 14 UStG<br />

steuerfrei. 4. Der Hilfsantrag des Klägers, die Umsatzsteuer gemäß § 163 AO 1977 aus Billigkeitsgründen auf 0 DM/€<br />

festzusetzen, ist unzulässig.<br />

Das FG hat in der Sache lediglich über die Anfechtungsklage gegen die Umsatzsteuerbescheide für 1996 bis 1998 vom<br />

15. 01.2002 entschieden. Soweit der Kläger bereits beim FG die Berücksichtigung von Billigkeitserwägungen begehrte,<br />

hat es die Klage als unzulässig angesehen, da weder ein Ablehnungsbescheid vorgelegen habe noch das nach § 44<br />

der Finanzgerichtsordnung (FGO) erforderliche Vorverfahren durchgeführt worden sei<br />

(S. 5 der Vorentscheidung). Einen Verfahrensmangel hat der Kläger insoweit nicht gerügt (zur Rüge eines Verfahrensmangels vgl. § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b<br />

FGO). Es ist dem Senat deshalb aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht möglich, über den Billigkeitsantrag des Klägers<br />

in der Sache zu entscheiden. Bei der Entscheidung über diesen Billigkeitsantrag kann auch die frühere Behandlung der<br />

Schönheitsoperationen durch die Finanzverwaltung eine Rolle spielen.<br />

Thöns BGH VI ZR 266/03 vom 06.07.2004<br />

Ein durch einen ärztlichen Fehler geschädigter Kassenpatient ist bei der Schadensbeseitigung nicht<br />

schon deshalb auf die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt, weil ihm<br />

grundsätzlich der Anspruch auf Heilbehandlung gegen seine Krankenkasse auch nach einem<br />

Behandlungsfehler verbleibt. Die Haftpflicht des Schädigers kann die Übernahme der Kosten einer<br />

privatärztlichen Behandlung für einen geschädigten Kassenpatienten umfassen, wenn nach den<br />

Umständen des Einzelfalls feststeht, dass das Leistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

nur unzureichende Möglichkeiten zur Schadensbeseitigung bietet oder die Inanspruchnahme der<br />

vertragsärztlichen Leistung aufgrund besonderer Umstände ausnahmsweise dem Geschädigten nicht<br />

zumutbar ist.<br />

BGB § 249 Gb; SGB X § 116 Abs.1<br />

BGH, Urteil vom 6. 07.2004 VI ZR 266/03 OLG Nürnberg<br />

LG Weiden i. d. OPf.<br />

BGB § 249 Gb; SGB X § 116 Abs.1<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 6. 07.2004 durch die<br />

Vorsitzende Richterin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und<br />

Zoll<br />

für Recht erkannt:<br />

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Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 8. 08.2003 im<br />

Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als es zum Nachteil der Klägerin erkannt hat.<br />

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Klägerin begehrt Ersatz ihres materiellen und immateriellen Schadens sowie die Feststellung der Haftung der<br />

Beklagten für materielle und immaterielle Zukunftsschäden wegen mangelhafter zahnmedizinischer Behandlung durch<br />

die Beklagte.<br />

Von 09.1997 bis 10.1998 setzte die Beklagte nach Genehmigung eines Heilund Kostenplans durch die Krankenkasse<br />

der Klägerin Zahnersatz ein, der mangelhaft war und erhebliche Schmerzen im Kieferund Gesichtsbereich sowie eine<br />

Myoarthropathie verursachte. Mehrfache Versuche der Beklagten, die Mängel zu beseitigen, blieben ohne Erfolg. Die<br />

Klägerin begab sich daraufhin in Behandlung zu dem Vertragszahnarzt Dr. G.. Dieser erstellte am 4. 11.1999 einen<br />

Heilund Kostenplan, den er bei der Krankenkasse der Klägerin allerdings nicht einreichte. Die Klägerin ließ Dr. G.<br />

zunächst mit der Sanierung beginnen, nachdem die von der Krankenkasse eingeschalteten Gutachter die<br />

Mangelhaftigkeit der zahnprothetischen Versorgung durch die Beklagte bestätigt hatten. Nachdem im vorliegenden<br />

Verfahren der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. P. ebenfalls eine komplette Erneuerung des Zahnersatzes für<br />

erforderlich hielt, stellte Dr. G. die Sanierung fertig und berechnete der Klägerin 48.207,62 DM für seine Leistungen.<br />

Die Krankenkasse der Klägerin lehnt es ab, sich an diesen Kosten zu beteiligen. Das ursprünglich von der Beklagten<br />

an die Krankenkasse der Klägerin wegen der Mangelhaftigkeit ihrer Arbeiten zurücküberwiesene Honorar zahlte die<br />

Krankenkasse wieder an die Beklagte zurück, weil ihr wegen des fehlenden Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin<br />

kein Schaden aus der Mangelhaftigkeit der Leistung erwachsen sei.<br />

Das Landgericht hat der Klage auf Schmerzensgeld und Erstattung der Kosten für die Sanierung überwiegend<br />

stattgegeben. Gegen dieses Urteil haben die Beklagte Berufung und die Klägerin Anschlussberufung eingelegt, letztere<br />

mit dem Ziel, die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines höheren Schmerzensgeldes sowie der gesamten von<br />

Dr. G. in Rechnung gestellten Behandlungskosten zu erreichen. Das Oberlandesgericht hat auf die Berufung der<br />

Beklagten das Urteil des Landgerichts dahingehend abgeändert, dass die Beklagte neben dem vom Landgericht<br />

zuerkannten Schmerzensgeld in Höhe von 25.000 DM (12.782,29 €) lediglich zur Zahlung von Mehrkosten in Höhe von<br />

5.613,27 € verpflichtet sei. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung der Beklagten<br />

sowie die Anschlussberufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht für den materiellen<br />

Schadensersatzanspruch zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Anspruch auf Ersatz der vollen<br />

Behandlungskosten weiter. Entscheidungsgründe:<br />

I. Das Berufungsgericht führt zum materiellen Schadensersatzanspruch aus, dass die Klägerin zwar auch als<br />

Kassenpatientin gegenüber dem Arzt zivilrechtliche Schadensersatzansprüche geltend machen könne, weil die von der<br />

Beklagten erbrachte zahnprothetische Leistung in einem Umfang mangelhaft gewesen sei, der die komplette<br />

Neuversorgung notwendig gemacht habe. Doch könne sie als Kassenpatientin die Schadensabwicklung nur innerhalb<br />

des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung durchführen. Die Klägerin habe nach Erstellung eines neuen<br />

Heilund Kostenplanes gemäß § 27 SGB V weiterhin gegen ihre Krankenkasse Anspruch auf Krankenbehandlung.<br />

Dadurch sei ihre Versorgung ausreichend gewährleistet. Es stelle einen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht<br />

dar, wenn der Kassenpatient nicht die Möglichkeit der für ihn kostenlosen Sanierung des vom Vorbehandler, hier von<br />

der Beklagten, hinterlassenen Beschwerdebildes in Anspruch nehme und die Sanierung auf privatärztlicher Basis<br />

vornehmen lasse. Die Klägerin habe deshalb nur Anspruch auf Erstattung des Betrags, den sie an die Beklagte als<br />

Eigenanteil bezahlt habe, sowie derjenigen Kosten, die vertragszahnärztlich nicht abrechen<br />

bare Leistungen beträfen, aber zur Behebung des Schadens erforderlich gewesen seien.<br />

Die Klägerin könne nicht Ersatz der Kosten für die von Dr. G. eingesetzten Brücken verlangen, da nach § 30 Abs. 1<br />

SGB V die Versorgung bei großen Brücken auf den Ersatz von bis zu vier fehlenden Zähnen je Kiefer und bis zu drei<br />

fehlenden Zähnen je Seitenzahngebiet begrenzt sei. Es komme eine Einstückmodellgußprothese in Betracht, auch<br />

wenn sich aus dem Schreiben der Krankenkasse vom 13. 11.2001 ergebe, dass bereits die Beklagte festsitzende<br />

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Brücken eingesetzt habe. Die Kasse sei zwar an ihre damals erteilte Genehmigung des Heilund Kostenplans gebunden<br />

gewesen und hätte deshalb auch im Rahmen der Sanierung festsitzende Brücken bezahlen müssen, obwohl die<br />

Voraussetzungen für deren Bewilligung nach dem Vortrag der Klägerin nicht vorgelegen hätten. Doch hätte die<br />

Klägerin bei korrektem Vorgehen von der Beklagten als vertragszahnärztliche Leistung nur eine Vollprothese<br />

beanspruchen können. Für eine festsitzende Brückenkonstruktion hätte sie selbst aufkommen müssen. Sie könne<br />

deshalb nicht als Schadensersatz mehr verlangen. Die Beklagte habe auch nicht die Kosten für die Überkronung des<br />

Zahnes<br />

4.3 zu ersetzen. Denn entweder habe sie die Überkronung fehlerhaft unterlassen, dann wären die Kosten in Höhe der<br />

Eigenbeteiligung bei ordnungsgemäßer Behandlung sowieso für die Klägerin angefallen, oder die Überkronung sei<br />

infolge der durch die Mängel in der prothetischen Versorgung bei der Klägerin aufgetretenen Myoarthropathie<br />

erforderlich geworden, dann seien sie aber durch deren Behandlungskosten, die zu erstatten seien, abgedeckt. II. Das<br />

Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. 1. Die Revision wendet sich nicht gegen den ihr<br />

günstigen Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, der Klägerin stehe der geltend gemachte Schadensersatzanspruch<br />

dem Grunde nach zu, weil die von der Beklagten vorgenommene zahnprothetische Versorgung der Klägerin derart<br />

mangelhaft sei, dass nur eine vollständige Neuversorgung der Klägerin geeignet sei, die Mangelhaftigkeit der Leistung<br />

der Beklagten zu beseitigen. Sie hält jedoch den zuerkannten Schadensersatzanspruch für zu niedrig, weil der<br />

Geschädigte nicht verpflichtet sei, eine fehlerhafte vertragszahnärztliche Versorgung als Kassenpatient sanieren zu<br />

lassen. In dieser Allgemeinheit ist dies allerdings nicht zutreffend. 2. Nach § 249 Satz 2 BGB a.F. hat der Schädiger bei<br />

Verletzung eines Menschen den "daraus entstehenden" Schaden zu ersetzen. Er hat dem Geschädigten die Mittel zur<br />

Verfügung zu stellen, mit denen dieser sich in die Lage versetzen kann, in der er sich ohne das schädigende Ereignis<br />

befinden würde. Der Zweck des Schadensersatzes erschöpft sich allerdings im Ausgleich des in haftungsrechtlich<br />

erheblicher Weise verursachten Schadens; eine darüber hinausgehende Besserstellung des Geschädigten soll er nicht<br />

bewirken. Deshalb hat nach einem allgemeinen Grundsatz des Schadensrechts der Schädiger den Verletzten in den<br />

Verhältnissen zu entschädigen, in denen er ihn betroffen hat (vgl. Senatsurteil vom 18. 10.1988 VI ZR 223/87 VersR 1989, 54, 56). Nach diesen<br />

Grundsätzen kann nicht unberücksichtigt bleiben, ob der Geschädigte Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

ist. Allerdings ist ein geschädigter Kassenpatient bei der Schadensbeseitigung nicht schon deshalb auf die Leistungen<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt, weil ihm der Anspruch auf Heilbehandlung gegen seine<br />

Krankenkasse auch nach einem Behandlungsfehler verbleibt (vgl. §§ 69, 76 Abs. 4, 66 SGB V; s. auch BGH, Urteil vom 19. 12.1990 IV ZR 33/90 VersR 1991, 478,<br />

479; BSGE 55, 144, 148 f.; BSG, Urteil vom 8. 03.1995 1 RK 7/94 SozR 3 2500 § 30 Nr. 5, S. 13; Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, S. 182 ff.). Bietet jedoch das Leistungssystem<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung dem Geschädigten nur unzureichende Möglichkeiten zur Schadensbeseitigung<br />

oder ist die Inanspruchnahme dem Geschädigten aufgrund besonderer Umstände ausnahmsweise nicht zuzumuten,<br />

kann die Haftpflicht des Schädigers auch die Übernahme der Kosten einer privatärztlichen Behandlung umfassen.<br />

Von diesen Grundsätzen geht auch das Berufungsgericht aus, hat sie jedoch nicht ohne Rechtsfehler auf den Streitfall<br />

angewendet.<br />

a) Fraglich ist in einem solchen Fall schon die Aktivlegitimation des Geschädigten, soweit der Schadensersatzanspruch<br />

nach § 116 Abs. 1 SGB X im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses auf den Sozialversicherungsträger übergeht,<br />

weil seine Inanspruchnahme in Betracht kommt (vgl. Senatsurteile vom 11. 11.1969 VI ZR 91/68 VersR 1970, 129, 130 und vom<br />

20. 03.1973 VI ZR 19/72 VersR 1973, 566 f., m.w.N.). Im vorliegenden Fall begegnet die Annahme der Aktivlegitimation der Klägerin jedoch<br />

keinen rechtlichen Bedenken und wird von den Parteien auch nicht in Zweifel gezogen, weil davon auszugehen ist,<br />

dass die Krankenkasse sich nicht an den Kosten der Schadensbehebung beteiligt. Sie hat in den Schreiben vom 13.<br />

11.2001 und vom 22. 02.2002 an den damaligen Prozeßbevollmächtigten der Klägerin eine Kostenübernahme<br />

ausdrücklich abgelehnt und das von ihr ursprünglich zurückgeforderte Honorar der Beklagten wieder an diese<br />

überwiesen. Jedenfalls unter den Umständen des Streitfalls war die Klägerin auch nicht verpflichtet, gegen die<br />

Leistungsverweigerung der Krankenkasse rechtlich vorzugehen und die Behandlung bis zur Klärung der Ansprüche<br />

gegen die Krankenkasse zurückzustellen. Die Klägerin litt nach den nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen im<br />

Berufungsurteil unter zermürbenden Schmerzen, weswegen ihr ein Aufschieben der zahnärztlichen Behandlung bis zur<br />

rechtskräftigen Klärung ihrer Ansprüche nicht zumutbar war.<br />

b) Zwar ist die Auffassung des Berufungsgerichts im Ansatz zutreffend, dass ein Kassenpatient grundsätzlich keinen<br />

Anspruch auf Kostenerstattung einer ärztlichen Behandlung als Privatpatient durch den Schädiger hat (vgl. OLG Düsseldorf, VersR<br />

1991, 884). Doch läßt das Berufungsgericht außer acht, dass die Umstände des Einzelfalles die Inanspruchnahme<br />

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privatärztlicher Leistungen rechtfertigen können und deshalb bei der Frage, welche Aufwendungen für eine gebotene<br />

Heilbehandlung erforderlich sind, berücksichtigt werden müssen (vgl. Senatsurteile vom 23. 09.1969 VI ZR 69/68 VersR 1969, 1040 und vom 11. 11.1969 VI ZR<br />

91/68 aaO; BGH, Urteil vom 16. 12.1963 III ZR 219/62 VersR 1964, 257 m.w.N.; OLG München, VersR 1981, 169, 170; OLG Oldenburg, VersR 1984, 765; OLG Hamm, NJW 1995, 786, 787; OLG Hamm, NZV<br />

2002, 370, 371; OLG Karlsruhe, OLGReport 2002, 20; Geigel/<br />

Rixecker, Der Haftpflichtprozeß 24. Aufl., Kap. 2 Rdn. 44). Zu Recht rügt die Revision in diesem Zusammenhang eine unzureichende<br />

Sachverhaltsaufklärung durch das Berufungsgericht. Dieses hätte klären müssen, ob die durch Vernehmung des<br />

Zeugen Dr. G. und Einholung eines Sachverständigengutachtens unter Beweis gestellte Behauptung der Klägerin<br />

zutrifft, dass durch eine vertragszahnärztliche Behandlung der Schaden nicht annähernd hätte behoben werden<br />

können.<br />

c) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung war die Klägerin aufgrund ihrer Pflicht zur Schadensminderung<br />

unter den besonderen Umständen des Streitfalls nicht gehalten, sich zu einem anderen Vertragszahnarzt zu begeben,<br />

nachdem Dr. G. im Hinblick auf die außerordentliche Komplexität und Schwierigkeit der notwendigen Behandlung nicht<br />

bereit gewesen ist, zu den Sätzen einer kassenärztlichen Vergütung tätig zu werden. Schon nach der für die<br />

Schadensbeseitigung gegebenen Dispositionsfreiheit ist die Wahl des Arztes durch den Geschädigten frei, da das<br />

persönliche Vertrauensverhältnis zu demjenigen, der den Schaden beseitigen soll, ein gewichtiges Auswahlkriterium<br />

ist. Dazu litt die Klägerin wegen der mangelhaften Behandlung durch die Beklagte unter erheblichen Schmerzen.<br />

Diesen Schmerzzustand so lange aufrechtzuerhalten, bis ein Vertragszahnarzt gefunden worden wäre, der das<br />

Vertrauen der Klägerin hätte genießen können und bereit gewesen wäre, zu den kassenärztlichen Bedingungen die<br />

Behandlung zu erbringen, war der Klägerin nicht zumutbar.<br />

d) Schließlich begegnen die Ausführungen im Berufungsurteil durchgreifenden rechtlichen Bedenken, mit denen das<br />

Berufungsgericht der Klägerin die Erstattung der Kosten für die den Zahn 1.7 betreffende festsitzende Brücke versagt.<br />

Das Berufungsgericht geht von der Revision nicht beanstandet davon aus, dass die Krankenkasse eine festsitzende<br />

Brücke für die Behandlung durch die Beklagte genehmigt hatte. Es kann dahinstehen, ob diese Genehmigung die<br />

Krankenkasse auch für die Folgebehandlung gebunden hätte und ob der Zahn<br />

1.7 bei der Behandlung durch die Beklagte bereits fehlte. Die Klägerin hat nach dem Grundsatz der Naturalrestitution<br />

jedenfalls einen Anspruch darauf, so gestellt zu werden, wie sie ohne das schädigende Ereignis stünde. Ohne die<br />

mangelhafte Arbeit der Beklagten hätte die Klägerin eine festsitzende Brückenkonstruktion gegen Zahlung ihres<br />

Eigenanteils schon im Rahmen der ersten Behandlung erhalten. Aufgrund der mangelhaften Behandlung durch die<br />

Beklagte hat sich diese Rechtsposition der Klägerin nicht verschlechtert. Das Berufungsgericht durfte deshalb der<br />

Klägerin den Anspruch auf Kostenerstattung für die von Dr. G. eingegliederte Brücke nicht versagen und sie nicht auf<br />

den Anspruch gegen die Krankenkasse auf eine Einstückmodellgußprothese verweisen. III. Nach alledem war das<br />

Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht<br />

zurückzuverweisen. Dabei wird die Klägerin Gelegenheit haben, vorzutragen, weshalb die Überkronung mit Stiftaufbau<br />

des Zahnes 4.3 Folge der fehlerhaften Behandlung durch die Beklagte und zur Schadensbehebung erforderlich war.<br />

Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll<br />

Thöns BSG Az. B 3 KR 4/03 R vom 04.03.2004<br />

1. Zur Abgrenzung von vollstationärer, teilstationärer und ambulanter Behandlung im Krankenhaus.<br />

2. Die bereicherungsrechtliche Forderung eines Krankenhauses gegen eine Krankenkasse wegen<br />

Durchführung einer ambulanten Operation unterliegt dem Anspruch auf Prozesszinsen. Tatbestand<br />

1 Am 14. 10.1998 wurden einer damals 14 Jahre alten Versicherten der beklagten Krankenkasse (KK) in der vom<br />

klagenden Krankenhausträger betriebenen Klinik für Mund, Kiefer- und Gesichtschirurgie in Kiel die retinierten und<br />

verlagerten Weisheitszähne operativ entfernt. Nach komplikationslosem Verlauf wurde die Versicherte noch am selben<br />

Tag wieder entlassen. Der Klinikaufenthalt dauerte von 7.00 bis 17.00 Uhr. Für die Behandlung stellte der Kläger der<br />

Beklagten den Fachabteilungspflegesatz in Höhe von 912,20 DM und den Basispflegesatz für eine vollstationäre<br />

Behandlung in Höhe von 165,55 DM, insgesamt also 1.077,75 DM (jetzt: 551,04 EUR), in Rechnung. Die Beklagte erklärte sich<br />

aber nur bereit, die Behandlung als ambulante Operation zu vergüten und bat um eine entsprechend spezifizierte neue<br />

Rechnung. Der Kläger lehnte dies ab und machte geltend, die vier Weisheitszähne würden in solchen Fällen zwar<br />

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egelmäßig durch niedergelassene Kieferchirurgen in zwei ambulanten Behandlungen unter Lokalanästhesie entfernt.<br />

Wegen großer Ängstlichkeit der Versicherten sei aber eine ambulante Behandlung in Lokalanästhesie nicht möglich<br />

gewesen. Der Versicherten seien daher nach Prämedikation in Dämmerschlafnarkose mit zusätzlicher örtlicher<br />

Betäubung die vier Weisheitszähne entfernt worden. Die postoperative Intensivüberwachung auf der Station habe<br />

sechs Stunden gedauert. Dies stelle einen stationären Eingriff mit Gewährung von Krankenhauspflege,<br />

Intensivüberwachung und ärztlicher Behandlung dar.<br />

Die Beklagte hielt demgegenüber an ihrer Auffassung fest, dass nur eine<br />

ambulante Operation stattgefunden habe. Eine stationäre Behandlung erfordere einen Tag- und Nachtaufenthalt des<br />

Patienten.<br />

3 Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 24. 05.2002 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die<br />

Berufung des Klägers mit Urteil vom<br />

10. 12.2002 zurückgewiesen. Beide Gerichte haben die Durchführung einer stationären Behandlung verneint, weil die<br />

Patientin nicht über Nacht in der Klinik verblieben sei. Es handele sich - so das LSG - um eine Operation, die in den<br />

Katalog der nach § 115b Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) von Krankenhäusern ambulant durchführbaren<br />

Operationen aufgenommen worden sei, und deshalb bestehe eine rechtliche und tatsächliche Vermutung dafür, dass<br />

der Eingriff habe ambulant erbracht werden können und auch ambulant erbracht worden sei. Der Kläger habe nicht<br />

dargetan, dass eine ambulante Behandlung nicht hinreichend gewesen sei. Die Einstufung als zumindest teilstationäre<br />

Behandlung komme nicht in Betracht, weil es am Einsatz spezifischer Mittel des Krankenhauses fehle, über die eine<br />

Praxis eines niedergelassenen Arztes, die für ambulante Operationen dieser Art eingerichtet sei, nicht verfüge. Die<br />

Vergütung der Behandlung als ambulante Operation scheitere - so das SG - daran, dass der Kläger die nach § 115b<br />

Abs 2 Satz 2 SGB V notwendige Mitteilung über die Teilnahme am Programm für das ambulante Operieren im<br />

Krankenhaus bisher nicht abgegeben habe (S 13 des SGUrteils). 4 Der Kläger rügt mit der Revision eine Verletzung des § 39<br />

Abs 1 SGB V sowie des § 1 Abs 1 Bundespflegesatzverordnung (BPflV). Er macht geltend, es komme nicht darauf an, ob<br />

ein solcher Eingriff auch ambulant in der Praxis eines niedergelassenen Arztes hätte durchgeführt werden können. Für<br />

eine stationäre Behandlung sei entscheidend, dass der Patient in das Versorgungssystem des Krankenhauses<br />

eingegliedert werde. Dies geschehe mit der Entscheidung des Arztes zur stationären Aufnahme, wie sie hier (mit Zuweisung<br />

eines Bettes in der Station III) vorgelegen habe.<br />

5 Im Revisionsverfahren hat die Beklagte anerkannt, für die Behandlung entsprechend einer vertraglichen Vergütung<br />

für eine ambulante Operation einen Betrag von 339,16 EUR (663,32 DM) zu zahlen; der Kläger hat das Teilanerkenntnis<br />

angenommen.<br />

6 Der Kläger beantragt,<br />

7 das Urteil des SchleswigHolsteinischen LSG vom 10. 12.2002 sowie das Urteil des SG Kiel vom 24. 05.2002 zu<br />

ändern und die Beklagte zu verurteilen, weitere 211,88 EUR nebst vertraglicher Zinsen auf 551,04 EUR, hilfsweise<br />

Prozesszinsen zu zahlen.<br />

8 Die Beklagte beantragt,<br />

9 die Revision zurückzuweisen.<br />

10 Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.<br />

Entscheidungsgründe<br />

11 Die Revision des Klägers ist unbegründet, soweit die Hauptsache nicht durch das angenommene Teilanerkenntnis<br />

gemäß § 101 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erledigt worden ist, das Klagebegehren also den über den anerkannten<br />

Betrag von 339,16 EUR hinausgehenden Zahlungsanspruch betrifft. Hinsichtlich des Zinsanspruchs erweist sich die<br />

Revision für die Zeit ab Rechtshängigkeit der Klageforderung in der anerkannten Höhe als begründet.<br />

12 1. Die auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu beachtenden Sachurteilsvoraussetzungen liegen vor. 13<br />

Die Klage ist als (echte) Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG zulässig. Bei einer auf Zahlung der Behandlungskosten<br />

eines Versicherten gerichteten Klage eines Krankenhausträgers gegen eine KK geht es um einen sog Parteienstreit im<br />

Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt (BSGE 86, 166, 167 f = SozR 32500 §<br />

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112 Nr. 1; BSGE 90, 1 f = SozR 32500 § 112 Nr. 3). Dies gilt unabhängig davon, ob der Zahlungsanspruch auf eine vertragliche<br />

Rechtsgrundlage oder auf Bereichungsrecht gestützt wird. Ein Vorverfahren war mithin nicht durchzuführen, die<br />

Einhaltung einer Klagefrist nicht geboten.<br />

14 2. Die Klage ist aber unbegründet. Der Kläger ist als Rechtsnachfolger zur Geltendmachung der Forderung<br />

allerdings aktivlegitimiert. Der Zahlungsanspruch betrifft einen Behandlungsfall vom 14. 10.1998. Zu jener Zeit war<br />

noch das Land SchleswigHolstein Träger des zur ChristianAlbrechtsUniversität zu Kiel gehörenden Klinikums und der<br />

darin integrierten Klinik für Mund, Kiefer- und Gesichtschirurgie, in der die Behandlung stattgefunden hat. Durch das<br />

"Gesetz zur Neuordnung der Universitätsklinika (Änderung des Hochschulgesetzes)" vom 28. 10.1998 (GVOBl SchlH S 313) wurden die<br />

Universitätskliniken in Kiel und Lübeck zu eigenständigen rechtsfähigen Anstalten des öffentlichen Rechts erhoben (§ 135<br />

Abs 1 Hochschulgesetz in der ab 1. 01.1999 geltenden Fassung). Die bis dahin dem Land SchleswigHolstein zustehenden Rechte und<br />

Pflichten als Krankenhausträger wurden zum 1. 01.1999 an die Universitätskliniken in ihrer Rechtsform als rechtsfähige<br />

Anstalten des öffentlichen Rechts abgetreten bzw. von diesen übernommen (§ 135 Abs 3 und 4 HSG). Die Klage vom 20. 02.2001<br />

ist deshalb zunächst durch das Universitätsklinikum Kiel als Rechtsträger erhoben worden. Durch das "Gesetz zur<br />

Errichtung desUniversitätsklinikums SchleswigHolstein und zur Änderung des Hochschulgesetzes" vom 12. 12.2002<br />

(GVOBl SchlH S 240) sind die als rechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts errichteten Kliniken an der<br />

ChristianAlbrechtsUniversität zu Kiel und an der Universität zu Lübeck aufgehoben worden (Art 1 Abs 2 Satz 2). Zugleich ist der<br />

Kläger als rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts errichtet worden; er besteht aus den beiden Universitätskliniken<br />

(Art 1 Abs 1) und trat zum 1. 01.2003 in sämtliche Rechte und Pflichten der beiden aufgehobenen Anstalten des öffentlichen<br />

Rechts ein (Art 1 Abs 2 Satz 2; vgl auch § 118 HSG). Der Kläger ist danach auch prozessual als Rechtsnachfolger in das laufende<br />

Verfahren eingetreten.<br />

15 3. Dem Kläger steht ein übergegangener vertraglicher Vergütungsanspruch für die Behandlung der Versicherten am<br />

14. 10.1998 nicht zu, weil eine stationäre oder teilstationäre Behandlung nicht stattgefunden hat. Auf die Frage, ob eine<br />

stationäre Behandlung erforderlich war, kommt es danach nicht an. 16 a) Rechtsgrundlage des Vergütungsanspruchs<br />

eines zugelassenen Krankenhauses für eine stationäre Behandlung ist § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V. Die Zulassung der<br />

vom Kläger betriebenen Hochschulklinik zur stationären Behandlung von Versicherten der gesetzlichen KKn folgt aus §<br />

108 Nr. 1 SGB<br />

V. Wie der Senat bereits mehrfach ausgeführt hat, entsteht die Zahlungsverpflichtung der gesetzlichen KK unabhängig<br />

von einer Kostenzusage unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten (BSGE 86, 166, 168 = SozR 32500 §<br />

112 Nr. 1; BSGE 90, 1, 2 = SozR 32500 § 112 Nr. 3). Der Behandlungspflicht der zugelassenen Krankenhäuser iS des § 109 Abs 4 Satz 2<br />

SGB V steht ein Vergütungsanspruch gegenüber, der auf der Grundlage der gesetzlichen Ermächtigung in den §§ 16,<br />

17 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) nach Maßgabe der - vorliegend in der bis zum 31. 12.2003 geltenden<br />

Fassung anzuwendenden - BPflV in der Pflegesatzvereinbarung zwischen KK und Krankenhausträgern festgelegt wird<br />

(vgl Hencke in Peters, Handbuch der Krankenversicherung, SGB V, Bd 3, Stand 1. 10.2001, § 109 RdNr 10). 17 Der Kläger kann die abgerechneten tagesgleichen<br />

Pflegesätze (Abteilungspflegesatz Mund, Kiefer- und Gesichtschirurgie und Basispflegesatz) nicht beanspruchen. Grundvoraussetzung für den<br />

Vergütungsanspruch eines Krankenhauses nach Maßgabe der Vorschriften des KHG und der BPflV ist, dass eine voll-<br />

oder teilstationäre Behandlung stattgefunden hat. Denn das Pflegesatzrecht und damit die Erlöse aus den Pflegesätzen<br />

nach § 4 Nr. 2 KHG beziehen sich nur auf die stationären und teilstationären Leistungen des Krankenhauses (§ 2 Nr. 4 KHG).<br />

Damit übereinstimmend regelt auch § 1 Abs 1 BPflV, dass nur die voll- und teilstationären Leistungen der<br />

Krankenhäuser nach der BPflV vergütet werden. Liegt eine ambulante Krankenhausbehandlung vor, scheidet eine auf<br />

die Vorschriften des KHG und der BPflV gestützte Vergütung aus.<br />

18 b) Die maßgebenden Merkmale für eine stationäre und teilstationäre Behandlung gibt das Gesetz aber weder bei<br />

den Vergütungsregelungen noch bei den Regelungen über die Leistungsansprüche des Versicherten in den §§ 39 ff<br />

SGB V vor.<br />

19 Nach § 39 Abs 1 Satz 1 SGB V idF des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) vom 21. 12.1992 (BGBl I 2266) wird die<br />

Krankenhausbehandlung vollstationär, teilstationär, vor- und nachstationär (§ 115a SGB V) sowie ambulant (§ 115b SGB V)<br />

erbracht. Versicherte haben Anspruch auf vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus, wenn die<br />

Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre,<br />

vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann (§ 39<br />

Abs 1 Satz 2 SGB V). Die Krankenhausbehandlung umfasst im Rahmen des Versorgungsauftrags des Krankenhauses alle<br />

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Leistungen, die im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinische Versorgung der Versicherten im<br />

Krankenhaus notwendig sind, insbesondere ärztliche Behandlung, Krankenpflege, Versorgung mit Arznei, Heil- und<br />

Hilfsmitteln, Unterkunft und Verpflegung; die akutstationäre Behandlung umfasst auch die im Einzelfall erforderlichen<br />

und zum frühestmöglichen Zeitpunkt einsetzenden Leistungen zur Frührehabilitation (§ 39 Abs 1 Satz 3 SGB V). Eine Definition<br />

des Begriffs "stationäre Krankenhausbehandlung" findet sich damit nicht, sondern nur eine Leistungsumschreibung.<br />

20 Diese Leistungsumschreibung reichte in der Vergangenheit aus, um stationäre Leistungen von ambulanten<br />

Leistungen abzugrenzen, weil ambulante Operationen in der Praxis eines niedergelassenen Arztes praktisch nicht<br />

möglich waren; über die dafür erforderlichen räumlichen Voraussetzungen (Operationsstühle oder tische, sterile Räume, Ruhebetten) sowie die<br />

personellen Voraussetzungen (AnästhesieFacharzt und entsprechend geschultes Personal) verfügten typischerweise nur Krankenhäuser, in<br />

denen die Patienten regelmäßig auch über Nacht verblieben und verpflegt wurden - soweit dies zuträglich war. Das hat<br />

sich aber mit der Verbreitung des ambulanten Operierens durch niedergelassene Ärzte und die Einführung dieser<br />

Möglichkeit auch in Krankenhäusern geändert.<br />

21 Die Durchführung ambulanter Operationen im Krankenhaus ist auf der Grundlage des durch Art 1 Nr. 71 GSG<br />

eingeführten § 115b SGB V erst zum<br />

1. 01.1993 ermöglicht worden. Danach sind die Krankenhäuser zur ambulanten Erbringung der in dem Katalog gemäß<br />

Abs 1 Satz 1 Nr. 1 dieser Vorschrift genannten Operationen zugelassen, wobei es hierzu einer Mitteilung des<br />

Krankenhauses an die KKn auf Landesebene, an die Kassenärztliche Vereinigung sowie an den Zulassungsausschuss<br />

bedarf. Die Zulassung wird erst durch die Mitteilung nach § 115b Abs 2 Satz 2 SGB V 5<br />

wirksam, und zwar im Umfang der darin aufgeführten Operationen (BSG SozR 32500 § 116 Nr. 19).<br />

22 Dem in § 115b Abs 1 Nr. 1 SGB V enthaltenen Auftrag zur Vereinbarung eines Katalogs ambulant durchführbarer<br />

Operationen sind die Spitzenverbände der KKn, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Kassenärztliche<br />

Bundesvereinigung erstmals mit dem am 1. 04.1993 in Kraft getretenen Vertrag über das ambulante Operieren im<br />

Krankenhaus vom 22. 03.1993 (DÄ 1993, Heft 27, C1293) nachgekommen. In § 3 des dreiseitigen Vertrags ist bestimmt, dass der<br />

Katalog ambulant durchführbarer Operationsleistungen aus den im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) aufgeführten<br />

ambulanten Operationen und ambulanten Anästhesien (Abschnitte B VI und B VII) sowie den entsprechenden Leistungen aus den<br />

Abschnitten B IX und B X EBM in der jeweils gültigen Fassung besteht. Die Entfernung der retinierten und verlagerten<br />

Weisheitszähne ist als Katalogleistung nach § 3 des Vertrags vom 22. 03.1993 unter der Nr. 3010 der im EBM<br />

aufgeführten Leistungen erfasst; nach der Neufassung des Vertrags (DÄ 2003, Beilage zu Heft 37) stellt diese Leistung auf Grund<br />

gesonderter Kennzeichnung eine "in der Regel" ambulant durchzuführende Operation dar.<br />

23 Der Aufenthalt des Versicherten im Krankenhaus zur Durchführung einer Operation bedeutet danach im<br />

Unterschied zu früheren Zeiten noch keine vollstationäre Behandlung; hinzukommen müssen weitere Erfordernisse, die<br />

eine solche Behandlung von einer ambulanten oder jedenfalls teilstationären Behandlung abgrenzen.<br />

24 Dazu ist die Durchführung einer sog Vollnarkose aber ebenso wenig ausreichend wie die postoperative Lagerung<br />

des Patienten in einem Ruhebett. Denn die ambulant durchführbaren Operationen umfassen ein breites Spektrum von<br />

Eingriffen, das von einfachen Operationen unter örtlicher Betäubung bis hin zu aufwändigen, mehrstündigen operativen<br />

Eingriffen reicht, die unter Vollnarkose durchgeführt werden (Busch, KrV 1996, 251). Ebenso wenig begründet die mehrstündige,<br />

intensive postoperative Überwachung schon eine stationäre Behandlung. In Erfahrungsberichten aus der Praxis über<br />

das ambulante Operieren wird mitgeteilt, dass die Patienten ein Tagesbett zugewiesen bekommen und nach der<br />

jeweiligen Operation im Aufwach- bzw. Ruheraum eine medizinische und pflegerische Betreuung bis zur Entlassung<br />

erhalten (Breese, KH 1994, 205, 207; vgl auch Asmuth/Blum, KH 1996, 403 ff). In der Regel weile der Patient weniger als vier Stunden, allerdings<br />

auch nicht länger als acht bis zehn Stunden im Krankenhaus, wobei sich Art und Umfang der ärztlichen Tätigkeit im<br />

Vergleich zur stationären Leistungserbringung nicht wesentlich unterschieden (Asmuth/Blum, KH 1996, 403, 406). Oft werden unter<br />

der Behandlungsform "ambulantes Operieren" alle operativen Eingriffe verstanden, bei denen der Patient sowohl die<br />

Nacht vor als auch - bei planmäßigem Verlauf - die Nacht nach dem Eingriff im eigenen Bett, also nicht im<br />

Krankenhaus verbringt (Schreiber/Schriefers, DÄ 1993, C1086; Grünenwald, WzS 1994, 78, 81; Zastrow/Schöneberg, Bundesgesundheitsblatt 1994, 199, 200; Ulsenheimer in<br />

Eichhorn/Schmidt Rettig Thöns, Krankenhausmanagement im Werte- und Strukturwandel, 1995, S 118; Kern, NJW 1996, 1561; DegenerHencke in: Maaßen/Schermer/Wiegand/Zipperer, Gesetzliche<br />

Krankenversicherung, § 115b SGB V RdNr 3; Tuschen/Quaas, BPflV, 4. Aufl 1998, § 1 BPflV Erl zu Abs 1; Limpinsel in Jahn, SGB V, § 115b RdNr 4; Gnutzmann in Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft<br />

Medizinrecht im DAV, 3. Bd 2001, S 89, 90; Jahn, ebenda, S 99, 100; eine entsprechende Erläuterung enthält auch die Richtlinie der Bundesärztekammer zur Qualitätssicherung ambulanter Operationen vom<br />

13. 04.1994, abgedruckt im Anhang zum Beitrag von Jahn in der Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht im DAV, 3. Bd 2001, S 108 ff). Von daher entspricht vorliegend<br />

die Krankenhausbehandlung der Versicherten angesichts des operativen Eingriffs im Rahmen eines an einem Tag auf<br />

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den Zeitraum von 7.00 bis 17.00 Uhr beschränkten Krankenhausaufenthalts entgegen der Auffassung des Klägers<br />

geradezu dem typischen Erscheinungsbild ambulanter Operationen.<br />

25 Auch die Tatsache, dass die Versicherte vor der Behandlung einen Krankenhausaufnahmevertrag (durch ihren gesetzlichen<br />

Vertreter) unterschrieben hat und nach der Operation auf der "Station" ein Bett in Anspruch genommen hat, ist nicht<br />

geeignet, eine stationäre Behandlung zu begründen. Zur Abgrenzung zwischen stationärer und ambulanter<br />

Krankenhausbehandlung ist das vielfach herangezogene Kriterium der "Aufnahme" in das Krankenhaus nicht geeignet.<br />

Der Gesetzgeber hat allerdings dieses Kriterium in der amtlichen Begründung zum GSG zur Abgrenzung von<br />

teilstationärer und ambulanter Behandlung herangezogen und als die "physische und organisatorische Eingliederung<br />

des Patienten in das spezifische Versorgungssystem des Krankenhauses" definiert (BTDrucks 12/3608, S 82 zu § 39 SGB V). Unter<br />

Übernahme dieser Beschreibung wird in Rechtsprechung und Literatur überwiegend die Auffassung vertreten, das<br />

Merkmal der Aufnahme sei generell für die Abgrenzung der (voll- und teil)<br />

stationären von der ambulanten Krankenhausbehandlung maßgeblich (vgl BSG SozR 32200 § 197 Nr. 2; Grünenwald, WzS 1994, 78, 81; Noftz in<br />

Hauck/Noftz, SGB V, § 39 RdNr 46, 48). Auch § 39 Abs 1 Satz 2 SGB V verwendet im Hinblick auf den Anspruch der Versicherten auf<br />

vollstationäre Krankenhausbehandlung den Begriff der Aufnahme. Damit ist aber noch nicht geklärt, wann eine<br />

Aufnahme im Sinne einer "physischen und organisatorischen Eingliederung des Patienten in das spezifische<br />

Versorgungssystem des Krankenhauses" konkret zu bejahen ist.<br />

26 In Betracht kommen könnte insoweit zB die (geplante oder tatsächliche) Dauer des Krankenhausaufenthalts oder das Vorliegen<br />

eines "Aufnahmevertrags". Mitunter wird auch nach dem Ausmaß der Integration in das Krankenhaus differenziert,<br />

insbesondere danach, ob der Versicherte im Krankenhaus untergebracht und verpflegt wird, da Unterkunft und<br />

Verpflegung vom Grundsatz her allein bei stationärer, nicht dagegen bei ambulanter Behandlung gewährt werden (BSG<br />

SozR 32200 § 197 Nr. 2; Höfler in Kasseler Kommentar, § 39 SGB V RdNr 3, 19; Zipperer, in Maaßen/Schermer/Wiegand/Zipperer, Gesetzliche Krankenversicherung, § 39 SGB V RdNr 13). Damit ist<br />

aber noch nicht geklärt, wann eine "Unterkunft" vorliegt, insbesondere ob dazu nicht auch ein Aufenthalt von einigen<br />

Stunden ausreicht. In der Praxis wird vielfach beim ambulanten Operieren zudem auch Verpflegung bereit gestellt,<br />

soweit die Patienten dies wünschen und zur Nahrungsaufnahme in der Lage sind (vgl Koch/Scholta/Busse, KH 1996, 409, 412).<br />

Andererseits wiederum werden teilstationäre Leistungen als stationäre Leistungen "ohne Hotel- und<br />

Unterkunftsleistungen" definiert, die lediglich auf Grund der benötigten medizinischorganisatorischen Infrastruktur nicht<br />

im niedergelassenen ambulanten Bereich erbracht werden könnten (so Breu/Neubauer, KH 1999, 144). Das Kriterium der "Aufnahme"<br />

oder "Integration" in den Krankenhausbetrieb ist unter diesen Umständen nicht handhabbar. Das Unterschreiben eines<br />

"Aufnahmevertrags" kann schon deshalb kein geeignetes Kriterium sein, weil es sonst der Versicherte in der Hand<br />

hätte, allein dadurch die Leistungsverpflichtung der KK zu bestimmen, ohne dass sich an der Leistung selbst etwas<br />

ändert. Schließlich kann auch die Inanspruchnahme eines Bettes auf der "Station" unter dem Gesichtspunkt einer<br />

leistungsgerechten Vergütung kein entscheidender Umstand sein, weil sonst Krankenhäuser, die für ambulante<br />

Operationen sog tagesklinische Betten eingerichtet haben, gegenüber solchen Krankenhäusern, die nur Stationsbetten<br />

vorhalten, benachteiligt würden, weil sie bei gleichem Kostenaufwand nur eine geringere Vergütung als ambulante<br />

Leistung erhielten.<br />

27 c) Eine Abgrenzungsschwierigkeiten weitestgehend vermeidende Definition von vollstationärer, teilstationärer und<br />

ambulanter Krankenhausbehandlung kann nur vom Merkmal der geplanten Aufenthaltsdauer ausgehen. Insofern hat<br />

das LSG im Ansatz zutreffend dargelegt, eine physische und organisatorische Eingliederung in das spezifische<br />

Versorgungssystem des Krankenhauses sei augenfällig gegeben, wenn sie sich zeitlich über mindestens einen Tag<br />

und eine Nacht erstrecke. Damit ist die vollstationäre Behandlung erfasst. Es besteht auch weit gehende Einigkeit in<br />

der Literatur, dass der Patient bei der vollstationären Versorgung zeitlich ununterbrochen - also Tag und Nacht - im<br />

Krankenhaus untergebracht ist (Grünenwald, WzS 1994, 78, 79; Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, § 39 RdNr 46; Schmidt in Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 39 SGB V RdNr<br />

130; Tuschen/Quaas, BPflV, 4. Aufl 1998, § 1 BPflV Erl zu Abs 1; Vreden, KH 1998, 333, 334; Schomburg, SVFAng 2001, Nr. 126, 25, 28). Ein Eingriff findet demgemäß nur<br />

"ambulant" iS des § 115b SBG V statt, wenn der Patient die Nacht vor und die Nacht nach dem Eingriff nicht im<br />

Krankenhaus verbringt.<br />

28 Ist das der Fall, liegt auch keine teilstationäre Behandlung vor. Bei der teilstationären Behandlung ist die<br />

Inanspruchnahme des Krankenhauses zwar ebenfalls zeitlich beschränkt. Diese Form der stationären Behandlung<br />

erfolgt insbesondere bei Unterbringung der Patienten in Tages- und Nachtkliniken (Grünenwald, WzS 1994, 78, 79; Schmidt in Peters, aaO, § 39<br />

SGB V RdNr 133; Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, § 39 RdNr 49; Vreden, KH 1998, 333, 334; Schomburg, SVFAng 2001, Nr. 126, 25, 28). Bedeutsam ist die teilstationäre<br />

Versorgung vor allem auf dem Gebiet der Psychiatrie, sie findet aber auch bei somatischen Erkrankungen, bei<br />

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krankhaften Schlafstörungen (Schlafapnoe) oder im Bereich der Geriatrie statt (Grünenwald, WzS 1994, 78, 80; Schmidt in Peters, Handbuch der<br />

Krankenversicherung, § 39 SGB V RdNr 134, Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, § 39 RdNr 50). Kennzeichnend ist hier eine zeitliche Beschränkung auf die<br />

Behandlung tagsüber, bei der die Nacht zu Hause verbracht wird (Tageskliniken), oder auf die Behandlung abends und<br />

nachts, bei der der Patient sich tagsüber in seinem normalen Umfeld bewegt (Nachtkliniken). Aus der zeitlichen<br />

Beschränkung und den praktischen Anwendungsbereichen wird erkennbar, dass die teilstationäre Behandlung zwar<br />

keine "RundumdieUhrVersorgung" der Patienten darstellt, sich die Behandlung aber auch nicht im Wesentlichen im<br />

Rahmen eines Tagesaufenthalts im Krankenhaus erschöpft. Vielmehr erstrecken sich teilstationäre<br />

Krankenhausbehandlungen auf Grund der im Vordergrund stehenden Krankheitsbilder regelmäßig über einen längeren<br />

Zeitraum, wobei allerdings die medizinischorganisatorische Infrastruktur eines Krankenhauses benötigt wird, ohne dass<br />

eine ununterbrochene Anwesenheit des Patienten im Krankenhaus notwendig ist (ähnlich Schomburg, SVFAng 2001, Nr. 126, 25, 28). Einen<br />

Sonderfall stellen Behandlungen dar, die in der Regel nicht täglich, wohl aber in mehr oder weniger kurzen Intervallen<br />

erfolgen, wie es zB bei vielen Dialysepatienten der Fall ist, die zwar nicht jeden Tag, aber mehrmals in der Woche für<br />

einige Stunden im Krankenhaus versorgt werden. Eine derartige Form der Behandlung stellt einen Grenzfall zwischen<br />

teilstationärer und ambulanter Krankenhausbehandlung dar (Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, § 39 RdNr 48), der in der Praxis nicht selten als<br />

teilstationär eingestuft wird (so auch noch der zum 1. 01.2004 gestrichene § 14 Abs 2 Satz 4 BPflV), nach vorstehender Definition aber zur<br />

ambulanten Behandlung zu zählen sein dürfte (so tendenziell bereits BSGE 47, 285, 286 = SozR 2200 § 185b Nr. 6; vgl nunmehr auch § 2 Abs 2 Satz 3 BPflV in seiner zum<br />

1. 01.2004 durch das Gesetz vom 23. 04.2002, BGBl I 1412 geänderten Fassung).<br />

29 d) Die Entscheidung zum Verbleib des Patienten über Nacht wird in der Regel zu Beginn der Behandlung vom<br />

Krankenhausarzt getroffen, kann aber im Einzelfall auch noch später erfolgen. Geht es zB um Fälle, in denen der<br />

operative Eingriff zwar nach den Regeln der Heilkunst ambulant vorgenommen werden darf, und wird er auch so<br />

geplant und durchgeführt, ist eine Entlassung des Patienten nach Hause noch am gleichen Tage nach der üblichen<br />

Ruhephase ausnahmsweise aber nicht möglich, weil wegen einer Komplikation im nachoperativen Verlauf eine<br />

ständige Beobachtung und weitere Behandlung über die Nacht hinweg angezeigt erscheint, liegt nunmehr eine -<br />

einheitliche - vollstationäre Krankenhausbehandlung vor. Dementsprechend gehen die Vertragsparteien ausweislich §<br />

6 Abs 1 Satz 2 des Vertrags nach § 115b SGB V vom 22. 03.1993 (bzw. § 7 Abs 2 des ab<br />

1. 01.2004 gültigen Vertrags) zutreffend davon aus, dass die Vergütung der im Katalog aufgeführten Leistungen dann nach dem<br />

KHG bzw. der BPflV erfolgt, wenn der Patient an demselben Tag in unmittelbarem Zusammenhang mit einer<br />

ambulanten Operation "stationär aufgenommen" wird. 30 Auf der anderen Seite liegt eine stationäre Behandlung auch<br />

dann vor, wenn der Patient nach Durchführung eines Eingriffs oder einer sonstigen Behandlungsmaßnahme über<br />

Nacht verbleiben sollte, aber gegen ärztlichen Rat auf eigenes Betreiben das Krankenhaus noch am selben Tag<br />

wiederverlässt (Beispiel eines sog "Stundenfalls"); dann handelt es sich um eine "abgebrochene" stationäre Behandlung.<br />

31 Nach den nicht angegriffenen und für den Senat daher bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG liegen im<br />

vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte für eine solche "abgebrochene" stationäre Behandlung vor.<br />

32 e) Dem Kläger stand auch keine vertragliche Vergütung für die Durchführung der Behandlung als ambulante<br />

Operation nach § 115b SGB V zu, obwohl diese Leistung - ordnungsgemäß - erbracht worden ist. Denn der Kläger hat<br />

die zur Wirksamkeit der ergänzenden Zulassung zum ambulanten Operieren im Krankenhaus nach § 115b Abs 2 Satz<br />

2 SGB V erforderliche Mitteilung über die Teilnahme an diesem Programm nicht abgegeben, sodass die Zulassung<br />

nicht wirksam geworden ist. Das Krankenhaus war daher zur Erbringung der Behandlung in dieser Form zu Lasten der<br />

Beklagten nicht befugt.<br />

33 f) Allerdings stand dem Kläger ein Bereicherungsanspruch entsprechend § 812 Abs 1 Satz 1, 1. Alternative<br />

Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zu. In der Höhe belief sich dieser Anspruch - ebenso wie der entsprechende<br />

Vergütungsanspruch nach § 115b SGB V - auf 339,16 EUR, weil die Beklagte im Falle der Leistungserbringung durch<br />

ein nach § 115b SGB V zugelassenes Krankenhaus diesen Betrag hätte aufbringen müssen (vgl § 818 Abs 2 BGB). Den<br />

Bereicherungsanspruch hat die Beklagte im Revisionsverfahren in dieser Höhe anerkannt. Ein weiterer<br />

Zahlungsanspruch steht dem Kläger nicht zu.<br />

34 4. Der anerkannte Zahlungsanspruch über 339,16 EUR ist ab 24. 02.2001 in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem<br />

jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen. 35 Der in den Rechtszügen wechselnd formulierte Klageantrag zum<br />

Zinsanspruch ist auszulegen als Anspruch auf Zahlung von Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen<br />

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Basiszinssatz ab 14 Tage nach Rechnungsdatum (Vertragszinsen), hilfsweise ab Rechtshängigkeit (Prozesszinsen). Nur der<br />

Hilfsantrag ist begründet.<br />

36 Ein vertraglicher Zinsanspruch steht dem Kläger mangels vertraglichen Vergütungsanspruchs nicht zu. Der in Höhe<br />

von 339,16 EUR begründete, anerkannte Bereicherungsanspruch ist jedoch mit 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen<br />

Basiszinssatz ab 24. 02.2001 unter dem Gesichtspunkt eines Prozesszinsenanspruchs zu verzinsen (§ 291 BGB). Zwar hat<br />

das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass in den in die Zuständigkeit der<br />

Sozialgerichtsbarkeit fallenden Rechtsgebieten für Verzugs- und Prozesszinsen grundsätzlich kein Raum ist. Eine<br />

Ausnahme gilt jedoch für jene Zahlungsansprüche, bei denen das Gesetz eine Zinszahlung ausdrücklich anordnet (BSGE<br />

71, 72, 74 = SozR 37610 § 291 Nr. 1) oder bereichsspezifische Besonderheiten zu beachten sind (BSGE 64, 225, 230 = SozR 7610 § 291 Nr. 2 zu<br />

soldatenrechtlichen Ausgleichsansprüchen). Das ist auch hier der Fall.<br />

37 Es gibt keinen Grund, den Anspruch auf Prozesszinsen (§ 291 BGB) hinsichtlich des Bereicherungsanspruchs eines<br />

Leistungserbringers gegenüber einer KK zu versagen, wenn im entsprechenden vertraglichen Bereich ein Anspruch auf<br />

Verzugszinsen vorgesehen ist. Das ist für die Vergütung von stationären Leistungen seit jeher der Fall (vgl die Pflicht zur Regelung<br />

von Verzugszinsansprüchen bei verspäteter Zahlung in den Pflegesatzvereinbarungen gemäß § 17 Abs 1 Satz 3 BPflV). Der Bereich des ambulanten Operierens stellt<br />

insofern lediglich eine Ergänzung des traditionellen Aufgabenkatalogs der Krankenhäuser dar, sodass auch hierfür ein<br />

Anspruch auf Verzugszinsen bei verspäteter Zahlung zuzubilligen ist, solange die Verträge nach § 115b SGB V einen<br />

solchen nicht ausschließen, wie es bis heute der Fall ist. Die zivilrechtliche Regelung des § 291 BGB ist hier<br />

entsprechend heranzuziehen, weil es an sozialrechtlichen Sonderregelungen, die der Anwendbarkeit entgegenstehen<br />

würden, fehlt (BSGE 64, 225, 233 = SozR 7610 § 291 Nr. 2; BVerwGE 54, 285, 290). Insbesondere gilt die - auf Sozialleistungsansprüche<br />

zugeschnittene - Verzinsungsregelung des § 44 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) im Bereich der Entgeltansprüche<br />

von Leistungserbringern nicht (BSGE 71, 72, 75 = SozR 37610 § 291 Nr. 1; Mrozynski, SGB I, 3. Aufl 2003, § 44 RdNr 2 mwN).<br />

38 Der Anspruch auf Prozesszinsen steht dem Kläger ab 24. 02.2001 zu, weil an diesem Tag die Klage beim SG<br />

eingegangen und daher die sozialgerichtliche Rechtshängigkeit nach § 94 SGG eingetreten ist. Für den Eintritt der<br />

Rechtshängigkeit sind § 253 Abs 1 und § 261 Abs 1 Zivilprozessordnung (ZPO), wonach die Rechtshängigkeit einer<br />

zivilrechtlichen Klage erst mit der Zustellung der Klageschrift an den Beklagten eintritt, nicht einschlägig (BSGE 64, 225, 230 =<br />

SozR 7610 § 291 Nr. 2).<br />

39 Der Bereicherungsanspruch war jedenfalls am 24. 02.2001 fällig. Er ist bereits mit Abschluss der<br />

Krankenhausbehandlung am 14. 10.1998 fällig geworden. Die nach § 303 Abs 3 Satz 1 SGB V iVm § 301 Abs 1 SGB<br />

Verforderliche Erstellung und Übermittlung einer den Erfordernissen des § 301 SGB V entsprechenden Abrechnung<br />

einer von § 115b SGB V erfassten Krankenhausbehandlung (§ 301 Abs 1 Satz 1 Nr. 9 SGB V), die vom Kläger entsprechend seiner<br />

Behauptung einer stationären Behandlung nicht erteilt worden ist, führt nur die Fälligkeit eines vertraglichen<br />

Vergütungsanspruchs herbei, ist aber für einen entsprechenden Bereicherungsanspruch nicht erforderlich. Diese<br />

Forderung wird mit ihrem Entstehen nach Abschluss der rechtsgrundlosen Leistungserbringung auch fällig (§ 271 BGB).<br />

40 Die Höhe des Zinsanspruchs ergibt sich aus § 291 BGB iVm § 288 Abs 1 BGB in der hier anwendbaren Fassung<br />

des Gesetzes zur Beschleunigung fälliger Zahlungen vom 30. 03.2000 (BGBl I 330). Die Vorschrift ist insoweit<br />

inhaltsgleich mit § 288 Abs 1 BGB in der ab 1. 01.2002 geltenden Fassung des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes<br />

(SMG) vom 26. 11.2001 (BGBl I 3138).<br />

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und 4 SGG in der hier noch anzuwendenden, bis zum 1. 01.2002<br />

geltenden Fassung iVm § 116 Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO). Der Senat hat bei seiner Entscheidung,<br />

die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen gegeneinander aufzuheben (vgl § 92 Abs 1 ZPO), berücksichtigt, dass der<br />

Kläger betragsmäßig zwar zu rund 60 vH in der Hauptsache obsiegt hat, der Schwerpunkt der rechtlichen<br />

Auseinandersetzung aber bei dem als unbegründet erkannten vertraglichen Vergütungsanspruch gelegen hat.<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 203/02 vom 15.07.2003<br />

Für die Prüfung der Voraussetzungen einer medizinischen Indikation im Sinne des § 218a Abs. 2 StGB für<br />

einen rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch macht die "nach ärztlicher Erkenntnis" gebotene Prognose<br />

regelmäßig die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich. Der Patient obsiegte.<br />

BGB § 249 A; StGB § 218a Abs. 2<br />

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BGH, Urteil vom 15. 07.2003 VI ZR 203/02 KG Berlin LG Berlin<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 15. 07.2003 durch die Vorsitzende<br />

Richterin Dr. Müller und die Richter Wellner, Pauge, Stöhr und Zoll<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 20. Zivilsenats des Kammergerichts vom 18. 03.2002 aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das<br />

Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Klägerin ist die Mutter einer am 10. 09.1997 mit einer schweren Fehlbildung einer offenen Wirbelsäule (Spina bifida) im<br />

lumbosacralen Bereich geborenen Tochter. Sie nimmt den beklagten Arzt auf Schmerzensgeld sowie auf Unterhalt für<br />

ihre Tochter mit der Begründung in Anspruch, dieser habe bei den von ihm seit dem 6. 05.1997 ab der 19.<br />

Schwangerschaftswoche durchgeführten Sonographien pflichtwidrig die Fehlbildung des Kindes nicht erkannt, weshalb<br />

eine Abtreibung unterblieben sei. Diese wäre gerechtfertigt gewesen, um die Gefahr einer schwerwiegenden<br />

Beeinträchtigung insbesondere des seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren wegen<br />

behandlungsbedürftiger Depressionen abzuwenden. Das Landgericht hat der Klage unter Klageabweisung im Übrigen<br />

teilweise stattgegeben und den Beklagten zur Zahlung von Schmerzensgeld, Unterhaltsbedarf und Betreuungsaufwand<br />

verurteilt sowie festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet sei, der Klägerin sämtlichen zukünftigen Unterhaltsaufwand<br />

infolge der Geburt ihrer Tochter zu ersetzen. Auf die Berufung des Beklagten hat das Kammergericht die Klage unter<br />

teilweiser Abänderung des landgerichtlichen Urteils vollständig abgewiesen und die Anschlussberufung der Klägerin<br />

zurückgewiesen. Mit ihrer zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, ein Anspruch der Klägerin auf Schmerzensgeld sei nicht begründet, da die<br />

insoweit darlegungspflichtige Klägerin nicht hinreichend vorgetragen habe, dass nach der geltenden Fassung des §<br />

218a StGB ein Schwangerschaftsabbruch rechtmäßig gewesen wäre. Da der Gesetzgeber bei der Neuregelung der<br />

Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs die embryopathische Indikation aus dem Gesetz gestrichen habe, hätte<br />

die Klägerin einen Schwangerschaftsabbruch lediglich aus medizinischen Gründen zum Schutz der Mutter gemäß §<br />

218a Abs. 2 StGB rechtmäßig vornehmen lassen können. Die Darlegung der Klägerin lasse jedoch eine Beurteilung,<br />

ob die damals zu befürchtenden Depressionen und die jetzt eingetretenen Folgen, die zumindest indiziell zu<br />

berücksichtigen seien, eine hinreichend schwerwiegende Gefahr für ihre Gesundheit bedeutet hätten bzw. bedeuteten,<br />

nicht zu. Die Unzumutbarkeit der Schwangerschaft bzw. die Voraussetzungen für einen die Opfergrenze für die<br />

Schwangere überschreitenden Ausnahmetatbestand seien damit nicht hinreichend dargelegt. Das Ausmaß sowie die<br />

Behandlung der Depressionen seien nicht näher ausgeführt worden. Bei der Abwägung der Rechtsgüter, also<br />

einerseits der Gesundheit der Mutter und andererseits des Lebens des Kindes, sei sicherlich auch maßgebend, ob und<br />

in welchem Umfang die Beeinträchtigungen der Gesundheit der Mutter mit Erfolg behandelbar seien. Hinsichtlich der<br />

konkreten sekundären Folgen gebe es auch im Arzthaftungsprozeß keine Erleichterungen für die Darlegungslast der<br />

Patientin. Hier fehle es nicht nur an einer nachvollziehbaren medizinischen Einordnung. Auch die Darlegung zur<br />

psychotherapeutischen Behandlung ohne näheren Vortrag zur Art, Umfang und Erfolg der Behandlung genügten nicht<br />

und seien selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in diesem Bereich eine Offenlegung durch den<br />

Behandelnden gegenüber der Patientin nur im begrenzten Maß vertretbar sein mögen zu pauschal erfolgt. Ein<br />

Anspruch auf Ersatz des entstandenen und entstehenden Unterhaltsaufwandes für ihr behindertes Kind stehe der<br />

Klägerin schon dem Grunde nach nicht zu. Schutzzweck des Behandlungsvertrages bei der medizinischen Indikation<br />

sei auch bei erkennbarer Behinderung des ungeborenen Kindes ausschließlich die Gesundheit der Mutter. Der<br />

wirtschaftliche Aspekt der Unterhaltsbelastung für das behinderte Kind sei bei der medizinischen Indikation nicht<br />

ansatzweise als Reflex des Behandlungsvertrages ableitbar.<br />

II. Das Urteil des Berufungsgerichts hält den Angriffen der Revision nicht stand.<br />

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1. Die Erwägungen des Berufungsgerichts zum Schutzzweck des Behandlungsvertrages bei der medizinischen<br />

Indikation im Sinne des § 218a 5Abs. 2 StGB stehen nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden<br />

Senats. Der Senat hat in seinem Urteil vom 18. 06.2002 VI ZR 136/01 (VersR 2002, 1148, demnächst BGHZ 151, 133 ff.), welches das<br />

Berufungsgericht zum Zeitpunkt seiner Entscheidung freilich noch nicht kennen konnte, entschieden, dass das auf<br />

einem ärztlichen Behandlungsfehler beruhende Unterbleiben eines nach den Grundsätzen der medizinischen Indikation<br />

gemäß § 218a Abs. 2 StGB rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruchs die Pflicht des Arztes auslösen kann, den Eltern<br />

den Unterhaltsaufwand für ein Kind zu ersetzen, das mit schweren Behinderungen zur Welt kommt. Nach den<br />

Feststellungen des Berufungsgerichts diente im vorliegenden Fall die vom Beklagten durchgeführte Feinsonographie<br />

der Suche nach Fehlbildungen; die Klägerin hatte ihn zu diesem Zweck aufgesucht. Die vom Beklagten nach dem<br />

ärztlichen Standard durchzuführende Diagnostik sollte demnach die Klägerin in die Lage versetzen, das ihr vom<br />

Gesetzgeber zugebilligte Recht auszuüben, sich für einen rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden,<br />

wenn nach Feststellung einer schweren Fehlbildung des Kindes der Abbruch der Schwangerschaft unter<br />

Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis<br />

angezeigt gewesen wäre, um eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres<br />

körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere, für sie<br />

zumutbare Weise hätte abgewendet werden können. Drohen die schwerwiegenden Gefahren für die Mutter, die zur<br />

Erfüllung der Voraussetzungen der Indikation des § 218a Abs. 2 StGB führen, gerade auch für die Zeit nach der Geburt<br />

und ist demgemäß der vertragliche Schutzzweck auch auf die Vermeidung dieser Gefahren durch das "Haben" des<br />

Kindes gerichtet, so erstreckt sich die aus der Vertragsverletzung resultierende Ersatzpflicht auch auf den Ausgleich<br />

der durch die Unterhaltsbelastung verursachten vermögensrechtlichen Schadenspositionen. Eine dahingehende<br />

Bestimmung des vertraglichen Schutzumfanges, die bei derartigen Sachverhalten unter Geltung der früheren<br />

"embryopathischen Indikation" in der Rechtsprechung anerkannt war (vgl. z.B. Senatsurteil BGHZ 86, 240, 247; Senatsurteile vom 4. 03.1997 VI ZR 354/95<br />

VersR 1997, 698, 699 und vom 4. 12.2001 VI ZR 213/00 VersR 2002, 233, 234), nunmehr auch für entsprechende Fallgestaltungen im Rahmen der nach<br />

der geltenden Rechtslage maßgeblichen medizinischen Indikation entspricht der gesetzgeberischen Lösung, die bisher<br />

von § 218a Abs. 3 StGB a.F. erfaßten Fallkonstellationen jetzt in die Indikation nach § 218a Abs. 2 StGB<br />

einzubeziehen (vgl. Senatsurteil vom 18. 06.2002 VI ZR 136/01 aaO; zustimmend Deutsch, NJW 2003, 26, 28). 2. Eine auf der hier revisionsrechtlich zu<br />

unterstellenden Verletzung des Behandlungsvertrages beruhende Vereitelung eines möglichen<br />

Schwangerschaftsabbruchs kann allerdings wovon das Berufungsgericht mit Recht ausgegangen ist nur dann Ansatz<br />

dafür sein, die Eltern im Rahmen eines vertraglichen Schadensersatzanspruchs gegen den Arzt auf der<br />

vermögensmäßigen Ebene von der Unterhaltsbelastung für das Kind freizustellen und der Klägerin ein<br />

Schmerzensgeld zuzuerkennen, wenn der Abbruch rechtmäßig gewesen wäre, also der Rechtsordnung entsprochen<br />

hätte und von ihr nicht mißbilligt worden wäre (st. Rspr.: vgl. insbesondere BGHZ 129, 178, 185 = VersR 1995, 964, 966; Senatsurteile vom 4. 12.2001 VI ZR 213/00 aaO;<br />

vom 19. 02.2002 VI ZR 190/01 VersR 2002, 767, 768 und vom 18. 06.2002 VI ZR 136/01 aaO, S. 1149). Aufgrund der gesetzlichen Neufassung des § 218a Abs. 2<br />

StGB in der Fassung des Schwangerenund Familienhilfeänderungsgesetzes vom 21. 08.1995 (BGBl. I 1050) ist der mit<br />

Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch dann nicht rechtswidrig,<br />

wenn er unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach<br />

ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder das Risiko einer schwerwiegenden<br />

Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden und die<br />

Gefahr nicht auf andere, für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann. Bei Fallgestaltungen, die nach der<br />

früheren rechtlichen Regelung der "embryopathischen Indikation" unterfielen, ist nunmehr im Rahmen des § 218a Abs.<br />

2 StGB zu prüfen, ob sich für die Mutter aus der Geburt des schwerbehinderten Kindes und der hieraus resultierenden<br />

besonderen Lebenssituation Belastungen ergeben, die sie in ihrer Konstitution überfordern und die Gefahr einer<br />

schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres insbesondere auch seelischen Gesundheitszustandes als so bedrohend<br />

erscheinen lassen, dass bei der gebotenen Güterabwägung das Lebensrecht des Ungeborenen dahinter<br />

zurückzutreten hat (vgl. Senatsurteil vom 18. 06.2002 VI ZR 136/01 aaO, S. 1150). Das Berufungsgericht ist zwar hiervon im rechtlichen<br />

Ansatzpunkt zutreffend ausgegangen, hat jedoch bei seiner Beurteilung die Anforderungen an die Darlegungslast der<br />

Klägerin überspannt und in diesem Zusammenhang wie die Revision mit Recht geltend macht erheblichen Sachvortrag<br />

und Beweisangebote der Klägerin übergangen.<br />

3. Zwar muss die Mutter im Schadensersatzprozeß grundsätzlich nach allgemeinen Grundsätzen darlegen und<br />

gegebenenfalls beweisen, dass die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch wegen<br />

medizinischer Indikation bei fehlerfreier Diagnose des untersuchenden Arztes vorgelegen hätten. Bei den<br />

Anforderungen an die Darlegungslast sind jedoch auch die gerade durch den hier revisionsrechtlich zu unterstellenden<br />

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Behandlungsfehler verursachten Schwierigkeiten zu berücksichtigen, welche die Darlegung der Voraussetzungen einer<br />

nachträglichen, auf den Zeitpunkt des denkbaren Abbruchs der Schwangerschaft bezogenen Prognose bereitet. Durch<br />

das Vorenthalten der richtigen Diagnose über die voraussichtliche schwere Behinderung ihres Kindes ist die Klägerin<br />

nämlich gar nicht in die Lage versetzt worden, diese Mitteilung im maßgeblichen Zeitpunkt, in dem sie sich noch für<br />

einen Schwangerschaftsabbruch hätte entscheiden können, auf sich wirken zu lassen. Deshalb können aus der<br />

tatsächlichen späteren Entwicklung nur mittelbar Rückschlüsse darauf gezogen werden, wie diese Diagnose sich auf<br />

ihren Gesundheitszustand ausgewirkt hätte. Hinzu kommt, dass auch allgemein an die Substantiierungspflichten der<br />

Parteien im Arzthaftungsprozeß maßvolle und verständige Anforderungen zu stellen sind, weil vom Patienten<br />

regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden kann (vgl. Senatsurteil vom 19.<br />

05.1981 VI ZR 220/79 VersR 1981, 752). Entsprechende Fragen sind, wie dies im Arzthaftungsprozeß ganz allgemein zu fordern ist,<br />

grundsätzlich nicht ohne sachverständige Beratung zu entscheiden (vgl. Senatsurteil, BGHZ 98, 368, 373). Dies gilt umso mehr für die<br />

Prüfung der Voraussetzungen einer medizinischen Indikation im Sinne des § 218a Abs. 2 StGB, bei der die "nach<br />

ärztlicher Erkenntnis" gebotene Prognose schon im Hinblick auf den Gesetzeswortlaut regelmäßig die Einholung eines<br />

Sachverständigengutachtens erforderlich macht (vgl. Müller, NJW 2003, 697, 703).<br />

Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht im vorliegenden Fall nicht beachtet. Die Klägerin hat nicht nur vorgetragen,<br />

dass sie unter schweren Depressionen leide, sondern hat dies auch in das Zeugnis der behandelnden Psychologin<br />

gestellt. Eine medizinische Einordnung ihrer psychischen Störungen konnte von ihr entgegen der Auffassung des<br />

Berufungsgerichts aus den dargelegten Gründen ebensowenig verlangt werden wie Vortrag zu Art, Umfang und<br />

Erfolgsaussicht der Behandlung. Daneben hat die Klägerin auch körperliche Beeinträchtigungen geltend gemacht,<br />

insbesondere einen Bruch von zwei Wirbeln im Jahr 1994, aufgrund dessen sie keine schweren Lasten tragen dürfe.<br />

Dass durch das ständige Tragen des schwerbehinderten Kindes bereits eine Verschlechterung eingetreten sei und eine<br />

Operation erforderlich werde, hat sie unter Beweis durch ein orthopädisches Sachverständigengutachten gestellt.<br />

4. Das Berufungsgericht wird dem entsprechenden Vortrag der Klägerin nachzugehen haben, um sich nach Einholung<br />

sachkundigen Rates die erforderliche tatrichterliche Überzeugung davon zu verschaffen, ob die gesundheitlichen<br />

Beeinträchtigungen der Klägerin bei rückwirkender Betrachtung für eine medizinische Indikation ausgereicht hätten.<br />

Müller Wellner Pauge Stöhr Zoll<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 304/02 vom 08.07.2003<br />

Zu den Voraussetzungen eines Diagnosefehlers (im Anschluss an Senatsurteile vom 30. 05.1958 – VI ZR 139/57 – VersR 1958, 545, vom 14. 07.1981 VI ZR<br />

35/79 – VersR 1981, 1033, 1034 und vom 14. 06.1994 – VI ZR 236/93 – AHRS 1815/102).<br />

BGB§ 823 Ac<br />

BGH, Urteil vom 8. 07.2003 VI ZR 304/02 OLG Koblenz LG Koblenz Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf<br />

die mündliche Verhandlung vom 8. 07.2003 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die<br />

Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision der Beklagten zu 1 wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 19.<br />

07.2002 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als es zum Nachteil der Beklagten zu 1 ergangen ist. Im Umfang<br />

der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Tatbestand:<br />

Der Kläger begehrte von der Beklagten zu 1 (künftig: die Beklagte) Schmerzensgeld und die Feststellung ihrer Ersatzpflicht für<br />

sämtliche gegenwärtigen und zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden, die ihm anlässlich der ärztlichen<br />

Behandlung vom 26. 11.1995 im Krankenhaus der Beklagten entstanden sind und entstehen werden.<br />

Der Kläger wurde nach einem Sturz am 26. 11.1995 in der Unfallchirurgie des Krankenhauses stationär versorgt. Der<br />

frühere Beklagte zu 3 erkannte einen Bruch des achten Brustwirbelkörpers nicht und nahm fälschlich eine Prellung an.<br />

Nach der Entlassung des Klägers am 28. 11.1995 nahmen die Beschwerden nicht ab. Er begab sich deshalb erneut in<br />

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ärztliche Behandlung. Dort wurde der Bruch des Brustwirbels erkannt und der Kläger daraufhin in einem anderen<br />

Krankenhaus stationär vom 1. bis 7. 12.1995 behandelt.<br />

Das Landgericht hat die Zahlungsklage wegen Verjährung abgewiesen; die Feststellungsklage sei unzulässig. Das<br />

Oberlandesgericht hat dieses Urteil auf die Berufung des Klägers teilweise abgeändert und der Feststellungsklage<br />

gegen die Beklagte hinsichtlich der Ersatzpflicht für materielle Schäden stattgegeben. Mit der vom erkennenden Senat<br />

zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren auf Abweisung der Klage weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen damit begründet, die Ansprüche aus<br />

Behandlungsvertrag seien anders als deliktische Ansprüche des Klägers nicht verjährt. Für sie gelte nach § 195 BGB<br />

a.F. eine Verjährungsfrist von dreißig Jahren. Die Beklagte habe den zwischen ihr und dem Kläger bestehenden<br />

Behandlungsvertrag schuldhaft verletzt. Sie müsse sich das Verhalten des früheren Beklagten zu 3, eines angestellten<br />

Oberarztes, nach § 278 BGB zurechnen lassen. Dieser habe fälschlich eine Prellung statt eines Wirbelkörperbruches<br />

diagnostiziert. II. Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.<br />

1. Allerdings hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei das Interesse des Klägers an einer alsbaldigen Feststellung der<br />

Ersatzpflicht der Beklagten (§ 256 Abs. 1 ZPO) trotz der Möglichkeit einer Leistungsklage bejaht. Ein Kläger ist nicht gehalten,<br />

seine Klage in eine Leistungsund eine Feststellungsklage aufzuspalten, wenn ein Teil des Schadens schon entstanden<br />

ist und mit der Entstehung eines weiteren Schadens jedenfalls nach seinem Vortrag noch zu rechnen ist (vgl. Senatsurteil vom 28.<br />

09.1999 VI ZR 195/98 VersR 1999, 1555, 1556; BGH, Urteile vom 4. 12.1986 III ZR 205/85 BGHRZPO § 256 Abs. 1 Feststellungsinteresse 2 und vom 7. 06.1988 IX ZR 278/87 BGHRZPO § 256 Abs. 1<br />

Feststellungsinteresse 10). 2. Das Berufungsgericht geht auch im Ansatzpunkt zutreffend davon aus, dass dem Kläger aus dem<br />

mit der Beklagten als Trägerin des Krankenhauses abgeschlossenen Behandlungsvertrag vertragliche Ansprüche<br />

zustehen können, wenn die Beklagte oder deren Ärzte als ihre Erfüllungsgehilfen (§ 278 BGB) die geschuldete ärztliche<br />

Behandlung in einer dem fachärztlichen Standard zuwiderlaufenden Weise, also fehlerhaft, erbracht haben. Es hat<br />

zutreffend erkannt, dass die Ansprüche auf Ersatz materiellen Schadens hieraus erst in 30 Jahren verjährten (§ 195 BGB a.F.;<br />

Art. 229 § 6 Abs. 4 EGBGB i.V.m. §§ 195, 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB). 3. Das Berufungsgericht hat jedoch verkannt, dass ein Behandlungsfehler nicht<br />

immer schon dann anzunehmen ist, wenn ein Arzt zu einer objektiv unrichtigen Diagnose gelangt (unten a)). Es hat<br />

infolgedessen verfahrensfehlerhaft den unter Beweis gestellten Vortrag der Beklagten außer acht gelassen 5(unten b)),<br />

dass der Bruch des achten Brustwirbelkörpers nicht erkennbar gewesen sei. Dadurch hat es gegen Art. 103 Abs. 1 GG<br />

verstoßen, wie die Revision mit Erfolg beanstandet.<br />

a) Grundsätzlich ist zwar das Nichterkennen einer erkennbaren Erkrankung und der für sie kennzeichnenden<br />

Symptome als Behandlungsfehler zu werten (vgl. Senatsurteile vom 30. 05.1958 VI ZR 139/57 VersR 1958, 545, 546, vom 14. 07.1981 VI ZR 35/79 VersR 1981, 1033, 1034<br />

und vom 14. 06.1994 VI ZR 236/93 AHRS 1815/102). Irrtümer bei der Diagnosestellung, die in der Praxis nicht selten vorkommen, sind<br />

jedoch oft nicht die Folge eines vorwerfbaren Versehens des Arztes. Die Symptome einer Erkrankung sind nämlich<br />

nicht immer eindeutig, sondern können auf die verschiedensten Ursachen hinweisen. Dies gilt auch unter<br />

Berücksichtigung der vielfachen technischen Hilfsmittel, die zur Gewinnung von zutreffenden<br />

Untersuchungsergebnissen einzusetzen sind (vgl. Senatsurteil vom 14. 07.1981 VI ZR 35/79 aaO). Auch kann jeder Patient wegen der<br />

Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus die Anzeichen ein und derselben Krankheit in anderer<br />

Ausprägung aufweisen. Diagnoseirrtümer, die objektiv auf eine Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen sind,<br />

können deshalb nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden (vgl. Senatsurteile vom 14. 07.1981 VI ZR 35/79 aaO; vom 14.<br />

06.1994 VI ZR 236/93 – aaO).<br />

Dieser Gesichtspunkt greift allerdings nicht, wenn Symptome vorliegen, die für eine bestimmte Erkrankung<br />

kennzeichnend sind, vom Arzt aber nicht ausreichend berücksichtigt werden (vgl. Senatsurteil vom 30. 05.1958 VI ZR 137/57 aaO; OLG Saarbrücken<br />

MedR 1999, 181, 182; Bischoff, Festschrift für Geiß, 2000, S. 345 ff.). Darum geht es hier nicht. Die Frage nach einem ärztlichen Fehlverhalten kann<br />

sich jedoch auch stellen, wenn der behandelnde Arzt ohne vorwerfbare Fehlinterpretation von Befunden eine objektiv<br />

unrichtige Diagnose stellt und diese darauf beruht, dass der Arzt eine notwendige Befunderhebung entweder vor der<br />

Diagnosestellung oder zur erforderlichen Überprüfung der Diagnose unterlassen hat. Ein solcher Fehler in der<br />

Befunderhebung kann zur Folge haben, dass der behandelnde Arzt oder der Klinikträger für eine daraus folgende<br />

objektiv falsche Diagnose und für eine der tatsächlich vorhandenen Krankheit nicht gerecht werdende Behandlung und<br />

deren Folgen einzustehen hat (vgl. zum Beispiel Senatsurteile BGHZ 138, 1, 5 ff. und vom 3. 11.1998 – VI ZR 253/97 – VersR 1999, 231, 232 – jeweils m.w.N.).<br />

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) Nach diesen Grundsätzen durfte das Thöns Berufungsgericht einen Diagnosefehler des Beklagten zu 3 nicht schon<br />

deshalb bejahen, weil seine Diagnose einer Prellung – wie zwischen den Parteien unstreitig ist – objektiv unrichtig war.<br />

Feststellungen dazu, dass der tatsächlich vorliegende Bruch des Wirbelkörpers nach den erhobenen Befunden (etwa den<br />

Röntgenaufnahmen) für die behandelnden Ärzte erkennbar war, fehlen ebenso wie Feststellungen dazu, dass die<br />

Befunderhebung in der Klinik der Beklagten unzulänglich war. Die Revision weist mit Recht darauf hin, dass die<br />

Beklagte den unter Sachverständigenbeweis gestellten Vortrag des Klägers über einen Behandlungsfehler bestritten<br />

und ihrerseits unter Beweis gestellt hatte, die Diagnose einer Prellung sei eine in der gegebenen Situation vertretbare<br />

Deutung der damals erhobenen Befunde gewesen; auch die Röntgenaufnahmen hätten keinen Hinweis auf eine frische<br />

knöcherne Verletzung der Wirbelsäule ergeben. Dieser Vortrag war nach den oben zu a) dargelegten Grundsätzen<br />

erheblich. Die Beklagte hatte damit ausreichend bestritten, dass die unstreitig objektiv unrichtige Diagnose<br />

behandlungsfehlerhaft war.<br />

Diesem Vortrag hätte das Berufungsgericht nachgehen müssen. Insbesondere hat das Berufungsgericht trotz des<br />

entscheidungserheblichen Vortrags der Beklagten keinen sachverständigen Rat dazu eingeholt, warum die Diagnose<br />

nicht nur objektiv falsch, sondern behandlungsfehlerhaft gewesen sein soll.<br />

4. Die Revision beanstandet ferner mit Erfolg, dass das Berufungsgericht erstinstanzlichen Vortrag der Beklagten<br />

außer acht gelassen hat, mit dem diese eine Kausalität des objektiven Diagnoseirrtums bestritten und auf den sie in der<br />

Berufungserwiderung in zulässiger Weise Bezug genommen hat. Grundsätzlich muss der Patient die Voraussetzungen<br />

eines Behandlungsfehlers und dessen Ursächlichkeit für den geklagten Gesundheitsschaden darlegen und beweisen.<br />

Dies gilt sowohl für den Vorwurf eines Diagnosefehlers als auch für den eines Fehlers in der Befunderhebung. Gelingt<br />

dem Patienten zwar der Beweis eines Behandlungsfehlers in der Form eines Diagnosefehlers oder eines Fehlers in der<br />

Befunderhebung, nicht aber der Nachweis der Ursächlichkeit dieses Fehlers für den geltend gemachten<br />

Gesundheitsschaden, kommen ihm Beweiserleichterungen nur dann zu Hilfe, wenn der objektive Fehler der<br />

Behandlungsseite entweder als grob zu werten ist (fundamentaler Diagnosefehler vgl. Senatsurteile BGHZ 132, 47 ff. und vom 14. 07.1981 VI ZR 35/79 – aaO), ein<br />

grober Fehler in der Befunderhebung vorliegt (vgl. Senatsurteile BGHZ 138, 1, 5 ff. und vom 6. 07.1999 VI ZR 290/98 VersR 1999, 1282, 1284) oder wenn die<br />

Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr wegen eines (lediglich einfachen) Fehlers bei der Befunderhebung oder der<br />

Befundsicherung gegeben sind (vgl. dazu Senatsurteile BGHZ 132, 47, 52 ff.; vom 3. 11.1998 VI ZR 253/97 VersR 1999, 231, 232 und vom 6. 07.1999 VI ZR 290/98 – aaO 1283).<br />

Das Berufungsurteil enthält keine Feststellungen dazu, dass sich die Verzögerung der richtigen Diagnosestellung und<br />

die dadurch verzögerte Behandlung nachteilig auf die Gesundheit des Klägers ausgewirkt haben oder dass die<br />

Voraussetzungen für eine Umkehr der Beweislast zugunsten des Klägers vorgelegen haben. Das war jedoch nicht<br />

selbstverständlich und hätte näherer Ausführungen bedurft, die im Übrigen dem Berufungsgericht ohne<br />

sachverständige Beratung nur bei Darlegung eigener Sachkunde möglich gewesen wären.<br />

III. Nach allem war das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit es zum Nachteil der Beklagten ergangen ist, und die<br />

Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§§ 562 Abs. 1, 2, 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO),<br />

das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.<br />

Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll<br />

Thöns BGH VI ZR 265/02 vom 08.04.2003<br />

Wird ein Patient bei einer ambulanten Behandlung so stark sediert, dass seine Tauglichkeit für den<br />

Straßenverkehr für einen längeren Zeitraum erheblich eingeschränkt ist, kann dies für den behandelnden Arzt<br />

die Verpflichtung begründen, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass sich der Patient nach der<br />

durchgeführten Behandlung nicht unbemerkt entfernt. Der Patient obsiegte.<br />

BGH, Urteil vom 8. 04.2003 VI ZR 265/02 OLG Frankfurt/Main<br />

LG Darmstadt<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 8. 04.2003 durch die Vorsitzende<br />

Richterin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr<br />

für Recht erkannt:<br />

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Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 13. Zivilsenats in Darmstadt des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main<br />

vom<br />

12. 06.2002 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Kläger machen gegen den Beklagten zu 1 (im folgenden Beklagter), einen zwischenzeitlich in Ruhestand lebenden Chefarzt<br />

für Innere Medizin im Kreiskrankenhaus S., Schadensersatzansprüche u. a. auf Ersatz entgangenen Unterhalts<br />

geltend.<br />

Am 7. 12.1993 unterzog sich der Ehemann der Klägerin zu 1 und Vater der Kläger zu 2 und 3, nachstehend als Patient<br />

bezeichnet, bei dem Beklagten einer Magenspiegelung. Der Patient wurde vor der Sedierung durch den Beklagten über<br />

die Risiken des invasiven Eingriffs aufgeklärt und belehrt, dass er nach dem Eingriff kein Kraftfahrzeug führen dürfe.<br />

Eine entsprechende Belehrung hatte er bereits durch seinen Hausarzt erhalten. Er erklärte dem Beklagten, er sei mit<br />

dem eigenen Wagen ins Krankenhaus gekommen und werde<br />

mit dem Taxi nach Hause fahren. Der große und schwergewichtige Patient erhielt anschließend zur Sedierung 20 mg<br />

Buscopan und 30 mg Dormicum (Wirkstoff Midazolam). Nach Durchführung der gegen 8.30 Uhr vorgenommenen Untersuchung<br />

verblieb er zunächst eine halbe Stunde im Untersuchungszimmer unter Aufsicht. Nach dieser halben Stunde wurden<br />

ihm 0,5 mg Anexate (Wirkstoff Flumazenil) intravenös verabreicht. Danach hielt er sich auf dem Flur vor den Dienstund<br />

Behandlungsräumen des Beklagten auf, der wiederholt Blickund Gesprächskontakt zu ihm hatte. Ohne vorher<br />

entlassen worden zu sein, entfernte er sich kurz vor 11.00 Uhr aus dem Krankenhaus und fuhr mit seinem<br />

Kraftfahrzeug weg. Kurz danach geriet er aus ungeklärter Ursache auf die Gegenfahrbahn, wo er mit einem Lastzug<br />

zusammenstieß. Er verstarb noch an der UnfallsteIle.<br />

Die Kläger haben vorgetragen, der Beklagte habe dem Patienten eine zu hohe Dosis Dormicum verabreicht und weder<br />

den Patienten über die Gefahren der verabreichten Medikamente aufgeklärt noch geeignete Sicherungsmaßnahmen<br />

ergriffen, um zu verhindern, dass dieser unbemerkt das Krankenhaus verlassen könne. Der Beklagte habe sich nicht<br />

auf dessen Erklärung verlassen dürfen, mit einem Taxi nach Hause zu fahren.<br />

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Kläger ist ohne Erfolg geblieben. Mit der zugelassenen<br />

Revision verfolgen diese ihr Klagebegehren weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht den Klägern weder unter deliktsrechtlichen noch unter<br />

vertragsrechtlichen Gesichtspunkten ein Schadensersatzanspruch zu. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme könne<br />

dem Beklagten nicht angelastet werden, dass er den Patienten wider die Regeln der ärztlichen Kunst behandelt, ihn<br />

unzureichend aufgeklärt oder unzureichend überwacht habe. Jedenfalls sei ein etwaiger Überwachungsmangel nicht<br />

kausal für dessen Tod gewesen.<br />

Der Beklagte habe bei der Durchführung seiner diagnostischen Maßnahme nicht gegen ärztliche Standards verstoßen.<br />

Auch die Kläger machten dem Beklagten nicht die Gabe des Mittels Dormicum, sondern nur dessen hohe Dosierung<br />

zum Vorwurf, die in etwa 0,3 mg pro Kilogramm Körpergewicht entspreche. Richtig sei zwar, dass der Hersteller zum<br />

Zwecke der Narkoseeinleitung nur eine Dosis von maximal 0,2 mg pro Kilogramm Körpergewicht empfehle. Nach den<br />

Ausführungen der gerichtlichen Sachverständigen sei dies aber keine starre Obergrenze. Vielmehr werde Midazolam<br />

wirkungsgeleitet dosiert; vorliegend sei die Dosis auch im Hinblick auf die postmortal festgestellte Einnahme des<br />

Wirkstoffs EthylLoflazepat durch den Patienten erforderlich gewesen, um die gewünschte Sedierungswirkung eintreten<br />

zu lassen.<br />

Mit den gerichtlichen Sachverständigen sei auch davon auszugehen, dass der Einsatz des Wirkstoffs Flumazenil (Anexate)<br />

im ambulanten Bereich trotz entgegenstehender deutscher Produktempfehlung kein ärztlicher Kunstfehler sei.<br />

Jedenfalls sei seine Gabe nicht kausal geworden, weil der Patient zu dem Zeitpunkt, als er das Krankenhaus verlassen<br />

habe, keinesfalls mehr unter dem Einfluß dieses Wirkstoffs gestanden habe.<br />

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Aufklärungsmängel habe der Senat ebenfalls nicht feststellen können. Die Kläger hätten insoweit gerügt, der Patient<br />

hätte auch darüber aufgeklärt werden müssen, dass ihm eine "abnorm hohe Dosis" Dormicum verabreicht worden sei,<br />

Anexate nur für die Behandlung von stationär aufgenommenen Patienten zugelassen sei und eine retrograde Amnesie<br />

(Gedächtnisstörung für Ereignisse, die sich vor Einnahme des Medikaments ereigneten) habe auftreten können. Hierzu meint das Berufungsgericht, ein<br />

behandelnder Arzt müsse den Patienten nicht darüber aufklären, dass eine bestimmte Medikamentenanwendung nicht<br />

in Übereinstimmung mit der Produktempfehlung stehe, soweit sich eine bestimmte Übung herausgebildet habe, von der<br />

der Arzt in concreto nicht abweiche. So verhalte es sich hier hinsichtlich des Medikaments Anexate. Dies gelte auch für<br />

die Dosierungsmenge des Sedativums Dormicum, da der Arzt bei Einleitung der sedierenden Maßnahme nicht wisse,<br />

welche Menge der Substanz er injizieren müsse. Eine Aufklärung sei auch nicht hinsichtlich der Möglichkeit einer<br />

retrograden Amnesie erforderlich gewesen, da der Beklagte nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht mit einer<br />

solchen habe rechnen müssen.<br />

Eine Haftung sei auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines Überwachungsdefizits begründet. Dem Beklagten habe es<br />

zwar oblegen, für eine Organisationsstruktur zu sorgen, die einen präventiven Schutz des Patienten gewährleiste. 1993<br />

habe es jedoch keine verbindlichen Empfehlungen gegeben, wie sedierte Patienten zu behandeln seien. Ob der<br />

Überwachungsbereich Defizite aufgewiesen habe, könne letztlich dahin stehen, weil etwaige Defizite nicht im<br />

Rechtssinne für den Tod des Patienten kausal geworden seien. Es bestehe kein Grund für die Annahme, dass der<br />

Beklagte diesen hätte hindern können, das Krankenhaus zu verlassen und gegebenenfalls auch nach<br />

ordnungsgemäßer Entlassung selbst mit dem Auto zu fahren. Die Gefährdung, die sich tatsächlich realisiert habe,<br />

beruhe auf dem eigenen Entschluß des Patienten, weil der Senat davon ausgehe, dass ihm das Wissen um das<br />

Verbot, im Anschluß an die Untersuchung Auto zu fahren, nicht aufgrund einer retrograden Amnesie verloren<br />

gegangen sei.<br />

II. Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.<br />

Die Revision macht mit Erfolg geltend, dass der Beklagte eine wegen der mit dem Eingriff verbundenen Sedierung<br />

bestehende Überwachungspflicht verletzt hat und diese Pflichtverletzung für den Tod des Patienten kausal geworden<br />

ist. Unter den Umständen des zu entscheidenden Falles hätte der Beklagte sicherstellen müssen, dass der Patient das<br />

Krankenhaus nach der durchgeführten Magenspiegelung vor seiner Entlassung nicht unbemerkt verlassen und sich<br />

dadurch der Gefahr einer Selbstschädigung aussetzen konnte.<br />

1) a) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts können die zu den Sorgfaltspflichten gegenüber<br />

suizidgefährdeten Patienten ergangenen Entscheidungen nicht ohne weiteres auf den vorliegenden Sachverhalt<br />

übertragen werden. In jenen Fällen geht die Gefahr einer Selbstschädigung aufgrund seiner Veranlagung oder seines<br />

Verhaltens, etwa eines vorangegangenen Alkoholoder Drogenmissbrauchs, von dem Patienten selbst aus. Bei solchen<br />

latent gefährdeten Patienten ist auch bei einem Aufenthalt in einem psychiatrischen Krankenhaus eine lückenlose<br />

Überwachung und Sicherung, die jede noch so fernliegende Gefahrenquelle ausschalten könnte, im allgemeinen nicht<br />

möglich. Zudem ist das Sicherheitsgebot abzuwägen gegen Gesichtspunkte der Therapiegefährdung durch allzu strikte<br />

Verwahrung. Dies rechtfertigt es, die<br />

Pflicht zum Schutz des Patienten vor einer Schädigung, die diesem wegen seiner Krankheit durch ihn selbst droht, auf<br />

das Erforderliche und das für das Krankenhauspersonal und die Patienten Zumutbare zu beschränken (vgl. Senatsurteil vom 20.<br />

06.2000 VI ZR 377/99 VersR 2000, 1240, 1241; BGH, Urteil vom 23. 09.1993 III ZR 107/92 VersR 1994, 50, 51). Diese Fallgestaltungen sind nicht mit der hier<br />

gegebenen zu vergleichen, bei der die Gefahr einer Selbstschädigung erst durch die vom Beklagten im<br />

Zusammenhang mit dem Eingriff durchgeführte Sedierung und ihre Folgewirkungen entstand, die u.a. wegen der<br />

unstreitig gegebenen Möglichkeit einer anterograden Amnesie (Gedächtnisstörung für die Zeit nach Verabreichung des Medikaments) und einer<br />

längeren Fahruntüchtigkeit für den Patienten gefährlich waren. Unter solchen Umständen gewinnt auch für die Pflicht<br />

zur Patientensicherung bzw. Patientenüberwachung der für den Inhalt von Verkehrssicherungspflichten geltende<br />

Grundsatz in erhöhtem Maß an Bedeutung, dass derjenige, der Gefahrenquellen schafft oder verstärkt, auch die<br />

notwendigen Vorkehrungen zum Schutz des Gefährdeten, hier des Patienten, treffen muss (vgl. Senatsurteil vom<br />

20. 06.2000 VI ZR 377/99 VersR 2000, 1240, 1241). b) Ausgehend von diesen Überlegungen liegt bei dem nach den Feststellungen des<br />

Berufungsgerichts gegebenen Sachverhalt eine Verletzung der dem Beklagten obliegenden Überwachungspflicht vor,<br />

obgleich es für das hier maßgebliche Jahr 1993 keine verbindlichen Empfehlungen für die ambulante Behandlung<br />

sedierter Patienten gab und auch in den USA Empfehlungen für schwer sedierte Patienten erst 1994 und 1996<br />

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herausgegeben wurden. Es lagen besondere, dem Beklagten auch bekannte Umstände vor, die aufgrund der<br />

vorgenommenen Sedierung und ihrer Folgewirkungen zu einer erhöhten Gefahr für den Patienten führten und die vom<br />

Beklagten getroffenen Maßnahmen zur Überwachung des Patienten nicht ausreichen ließen.<br />

Dem Beklagten war bekannt, dass der Patient ohne Begleitperson mit dem eigenen Kraftfahrzeug in das Krankenhaus<br />

gekommen und wegen der Verabreichung des Wirkstoffs Midazolam noch lange Zeit nach dem Eingriff nicht in der<br />

Lage war, selbst ein Kraftfahrzeug zu führen. Nach seinen Angaben bei der Anhörung vor dem Berufungsgericht wußte<br />

er auch, dass bei der Anwendung von Midazolam eine anterograde Amnesie auftreten konnte, so dass er mit einer<br />

Gedächtnisstörung für die Zeit nach Verabreichung des Medikaments rechnen musste, die jedenfalls dann zu einer<br />

erheblichen Gefährdung des Patienten führen konnte, wenn sich dieser nicht mehr daran erinnerte, dass er das<br />

Krankenhaus erst nach seiner offiziellen Entlassung verlassen durfte. Zudem mußte der Beklagte nach den<br />

Feststellungen des Berufungsgerichts mit einbeziehen, dass sich nach Abklingen der Wirkung des Flumazenils wieder<br />

signifikante Sedierungswirkungen einstellen konnten. Aufgrund dieser Umstände geht das Berufungsgericht nach<br />

sachverständiger Beratung selbst davon aus, dass der Patient wegen der Wirkung des Medikaments zum Zeitpunkt<br />

seines Weggehens aus dem Krankenhaus zwar nicht mehr vital gefährdet, aber im Sinne der Fachterminologie nur<br />

„home ready―, nicht jedoch „street ready― war. Die Revision weist in diesem Zusammenhang unter Hinweis auf die<br />

Ausführungen der Sachverständigen zu Recht darauf hin, dass wegen der Folgewirkungen der Sedierung noch zum<br />

Zeitpunkt seiner Entfernung aus dem Krankenhaus bei dem Patienten eine Bewußtseinstrübung und Einschränkung<br />

der Einsichtsfähigkeit nicht ausgeschlossen werden konnte und er deswegen möglicherweise nicht in der Lage<br />

gewesen sei, abgewogene und eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen.<br />

Jedenfalls bei einem Medikament mit diesem auch von den Sachverständigen aufgezeigten Gefahrenpotential war die<br />

im Anschluß an den wegen einer akuten Gefährdung von Vitalfunktionen notwendigen Aufenthalt im<br />

Untersuchungszimmer veranlasste Unterbringung auf dem Flur vor den Dienstund<br />

Behandlungsräumen des Beklagten nicht geeignet, die nach den Gesamtumständen bestehenden<br />

Überwachungspflichten zu erfüllen. Auch wenn der Beklagte den Patienten während der Aufenthaltszeit von ca. zwei<br />

Stunden mehrfach angesprochen hat, konnte dieser bei einem solchen Aufenthaltsort leicht den Eindruck gewinnen,<br />

dass er eigentlich nach Hause könne und nur müde sei. Den Hinweis, dass er erst nach einer offiziellen Entlassung<br />

weggehen durfte, konnte er wie dem Beklagten bekannt war wegen der möglichen anterograden Amnesie vergessen<br />

haben. Die dem Beklagten aufgrund der ihm bekannten und von ihm geschaffenen gefahrerhöhenden Umstände<br />

obliegende Fürsorgepflicht hätte es deshalb erfordert, den Patienten in einem Raum unterzubringen, in dem er unter<br />

ständiger Überwachung stand und gegebenenfalls daran erinnert werden konnte, dass er das Krankenhaus nicht<br />

eigenmächtig verlassen durfte. In Betracht kam insoweit ein Vorzimmer oder ein besonderes Wartezimmer, wobei sich<br />

die Organisation im einzelnen nach den Möglichkeiten vor Ort richten durfte. Für den hier zu beurteilenden Sachverhalt<br />

kommt es im Ergebnis nur darauf an, dass jedenfalls die tatsächlich erfolgte Unterbringung auf dem Flur ohne die<br />

Möglichkeit einer ständigen Beobachtung nicht ausreichte, um den Patienten daran zu hindern, sich gegebenenfalls<br />

unbemerkt zu entfernen und die Gefahr eines selbstgefährdenden Verhaltens auszuschließen. Die Revision verweist in<br />

diesem Zusammenhang mit Recht darauf, dass auch nach den Angaben der Sachverständigen das Entfernen des<br />

Patienten aus dem Krankenhaus nicht hätte unbemerkt bleiben dürfen und Überwachungsdefizite bestanden, die<br />

letztlich auch in den Ausführungen des Berufungsgerichts anklingen, das diese Frage allerdings im Ergebnis<br />

offengelassen hat, weil es die Kausalität verneint hat.<br />

c) Aufgrund der vorstehenden Ausführungen kommt es nicht auf die vom Berufungsgericht in den Mittelpunkt seiner<br />

Erwägungen gestellte Frage an, ob der Beklagte mit der Möglichkeit einer retrograden Amnesie zu rechnen hatte. Auch<br />

wenn man von der nach Auffassung des erkennenden Senats im Ergebnis vertretbaren Würdigung des<br />

Berufungsgerichts ausgeht, dass der Beklagte mit dieser Möglichkeit nicht rechnen mußte, würde dies hinsichtlich der<br />

oben erörterten Umstände nicht zu einer anderen Bewertung führen. Im Ergebnis hat der Beklagte auch ohne<br />

Einbeziehung der Möglichkeit einer retrograden Amnesie die ihm obliegende Verpflichtung verletzt, den Patienten so zu<br />

überwachen, dass er das Krankenhaus nicht unbemerkt verlassen konnte. Obgleich das Berufungsgericht die<br />

rechtliche Wertung hinsichtlich einer Verletzung der Überwachungspflicht im Ergebnis offen gelassen hat, ist der<br />

erkennende Senat nicht gehindert, diese Wertung zu treffen, da der maßgebliche Sachverhalt festgestellt und eine<br />

weitere Aufklärung nicht erforderlich ist.<br />

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2) Mit Erfolg wendet sich die Revision auch gegen die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Kausalität. Dies folgt<br />

schon daraus, dass der Patient aufgrund einer ausreichenden Überwachung daran gehindert werden mußte, das<br />

Krankenhaus unbemerkt zu verlassen. Bei einer ausreichenden Beaufsichtigung wäre es nicht zu dem Unfall<br />

gekommen, da nichts dafür spricht, dass der Patient sich auch dann entfernt hätte, indem er etwa eine Intervention der<br />

Aufsichtsperson nicht beachtet hätte. Aus dem gleichen Grund hätte sich auch das weitere Medikament mit dem<br />

Wirkstoff EthylLoflazepat nicht ausgewirkt, das der Patient nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ohne<br />

Wissen des Beklagten eingenommen hatte und welches die Wirkung des Midazolams erhöhte.<br />

3) Ein Mitverschulden des Patienten liegt nach den gegebenen Umständen nicht vor. Zwar ist auch derjenige, der<br />

Schutzpflichten gegenüber einem anderen verletzt, grundsätzlich berechtigt, sich auf § 254 Abs. 1 BGB zu berufen,<br />

wenn sich die zu schützende Person durch mitursächliches schuldhaftes Verhalten selbst einen Schaden zufügt. § 254<br />

BGB als Ausprägung des in § 242 BGB normierten Grundsatzes von Treu und Glauben soll den Schädiger jedoch nur<br />

in dem Umfang von der Haftung entlasten, in dem der Schaden billigerweise dem eigenen Verhalten des Geschädigten<br />

zugerechnet werden muß. Eine solche (auch nur teilweise) Schadenszurechnung scheidet daher aus, wenn die Verhütung des<br />

entstandenen Schadens dem Beklagten allein oblag (vgl. Senatsurteil BGHZ 96, 98 ff.). So war es hier. Der Beklagte hätte<br />

sicherstellen müssen, dass der Patient das Krankenhaus nicht unbemerkt verlassen konnte und sich dadurch der<br />

Gefahr einer Selbstschädigung aussetzte. Hätte er seine Pflicht erfüllt, wäre es nicht zu dem eigenmächtigen Entfernen<br />

und dem nachfolgenden Unfall gekommen. Der eingetretene Schaden ist daher ausschließlich auf die Pflichtverletzung<br />

des Beklagten zurückzuführen, die gerade darauf gerichtet war, das Verhalten des Patienten zu verhindern, welches<br />

als mögliches Mitverschulden in Betracht gezogen werden könnte. Aus demselben Grund scheidet auch eine<br />

Mitverursachung wegen der Einnahme des weiteren Medikaments durch den Patienten aus.<br />

4) Einer Haftung des Beklagten steht auch nicht das Verweisungsprivileg des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB entgegen. Der<br />

Patient wurde nicht stationär in das Kreiskrankenhaus S. aufgenommen, in dem der Beklagte damals Chefarzt für<br />

Innere Medizin war. Der Beklagte hat vielmehr eine ambulante diagnostische Maßnahme durchgeführt. Bei einer<br />

solchen ambulanten Behandlung ist auch der behandelnde beamtete Krankenhausarzt grundsätzlich selbst<br />

Haftungsschuldner, so dass er sich nicht auf das Verweisungsprivileg des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB berufen kann (vgl.<br />

Senatsurteile BGHZ 100, 363, 366 ff.; BGHZ 120, 376, 380 ff.; BGHZ 124, 128, 131 ff.) III. Nach alledem ist eine Haftung des Beklagten dem Grunde nach<br />

gegeben. Der erkennende Senat sieht sich am Erlaß eines Grundurteils nur deswegen gehindert, weil der Beklagte<br />

hinsichtlich eines Teils der geltend gemachten Ansprüche die Einrede der Verjährung erhoben hat.<br />

Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr<br />

Thöns BGH VI ZR 131/02 vom 25.03.2003<br />

a) Der Schutz des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten erfordert grundsätzlich, dass ein Arzt, der einem<br />

Patienten eine Entscheidung über die Duldung eines operativen Eingriffs abverlangt und für diesen Eingriff<br />

bereits einen Termin bestimmt, ihm schon in diesem Zeitpunkt auch die Risiken aufzeigt, die mit diesem<br />

Eingriff verbunden sind. Eine erst später erfolgte Aufklärung ist zwar nicht in jedem Fall verspätet. Eine hierauf<br />

erfolgte Einwilligung ist jedoch nur wirksam, wenn unter den jeweils gegebenen Umständen der Patient noch<br />

ausreichend Gelegenheit hat, sich innerlich frei zu entscheiden. Deshalb ist bei stationärer Behandlung eine<br />

Aufklärung erst am Tag des Eingriffs grundsätzlich verspätet.<br />

b) Eine Haftung wegen nicht ausreichender oder nicht rechtzeitiger Aufklärung entfällt, wenn der Patient über<br />

das maßgebliche Risiko bereits anderweitig aufgeklärt ist. BGH, Urteil vom 25. 03.2003 VI ZR 131/02 OLG<br />

Koblenz LG Mainz<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung<br />

vom 25. 03.2003 durch die Vorsitzende Richterin Dr. hter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 6. 03.2002<br />

aufgehoben.<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 223


Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an<br />

das Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Der Kläger begehrt Schadensersatz und Schmerzensgeld nach zwei vom Beklagten zu 1) im Klinikum der Beklagten zu<br />

2) durchgeführten Bandscheibenoperationen, die nach seiner Behauptung zu einer kompletten Lähmung seiner Blase<br />

geführt haben.<br />

Nachdem ein am 10. 04.1989 durchgeführtes Kernspintomogramm einen mediolateral gelegenen Bandscheibenvorfall<br />

in Höhe L5/S1 rechts mit deutlicher Komprimierung des Duralschlauches und der rechten Nervenwurzel S1 gezeigt<br />

hatte, suchte der Kläger am 12. 04.1989 den Beklagten zu 2) in der Klinik auf. Er klagte über seit mehr als 6 Wochen<br />

bestehende Lumboischialgien rechts mit einer Fußheberparese rechts. Konservative Therapien waren erfolglos<br />

geblieben. Störungen der Blasenund Mastdarmfunktion bestanden nicht. Anhand der seitens des Klägers<br />

mitgebrachten Krankenunterlagen stellte der Beklagte zu 2) die Operationsindikation und ließ den Kläger für Samstag,<br />

den 15. 04.1989, zur Operation vormerken, weil am 12. 04.1989 kein Bett frei war.<br />

Dementsprechend wurde der Kläger am 15. April stationär in der Klinik aufgenommen. Bei der Aufnahmeuntersuchung<br />

zeigten sich eine eingeschränkte Beweglichkeit im Bereich der Lendenwirbelsäule, positive<br />

Nervenwurzeldehnungszeichen, diskrete Fußheberparese rechts, Abschwächung des Achillessehnenreflexes sowie<br />

eine Hypästhesie im Dermatom S1 rechts. Am Nachmittag klärte der Beklagte zu 2) den Kläger über die<br />

Operationsrisiken auf. Das vom Kläger unterzeichnete Einwilligungsformular erwähnt handschriftlich als mögliche<br />

Komplikationen: "Blutung, Nachblutung, entzündliche Komplikationen, neurologische Ausfälle". Gegen 20.00 Uhr<br />

erfolgte dann die Operation durch den Beklagten zu 2) und den früheren Beklagten zu 3).<br />

Im Anschluß an den bis zum 27. 04.1989 dauernden stationären Aufenthalt führte der Kläger eine<br />

Rehabilitationsmaßnahme durch. Da er weiterhin über Beschwerden klagte, wurde er am 18. 05.1989 nochmals in der<br />

neurochirurgischen Klinik der Beklagten zu 1) aufgenommen. Nach neuerlicher Aufklärung mit Hinweis auf<br />

neurologische Ausfälle als Risiko erfolgte dort am Abend des 26. 05.1989 eine Reoperation, bei der lediglich<br />

Narbengewebe vorgefunden wurde. Während dieses zweiten Klinikaufenthaltes traten Blasenentleerungsstörungen<br />

auf, wobei allerdings der genaue Zeitpunkt nicht dokumentiert wurde.<br />

Im weiteren Verlauf schilderte der Kläger häufig wechselnde Beschwerden im Sinne von Sensibilitätsstörungen und<br />

Lähmungen im Bereich der unteren Extremitäten. Bei neurologischen Untersuchungen wurden, abgesehen von den<br />

Blasenentleerungsstörungen, keine neurologischen Defizite festgestellt, und es wurde die Diagnose eines akuten<br />

psychogenen Ausnahmezustands gestellt.<br />

Am 9. 06.1989 wurde der Kläger voll mobil und weitgehend schmerzfrei, bei allerdings weiterhin gestörter<br />

Blasenfunktion, nach Hause entlassen. Die Blasenentleerungsstörung bildete sich sodann über Wochen hinweg<br />

zunächst zurück, trat nach einem Jahr jedoch in Form einer Blasenlähmung wieder in Erscheinung. Der Kläger ist<br />

derzeit darauf angewiesen, sich sechsmal am Tag selbst zu katheterisieren.<br />

Das Landgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die erstinstanzliche<br />

Entscheidung durch Teilurteil bestätigt, soweit sie die früheren Beklagten zu 3) bis 5) betraf. Bezüglich der Beklagten zu<br />

1) und 2) hat es mit dem angefochtenen Schlußurteil die Berufung zurückgewiesen und die Revision zur Frage der<br />

Rechtzeitigkeit der Aufklärung zugelassen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Begehren gegenüber den<br />

Beklagten zu 1) und 2) weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist der Nachweis eines Behandlungsfehlers nicht geführt. Insoweit ergebe<br />

sich auch nicht wegen der festgestellten Dokumentationsmängel eine Beweislastumkehr zugunsten des Klägers.<br />

Hinsichtlich beider Operationen liege eine wirksame Einwilligung vor. Zwar sei eine Aufklärung, die nur neurologische<br />

Störungen erwähne, ohne dies näher zu erklären, unzureichend, weil ein Laie mit einer neurologischen Störung nicht<br />

gravierende Störungen wie eine Lähmung der Blase verbinde. Nach Vernehmung der beiden Parteien stehe aber fest,<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 224


dass der Beklagte zu 2) den Kläger am 15. 04.1989 auch darauf hingewiesen habe, dass in seltenen Einzelfällen eine<br />

Lähmung der Blase eintreten könne, die in sehr seltenen Fällen von Dauer sei.<br />

Die Aufklärung sei im Hinblick auf die konkreten Umstände des Falles rechtzeitig erfolgt. So habe sich der Kläger mit<br />

der Erforderlichkeit einer Operation bereits einige Tage davor gedanklich beschäftigt, da bereits seit Mittwoch<br />

festgestanden habe, dass operiert werden müsse. Nachdem ihm am Samstag u.a. das (sehr seltene) Risiko einer<br />

Blasenlähmung mitgeteilt worden sei, habe er bis zur Operation noch mehrere Stunden Zeit gehabt, sich mit der Frage<br />

auseinander zu setzen, ob er sich operieren lassen wolle. Darüber hinaus habe ihm die Möglichkeit offen gestanden,<br />

bei Zweifeln seinen Vater oder einen seiner Freunde, beides Ärzte, telefonisch zu kontaktieren, um das Für und Wider<br />

einer Operation noch einmal zu besprechen. Da es sich bei der Blasenstörung um ein sehr seltenes Risiko handele,<br />

werde der Kläger den Eintritt der schlimmen Folge jedoch für dementsprechend wenig wahrscheinlich gehalten haben.<br />

II. Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision, die sich gegen die Auffassung wendet, die Aufklärung sei<br />

ausreichend gewesen und rechtzeitig erfolgt, nicht durchweg stand.<br />

1. Die Beschränkung der Revisionszulassung auf die Frage, ob die Aufklärung rechtzeitig erfolgte, hindert den<br />

erkennenden Senat nicht, auch zu prüfen, ob das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei die Überzeugung gewonnen hat,<br />

dass der Kläger am 15. 04.1989 ausreichend aufgeklärt worden ist. Wird die Revision zugelassen, so erfaßt die<br />

Zulassung den Streitgegenstand, über den das Berufungsgericht entschieden hat (vgl. Senatsurteil vom 25. 04.1995 VI ZR 272/94 VersR 1995,<br />

841; BGHZ 141, 232, 233 f. und 130, 50, 59 m.w.N.; BGH, Urt. vom 5. 02.1998 III ZR 103/97 NJW 1998, 1138, 1139). Gegen die Auffassung des Berufungsgerichts,<br />

dass der Kläger inhaltlich ausreichend aufgeklärt worden sei, ist aus revisionsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern.<br />

a) Die Feststellung des Berufungsgerichts, dass der Beklagte zu 2) den Kläger am 15. 04.1989 u.a. auf das Risiko<br />

einer, möglicherweise auch dauerhaften, Blasenlähmung hingewiesen hat, läßt entgegen der Auffassung der Revision<br />

einen Rechtsfehler nicht erkennen. Die Angriffe der Revision hiergegen beschränken sich darauf, die eigene<br />

Würdigung an die Stelle der Beweiswürdigung durch das Berufungsgericht zu setzen.<br />

b) Entgegen der Auffassung der Revision bedurfte es keiner Aufklärung darüber, dass eine Blasenlähmung und<br />

schwächung nicht zwangsläufig auf eine intraoperative Verletzung zurückzuführen sein muß, sondern sich auch infolge<br />

einer Verkettung unglücklicher Umstände entwickeln kann, die vom Arzt nur begrenzt zu beeinflussen sind.<br />

Entscheidend ist eine Verdeutlichung des Risikos, wohingegen es im Streitfall keiner Aufklärung darüber bedurfte, dass<br />

sich das Risiko auch unabhängig vom ärztlichen Vorgehen verwirklichen könne.<br />

c) Ohne Erfolg macht die Revision geltend, das von den Beklagten verwendete "Einwilligungsformular für einen<br />

ärztlichen Eingriff" sei völlig unspezifisch und unzureichend gewesen. Nach der Rechtsprechung des erkennenden<br />

Senats bedarf es zum Zwecke der Aufklärung grundsätzlich des vertrauensvollen Gesprächs zwischen Arzt und<br />

Patienten, auf dessen Inhalt das Berufungsgericht bei seiner Überzeugungsbildung zulässigerweise abgestellt hat (vgl.<br />

Senatsurteile vom 8. 01.1985 VI ZR 15/83 VersR 1985, 361, 362). Das schließt die ergänzende Verwendung von Merkblättern nicht aus, in denen<br />

die notwendigen Informationen zu dem Eingriff einschließlich seiner Risiken schriftlich festgehalten sind. Dass der<br />

Kläger infolge der Verwendung des Formulars bezüglich der Risiken des Eingriffs, etwa durch deren verharmlosende<br />

Darstellung, irregeführt worden wäre, ist nicht ersichtlich und wird vom Kläger auch nicht behauptet.<br />

2. Mit Recht wendet sich die Revision allerdings gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, dass die Aufklärung am<br />

Nachmittag des 15. 04.1989, des Operationstags, rechtzeitig erfolgt sei. a) Insoweit geht das Berufungsgericht zwar im<br />

Ansatz von der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats aus, nach der der Patient vor dem beabsichtigten<br />

Eingriff so rechtzeitig aufgeklärt werden muß, dass er durch hinreichende Abwägung der für und gegen den Eingriff<br />

sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise<br />

wahren kann (vgl. Senatsurteile vom 17. 03.1998 VI ZR 74/97 VersR 1998, 766, 767; vom 4. 04.1995 VI ZR 95/94 – VersR 1995, 1055, 1056 f.; vom 14. 06.1994 – VI ZR 178/93 – VersR 1994, 1235,<br />

1236; vom 7. 04.1992 VI ZR 192/91 VersR 1992, 960 f.). Zum Schutz des Selbstbestimmungsrechtes erfordert dies grundsätzlich, dass ein<br />

Arzt, der einem Patienten eine Entscheidung über die Duldung eines operativen Eingriffs abverlangt und für diesen<br />

Eingriff bereits einen Termin bestimmt, ihm schon in diesem Zeitpunkt auch die Risiken aufzeigt, die mit diesem Eingriff<br />

verbunden sind. Allerdings ist eine erst später erfolgte Aufklärung nicht in jedem Fall verspätet. Vielmehr hängt die<br />

Wirksamkeit einer hierauf erfolgten Einwilligung davon ab, ob unter den jeweils gegebenen Umständen der Patient<br />

noch ausreichend Gelegenheit hat, sich innerlich frei zu entscheiden (Senatsurteile vom 7. 04.1992 VI ZR 192/91 aaO und vom 14. 06.1994 – VI ZR 178/93<br />

– aaO). Je nach den Vorkenntnissen des Patienten von dem bevorstehenden Eingriff kann bei stationärer Behandlung<br />

eine Aufklärung im Verlaufe des Vortages grundsätzlich genügen, wenn sie zu einer Zeit erfolgt, zu der sie dem<br />

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Patienten die Wahrung seines Selbstbestimmungsrechts erlaubt (Senatsurteil vom 17. 03.1998 VI ZR 74/97 aaO). Hingegen reicht es bei<br />

normalen ambulanten und diagnostischen Eingriffen grundsätzlich aus, wenn die Aufklärung am Tag des Eingriffs<br />

erfolgt. Auch in solchen Fällen muss jedoch dem Patienten bei der Aufklärung über die Art des Eingriffs und seine<br />

Risiken verdeutlicht werden, dass ihm eine eigenständige Entscheidung darüber, ob er den Eingriff durchführen lassen<br />

will, überlassen bleibt (vgl. Senatsurteile vom 4. 04.1995 VI ZR 95/94 – aaO und vom 14. 06.1994 – VI ZR 178/93 – aaO). b) Das Berufungsgericht geht selbst<br />

davon aus, dass seine Wertung von der Entscheidung des erkennenden Senats vom 17. 03.1998 VI ZR 74/97 VersR<br />

1998, 766 abweicht und hat deshalb die Revision zugelassen. Es meint, im Streitfall sei die Aufklärung aufgrund<br />

besonderer Umstände des Einzelfalls noch als rechtzeitig anzusehen. Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Wie<br />

imSenatsurteil vom 7. 04.1992 dargelegt, wird ein Patient auch bei Aufklärung am Vorabend einer Operation in der<br />

Regel mit der Verarbeitung der ihm mitgeteilten Fakten und der von ihm zu treffenden Entscheidung überfordert sein,<br />

wenn er für ihn überraschend erstmals aus dem späten Aufklärungsgespräch von gravierenden Risiken des Eingriffs<br />

erfährt, die seine persönliche zukünftige Lebensführung entscheidend beeinträchtigen können. Ob das im Streitfall<br />

verwirklichte Risiko ein solches Gewicht hatte, kann dahinstehen, da die Aufklärung ohnehin erst am Tag des Eingriffs<br />

erfolgte. Das war nach den dargelegten Grundsätzen jedenfalls verspätet. Der erkennende Senat hat in diesem<br />

Zusammenhang darauf hingewiesen, dass sogar bei größeren ambulanten Eingriffen mit beträchtlichen Risiken eine<br />

Aufklärung erst am Tag des Eingriffs nicht mehr rechtzeitig sein dürfte, zumal solchen Operationen gewöhnlich<br />

Untersuchungen vorangehen, in deren Rahmen die erforderliche Aufklärung bereits erteilt werden kann (Senatsurteil vom 14.<br />

06.1994 – VI ZR 178/93 – aaO).<br />

c) Die Umstände des Einzelfalls geben keinen Anlaß, von den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen<br />

abzuweichen. Der Beklagte zu 2) konnte den Kläger bereits am Mittwoch, dem 12. 04.1989, über die Risiken der<br />

Bandscheibenoperation aufklären, als er ihm zu dem operativen Eingriff riet und zugleich einen Operationstermin mit<br />

ihm vereinbarte. Dies wäre der richtige Zeitpunkt für die Aufklärung gewesen, auch wenn eine rechtzeitige Aufklärung –<br />

notfalls durch zusätzliche Einbestellung des Patienten – noch zu einem späteren Zeitpunkt möglich gewesen wäre. Da<br />

der Kläger dem Beklagten zu 2) nach den Feststellungen des Berufungsgerichts am 12. April die Krankenunterlagen<br />

mitbrachte, lagen zu diesem Zeitpunkt alle wesentlichen Informationen vor, die dann auch zu der Entscheidung für die<br />

Operation führten. Am 15. 04.1989 haben sich bei der Aufnahmeuntersuchung grundlegend neue Gesichtspunkte nicht<br />

ergeben. Wenn wegen des fehlenden Bettes am 12. 04.1989 die stationäre Aufnahme für Samstag, den 15. 04.1989<br />

vereinbart wurde, kann für diesen Tag von einer "notfallmäßigen Aufnahme" nicht gesprochen werden.<br />

Bei dieser Sachlage ist die Aufklärung am Nachmittag des Operationstages in Anbetracht der möglichen erheblichen<br />

Folgen des Eingriffs für die Lebensführung des Patienten nicht rechtzeitig erfolgt. Der Beklagte zu 2) hat bei seiner<br />

Parteivernehmung selbst darauf hingewiesen, dass es sich bei der Operation um eine Stelle handelte, die zu den<br />

empfindlichsten des Menschen überhaupt zähle, und der Operateur in einen Bereich eintrete, in dem die Nerven,<br />

u.a. der Blase, des Darms und des Damms verliefen und beeinflußt werden könnten. In Anbetracht dieser möglichen<br />

gravierenden Folgen benötigte der Kläger zur Wahrung seines Selbstbestimmungsrechts eine längere Bedenkzeit für<br />

eine Einwilligung in die Operation. Der Umstand, dass er bereits seit einigen Tagen von dem Operationstermin wußte,<br />

kann nicht zu einer anderen Wertung führen, weil es bei der Abwägung entscheidend auf die Kenntnis von den<br />

Operationsrisiken ankommt. Der Hinweis auf eine mögliche telefonische Nachfrage bei seinem Vater oder einem seiner<br />

Freunde geht schon deswegen fehl, weil nicht einmal feststeht, dass der Kläger diese in der verbleibenden Zeit bis zum<br />

Beginn der Operationsvorbereitungen erreicht hätte. Ebenso kommt es nicht darauf an, wie oft das Risiko zu einer<br />

Komplikation führen konnte. Entscheidend war vielmehr die Bedeutung, die das Risiko für die Entschließung des<br />

Patienten haben konnte. Bei der hier gegebenen möglichen besonders schweren Belastung für die Lebensführung des<br />

Patienten war die rechtzeitige Information über das Risiko für die Einwilligung des Patienten auch dann von Bedeutung,<br />

wenn sich das Risiko sehr selten verwirklicht (vgl. Senatsurteile BGHZ 90, 103, 107 und 144, 1, 5; vom 2. 11.1993 VI ZR 245/92 VersR 1994, 104, 105). Gerade<br />

solche schwerwiegenden Risiken können den Patienten veranlassen, eine Operation auch bei bestehender Indikation<br />

zu hinterfragen und sich über etwaige Alternativen zu informieren, selbst wenn es sich dabei aus Sicht des<br />

behandelnden Arztes nicht um eine gleichwertige Behandlungsmöglichkeit handeln sollte.<br />

d) Der nicht rechtzeitig aufgeklärte Patient muss allerdings substantiiert darlegen, dass ihn die späte Aufklärung in<br />

seiner Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt hat, und plausibel machen, dass er, wenn ihm rechtzeitig die Risiken der<br />

Operation verdeutlicht worden wären, vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte, wobei allerdings an die<br />

Substantiierungspflicht zur Darlegung eines solchen Konflikts keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen (vgl.<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 226


Senatsurteile vom 17. 03.1998 VI ZR 74/97 VersR 1998, 766, 767; vom 14. 06.1994 VI ZR 178/93 VersR 1994, 1235, 1236; vom 7. 04.1992 VI ZR 192/91 VersR 1992, 960, 962). Insoweit weist<br />

die Revision jedoch darauf hin, dass der Kläger solche Gründe in der Berufungsinstanz vorgetragen hat.<br />

3. Soweit die Revision eine nicht ausreichende und verspätete Aufklärung vor der zweiten Operation am 26. 05.1989<br />

geltend macht, kann sie keinen Erfolg haben. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats entfällt eine solche<br />

Haftung, wenn feststeht, dass der Patient über das maßgebliche Risiko bereits anderweit aufgeklärt ist, da er dann<br />

weiß, in welchen Eingriff er einwilligt (vgl. Senatsurteile vom 28. 02.1984 VI ZR 70/82 VersR 1984, 538, 539; vom 22. 01.1980 VI ZR 263/78 VersR 1980, 428, 429; vom 23. 10.1979<br />

VI ZR 197/78 VersR 1980, 68, 69). Hier war eine inhaltlich ausreichende Aufklärung am 15. 04.1989 erfolgt, die für die Operation am<br />

26. 05.1989 ausreichte, weil sich gegenüber der ersten Operation kein neues Risiko ergeben hat. III. Eine<br />

abschließende Sachentscheidung ist dem Senat nicht möglich, weil das Berufungsgericht von seinem Standpunkt aus<br />

folgerichtig keine Feststellungen zu den im Verfahren weiter relevanten Fragen getroffen hat. Das angefochtene Urteil<br />

war daher aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.<br />

Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 266/02 vom 18.03.2003<br />

Ergeben nachträgliche Befunde eine Indikation für einen medizinischen Eingriff, der ohne wirksame<br />

Einwilligung vorgenommen wurde und deshalb rechtswidrig ist, rechtfertigt dieser Umstand regelmäßig den<br />

Eingriff nicht. Dies verbietet die Wahrung der persönlichen Entscheidungsfreiheit des Patienten, die nicht<br />

begrenzt werden darf durch das, was aus ärztlicher Sicht oder objektiv erforderlich und sinnvoll wäre. Der<br />

Patient obsiegte.<br />

BGH, Urteil vom 18. 03.2003 VI ZR 266/02 Pfälzisches OLG Zweibrücken<br />

LG Landau<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 18. 03.2003 durch die Vorsitzende<br />

Richterin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom<br />

2. 07.2002 aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an<br />

den<br />

2. Zivilsenat des Berufungsgerichts zurückverwiesen. Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die Klägerin verlangt Ersatz materiellen und immateriellen Schadens sowie die Feststellung der Einstandspflicht des<br />

Beklagten für zukünftige Schäden, die als Folgen eines nach einer Operation durch den Beklagten am 5. 05.1995<br />

erlittenen Schlaganfalles auftreten werden.<br />

Im Frühjahr 1995 stellte der Beklagte bei der Klägerin anlässlich einer Krebsvorsorgeuntersuchung durch einen<br />

Abstrich eine Präkanzerose an der Gebärmutter fest. Am 21. 04.1995 fand deshalb in der Praxis des Beklagten ein<br />

Gespräch zwischen den Parteien in Anwesenheit des Ehemannes der Klägerin statt. Dabei wurde von dieser ein<br />

„perimed―Merkblatt zur Aufklärung über die Entfernung der Gebärmutter mittels Bauchschnittes (Hysterektomie) unter<br />

zeichnet. Am 2. 05.1995 begab sich die Klägerin stationär in das Städtische Krankenhaus in L., in dem der Beklagte<br />

Belegbetten hatte, wo am Folgetag durch den Beklagten die Hysterektomie vorgenommen wurde. Die feingewebliche<br />

Untersuchung des entnommenen Gewebes ergab leichtbis mittelgradige Plattenepitheldysplasien der Portio vaginalis<br />

uteri, die vom Pathologen als eine cervikale intraepitheliale Neoplasie des Typs II (CIN II) gewertet wurde. Nach<br />

postoperativen Komplikationen wurde die Klägerin am Morgen des 5. 05.1995 gegen 5 Uhr in ihrem Bett in der<br />

Pflegeabteilung des Krankenhauses mit einem Schlaganfall aufgefunden. Sie ist seitdem rechtsseitig gelähmt und auf<br />

die Betreuung durch ihren Ehemann angewiesen.<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 227


Die Klägerin hat behauptet, eine Gebärmutterentfernung mittels eines Bauchschnittes sei nicht indiziert gewesen. Es<br />

hätte eine Konisation ausgereicht, um eine Gewebeprobe für eine histologische Untersuchung zu entnehmen. Erst<br />

wenn der Befund den Krebsverdacht bestätigt hätte, wäre eine Entfernung der Gebärmutter indiziert gewesen. Dies<br />

hätte der Beklagte um so mehr beachten müssen, als sie eine Risikopatientin gewesen sei. Bei einer Konisation hätte<br />

es nur einer wesentlich leichteren Narkose bedurft. Sie hätte deshalb danach höchstwahrscheinlich keinen Schlaganfall<br />

erlitten. Der Beklagte hafte für die eingetretenen Folgen der Operation, weil er sie unzureichend über deren<br />

Notwendigkeit und Risiken aufgeklärt habe.<br />

Die Klage ist vom Landgericht abgewiesen worden. Die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht<br />

zurückgewiesen, weil die Aufklärung ordnungsgemäß und ausreichend gewesen sei und auch nicht von einer<br />

fehlenden Indikation für die Hysterektomie ausgegangen werden könne. Der erkennende Senat hat diese Entscheidung<br />

auf die Revision der Klägerin mit Urteil vom<br />

22. 05.2001 (VI ZR 268/00 VersR 2002, 120) aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das<br />

Berufungsgericht zurückverwiesen, weil die Feststellungen des Berufungsgerichts zur Indikation der Operation nicht frei<br />

von Verfahrensfehlern waren.<br />

Das Berufungsgericht hat ergänzende Stellungnahmen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. B. eingeholt und<br />

diesen und Dr. S. mündlich angehört. Hierauf hat es durch das nunmehr angefochtene Urteil erneut die Berufung der<br />

Klägerin zurückgewiesen und die Revision zugelassen.<br />

Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihre Klageansprüche weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I. Das Berufungsgericht führt aus, aufgrund der weiteren Beweisaufnahme sei nicht erwiesen, dass der Beklagte die<br />

Klägerin fehlerhaft behandelt habe. Es könne dahinstehen, ob die sogleich durchgeführte Entfernung der Gebärmutter<br />

im konkreten Fall bei dem vor der Operation erhobenen Abstrichbefund Pap IVa medizinischem Standard entsprochen<br />

habe und die Methode der Wahl gewesen sei. Nach dem ergänzenden Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. B.<br />

und seinen Ausführungen bei den mündlichen Anhörungen sowie denen des Dr. S. sei jedenfalls im Nachhinein<br />

aufgrund des histologischen Befundes des entfernten Gewebes die Operation als primär präventive Maßnahme<br />

indiziert und vom Umfang her sachgerecht gewesen. Der Beklagte hafte auch nicht wegen unzureichender ärztlicher<br />

Aufklärung der Klägerin. Der Bundesgerichtshof habe die Ausführungen im Berufungsurteil vom 13. 06.2000 auf die<br />

Bezug genommen werde zur Aufklärung als rechtsfehlerfrei gebilligt. Es sei in diesem Zusammenhang nicht von<br />

entscheidungserheblicher Bedeutung, dass sich die Hysterektomie wohl erst im Nachhinein aufgrund des pathologischhistologischen<br />

Befundes als behandlungsfehlerfrei erwiesen habe, weil die vom<br />

Beklagten der Klägerin empfohlene Entfernung der Gebärmutter jedenfalls der bei objektiver Sachlage gebotenen bzw.<br />

anzuratenden ärztlichen Vorgehensweise entsprochen habe.<br />

II. Diese Ausführungen des Berufungsgerichts halten revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.<br />

1. Soweit die Revision rügt, das Berufungsgericht habe aufgrund unzureichender Sachaufklärung die bei der Klägerin<br />

durchgeführte Hysterektomie für medizinisch indiziert gehalten, bezieht sie sich ersichtlich auf die Auffassung des<br />

Berufungsgerichts, der histologische Befund nach der Uterusexstirpation habe diesen Eingriff nachträglich<br />

gerechtfertigt. Ob ihre Angriffe insoweit Erfolg haben könnten, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. a) Das<br />

Berufungsgericht läßt dahinstehen, ob nach der Feststellung eines Pap IVa Abstrichs die sogleich durchgeführte<br />

Entfernung der Gebärmutter im konkreten Fall, insbesondere angesichts des Alters und der sonstigen gesundheitlichen<br />

Beeinträchtigungen der Klägerin medizinischem Standard entsprochen hat und die Methode der Wahl gewesen ist.<br />

Somit ist revisionsrechtlich davon auszugehen, dass dies nicht der Fall war.<br />

b) Ersichtlich hat das Berufungsgericht diese Frage offengelassen, weil es durch das Ergänzungsgutachten des<br />

gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. B. und die Ausführungen des Gutachters im Schlichtungsverfahren Dr. S. bei<br />

seiner mündlichen Anhörung zur Auffassung kam, dass der histologische Befund nachträglich die Entfernung des<br />

Uterus gerechtfertigt habe. Diese Auffassung beruht auf einem Mißverständnis der vom Berufungsgericht zitierten<br />

Rechtsmeinung (vgl. Frahm/Nixdorf, Arzthaftungsrecht, 2. Aufl., Rdnrn. 65, 66; Staudinger/J. Hager, 1999, BGB, § 823 Rdnr. I 19; MüKo/Mertens, BGB,<br />

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3. Aufl., § 823 Rdnr. 367), wonach bei der rechtlichen Beurteilung des ärztlichen Handelns zwar grundsätzlich der medizinische<br />

Standard zum Zeitpunkt der Behandlung zugrunde zu legen ist, jedoch neuere Entwicklungen in der Medizin auch nicht<br />

völlig unerheblich sind. Nachträgliche Erkenntnisse könnten sich zugunsten des Arztes auswirken, soweit sie seine<br />

therapeutischen Maßnahmen rechtfertigen. Aus dem Zusammenhang der betreffenden Ausführungen ergibt sich, dass<br />

die nachträgliche Rechtfertigung des ärztlichen Handelns durch ein Fortschreiten der medizinischen Wissenschaft und<br />

hierdurch gewonnene Erkenntnisse gemeint ist. c) Darum geht es im Streitfall nicht. Hier geht es um die Frage, ob ein<br />

Behandlungsfehler vorliegt, wenn der Arzt einen schwerwiegenden Eingriff wie er mit der Entfernung der Gebärmutter<br />

durch Bauchschnitt gegeben ist vornimmt, ohne zuvor einen wesentlich weniger belastenden und medizinisch<br />

gebotenen Eingriff in Form der Konisation oder eines weiteren Abstrichs durchzuführen. Die Abklärung des Befundes<br />

durch die Entnahme von Gewebeproben für eine weitere histologische Untersuchung haben sowohl der gerichtliche<br />

Sachverständige Prof. Dr. B. als auch der Gutachter im vorprozessualen Schlichtungsverfahren Dr. S. in den<br />

ergänzenden Gutachten und bei der mündlichen Anhörung für geboten erachtet und nach dem Kenntnisstand vor der<br />

Uterusentfernung als „Mittel der Wahl― bezeichnet. Unter den Umständen des Streitfalls kann dahinstehen, ob das<br />

Berufungsgericht bei der gegebenen Sachlage einen Behandlungsfehler schon mit der Begründung verneinen durfte,<br />

dass der später erhobene histologische Befund die sofortige Entfernung des Uterus nachträglich als richtig erscheinen<br />

ließ.<br />

2. Die Revision macht nämlich mit Erfolg geltend, dass die der Klägerin erteilte Aufklärung nicht ausreichend gewesen<br />

sei. a) Soweit das Berufungsgericht meint, die Ausführungen, mit denen es die Aufklärung im ersten Berufungsurteil für<br />

hinreichend erachtet hatte, seien im Urteil des erkennenden Senats vom 22. 05.2001 VI ZR 268/00 – aaO als<br />

rechtsfehlerfrei gebilligt worden, trifft dies nicht zu.<br />

Der erkennende Senat hat sich hierbei lediglich zu der Frage geäußert, ob das Berufungsgericht unter den Umständen<br />

des Streitfalls den Beklagten als Partei habe vernehmen dürfen und seine Bekundungen ohne Verfahrensfehler<br />

gewürdigt habe. Auf den Inhalt der Aufklärung konnte nach dem damaligen Verfahrensstand gar nicht eingegangen<br />

werden, da der Umfang der Aufklärungspflicht maßgeblich von der Frage abhing, welches ärztliche Vorgehen in<br />

Betracht kam und das Berufungsgericht noch keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen hatte. Darauf weist<br />

die Revision zu Recht hin.<br />

b) Nachdem die Ergänzung der Beweisaufnahme ergeben hat, dass zunächst eine Konisation geboten war und der<br />

gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. B. bei seiner mündlichen Anhörung beschrieben hat, welchen Inhalt das<br />

Aufklärungsgespräch insoweit hätte haben müssen, kann die vom Beklagten der Klägerin erteilte Aufklärung nicht als<br />

ausreichend angesehen werden.<br />

Der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. B. hat es für erforderlich erachtet, dass der Klägerin die Konisation als<br />

Methode der Wahl dargestellt worden wäre und nur daneben ein Hinweis darauf erforderlich gewesen wäre, dass auf<br />

Grund der persönlichen Situation und gesundheitlichen Verfassung der Klägerin auch eine Hysterektomie in Betracht<br />

komme.<br />

Dem entsprach die vom Beklagten erteilte Aufklärung nicht. Der erkennende Senat kann dies auf der Grundlage der<br />

vom Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise getroffenen tatsächlichen Feststellungen im<br />

Berufungsurteil vom 13. 06.2000 zum Aufklärungsgespräch vom<br />

21. 04.1995, auf die im vorliegenden Berufungsurteil Bezug genommen wird, selbst beurteilen. Der Beklagte hat<br />

danach die Klägerin auf die Alternativen Konisation oder Hysterektomie hingewiesen und ihr empfohlen, sich die<br />

Gebärmutter bis spätestens Herbst 1995 entfernen zu lassen. Selbst wenn aufgrund der persönlichen Situation und der<br />

gesundheitlichen Verfassung der Klägerin möglicherweise eine Hysterektomie auch schon zum Zeitpunkt der Operation<br />

in Betracht gezogen werden konnte, hätte der Beklagte jedenfalls darauf hinweisen müssen, dass die Hysterektomie<br />

nicht die Methode der Wahl sei, sondern zuerst der Befund durch eine Konisation abzuklären sei. War die<br />

Hysterektomie nur vertretbar, um der Klägerin eine weitere Operation zu ersparen, hätte sie in Wahrung ihres<br />

Selbstbestimmungsrechts darüber aufgeklärt werden müssen, dass und mit welchem Risiko ein Aufschieben oder<br />

gänzliches Unterlassen des Eingriffs verbunden ist (vgl. Senatsurteil vom 14. 01.1997 VI ZR 30/96 VersR 1997, 451, 452). Indem der Beklagte der<br />

Klägerin zwar die Konisation und die Hysterektomie als Alternativen dargestellt hat, zu letzterem Eingriff aber geraten<br />

und dabei Herbst 1995 als zeitlichen Rahmen genannt hat, hat er erkennbar den Kern der gebotenen Aufklärung<br />

verfehlt und insbesondere die Klägerin darüber im Unklaren gelassen, dass diese Operation nach dem vorliegenden<br />

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Befund aus medizinischer Sicht nicht zwingend durchgeführt werden mußte. Entgegen der Ansicht des<br />

Berufungsgerichts wird dieser Mangel der Aufklärung auch nicht dadurch beseitigt, dass die Empfehlung zur<br />

Entfernung der Gebärmutter durch den nachoperativen histologischen Befund bestätigt wurde. Selbst bei einem aus<br />

ärztlicher Sicht sinnvollen Eingriff bleibt es stets dem Patienten überlassen, ob er sich für ihn entscheidet und ihm<br />

zustimmt (vgl. Senatsurteil vom 26. 06.1990 VI ZR 289/89 VersR 1990, 1238 ff.). Ergeben wie im Streitfall nachträgliche Befunde eine Indikation für<br />

den Eingriff, rechtfertigt dieser Umstand regelmäßig nicht einen medizinischen Eingriff, der ohne wirksame Einwilligung<br />

vorgenommen wurde und deshalb rechtswidrig ist. Dies verbietet die Wahrung der persönlichen Entscheidungsfreiheit<br />

des Patienten, die nicht durch das, was aus ärztlicher Sicht oder objektiv erforderlich und sinnvoll wäre, begrenzt<br />

werden darf (vgl. Senatsurteil vom 26. 06.1990 VI ZR 289/89 – aaO S. 1239).<br />

III. Das Berufungsgericht hat aus seiner Sicht folgerichtig bisher keine Feststellungen zum Ursachenzusammenhang<br />

zwischen der Operation, dem Schlaganfall und den darauf beruhenden Schäden getroffen. Die Sache ist deshalb<br />

erneut an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Der Senat hat dabei von der Möglichkeit nach § 563 Abs. 1 S. 2<br />

ZPO Gebrauch gemacht.<br />

Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 42/01 vom 28.05.2002<br />

Der Tatrichter darf einen groben Behandlungsfehler nicht ohne ausreichende Grundlage in den medizinischen<br />

Darlegungen des Sachverständigen bejahen (im Anschluss an die ständige Senatsrechtsprechung: vgl. zuletzt Urteil vom 3. 07.2001 Der Arzt obsiegte.<br />

VI ZR 418/99 - VersR 2001, 1116, 1117 m.w.N.).<br />

BGH, Urteil vom 28. 05.2002 - VI ZR 42/01 - OLG Karlsruhe LG Karlsruhe<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 28. 05.2002 durch die Vorsitzende<br />

Richterin Dr. Müller und die Richter Dr. Dressler, Wellner, Pauge und Stöhr<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision des Beklagten zu 1 wird das Urteil des<br />

7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 20. 12.2000 aufgehoben. Die Sache wird zur anderweiten<br />

Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht<br />

zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen Tatbestand:<br />

Der Kläger nimmt den Beklagten zu 1, einen niedergelassenen Orthopäden und Sportarzt, auf Schadensersatz wegen<br />

eines Behandlungsfehlers in Anspruch. Dieser behandelte den Kläger ab 1. 09.1993 nach dessen Entlassung aus dem<br />

Krankenhaus, wo der Kläger am 14. 07.1993 wegen mehrerer Frakturen des rechten Sprunggelenks operativ mittels<br />

Osteosynthese (Platten und Schrauben) versorgt worden war. Nachdem der Beklagte zu 1 am<br />

2. 11.1993 ein Röntgenbild gefertigt und hierzu im Krankenblatt "Auflokkerung am Innenknöchel, distaler Außenknöchel<br />

ebenfalls aufgelockert" vermerkt hatte, überwies er den Kläger zur "Metallentfernung" ins Krankenhaus. Der Kläger<br />

stellte sich am 3. 11.1993 in der Ambulanz der chirurgischen Klinik der (früheren) Beklagten zu 2 vor, ohne das vom<br />

Beklagten zu 1 gefertigte Röntgenbild und dessen "Verordnung von Krankenhauspflege" mit Diagnose und<br />

entsprechendem Therapievorschlag (Metallentfernung) vorzulegen. Die Beklagte zu 2, eine Assistenzärztin im 1.<br />

Ausbildungsjahr, diagnostizierte einen Infekt mit Fistel. Sie nahm eine Ultraschalluntersuchung und einen Abstrich vor.<br />

In dem an den Beklagten zu 1 gerichteten Arztbericht empfahl sie eine antibiotische Therapie mit Sobelin; die<br />

Metallentfernung sei nach einem halben Jahr oder bei vollständigem knöchernen Durchbau möglich. Am 4. 11.1993<br />

kehrte der Kläger in die ambulante Behandlung des Beklagten zu 1 zurück, der sich entsprechend der im Arztbrief des<br />

Krankenhauses ausgesprochenen Empfehlung ohne dort Rücksprache zu halten auf eine Therapie mit Antibiotika<br />

beschränkte und den Kläger, obwohl ab Ende 11.1993 auf dessen Krankenblatt "Entzündung, offene Wunde, Eiter,<br />

Fistelbildung" vermerkt sind, erst im 03.1994 zur Metallentfernung ins Krankenhaus überwies. Dabei wurde aufgrund<br />

einer infizierten Osteosynthese ein Knochendefekt festgestellt, der mit scharfem Löffel ausgemuldet wurde. In der<br />

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Folge mußte sich der Kläger einer Vielzahl von operativen Revisionen und schließlich einer Gelenkversteifung (Arthrodese)<br />

unterziehen.<br />

Das Landgericht hat der auf Zahlung materiellen und immateriellen Schadensersatzes sowie auf Feststellung<br />

gerichteten Klage gegenüber der Beklagten zu 2 im Wesentlichen stattgegeben und die Klage gegen den Beklagten zu<br />

1 abgewiesen. Auf die Berufungen des Klägers und der Beklagten zu 2 hat das Oberlandesgericht die Klage gegen die<br />

Beklagte zu 2 abgewiesen und den Beklagten zu 1 verurteilt, an den Kläger 84.308,53 DM (hiervon ein Schmerzensgeld von 70.000 DM)<br />

nebst Zinsen zu zahlen; daneben hat es festgestellt, dass der Beklagte zu 1 - vorbehaltlich eines Übergangs von<br />

Ansprüchen auf Sozialversicherungsträger verpflichtet sei, dem Kläger den weiteren materiellen und immateriellen<br />

Folgeschaden zu ersetzen, der ihm deshalb entstanden ist, weil die Infektion des rechten oberen Sprunggelenks im<br />

11.1993 nicht behoben worden ist. Hiergegen richtet sich die Revision des Beklagten zu 1, mit der er seinen Antrag auf<br />

Zurückweisung der Berufung gegen das klageabweisende landgerichtliche Urteil weiterverfolgt.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I. Das Berufungsgericht hat - sachverständig beraten - die Haftung des Beklagten zu 1 bejaht, weil ein Arzt, der<br />

aufgrund richtiger eigener Befunderhebungen eine zutreffende Indikation zur Metallentfernung stelle, nicht ohne<br />

weiteres von seiner Haftung frei werde, wenn er sich mit der entgegenstehenden Diagnose eines weiteren Arztes<br />

ungeprüft zufrieden gebe. Der Beklagte zu 1, der auch ohne Hinweis Dritter die Situation des Klägers habe beurteilen<br />

können, sei bei Untätigbleiben des Krankenhauses verpflichtet gewesen, selbst weitere Maßnahmen zu ergreifen.<br />

Fehler des Krankenhauses entlasteten ihn nicht. So habe der zu Rate gezogene Sachverständige betont, dass der<br />

Beklagte zu 1 nach seiner richtigen Entscheidung vom 2. 11.1993, den Kläger ins Krankenhaus einzuweisen, nicht<br />

durch den Arztbrief der Ambulanz von seiner Überzeugung hätte abgebracht werden dürfen. Nachdem die<br />

Verantwortung für die ambulante Weiterbehandlung (wieder) in seinen Händen gelegen habe, hätte er diese<br />

Verantwortung übernehmen und zumindest nach einem überschaubaren Zeitraum von 10 bis 14 Tagen bei fehlender<br />

Besserung unter der empfohlenen und durchgeführten antibiotischen Behandlung sich für eine erneute Überweisung<br />

ins Krankenhaus entscheiden müssen. Dieses Unterlassen und darüber hinaus auch die Weiterführung einer rein<br />

konservativen Behandlung trotz bleibender bzw. immer wieder auftretender Rötung und Fistelung mit eitriger Sekretion<br />

habe der Sachverständige aus medizinischer Sicht als nicht angängig bezeichnet und sie wegen der der eigenen<br />

diametral entgegengesetzten, eindeutig unrichtigen Beurteilung der Krankenhausambulanz für undurchdacht und falsch<br />

gehalten. Diese medizinische Wertung lasse den Behandlungsfehler des Beklagten zu 1 als unverständlich und damit<br />

als grob im Sinne der Rechtsprechung erscheinen. Dass dieser Fehler geeignet gewesen sei, den Schaden (zunächst und<br />

primär das Weiterbestehen der Infektion) herbeizuführen, habe der Sachverständige mit dem Hinweis bejaht, die Heilungschancen seien<br />

um so größer, je früher ein solcher Infekt angegangen werde und es sei nicht ausgeschlossen, dass bei operativen<br />

Maßnahmen bis Mitte 11.1993 die Infektion zum Ausheilen gebracht worden und wahrscheinlich dem Kläger bei einer<br />

Operation zu diesem Zeitpunkt die Arthrodese erspart geblieben wäre. Dies rechtfertige die Umkehr der Beweislast<br />

dahin, dass der Beklagte zu 1 den behaupteten Kausalverlauf widerlegen müsse, was ihm nicht gelungen sei. II. Diese<br />

Beurteilung des Berufungsgerichts hält den Angriffen der Revision nicht stand. Die getroffenen Feststellungen<br />

rechtfertigen nicht die Annahme des Berufungsgerichts, der Beklagte zu 1 habe wegen eines groben<br />

Behandlungsfehlers für die vom Kläger geltend gemachten Schäden haftungsrechtlich einzustehen.<br />

1. Das Berufungsgericht ist allerdings ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass dem Beklagten ein schuldhafter<br />

Behandlungsfehler zu Lasten des Klägers dadurch unterlaufen ist, dass er sich trotz seiner richtigen Diagnose und der<br />

Überweisung des Klägers in das Krankenhaus zur operativen Entfernung des Metalls im Sprunggelenk ohne<br />

Rücksprache mit der Beklagten zu 2 mit deren Arztbrief vom 3. 11.1993 zufrieden gegeben und sich auf die darin<br />

empfohlene Therapie mit Antibiotika beschränkt hat. a) Für einen vergleichbaren Sachverhalt hat der Senat (vgl. Senatsurteil<br />

vom 8. 11.1988 VI ZR 320/87 VersR 1989, 186, 187 f.) zu den Anforderungen an einen Hausarzt entschieden, dieser dürfe sich zwar im<br />

allgemeinen darauf verlassen, dass die Klinikärzte seine Patienten richtig behandelt und beraten haben, und dürfe<br />

meist auch auf deren bessere Sachkunde und größere Erfahrung vertrauen. Anders sei es aber dann, wenn der<br />

Hausarzt ohne besondere weitere Untersuchungen aufgrund der bei ihm vorauszusetzenden Kenntnisse und<br />

Erfahrungen erkenne oder erkennen müsse, dass ernste Zweifel an der Richtigkeit der Krankenhausbehandlung und<br />

der dort seinen Patienten gegebenen ärztlichen Ratschläge bestehen. In einem solchen Fall dürfe er im Rahmen seiner<br />

eigenen ärztlichen Sorgfaltspflichten dem Patienten gegenüber offenbare Versehen oder ins Auge springende<br />

Unrichtigkeiten nicht unterdrücken.<br />

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Dasselbe muss auch gelten, wenn der Hausarzt nach den bei ihm vorauszusetzenden Erkenntnissen und Erfahrungen<br />

jedenfalls gewichtige Zweifel und Bedenken hat, ob die Behandlung im Krankenhaus richtig war. Auch sie hat er,<br />

gegebenenfalls nach Rücksprache mit den Kollegen im Krankenhaus, mit seinem Patienten zu erörtern. Kein Arzt, der<br />

es besser weiß, darf nämlich sehenden Auges eine Gefährdung seines Patienten hinnehmen, wenn ein anderer Arzt<br />

seiner Ansicht nach etwas falsch gemacht hat oder er jedenfalls den dringenden Verdacht haben muß, es könne ein<br />

Fehler vorgekommen sein. Das gebietet der Schutz des dem Arzt anvertrauten Patienten (zum Sorgfaltsmaßstab vgl. Senatsurteil vom 24.<br />

06.1997 - VI ZR 94/96 - VersR 1997, 1357).<br />

b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze durfte das Berufungsgericht im vorliegenden Fall ohne Rechtsverstoß<br />

davon ausgehen, dass sich der Beklagte zu 1 als Facharzt für Orthopädie nicht ohne weiteres mit der seitens des<br />

Krankenhauses übermittelten Diagnose der Beklagten zu 2 ungeprüft zufrieden geben durfte, nachdem er selbst<br />

richtigerweise entsprechend seinem Vermerk auf dem Krankenblatt vom 2. 11.1993 außer Schwellung und<br />

Schmerzhaftigkeit aufgrund der von ihm gefertigten Röntgenaufnahme auch eine "Auflockerung" des Knöchels, ein<br />

Zeichen für eine Entzündung des Knochens (Ostitis), festgestellt und das hierbei medizinisch Gebotene veranlaßt hatte,<br />

nämlich die Überweisung des Klägers an das Krankenhaus zur operativen Entfernung des Metalls und damit im<br />

Ergebnis zur Ausräumung des Abszesses. Entgegen der Auffassung der Revision findet die Bewertung des Verhaltens<br />

des Beklagten zu 1 als Behandlungsfehler in den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. S. eine hinreichend<br />

tragfähige Grundlage. Unabhängig von der Frage, zu welchem Zeitpunkt wegen der zunächst im Krankenblatt<br />

eingetragenen Verbesserung des Heilungsverlaufs eine Rückfrage im Krankenhaus geboten war, hat der<br />

Sachverständige jedenfalls zusammenfassend betont, es könne nicht angehen, dass über die Dauer eines<br />

Vierteljahres indieser Weise konservativ behandelt werde, wenn das angestrebte Ziel nicht erreicht werde, wenn also<br />

weder die Rötung noch die Fistelung und die eitrige Sekretion verschwunden seien. Die Revision räumt insoweit selbst<br />

ein, dass bereits Ende November im Krankenblatt wieder eine entsprechende Verschlechterung des Zustandes<br />

eingetragen ist.<br />

2. Die Revision rügt jedoch mit Erfolg, dass die Beurteilung des Verhaltens des Beklagten zu 1 als groben<br />

Behandlungsfehler als Voraussetzung für eine Beweislastumkehr zu seinen Lasten von der gutachterlichen<br />

Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. S. nicht getragen wird. a) Zwar richtet sich die Einstufung eines<br />

ärztlichen Fehlverhaltens als grob nach den gesamten Umständen des Einzelfalls, deren Würdigung weitgehend im<br />

tatrichterlichen Bereich liegt. Revisionsrechtlich ist jedoch sowohl nachzuprüfen, ob das Berufungsgericht den Begriff<br />

des groben Behandlungsfehlers verkannt, als auch, ob es bei der Gewichtung dieses Fehlers erheblichen Prozeßstoff<br />

außer Betracht gelassen oder verfahrensfehlerhaft gewürdigt hat (ständige Rechtsprechung: vgl. etwa Senatsurteil vom 29. 05.2001 VI ZR 120/00 - VersR<br />

2001, 1030 m.w.N.).<br />

Ein grober Behandlungsfehler ist nicht bereits bei zweifelsfreier Feststellung einer Verletzung des maßgeblichen<br />

ärztlichen Standards gegeben; er setzt vielmehr neben einem eindeutigen Verstoß gegen bewährte ärztliche<br />

Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse die Feststellung voraus, dass der Arzt einen Fehler<br />

begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht<br />

unterlaufen darf. Auch wenn es insoweit um eine juristische, dem Tatrichter obliegende Beurteilung geht, muss diese<br />

doch in vollem Umfang durch die vom ärztlichen Sachverständigen mitgeteilten Fakten getragen werden und sich auf<br />

die medizinischeBewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen stützen können; es ist dem<br />

Tatrichter nicht gestattet, ohne entsprechende Darlegungen oder gar entgegen den medizinischen Ausführungen des<br />

Sachverständigen einen groben Behandlungsfehler aus eigener Wertung zu bejahen (vgl. etwa Senatsurteile vom 3. 07.2001 VI ZR 418/99<br />

VersR 2001, 1116, 1117; vom<br />

19. 06.2001 VI ZR 286/00 - VersR 2001, 1115, 1116 und vom 29. 05.2001 VI ZR 120/00 - aaO, jeweils m.w.N.). b) Die Revision weist mit Recht darauf hin, dass sich<br />

der Beurteilung des Sachverständigen sowohl vom Inhalt her als auch nach den von ihm verwendeten Formulierungen<br />

nicht entnehmen läßt, dass er das Versäumnis des Beklagten zu 1 als Fehler ansehen wollte, der aus objektiver Sicht<br />

nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Entgegen der Auffassung<br />

des Berufungsgerichts läßt sich eine solche Bewertung auch nicht daraus herleiten, dass der Sachverständige das<br />

Unterlassen einer Rückfrage des Beklagten zu 1 in der Ambulanz des Krankenhauses und darüber hinaus auch die<br />

Weiterführung einer rein konservativen Behandlung trotz bleibender bzw. immer wieder auftretender Rötung und<br />

Fistelung mit eitriger Sekretion aus medizinischer Sicht "als nicht angängig" bezeichnet und sie wegen der der eigenen<br />

diametral entgegengesetzten, eindeutig unrichtigen Beurteilung der Krankenhausambulanz für undurchdacht und falsch<br />

gehalten hat. Da der Sachverständige zuvor bemerkt hatte, es sei "kein Standard", diesen Infekt nur zu beobachten, es<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 232


habe etwas geschehen müssen, lassen die nachfolgenden Äußerungen auch in ihrem Gesamtzusammenhang nicht<br />

mit hinreichender Sicherheit den Schluß auf einen groben Behandlungsfehler zu. Insoweit ist auch von Bedeutung,<br />

dass das Berufungsgericht zuvor bei der Befragung des Sachverständigen zur Schwere eines Behandlungsfehlers der<br />

Beklagten zu 2 gezielt nach dessen Einstufung als grob gefragt und der Sachverständige daraufhin geantwortet hatte,<br />

es handle sich zweifellos um eine "Abweichung vom Standard", er könne aber die Frage nicht beantworten, ob er<br />

solches Verhalten wegen der Nichtvorlage der Überweisung und der Röntgenbilder durch den Kläger als<br />

unverständlich bezeichnen solle. Hieraus geht hervor, dass der Sachverständige durchaus zutreffend allein in einer<br />

Abweichung vom medizinischen Standard noch keinen groben Behandlungsfehler gesehen hat, sondern sich über das<br />

Erfordernis zusätzlicher Kriterien im Klaren war, ohne sich jedoch bezüglich der Beklagten zu 2 für den konkreten Fall<br />

festlegen zu wollen.<br />

Da sich der Sachverständige auch zur Schwere des Behandlungsfehlers des Beklagten zu 1 nicht eindeutig geäußert<br />

hat, wäre das Berufungsgericht gehalten gewesen, durch eine gezielte Befragung des Gutachters auf die Beseitigung<br />

der sich hieraus ergebenden Zweifel und Unklarheiten hinzuwirken, zumal es dies ja hinsichtlich der Beklagten zu 2<br />

wenn auch erfolglos - versucht hatte. Kann sich der Sachverständige in einem solchen Fall nicht festlegen und liegen<br />

die Voraussetzungen für eine zusätzliche Begutachtung nicht vor, darf der Tatrichter sich nicht über verbleibende<br />

Zweifel hinwegsetzen, wenn er nicht ausnahmsweise über eigene Sachkunde verfügt (vgl. Senatsurteil vom 27. 03.2001 VI ZR 18/00 - VersR<br />

2001, 859, 860).<br />

3. Mangels hinreichender Anhaltspunkte in der bisherigen medizinischen Beurteilung des Sachverständigen kann<br />

deshalb die tatrichterliche Bewertung des Behandlungsfehlers als grob keinen Bestand haben. Sollte das<br />

Berufungsgericht nach Ergänzung der Beweisaufnahme erneut zu einer Bewertung des Verhaltens des Beklagten zu 1<br />

als groben Behandlungsfehler gelangen, so stünde eine Mitverursachung des Behandlungsfehlers durch den Kläger<br />

entgegen der Auffassung der Revision - dem Eingreifen einer Beweiserleichterung im Rahmen der Kausalität nicht<br />

grundsätzlich entgegen. Die von der Revision zur Begründung ihrer gegenteiligen Auffassung herangezogenen, vom<br />

Senat durch Nichtannahmebeschlüsse vom 19. 02.1991 VI ZR 224/90 - und vom 20. 01.1998 VI ZR 161/97 gebilligten<br />

obergerichtlichen Entscheidungen (vgl. KG VersR 1991, 928; OLG Braunschweig VersR 1998, 459) sind von dem ihnen zugrundeliegenden<br />

Sachverhalt her dem vorliegenden nicht vergleichbar.<br />

Gegebenenfalls wird das Berufungsgericht auch die Überlegungen der Revision zu einem etwaigen Mitverschulden des<br />

Klägers im Sinne des § 254 Abs. 1 BGB zu prüfen haben (vgl. Senat BGHZ 96, 98, 100; Urteile vom 27. 11.1990 VI ZR 30/90 VersR 1991, 308, 309; vom 25.<br />

06.1985 VI ZR 270/83 VersR 1985, 1068, 1070 und vom 17. 12.1996 VI ZR 133/95 - VersR 1997, 449, 450).<br />

Dr. Müller Dr. Dressler Wellner Pauge Stöhr<br />

ThönsBGH VI<br />

ZR 136/01 vom 18. 06.2002<br />

Zu den Voraussetzungen, unter denen das auf einem ärztlichen Behandlungsfehler beruhende Unterbleiben<br />

eines nach den Grundsätzen der medizinischen Indikation gemäß § 218a Abs. 2 StGB rechtmäßigen<br />

Schwangerschaftsabbruchs die Pflicht des Arztes auslösen kann, den Eltern den Unterhaltsaufwand für ein<br />

Kind zu ersetzen, das mit schweren Behinderungen zur Welt kam. Der Patient obsiegte.<br />

BGH, Urteil vom 18. 06.2002 VI ZR 136/01 OLG München LG Augsburg<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 18. 06.2002 durch die Vorsitzende<br />

Richterin Dr. Müller, die Richter Dr. Dressler, Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und den Richter Pauge<br />

für Recht erkannt:<br />

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 24. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München in Augsburg vom 15.<br />

02.2001 wird zurückgewiesen.<br />

Die Beklagte hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.<br />

Von Rechts wegen Tatbestand:<br />

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Die klagenden Eheleute sind die Eltern des am 24. 10.1996 geborenen Sebastian H., der mit schweren körperlichen<br />

Fehlbildungen zur Welt kam: Beide Oberarme waren nicht ausgebildet; der rechte Oberschenkel war verkürzt, der linke<br />

fehlte; an beiden Beinen fehlte das Wadenbein; beide Füße wiesen eine KnickHackfußstellung auf. Die Kläger nehmen<br />

die beklagte Frauenärztin auf Schadensersatz in Anspruch, weil diese während der von ihr durchgeführten<br />

Schwangerschaftsbetreuung die Fehlbildungen des Kindes pflichtwidrig nicht erkannt habe und deshalb eine rechtlich<br />

zulässige Abtreibung unterblieben sei. Gegenstand der Klage ist außer der Feststellung der Schadensersatzpflicht der<br />

Beklagten auch die Zahlung eines Schmerzensgeldes, weil die Klägerin zu 1 seit der Geburt des Kindes an einem<br />

psychischen Trauma leide.<br />

Im Verlauf der Schwangerschaft nahm die Beklagte bei der Klägerin zu 1 insgesamt elf UltraschallUntersuchungen vor.<br />

Der bei diesen Untersuchungen ebenfalls anwesende Kläger zu 2 fragte wiederholt, ob mit dem Kind alles in Ordnung<br />

sei, was die Beklagte bejahte. Bei der Untersuchung am 20. 06.1996 (Schwangerschaftswoche 20/5) maß die Beklagte einen<br />

biparietalen Durchmesser von 4,4 bis 4,7 cm und eine Femurlänge von 2,9 cm. Die Kläger werfen der Beklagten vor,<br />

dass sie nicht spätestens anlässlich der Ergebnisse dieser Ultraschalluntersuchung die Klägerin zu 1 wegen des<br />

Verdachts auf eine Fehlbildung des Oberschenkels des Kindes in eine Spezialsprechstunde überwiesen habe, wo<br />

erfahrene Sonografiker diese Fehlbildung erkannt hätten; bei rechtzeitiger Aufklärung hätte sich die Klägerin zu 1 für<br />

einen Schwangerschaftsabbruch entschieden.<br />

Die Beklagte stellt die Voraussetzungen eines Behandlungsfehlers und eines erlaubten Schwangerschaftsabbruchs in<br />

Abrede, zumal das Kind im Zeitpunkt einer denkbaren Abtreibung bereits lebensfähig gewesen wäre.<br />

Das Landgericht hat unter Klageabweisung im Übrigen die Ersatzpflicht der Beklagten für die den Klägern aus<br />

fehlerhafter ärztlicher Beratung durch die Beklagte und der damit zusammenhängenden Geburt des behinderten<br />

Kindes Sebastian entstandenen und noch entstehenden materiellen Schäden festgestellt; darüber hinaus hat es die<br />

Beklagte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 20.000 DM an die Klägerin zu 1 verurteilt. Das Oberlandesgericht<br />

hat die Berufung der Beklagten mit einer Neufassung des Feststellungsausspruchs dahin zurückgewiesen, dass die<br />

Verpflichtung der Beklagten festgestellt werde, den Klägern nach Maßgabe der Rechtsprechung des<br />

Bundesgerichtshofs Ersatz für den entstandenen und künftigen Unterhaltsbedarf ihres Kindes Sebastian, geboren am<br />

24. 10.1996, zu leisten. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I. Das Berufungsgericht hat einen Schadensersatzanspruch der Kläger auf Ersatz des Unterhaltsbedarfs ihres Sohnes<br />

Sebastian aus positiver Verletzung eines ärztlichen Behandlungsvertrages für begründet erachtet.<br />

Der zwischen der Klägerin zu 1 und der Beklagten geschlossene Vertrag zur Schwangerschaftsbetreuung, in dessen<br />

Schutzbereich auch der Kläger zu 2 eingeschlossen sei, habe die Beratung über eine erkennbare Gefahr durch<br />

Schädigungen der Leibesfrucht mit umfaßt. Die Beklagte habe ihre Beratungs<br />

5<br />

pflicht bereits dadurch schuldhaft verletzt, dass sie anlässlich der Ultraschalluntersuchung vom 20. 06.1996 nur zwei<br />

Werte statt der erforderlichen vier Werte ermittelt habe. Entscheidend und als grober Diagnosefehler (mit Beweislastumkehr in der<br />

Kausalitätsfrage) sei ihr anzulasten, dass sie die gemessene Femurlänge von 29 mm nicht als viel zu niedrig und hochgradig<br />

auffällig erkannt und sie dies weder zum Anlaß genommen habe, die Ultraschalluntersuchung auch auf die oberen<br />

Extremitäten auszudehnen, noch die Klägerin zur näheren Abklärung in eine Spezialsprechstunde zu überweisen; denn<br />

dort wäre die Fehlbildung beim Stand der Ultraschalldiagnostik im Jahre 1996 erkannt worden.<br />

Bei entsprechender pflichtgemäßer Aufklärung hätte sich die Klägerin zu 1 zu einem legalen Schwangerschaftsabbruch<br />

gemäß § 218 a Abs. 2 StGB entschlossen. Dessen Voraussetzungen hätten vorgelegen, da angesichts der schweren<br />

Behinderung des Kindes nach ärztlicher Prognose auch bei einer bis dahin psychisch gesunden Frau sowohl eine<br />

Suizidgefahr als auch eine schwerwiegende Beeinträchtigung des seelischen Gesundheitszustandes der Mutter zu<br />

befürchten gewesen wäre. Dies werde hier auch dadurch bestätigt, dass die Geburt des behinderten Kindes tatsächlich<br />

zu einer entsprechenden schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigung der Klägerin zu 1 geführt habe. Denn<br />

diese leide seit der Geburt an einer depressiven Störung, die Krankheitswert erreiche, wobei jedenfalls in den ersten<br />

Monaten eine mittelschwere Depression und während der ersten Wochen eine zumindest latente Selbstmordgefahr<br />

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vorgelegen habe, während der Zustand danach als leichtere, aber sicher behandlungsbedürftige depressive<br />

Verstimmung zu bezeichnen sei und voraussichtlich noch sehr lange Zeit fortbestehen werde.<br />

Das vom Landgericht der Klägerin zuerkannte Schmerzensgeld von<br />

20.000 DM sei im Hinblick auf die erlittenen psychischen Beeinträchtigungen angemessen, wobei nicht<br />

unberücksichtigt bleibe, dass der Klägerin die Belastung durch einen Abtreibungseingriff erspart worden sei.<br />

II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision stand. Den Klägern stehen die geltend gemachten<br />

Schadensersatzansprüche auf der Grundlage einer schuldhaften Verletzung des ärztlichen Behandlungsvertrages<br />

durch die Beklagte zu.<br />

1. Rechtlich beanstandungsfrei geht das Berufungsgericht davon aus, dass der zwischen der Klägerin zu 1 und der<br />

Beklagten geschlossene Vertrag über die Schwangerschaftsbetreuung, in dessen Schutzbereich auch der andere<br />

Elternteil, hier also der Ehemann als Kläger zu 2, einbezogen war, auch die Pflicht der Beklagten zur Beratung der<br />

Eltern über die erkennbare Gefahr einer Schädigung der Leibesfrucht mit umfaßte (vgl. hierzu z.B. Senatsurteile BGHZ 89, 95, 98; 143, 389, 393<br />

m.w.N.). Das Berufungsgericht hat insoweit zu Recht darauf hingewiesen, dass der bei den UltraschallUntersuchungen<br />

anwesende Vater wiederholt nachgefragt habe, ob mit dem Kind alles in Ordnung sei; dies zeigt das besondere<br />

Interesse, das die Eltern einer Information über eventuelle Schädigungen des Kindes beigemessen haben. Die<br />

Verletzung der Pflichten aus einem ärztlichen Behandlungsvertrag, der in dieser Weise auch auf die pränatale<br />

Untersuchung in der Schwangerschaftsbetreuung zwecks Vermeidung der Geburt eines schwer vorgeschädigten<br />

Kindes gerichtet war, kann Grundlage für den Anspruch gegen den Arzt auf Erstattung des (gesamten) Unterhaltsbedarfs<br />

des Kindes sein, das mit schweren Behinderungen zur Welt kommt (st.Rspr., vgl. z.B. Senatsurteile vom 4. 03.1997 VI ZR 354/95 7<br />

VersR 1997, 698, 699 und vom 4. 12.2001 VI ZR 213/00 VersR 2002, 233 f., jew.m.w.N.).<br />

2. Frei von Rechtsfehlern sind auch die Überlegungen, mit denen das Berufungsgericht seine Beurteilung begründet<br />

hat, der Beklagten sei hier eine schuldhafte Verletzung ihrer Pflichten anzulasten, die pränatale Untersuchung des<br />

Kindes auf Schädigungen ordnungsgemäß vorzunehmen, diagnostisch auszuwerten und die Eltern hinsichtlich der<br />

Ergebnisse in gebotener Weise zu beraten. Im Berufungsurteil ist auf der Grundlage der Ausführungen des<br />

gerichtlichen Sachverständigen beanstandungsfrei dargelegt, dass die Beklagte insbesondere die bei der<br />

UltraschallUntersuchung am 20. 06.1996 gemessene Femurlänge von 29 mm als "viel zu niedrig" und "hochgradig<br />

auffällig" hätte erkennen und hieraus die gebotenen Konsequenzen für die Veranlassung weiterer Untersuchungen und<br />

eine entsprechende Beratung der Eltern hätte ziehen müssen. Die der Beklagten insoweit unterlaufenen Versäumnisse<br />

konnte das Berufungsgericht zu Recht als Behandlungsfehler ansehen, auch wenn grundsätzlich im Bereich der<br />

Diagnoseirrtümer Zurückhaltung bei der Bewertung als ärztliche Pflichtverletzung zu üben ist. Letztlich stellt auch die<br />

Revision einen (einfachen) Behandlungsfehler der Beklagten insoweit nicht in Abrede, wendet sich vielmehr ersichtlich nur<br />

gegen dessen Bewertung als grob. 3. Keinen rechtlichen Bedenken begegnet die Feststellung im Berufungsurteil, dass<br />

sich die Klägerin zu 1, wäre sie nach einer gebotenen weiteren Abklärung der Untersuchungsbefunde über die zu<br />

erwartenden Fehlbildungen des Kindes rechtzeitig informiert und entsprechend beraten worden, zu einem Abbruch der<br />

Schwangerschaft entschlossen hätte. Ein schuldhafter ärztlicher Behandlungsfehler, wie er hier vorliegt, kann<br />

allerdings davon geht auch das Berufungsgericht aus nur dann zu einer vertraglichen Haftung auf Ersatz des hier in<br />

Rede stehenden Schadens führen, wenn ein Abbruch der Schwan<br />

8<br />

gerschaft rechtlich zulässig gewesen wäre. Eine auf der Verletzung des Behandlungsvertrages beruhende Vereitelung<br />

eines möglichen Schwangerschaftsabbruchs kann nämlich nur dann Ansatz dafür sein, die Eltern im Rahmen eines<br />

vertraglichen Schadensersatzanspruchs gegen den Arzt auf der vermögensmäßigen Ebene von der<br />

Unterhaltsbelastung durch das Kind freizustellen, wenn der Abbruch rechtmäßig gewesen wäre, also der<br />

Rechtsordnung entsprochen hätte und von ihr nicht mißbilligt worden wäre (st.Rspr., vgl. insbesondere BGHZ 129, 178, 185 und Senatsurteile vom 4.<br />

12.2001 VI ZR 213/00 aaO, S. 234 sowie vom 19. 02.2002 VI ZR 190/01 NJW 2002, 1489, 1490). Entgegen der Auffassung der Revision weist die Beurteilung<br />

des Berufungsgerichts, unter den vorliegend gegebenen Umständen wäre ein Schwangerschaftsabbruch nach der<br />

medizinischen Indikation des § 218 a Abs. 2 StGB rechtlich zulässig gewesen, keine Rechtsfehler auf.<br />

a) Zutreffend hat das Berufungsgericht die Voraussetzungen einer Indikation für einen Eingriff, der zur Abwendung der<br />

gesundheitlichen Gefahren der Mutter im Hinblick auf die Belastung mit einem schwerbehinderten Kind in Betracht<br />

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kam, anhand des § 218 a Abs. 2 StGB in der Fassung des Schwangerenund Familienhilfeänderungsgesetzes vom 21.<br />

08.1995 (BGBl. I 1050) geprüft. Aufgrund dieser gesetzlichen Neufassung ist der mit Einwilligung der Schwangeren von<br />

einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch dann nicht rechtswidrig, wenn er unter Berücksichtigung der<br />

gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine<br />

Gefahr für das Leben oder das Risiko einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen<br />

Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden und die Gefahr nicht auf andere, für sie zumutbare Weise<br />

abgewendet werden kann.<br />

9<br />

In dieser gesetzlichen Neufassung ist die früher in § 218 a Abs. 2 und Abs. 3 StGB in der Fassung des<br />

Schwangerenund Familienhilfegesetzes vom<br />

27. 07.1992 (BGBl. I 1398) in Verbindung mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. 05.1993 (BGBl. I 820) enthaltene<br />

eigenständige Regelung der sogenannten embryopathischen Indikation entfallen; damit sollte klargestellt werden, dass<br />

eine Behinderung des Kindes als solche niemals zu einer Minderung des Lebensschutzes führen kann (BTDrs. 13/1850, S. 26),<br />

vielmehr entscheidend für die Zulässigkeit einer Abtreibung stets nur sein kann, ob das Austragen des Kindes zu<br />

unzumutbaren Belastungen für die gesundheitliche Situation der Mutter führt, denen anders als durch einen Abbruch<br />

nicht wirksam begegnet werden kann. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollen die Fallkonstellationen der<br />

früheren "embryopathischen Indikation" nunmehr der Sache nach von der medizinischen Indikation (auch als "medizinischsoziale<br />

Indikation" bezeichnet, vgl. z.B. Eser in: Schönke/Schröder, 26. Aufl., Rdn. 26 zu § 218 a StGB) des nunmehrigen § 218 a Abs. 2 StGB aufgefangen werden<br />

(BTDrs. 13/1850 aaO). Dies entspricht auch der herrschenden Meinung in der rechtswissenschaftlichen Literatur (vgl. dazu Eser in:<br />

Schönke/Schröder, 26. Aufl., Rdn. 34, 42 zu § 218 a StGB; Tröndle/Fischer, 50. Aufl., Rdn. 21 zu § 218 a StGB; Lackner/Kühl, 24. Aufl., Rdn. 22 vor § 218 StGB; Beckmann, ZfL 1995, 24, 27; einschränkend<br />

Rudolphi in: SKStGB, Rdn. 8 zu § 218 a StGB). Daher ist bei den Fallgestaltungen, die nach der bisherigen rechtlichen Regelung der<br />

"embryopathischen Indikation" unterfielen, nunmehr im Rahmen des § 218 a Abs. 2 StGB zu prüfen, ob sich für die<br />

Mutter aus der Geburt des schwerbehinderten Kindes und der hieraus resultierenden besonderen Lebenssituation<br />

Belastungen ergeben, die sie in ihrer Konstitution überfordern und die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung<br />

ihres insbesondere auch seelischen Gesundheitszustandes als so drohend erscheinen lassen, dass bei der gebotenen<br />

Güterabwägung das Lebensrecht des Ungeborenen dahinter zurückzutreten hat.<br />

b) Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler im vorliegenden Fall für die<br />

Klägerin zu 1 die Voraussetzungen eines nach diesen Grundsätzen rechtlich zulässigen Schwangerschaftsabbruchs<br />

bejaht. Bei der gebotenen Prognose aus ärztlicher Sicht wäre, wie im Berufungsurteil auf der Grundlage der Anhörung<br />

des medizinischen Sachverständigen festgestellt ist, angesichts der zu erwartenden sehr schweren Behinderungen des<br />

Kindes sowohl die Gefahr eines Suizidversuchs als auch einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des seelischen<br />

Gesundheitszustandes der Mutter zu befürchten gewesen. Dass bei der Klägerin zu 1 nach der Geburt tatsächlich<br />

Depressionen auftraten, die deutlich Krankheitswert erreichten, wobei zumindest in den ersten Wochen auch eine<br />

latente Selbstmordgefahr vorlag, stützt diese Prognosebeurteilung. Unter den hier gegebenen, in der Beweisaufnahme<br />

hervorgetretenen Umständen konnte das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise von<br />

einer anders als durch den Abbruch der Schwangerschaft nicht abzuwendenden schwerwiegenden gesundheitlichen<br />

Gefährdung der Mutter ausgehen und einen derartigen mit dem Tod des ungeborenen Kindes verbundenen Eingriff für<br />

rechtlich zulässig erachten.<br />

c) Entgegen der Auffassung der Revision wäre im vorliegenden Fall ein bei gebotener ärztlicher Information und<br />

Beratung der Klägerin zu 1 im Rahmen der Schwangerschaftsbetreuung in Betracht zu ziehender<br />

Schwangerschaftsabbruch auch nicht wegen des fortgeschrittenen Entwicklungsstandes des Embryos unzulässig<br />

gewesen. Die Revision will im Hinblick auf insoweit in der juristischen Literatur diskutierte mögliche Überlebensraten<br />

ungeborener Kinder ab der 22. Schwangerschaftswoche (vgl. dazu etwa Tröndle/Fischer, 50. Aufl., Rdn. 22 zu § 218 a StGB m.w.N.) eine Abtreibung in<br />

Fällen wie dem vorliegen<br />

den aus verfassungsrechtlichen Gründen generell ausschließen. Dieser Auffassung vermag sich der Senat nicht<br />

anzuschließen.<br />

aa) Allerdings enthält die Regelung der medizinischen Indikation des § 218 a Abs. 2 StGB anders als die früher<br />

selbständige "embryopathische Indikation" des § 218 a Abs. 3 StGB a.F., die einen Abbruch nur bis zur<br />

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22. Schwangerschaftswoche zuließ keine zeitliche Befristung. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />

(insbesondere in den Entscheidungen BVerfGE 39, 1 ff. und BVerfGE 88, 203 ff.) ist indessen kein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, dass eine derartige<br />

Befristung in Fällen der medizinischen Indikation aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten wäre. Einerseits ist der<br />

Lebensschutz des ungeborenen Kindes grundsätzlich während der gesamten Dauer der Schwangerschaft zu<br />

gewährleisten; andererseits kann von der Mutter, wenn schwerwiegende Gefahren für ihr Leben oder ihre Gesundheit<br />

drohen und nicht anders abgewendet werden können, ebenfalls während der gesamten Dauer der Schwangerschaft<br />

grundsätzlich nicht verlangt werden, dass sie ihre eigenen existentiellen Belange und Rechtspositionen denen des<br />

Kindes aufopfert. Dies hat auch dann zu gelten, wenn die schwerwiegende Gefährdung der Mutter nicht aus zu<br />

befürchtenden physischen Beeinträchtigungen während der Schwangerschaft oder der Geburt resultiert, sondern eine<br />

relevante nicht anders abwendbare Bedrohung ihres Lebens oder ihrer seelischen Gesundheit deshalb zu erwarten ist,<br />

weil sie konstitutionell nicht in der Lage ist, während der Schwangerschaft und nach der Geburt eines<br />

schwerbehinderten Kindes die damit verbundenen Belastungen und Verantwortlichkeiten psychisch zu bewältigen. bb)<br />

Allerdings setzt die Entscheidung, ob im Einzelfall die insoweit zu ziehende Opfergrenze für den Ausnahmetatbestand<br />

der Rechtfertigung der mit dem Tode des Embryos verbundenen Abtreibung aus medizinischer Indikation überschritten<br />

ist (vgl. zu diesen Erfordernissen z.B. Senatsurteile BGHZ 129, 178, 183 f. und vom 4. 12.2001 VI ZR 213/00 aaO S. 234 mit Hinweis auf BVerfGE 88, 203, 272 ff.), eine Güterund<br />

Interessenabwägung voraus. Das gilt gerade in den Fällen, in denen es nicht um eine unmittelbare physische<br />

Lebensbedrohung der Schwangeren geht, sondern um aus den dargelegten psychischen Belastungen insbesondere<br />

für die Zeit nach der Geburt zu befürchtende Beeinträchtigungen. Diese Abwägung muss den Rechtspositionen sowohl<br />

des Embryos als auch der Mutter soweit wie möglich gerecht werden. Auch wenn das Lebensrecht des Kindes dem<br />

Grunde nach eine zeitliche Differenzierung der Schutzpflicht nicht zuläßt (vgl. BVerfGE 88, 203, 254, 257), kann doch bei dieser<br />

Abwägung zur Bestimmung der Voraussetzungen der medizinischen Indikation auch die Dauer der Schwangerschaft<br />

und die daraus resultierende besondere Situation für Mutter und Kind Berücksichtigung finden (vgl. dazu etwa Tröndle/Fischer, 50. Aufl.,<br />

Rdn. 26 zu § 218 a StGB; Rudolphi in: SKStGB, Rdn. 28 zu § 218 a StGB; a.A. Rüfner, ZfL 2000, 82, 83). In den Fällen der medizinischen Indikation soll der<br />

Schwangerschaftsabbruch sowohl aus dem gesundheitlichen Interesse der Frau als auch im Hinblick auf die<br />

Schutzwürdigkeit des sich weiter entwickelnden ungeborenen Lebens so früh wie möglich vorgenommen werden. Im<br />

Rahmen dieser Prüfung kann den Ergebnissen des medizinischen Fortschritts, der zu einer immer weiteren<br />

Vorverlagerung der extrauterinen Lebensfähigkeit des Embryos führen mag, ihre Bedeutung zukommen.<br />

cc) Es braucht im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden, ob und unter welchen Umständen unter<br />

Berücksichtigung dieser Grundsätze die Zulässigkeit einer "Spätabtreibung" in den letzten Schwangerschaftswochen,<br />

die auf die Abwehr von Gefahren für den psychischen Gesundheitszustand der Mutter eines voraussichtlich<br />

behinderten Kindes gerichtet ist, rechtlichen Bedenken begegnen könnte. Denn hier geht es nicht um das Problem<br />

einer derartigen "Spätabtreibung". Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Berufungsgerichts, die insoweit auch<br />

von der Revision nicht in Abrede gestellt werden, hätte bei gehöriger Untersuchung und Beratung der Klägerin zu 1 ein<br />

Schwangerschaftsabbruch jedenfalls noch in der 22. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden können also sogar<br />

noch innerhalb der Frist, die nach der früheren Regelung des § 218 a Abs. 3 StGB a.F. als Befristung der<br />

"embryopathischen Indikation" vorgesehen war. In Rede steht unter diesen Umständen also nicht ein Abbruch in den<br />

letzten Schwangerschaftswochen, in denen der Übergang zwischen Abtreibung und Einleitung einer Frühgeburt<br />

fließend sein mag. Wie im Berufungsurteil dargelegt ist, hat der gerichtliche Sachverständige hier sogar die Auffassung<br />

vertreten, in diesem möglichen Abbruchszeitpunkt wäre konkret noch kein lebensfähiges Kind geboren worden. Mag<br />

dies, wovon das Berufungsgericht ausgeht, im Hinblick auf Äußerungen in der medizinischen Literatur zu den<br />

Möglichkeiten des Beginns der extrauterinen Lebensfähigkeit auch letztlich offen sein, geboten es die hier<br />

festgestellten Umstände doch jedenfalls nicht, bei der im Rahmen der Indikationsfeststellung erforderlichen<br />

Güterabwägung die Interessen der Mutter hintanzusetzen, die wie bereits erörtert aus psychischen Gründen<br />

schwerwiegenden Gefahren für ihr Leben und ihre Gesundheit ausgesetzt war.<br />

4. Im Ergebnis ohne Rechtsfehler hat das Berufungsgericht die Kausalität des der Beklagten anzulastenden<br />

Behandlungsfehlers und der hierauf beruhenden Nichtdurchführung eines rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruchs<br />

für den seitens der Kläger geltend gemachten Unterhaltsschaden bejaht. Der Einwand der Revision, ein ursächlicher<br />

Zusammenhang zwischen der fehlerhaften Diagnose und der Belastung der Kläger mit dem Unterhaltsaufwand für ihr<br />

Kind liege deswegen nicht vor, weil das Kind auch bei einem Schwangerschaftsabbruch möglicherweise überlebt hätte,<br />

greift nicht durch. a) Allerdings hat das Berufungsgericht trotz der Bekundungen des gerichtlichen Sachverständigen,<br />

bei einer möglichen Abtreibung innerhalb von weniger als einer Woche ab dem 20. 06.1996, also noch innerhalb der<br />

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22. Schwangerschaftswoche, wäre mit Sicherheit kein lebendes Kind geboren worden, hierzu keine endgültigen<br />

Feststellungen getroffen. Es ist daher revisionsrechtlich vom Vorbringen der Beklagten auszugehen, dass bereits<br />

Kinder mit einem Geburtsgewicht von 500 Gramm bei einem Schwangerschaftsalter von etwa 22 bis 24 Wochen<br />

überleben können; die Chancen für eine extrauterine Überlebensfähigkeit eines Embryos dieses Alters möchte die<br />

Revision mit 30 % ansetzen. b) Im Ergebnis in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht erachtet auch der Senat die<br />

Beklagte für beweisbelastet dafür, dass sich im vorliegenden Fall für das Kind eine derartige Überlebenschance trotz<br />

eines rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruchs realisiert hätte. Dabei kann offenbleiben, ob sich was das<br />

Berufungsgericht bejaht, die Revision jedoch als fehlerhaft angreift für die Klägerin eine entsprechende<br />

Beweiserleichterung zu Lasten der Beklagten daraus herleiten läßt, dass deren Behandlungsfehler als grob einzustufen<br />

ist. Zwar spricht vieles dafür, dass die dahingehende Beurteilung des Berufungsgerichts den Angriffen der Revision<br />

standzuhalten vermag; diese Frage muss jedoch nicht abschließend entschieden werden, da für die hier in Rede<br />

stehende Kausalitätsfrage auch dann eine Beweisbelastung der Beklagten zu bejahen ist, wenn ihr nur ein einfacher<br />

Behandlungsfehler vorgeworfen werden kann.<br />

Der Abbruch einer Schwangerschaft ist auf deren Beendigung gerichtet und hat im Regelfall den Tod des ungeborenen<br />

Kindes zur Folge. Gerade aus diesem Grund sind zum Schutze des Lebensrechts des Embryos aus<br />

verfassungsrechtlichen Gründen wirksame Maßnahmen, darunter auch die strafrechtlichen Abtreibungsvorschriften der<br />

§§ 218 ff. StGB, geboten, die eben deswegen rechtsund gesetzessystematisch unter den Straftaten gegen das Leben<br />

eingeordnet sind. Der strengen Indikationsstellung, insbesondere des § 218 a Abs. 2 StGB für eine Rechtfertigung des<br />

Schwangerschaftsabbruchs, bedarf es gerade deshalb, weil der Eingriff regelmäßig in die existentiellen<br />

verfassungsrechtlich geschützten Rechtspositionen des ungeborenen Kindes eingreift, nämlich sein Leben vernichtet.<br />

Davon ist insbesondere auch bei Fallkonstellationen der hier vorliegenden Art auszugehen, in denen mit der<br />

Indikationsstellung nach § 218 a Abs. 2 StGB zwangsläufig der Schutz des ungeborenen Lebens hintangesetzt wird,<br />

um einer nicht anders abzuwendenden, dem Leben und der seelischen Gesundheit der Mutter drohenden Gefahr zu<br />

begegnen, die gerade für die Zeit nach einer Geburt des Kindes zu prognostizieren ist.<br />

Hat aber in dieser Weise nach den der gesetzlichen Regelung zugrundeliegenden Vorstellungen der grundsätzlich der<br />

Rechtsordnung widersprechende, in bestimmten Ausnahmefällen von ihr erlaubte Abbruch einer Schwangerschaft in<br />

der Regel die Beendigung des Lebens des Embryos zur Folge, so spricht für den Eintritt dieser Folge bei den dem<br />

Gesetz unterfallenden Sachverhalten eine Vermutung.<br />

Gewiß gibt es Ausnahmefälle, in denen ein Schwangerschaftsabbruch zur Folge hat, dass ein extrauterin bereits<br />

lebensfähiges Kind zur Welt kommt. Es liegt nahe, dass derartige Fälle mit fortschreitender Dauer der Schwangerschaft<br />

eher vorkommen; sie mögen im Rahmen des medizinischen Fortschritts weiter zunehmen, wenn es gelingt, immer<br />

kleinere und unreifere Embryonen auch außerhalb des Mutterleibs am Leben zu erhalten. Dass im Einzelfall eine<br />

derartige Ausnahme gegeben sei, hat jedoch in Widerlegung der dargestellten Vermutung die Arztseite zu beweisen. c)<br />

Das Berufungsgericht ist ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass der Beklagten hier diese Beweisführung die es<br />

im Hinblick auf den von ihm bejahten groben Behandlungsfehler der Beklagten auferlegt hat nicht gelungen ist.<br />

Abgesehen davon, dass bereits die im Berufungsurteil dargelegten Bekundungen des gerichtlichen Sachverständigen Thöns<br />

gegen eine mögliche extrauterine Lebensfähigkeit des Kindes sprechen, wäre die von der Revision aufgezeigte<br />

allgemeine Möglichkeit, dass auch Kinder mit einem Geburtsgewicht von 500 Gramm und einem<br />

Schwangerschaftsalter von 22 bis 24 Wochen überleben könnten, wobei von einer Überlebensrate von 30 %<br />

ausgegangen werden könne, nicht geeignet, den Nachweis zu führen, dass im vorliegenden Fall das Kind der Kläger<br />

tatsächlich überlebt hätte, wäre der in Betracht kommende Schwangerschaftsabbruch durchgeführt worden.<br />

5. Der den Klägern wegen der erörterten Verletzung des Behandlungsvertrages durch die Beklagte zu ersetzende<br />

Schaden erfaßt die demnach kausal auf den unterbliebenen Schwangerschaftsabbruch zurückzuführenden<br />

Belastungen mit dem Unterhaltsaufwand des Kindes. Denn auch dieser Schaden ist unter den hier gegebenen<br />

Umständen vom Schutzzweck des Behandlungsvertrages mit umfaßt. a) Allerdings erstreckt sich, soweit ein<br />

Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer Indikation zur Abwehr einer schweren Gefahr für die Gesundheit der<br />

Schwangeren in Betracht kommt, der Schutzumfang des Vertrages im allgemeinen nicht auf die Bewahrung vor<br />

belastenden Unterhaltsaufwendungen für das Kind (vgl. Senatsurteile vom 25. 06.1985 VI ZR 270/83 , VersR 1985, 1068, 1071; vom 4. 12.2001 VI ZR 213/00 aaO, S.<br />

234 und vom 19. 02.2002 VI ZR 190/01 NJW 2002, 1489, 1491). Dies hat seinen Grund darin, dass im Regelfall der medizinischen Indikation (wie sie<br />

sich insbesondere im Rahmen der Regelung des § 218 a Abs. 2 StGB a.F. darstellte) die Abwendung schwerer Gefahren für die Schwangere durch das<br />

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Fortbestehen der Schwangerschaft als solcher oder die bevorstehende Geburt selbst, nicht aber durch<br />

Lebensumstände nach der Geburt des Kindes im Mittelpunkt steht. Ist letzteres der Fall, hat es der Senat auch bisher<br />

schon für möglich erachtet, dass sich der Schutzzweck auf die Unterhaltsaufwendungen erstreckt, etwa dann, wenn<br />

sich gerade die Belastung durch den späteren Unterhalt für das Kind in entscheidender Weise negativ auf den<br />

Gesundheitszustand der Mutter auszuwirken drohte (vgl. Senatsurteile vom 25. 06.1985 VI ZR 270/83 aaO und vom 4. 12.2001 VI ZR 213/00 aaO, S. 234 ff.; vgl. hier<br />

auch Senatsurteil BGHZ 143, 389, 393 f.). Ob und unter welchen Umständen in Fallgestaltungen wie der vorliegenden ein<br />

entsprechender Schutzumfang im Hinblick auf eine medizinische Indikation anzunehmen sein kann, hat der Senat<br />

bisher offengelassen (vgl. Senatsurteile vom 4. 12.2001 VI ZR 213/00 aaO, S. 235 und vom 19. 02.2002 VI ZR 190/01 aaO,<br />

S. 1491). b) Diese Frage ist nunmehr dahin zu beantworten, dass bei einem Sachverhalt, wie er hier gegeben ist, die<br />

Schadensersatzpflicht des haftenden Arztes auch den Unterhaltsbedarf des Kindes erfaßt. Die schwerwiegenden<br />

Gefahren für die Mutter, die zur Erfüllung der Voraussetzungen der Indikation des § 218 a Abs. 2 StGB führen, drohten<br />

hier gerade auch für die Zeit nach der Geburt; denn eine Selbstmordgefahr und eine erhebliche Depression von<br />

deutlichem Krankheitswert war für die Klägerin zu 1 gerade für diesen Zeitraum zu befürchten (und hat sich hinsichtlich der<br />

Beeinträchtigung ihrer seelischen Gesundheit auch verwirklicht), da sie konstitutionell den Belastungen durch die Verantwortung für das<br />

schwerbehinderte Kind nicht gewachsen war. War demgemäß der vertragliche Schutzzweck auch auf die Vermeidung<br />

dieser Gefahren durch das "Haben" des Kindes gerichtet, so erstreckt sich die aus der Vertragsverletzung resultierende<br />

Ersatzpflicht auch auf den Ausgleich der durch die Unterhaltsbelastung verursachten vermögensrechtlichen<br />

Schadenspositionen. Eine dahingehende Bestimmung des vertraglichen Schutzumfangs, die bei derartigen<br />

Sachverhalten unter Geltung der früheren "embryopathischen Indikation" in der Rechtsprechung anerkannt war (vgl. z.B.<br />

Senatsurteil BGHZ 86, 240, 247 f.; Senatsurteile vom 4. 03.1997 VI ZR 354/95 VersR 1997, 698, 699 und vom 4. 12.2001 VI ZR 213/00 aaO, S. 234), nunmehr auch für<br />

entsprechende Fallgestaltungen im Rahmen der nach der geltenden Rechtslage maßgeblichen medizinischen<br />

Indikation entspricht im Übrigen der oben erörterten gesetzgeberischen Lösung, die bisher von § 218 a Abs. 3 StGB<br />

a.F. erfaßten Fallkonstellationen jetzt in die Indikation nach § 218 a Abs. 2 StGB einzubeziehen.<br />

6. Soweit das Berufungsgericht über die somit rechtlich beanstandungsfreie Feststellung der Schadensersatzpflicht der<br />

Beklagten für den Unterhaltsbedarf des Kindes hinaus der Klägerin zu 1 ein Schmerzensgeld in Höhe von 20.000 DM<br />

zugesprochen hat, lassen die im Berufungsurteil hierzu angestellten Überlegungen Rechtsfehler nicht erkennen; sie<br />

werden von der Revision auch nicht im einzelnen angegriffen.<br />

III. Die Revision der Beklagten war daher mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen. Dr. Müller Dr.<br />

Dressler Dr. Greiner Diederichsen Pauge<br />

ThönsBSG B<br />

1 KR 37/00 R vom 19.3.2002<br />

1. Ein zugelassenes Arzneimittel kann grundsätzlich nicht zu Lasten der Krankenversicherung in einem<br />

Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt (insoweit Aufgabe von BSG vom 5.7.1995 - 1 RK<br />

6/95 = BSGE 76, 194 = SozR 32500 § 27 Nr. 5).<br />

2. Davon kann ausnahmsweise abgewichen werden, wenn es bei einer schweren Krankheit keine<br />

Behandlungsalternative gibt und nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis die begründete Aussicht<br />

besteht, dass mit dem Medikament ein Behandlungserfolg erzielt werden kann.<br />

Tatbestand<br />

Der bei der Beklagten krankenversicherte Kläger leidet an Multipler Sklerose (Encephalomyelitis disseminata), einer primär<br />

entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems, die zu einer Degeneration von Nervengewebe in Gehirn und<br />

Rückenmark führt. Die Ursache der Krankheit ist unbekannt; vermutet werden autoaggressive Immunreaktionen, bei<br />

denen möglicherweise virale Einflüsse ein Rolle spielen. Die Multiple Sklerose äußert sich in zerebralen und spinalen<br />

Symptomatiken, insbesondere spastischen Lähmungen und einer Störung der Koordination von Bewegungsabläufen<br />

(zerebellare Ataxie). Es wird zwischen einem schubförmigen und einem chronisch progredienten Krankheitsverlauf<br />

unterschieden. Beim Kläger gehen die behandelnden Ärzte von einer seit Krankheitsbeginn im Jahr 1987 kontinuierlich<br />

fortschreitenden Entwicklung (primär chronischprogrediente Verlaufsform) aus.<br />

Seit 09.1997 wird der Kläger unter anderem durch intravenöse Gabe von Immunglobulinen behandelt. Seine Ärzte<br />

erhoffen sich von der ausdrücklich als Heilversuch bezeichneten Therapie eine Besserung der durch die Krankheit<br />

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verursachten Ataxie. Das zur Behandlung eingesetzte Arzneimittel Sandoglobulin (R) ist durch das PaulEhrlichInstitut,<br />

Bundesamt für Sera und Impfstoffe, zum Verkehr zugelassen; die Zulassung bezieht sich aber auf andere<br />

Anwendungsgebiete und umfasst nicht die Therapie der Multiplen Sklerose.<br />

Die Beklagte hat es nach Anhörung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) mit Bescheid vom 29.<br />

05.1998 und Widerspruchsbescheid vom 31. 08.1998 abgelehnt, die Behandlungskosten zu tragen. Die auf Erstattung<br />

der bereits verauslagten und auf Übernahme der zukünftig entstehenden Kosten gerichtete Klage hatte vor dem<br />

Sozialgericht und dem Landessozialgericht (LSG) keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, Sandoglobulin<br />

könne im Fall des Klägers nicht zu Lasten der Krankenversicherung verordnet werden, weil es für die Behandlung der<br />

Multiplen Sklerose keine Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) besitze. Als neue Behandlungsmethode im Sinne<br />

des § 135 Abs 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) könne es ebenfalls nicht beansprucht werden, denn es fehle an<br />

der dafür erforderlichen Anerkennung durch den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen. Auch sei nach<br />

Aktenlage davon auszugehen, dass sich die Therapie der Multiplen Sklerose mit Immunglobulinen noch im Stadium der<br />

Erprobung befinde und bisher keine größere Verbreitung gefunden habe.<br />

Mit der Revision widerspricht der Kläger der rechtlichen Beurteilung des LSG und beruft sich auf die Wirksamkeit der in<br />

Rede stehenden Behandlungsmethode. Er rügt die Verletzung der §§ 103, 128 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die<br />

von den Instanzgerichten zur Frage der wissenschaftlichen Akzeptanz und der Verbreitung der Therapie eingeholten<br />

Auskünfte des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen und des PaulEhrlichInstituts seien nicht geeignet,<br />

die richterliche Überzeugungsbildung zu begründen. Ihre Würdigung sei im Ergebnis willkürlich. Dem LSG hätte es<br />

oblegen, die ihm vorgelegten Unterlagen selbst zu würdigen und zu prüfen, ob die fehlende Anerkennung durch den<br />

Bundesausschuss womöglich auf einem Mangel im Leistungssystem der Krankenversicherung beruhe, der durch eine<br />

gerichtliche Entscheidung korrigiert werden müsse. Die durchzuführende Beweisaufnahme hätte ergeben, dass der<br />

Nachweis der Wirksamkeit der Anwendung von Immunglobulinen bei MS nach dem Stand der Wissenschaft erbracht<br />

worden sei.<br />

Der Kläger beantragt,<br />

die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. 08.2000 und des Sozialgerichts Dortmund vom 20.<br />

07.1999 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 29. 05.1998 in der Gestalt des<br />

Widerspruchsbescheides vom 31. 08.1998 zu verurteilen, ihm die seit 29. 09.1997 für die Behandlung mit<br />

Sandoglobulin aufgewendeten Kosten zu erstatten und die zukünftig durch die Therapie entstehenden Kosten zu<br />

übernehmen.<br />

Die Beklagte beantragt,<br />

die Revision zurückzuweisen.<br />

Entscheidungsgründe<br />

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben seine Klage zu Recht abgewiesen.<br />

Die Behandlung der primär chronischprogredienten Multiplen Sklerose mit dem für dieses Anwendungsgebiet nicht<br />

zugelassenen Fertigarzneimittel Sandoglobulin war und ist keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Die<br />

Beklagte ist deshalb weder verpflichtet, die dafür in den Jahren 1997/98 aufgewendeten Kosten in Höhe von knapp<br />

29.000 DM nach § 13 Abs 3 SGB V zu erstatten, noch den Kläger in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift von<br />

zukünftig durch die Therapie entstehenden Kosten freizustellen (zu letzterem vgl Senatsurteil vom 3. 04.2001 - BSGE 88, 62, 75 = SozR 32500 § 27a Nr. 3 S<br />

36).<br />

Der in § 27 Abs 1 Satz 2 Nr. 3 und § 31 Abs 1 SGB V normierte Anspruch des Versicherten auf Bereitstellung der für<br />

die Krankenbehandlung benötigten Arzneimittel unterliegt den Einschränkungen aus § 2 Abs 1 Satz 3 und § 12 Abs 1<br />

SGB V. Er besteht nur für solche Pharmakotherapien, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig<br />

und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der<br />

medizinischen Erkenntnisse entspricht. Diese Anforderungen sind nach der ständigen Rechtsprechung des Senats<br />

nicht erfüllt, wenn das verabreichte Medikament nach den Vorschriften des Arzneimittelrechts der Zulassung bedarf,<br />

aber nicht zugelassen ist (Urteil vom 8. 06.1993 - BSGE 72, 252 = SozR 32200 § 182 Nr. 17 - GoldnerzCreme; Urteil vom 8. 03.1995 - SozR 32500 § 31 Nr. 3 - Edelfosin; Urteil vom 23.<br />

07.1998 - BSGE 82, 233 = SozR 32500 § 31 Nr. 5 - Jomol). Das Krankenversicherungsrecht verzichtet bei der Arzneimittelversorgung, anders<br />

als bei den übrigen Leistungen der Krankenbehandlung (siehe dazu §§ 135 bis 139 SGB V), weitgehend auf eigene Vorschriften zur<br />

Qualitätssicherung. Es knüpft insoweit an das Arzneimittelrecht an, das für Fertigarzneimittel eine staatliche Zulassung<br />

vorschreibt und deren Erteilung vom Nachweis der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Medikaments<br />

abhängig macht (§ 21 Abs 2 AMG). Da dies dieselben Kriterien sind, an denen die Leistungen der Krankenversicherung<br />

gemessen werden, kann bei Vorliegen der arzneimittelrechtlichen Zulassung davon ausgegangen werden, dass damit<br />

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zugleich die Mindeststandards einer wirtschaftlichen und zweckmäßigen Arzneimittelversorgung im Sinne des<br />

Krankenversicherungsrechts erfüllt sind. Unbeschadet der unterschiedlichen Zielsetzung von Arzneimittel- und<br />

Krankenversicherungsrecht rechtfertigt dies die Vorgreiflichkeit der arzneimittelrechtlichen Zulassung für die<br />

Anwendung eines Medikaments im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (zur Zulässigkeit der Verknüpfung von Arzneimittel- und<br />

Krankenversicherungsrecht unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten siehe Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 5. 03.1997 - 1 BvR 1071/95 - NJW 1997, 3085).<br />

Zutreffend geht das angefochtene Urteil in Fortführung dieser Rechtsprechung davon aus, dass ein Arzneimittel auch<br />

dann, wenn es zum Verkehr zugelassen ist, grundsätzlich nicht zu Lasten der Krankenversicherung in einem<br />

Anwendungsgebiet verordnet werden kann, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt. Eine solche<br />

zulassungsüberschreitende Anwendung (sog OffLabelUse) liegt hier vor, denn die vom PaulEhrlichInstitut als zuständiger<br />

Bundesoberbehörde erteilte Zulassung für Sandoglobulin umfasst die Substitution bei primären und sekundären<br />

Antikörpermangelsyndromen, bei AIDS von Kindern und bei allogener Knochenmarkstransplantation, die Prophylaxe<br />

und Therapie von mit diesen Krankheiten einhergehenden Infektionen, die Modulation der Immunantwort bei der<br />

idiopathischen thrombozytopenischen Purpura, dem GuillainBarreSyndrom und dem KawasakiSyndrom sowie die<br />

Sofortprophylaxe bei Masernexposition (Fachinformation des Herstellers Novartis Pharma, Stand: 10.2001, vgl auch "Rote Liste" 2001 Nr. 75011). Die Therapie der<br />

Multiplen Sklerose ist als Anwendungsgebiet nicht genannt.<br />

Die Leistungspflicht der Krankenversicherung bei einem zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln ist vom<br />

Bundessozialgericht (BSG) in der Vergangenheit nicht einheitlich beurteilt worden. In der Entscheidung vom 5. 07.1995 -<br />

1 RK 6/95 - zur Drogensubstitution mit dem Hustenmittel Remedacen war der erkennende Senat noch ohne nähere<br />

Begründung davon ausgegangen, dem Versicherten könne das Fehlen einer indikationsspezifischen Zulassung nicht<br />

entgegengehalten werden (BSGE 76, 194, 196 = SozR 32500 § 27 Nr. 5 S 9). Demgegenüber hat der 8. Senat im Urteil vom 30. 09.1999<br />

(BSGE 85, 36, 50 f = SozR 32500 § 27 Nr. 11 S 51 ff - SKAT) auf die Bedeutung der arzneimittelrechtlichen Zulassung für die Einhaltung der im<br />

SGB V geforderten Qualitätsstandards verwiesen und gefordert, dass die Leistungspflicht der Krankenkasse auf die<br />

zugelassenen Anwendungsgebiete beschränkt bleiben müsse. Dieser - im damaligen Fall die Entscheidung letztlich<br />

nicht tragenden - rechtlichen Beurteilung stimmt der erkennende Senat nunmehr unter Aufgabe seiner früheren,<br />

abweichenden Rechtsauffassung ausdrücklich zu.<br />

Die arzneimittelrechtliche Zulassung lässt Rückschlüsse auf die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des geprüften<br />

Medikaments nur zu, soweit ihre rechtliche Bedeutung reicht. Diese beschränkt sich auf die gemäß § 22 Abs 1 Nr. 6<br />

AMG vom Hersteller im Zulassungsantrag genannten Anwendungsgebiete. Die Anwendungsbezogenheit ist der<br />

Arzneimittelzulassung immanent, weil das Arzneimittel definitionsgemäß dazu bestimmt ist, durch Anwendung am oder<br />

im menschlichen Körper Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhafte Beschwerden zu heilen, zu lindern, zu<br />

verhüten oder zu erkennen (§ 2 Abs 1 Satz 1 Nr. 1 AMG). Kriterium für die nationale Zulassung ist deshalb nach § 25 Abs 2 Satz 1<br />

AMG neben der Qualität insbesondere die therapeutische Wirksamkeit des Medikaments (aaO Nr. 4), also seine Fähigkeit,<br />

einen bestimmten Krankheitszustand in Richtung auf das erwünschte Behandlungsziel zu beeinflussen. Dem<br />

Wirksamkeitsnachweis dient die klinische Prüfung am Menschen, die eine notwendige Voraussetzung der Zulassung<br />

ist (§ 22 Abs 2 Nr. 3 AMG). Aus den im Zulassungsverfahren gemäß § 24 Abs 1 AMG vom Antragsteller vorzulegenden<br />

Sachverständigengutachten muss ua hervorgehen, ob das Arzneimittel bei den angegebenen Indikationen<br />

angemessen wirksam ist (aaO Nr. 3). Nur für diejenigen Krankheiten, zu deren Beseitigung, Linderung, Verhütung oder<br />

Erkennung es sich in der klinischen Prüfung als wirksam erwiesen hat, wird die Zulassung erteilt. Soll der<br />

Anwendungsbereich später auf weitere Indikationen ausgedehnt werden, muss gemäß § 29 Abs 3 Nr. 3 AMG eine<br />

neue Zulassung beantragt werden. Lediglich bei einer Einschränkung der Anwendungsgebiete genügt eine bloße<br />

Anzeige (§ 29 Abs 3 Nr. 3 iVm Abs 2a Nr. 1 AMG). Vergleichbare Regeln gelten für den (hier nicht einschlägigen) Fall einer Arzneimittelzulassung<br />

nach Europäischem Gemeinschaftsrecht (zum Erfordernis eines neuen Zulassungsantrags bei Änderung therapeutischer Indikationen vgl Art 2 Nr. 1 iVm Anlage II Nr. 2 der<br />

Verordnung Nr. 542/95 vom 10. 03.1995 - ABl L 55 vom 11. 03.1995, S 15 für das zentrale europäische Genehmigungsverfahren sowie Art 2 Nr. 1 iVm Anlage II Nr. 2 der Verordnung Nr. 541/95<br />

vom 10. 03.1995 - ABl L 55 11. 03.1995, S 7 für das dezentrale europäische Genehmigungsverfahren).<br />

Wegen der Beschränkung auf die vom Hersteller genannten Anwendungsgebiete sagt die Zulassung nichts darüber<br />

aus, ob das betreffende Arzneimittel auch bei anderen Indikationen verträglich und angemessen wirksam ist (§ 24 Abs 1 Nr. 3<br />

AMG). Auch lässt sich, wie der 8. Senat in dem zitierten Urteil vom 30. 09.1999 (BSGE 85, 36, 53 = SozR 32500 § 27 Nr. 11 S 54) näher<br />

ausgeführt hat, nicht ausschließen, dass das Mittel bei einem Gebrauch außerhalb des zugelassenen<br />

Anwendungsbereichs schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft<br />

vertretbares Maß hinausgehen (§ 25 Abs 2 Satz 1 Nr. 5 AMG). Bei einer Erweiterung der Anwendungsgebiete müssen deshalb der<br />

Nutzen und das Risikopotential des Arzneimittels von Grund auf neu bewertet werden. Entsprechend sieht das<br />

Arzneimittelrecht in der Einbeziehung neuer Indikationen eine so gravierende Änderung des Zulassungsstatus, dass es<br />

sich nicht - wie bei Veränderungen der Dosierung, der Art oder Dauer der Anwendung oder anderen geringeren<br />

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Modifikationen - mit einer bloßen Anzeigepflicht und gegebenenfalls einem Zustimmungserfordernis (§ 29 Abs 1 und Abs 2a AMG)<br />

zufrieden gibt, sondern eine vollständige Neuzulassung verlangt.<br />

Der Ausschluss eines OffLabelGebrauchs von Arzneimitteln in der gesetzlichen Krankenversicherung gilt allerdings<br />

nicht ausnahmslos.<br />

In der medizinischen Diskussion besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass in bestimmten Versorgungsbereichen<br />

und bei einzelnen Krankheitsbildern auf einen die Zulassungsgrenzen überschreitenden Einsatz von Medikamenten<br />

nicht völlig verzichtet werden kann, wenn den Patienten eine dem Stand der medizinischen Erkenntnisse<br />

entsprechende Behandlung nicht vorenthalten werden soll. Dieser Befund wird durch zahlreiche Veröffentlichungen in<br />

der Tages- und Fachpresse sowie Initiativen im politischen Raum bestätigt (vgl statt vieler: Hopf, Arzneiverordnung außerhalb der offiziellen Indikation,<br />

in: Rheinisches Ärzteblatt 2000, 21; ZylkaMehnhorn, Den schwarzen Peter hat der Arzt, in: Deutsches Ärzteblatt 2001, A3413). Betroffen sind insbesondere die<br />

Kinderonkologie und allgemein pädiatrische Erkrankungen, bei denen Präparate verwendet werden müssen, die für die<br />

betreffende Altersgruppe nicht zugelassen sind (siehe dazu die im Deutschen Bundestag eingebrachten Entschließungsanträge der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die<br />

Grünen vom 16. 01.2001 - BTDrucks 14/5083 sowie der Fraktion der CDU/CSU und mehrerer Abgeordneter vom 23. 01.2001 - BTDrucks 14/5136). Aber auch für einen Gebrauch<br />

außerhalb der zugelassenen Indikation im engeren Sinne wird ein Bedarf gesehen, etwa wenn andernfalls eine ernste,<br />

lebensbedrohende Krankheit wie Krebs oder AIDS oder ein mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder<br />

Schmerzen verbundenes Leiden mangels therapeutischer Alternativen nicht wirksam behandelt werden könnte.<br />

Durch Vorschriften des AMG wird dem Arzt in den angesprochenen Fällen eine zulassungsüberschreitende<br />

Verordnung nicht verboten. Dem Arzneimittel fehlt zwar für einen Einsatz außerhalb der durch die Zulassung<br />

festgelegten Anwendungsgebiete die Verkehrsfähigkeit. Denn es darf, wie sich aus § 21 Abs 1 Satz 1 AMG und dem<br />

Zusammenhang mit den übrigen Zulassungsvorschriften ergibt, nur für die Zwecke und mit den Merkmalen in Verkehr<br />

gebracht werden, die Gegenstand des Zulassungsverfahrens gewesen sind. Für ein anderes Anwendungsgebiet darf<br />

es demgemäß nicht "zum Verkauf oder zu sonstiger Abgabe vorrätig gehalten, feilgehalten, feilgeboten oder an andere<br />

abgegeben" werden (§ 4 Nr. 17 AMG). Der Hersteller darf in der Fachinformation für die Ärzte und in der<br />

Gebrauchsinformation (Beipackzettel) für die Patienten nur die zugelassenen Anwendungsgebiete nennen und das<br />

Arzneimittel bei Apotheken, Ärzten und - soweit zulässig - Verbrauchern nur für die von der Zulassung erfassten<br />

Indikationen bewerben. Der Apotheker seinerseits darf es nicht für andere Zwecke anbieten oder verkaufen. Verstöße<br />

gegen das Verbot des Inverkehrbringens sind strafbar (§ 96 Nr. 5 AMG). Die fehlende Verkehrsfähigkeit eines Arzneimittels<br />

beinhaltet aber nicht zugleich ein Anwendungsverbot, da die unmittelbare Anwendung am Patienten keine Abgabe im<br />

Sinne des AMG darstellt (BVerfGE 102, 26, 34 - Frischzellen; Kloesel/Cyran, Kommentar zum Arzneimittelrecht, Stand: 2001, § 4 AMG Anm 58, jeweils mwN). Der einzelne<br />

Arzt ist somit weder arzneimittelrechtlich noch berufsrechtlich gehindert, bei seinen Patienten auf eigene Verantwortung<br />

ein auf dem Markt verfügbares Arzneimittel für eine Therapie einzusetzen, für die es nicht zugelassen ist.<br />

Die dargestellte Situation zeigt, dass das geltende Arzneimittelrecht seiner Aufgabe, "im Interesse einer<br />

ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung von Mensch und Tier für die Sicherheit im Verkehr mit Arzneimitteln,<br />

insbesondere für die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Arzneimittel zu sorgen" (§ 1 AMG), teilweise nicht<br />

gerecht wird. Zwar haben die auf dem Markt befindlichen Arzneimittel regelmäßig ausreichende Kontrollen durchlaufen;<br />

es fehlen aber Vorkehrungen, die eine den Kriterien des § 1 AMG entsprechende Patientenversorgung auch dann<br />

ermöglichen, wenn das zugelassene Arzneimittel sich in weiteren Anwendungsgebieten als therapeutisch nützlich<br />

erwiesen hat. Nach dem Gesetz obliegt es ausschließlich dem pharmazeutischen Unternehmer, die Neuzulassung<br />

seines Medikaments für weitere Anwendungsgebiete zu beantragen (§ 29 Abs 3 iVm § 21 Abs 3 Satz 1 AMG). Wird ein solcher Antrag<br />

trotz positiver Forschungsergebnisse oder anderweitiger Hinweise auf einen therapeutischen Nutzen nicht gestellt,<br />

etwa weil der Hersteller den Aufwand und die Kosten eines weiteren Zulassungsverfahrens scheut oder bei seltenen<br />

Krankheiten kein wirtschaftliches Interesse an einer Vermarktung hat, bleibt es dem einzelnen Arzt überlassen, das<br />

Medikament - oftmals ohne ausreichendes pharmakologisches Wissen und ohne Kenntnis des genauen<br />

Zulassungsstatus - in eigener Verantwortung und mit dem Risiko der Haftung für daraus entstehende<br />

Gesundheitsschäden außerhalb der Zulassung anzuwenden. Findet der OffLabelUse - durch unterschwellige oder<br />

verdeckte Werbung gefördert - in der Praxis Verbreitung, erübrigt sich ein Antrag des Herstellers.<br />

Bestrebungen, einer ungeregelten und undifferenzierten Verordnung von Arzneimitteln in nicht zugelassenen<br />

Indikationen unter faktischer Umgehung der einschlägigen Verkehrsverbote entgegenzuwirken und andererseits die<br />

Zulassung für neue Anwendungsgebiete zu erleichtern und gegebenenfalls für eine Übergangszeit Regularien für einen<br />

kontrollierten OffLabelGebrauch (engl: compassionate use) zu schaffen, gibt es bisher allenfalls in Ansätzen. Das deutsche<br />

Arzneimittelrecht enthält dazu keine Vorschriften. Auf europäischer Ebene sind durch die Verordnung (EG) Nr. 141/2000<br />

des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 12.1999 (ABl L 18 vom 22. 01.2000, S 1) und die Verordnung (EG) Nr. 847/2000<br />

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der Kommission vom 27. 04.2000 (ABl L 103 vom 28. 04.2000, S 5) Anreize für die Entwicklung und das Inverkehrbringen von<br />

Arzneimitteln geschaffen worden, die für die Vorbeugung, Diagnose oder Behandlung von seltenen Krankheiten<br />

bestimmt sind (sog Orphan Drugs). Für den Bereich der Krankenversicherung hatte der Bundesausschuss der Ärzte und<br />

Krankenkassen 1999 eine Neufassung der ArzneimittelRichtlinien beschlossen, nach der mit Zustimmung der<br />

Krankenkasse eine Verordnung außerhalb zugelassener Indikationen auf der Basis wissenschaftlichen<br />

Erkenntnismaterials als Heilversuch im Einzelfall zulässig sein sollte. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hatte<br />

in diesem Zusammenhang dem MDK aufgegeben, eine Aufstellung über die nach aktuellem medizinischen Standard<br />

sinnvollen Indikationen für einen OffLabelGebrauch zu erstellen, um die Krankenkassen bei der Entscheidung über die<br />

Arzneimittelversorgung zu unterstützen und vor allem in der Krebstherapie, der AIDSTherapie und der Kinderheilkunde<br />

eine Patientenbehandlung nach dem aktuellen medizinischen Standard sicherzustellen (Pressemitteilung des BMG Nr. 17 vom 12. 03.1999).<br />

Die geänderten Richtlinien sind jedoch wegen kartellrechtlicher Einwände nicht in Kraft getreten.<br />

Die aufgezeigten Defizite des Arzneimittelrechts dürfen nicht dazu führen, dass den Versicherten der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung unverzichtbare und erwiesenermaßen wirksame Therapien vorenthalten bleiben, obwohl die<br />

betreffenden Medikamente außerhalb der Krankenversicherung in der nicht zugelassenen Indikation verordnet werden<br />

und verordnet werden dürfen. Solange diese Defizite bestehen, kann deshalb die Leistungspflicht der Krankenkasse für<br />

eine die Zulassungsgrenzen überschreitende Anwendung eines Arzneimittels nicht gänzlich ausgeschlossen werden.<br />

Diesem Ergebnis stehen die grundsätzlichen Erwägungen des Senats zur Vorgreiflichkeit der arzneimittelrechtlichen<br />

Zulassung nicht entgegen. Zwischen der vorliegenden und den bisher in der Rechtsprechung behandelten<br />

Fallgestaltungen besteht ein rechtlich bedeutsamer Unterschied insofern, als beim gänzlichen Fehlen der Zulassung<br />

das Arzneimittel vom Hersteller unter Verstoß gegen das Verbot des § 21 Abs 1 AMG in Verkehr gebracht wurde,<br />

während im anderen Fall ein bereits im Handel befindliches Medikament außerhalb des Zulassungsrahmens verwendet<br />

wird. Die Anwendung eines gar nicht zugelassenen Arzneimittels zu Lasten der Krankenversicherung ist nach der<br />

Rechtsprechung des Senats schon deshalb ausgeschlossen, weil der Einsatz des Präparats auf einem strafbaren<br />

Verhalten aufbaut und aus verbotswidrigem Handeln grundsätzlich keine Leistungspflicht der Krankenkasse erwachsen<br />

kann (BSGE 82, 233, 236 = SozR 32500 § 31 Nr. 5 S 17 f). Außerdem wäre die Behandlung wegen des Fehlens jedweder Qualitätskontrolle<br />

mit einem unkalkulierbaren Risiko etwaiger Gesundheitsschäden behaftet, dessen Auswirkungen nicht der<br />

Versichertengemeinschaft aufgebürdet werden können. Das ist bei einem OffLabelUse anders, denn dort ist das Mittel<br />

zulässig in den Verkehr gebracht worden, nachdem die pharmakologischtoxikologischen Eigenschaften des Wirkstoffs<br />

zunächst im Tierversuch und sodann im Rahmen einer klinischen Prüfung am Menschen geprüft und dokumentiert<br />

wurden. Zwar hat sich die klinische Prüfung nur auf die im Zulassungsantrag genannten Anwendungsgebiete bezogen,<br />

so dass unerwünschte Wirkungen bei anderen Indikationen nicht ausgeschlossen sind und eine Prüfung der<br />

Wirksamkeit insoweit nicht stattgefunden hat; doch ist damit zumindest die Basis für eine ausreichende<br />

Arzneimittelsicherheit geschaffen und damit einem Grundanliegen des AMG und auch des Krankenversicherungsrechts<br />

Rechnung getragen. Allein mit der fehlenden Verkehrsfähigkeit des Arzneimittels für zulassungsüberschreitende<br />

Anwendungen lässt sich bei dieser Sachlage ein absolutes Verbot solcher Anwendungen im Rahmen der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung nicht begründen.<br />

Der Mangel der fehlenden Zulassung des Arzneimittels für das im Streit befindliche Anwendungsgebiet kann allerdings<br />

mit dem Instrumentarium des Krankenversicherungsrechts nur in eng begrenzten Ausnahmefällen behoben werden.<br />

Das folgt daraus, dass es sich nicht um einen Mangel im Leistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

handelt, sondern eine Versorgungslücke dadurch entsteht, dass das Arzneimittelrecht die ihm zugedachte Funktion<br />

nicht erfüllt.<br />

Nach der Rechtsprechung des Senats unterliegen zwar im Prinzip auch Pharmakotherapien der für vertragsärztliche<br />

Leistungen in § 135 Abs 1 SGB V vorgesehenen Qualitätsprüfung. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich die<br />

Behandlung in der Gabe des Arzneimittels erschöpft oder ob weitere ärztliche Maßnahmen hinzukommen. Die<br />

Unterscheidung zwischen ärztlicher Behandlung und Versorgung mit Arzneimitteln in § 27 Abs 1 SGB V spielt<br />

entgegen der Auffassung des LSG in diesem Zusammenhang keine Rolle. Für Arzneitherapien gilt der<br />

Erlaubnisvorbehalt des § 135 Abs 1 SGB V jedoch nur, soweit es sich um die Anwendung von Rezepturarzneien oder<br />

anderen Arzneimitteln handelt, die im Einzelfall auf besondere Anforderung hergestellt werden. Da solche Präparate<br />

keine Zulassung nach dem AMG benötigen, bliebe die Qualitätskontrolle in der ambulanten vertragsärztlichen<br />

Versorgung lückenhaft, wenn ihre Wirksamkeit und Unbedenklichkeit weder nach Arzneimittelrecht noch nach<br />

Krankenversicherungsrecht geprüft würden (BSGE 82, 233 = SozR 32500 § 31 Nr. 5 - Jomol; BSGE 86, 54 = SozR 32500 § 135 Nr. 14 - ASI). Soweit das<br />

Arzneimittelrecht eine Zulassung vorschreibt, ist der Nachweis der Unbedenklichkeit und der Wirksamkeit des<br />

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Medikaments in dem neuen Anwendungsgebiet dagegen nach der Gesetzessystematik in dem Zulassungsverfahren<br />

und nicht im Wege der Zertifizierung durch den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen zu führen. Es ist nicht<br />

Aufgabe des Bundesausschusses, zulassungspflichtige Arzneimittel für den Einsatz in der vertragsärztlichen<br />

Versorgung einer nochmaligen, gesonderten Begutachtung zu unterziehen und die arzneimittelrechtliche Zulassung<br />

durch eine für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung geltende Empfehlung zu ergänzen oder zu ersetzen.<br />

Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs eines Arzneimittels auf weitere Indikationen erfordert nach deutschem wie<br />

nach europäischem Arzneimittelrecht eine neue, erweiterte Zulassung. Die Zulassungsvorschriften verlören zu einem<br />

erheblichen Teil ihre Bedeutung, wenn in der gesetzlichen Krankenversicherung eine Erweiterung der<br />

Anwendungsgebiete eines Arzneimittels ohne Zulassung im Verfahren nach § 135 Abs 1 SGB V erreicht werden<br />

könnte. Der Hersteller könnte sich den Aufwand und die Kosten eines neuen Zulassungsverfahrens ersparen und<br />

stattdessen abwarten, bis sich der zulassungsüberschreitende Einsatz in der Praxis etabliert und von dritter Seite eine<br />

Anerkennung durch den Bundesausschuss beantragt wird. Zugleich wäre er von der Haftung für etwaige<br />

gesundheitliche Schäden nach § 84 AMG frei. Diese würde entweder den verordnenden Arzt oder - wenn eine<br />

Empfehlung durch den Bundesausschuss erfolgt - die Krankenversicherung bzw. den Staat treffen. Die<br />

Anwendungsbezogenheit der arzneimittelrechtlichen Zulassung stünde nur noch auf dem Papier.<br />

Wegen des dargestellten Vorrangs des Arzneimittelrechts muss ein OffLabelUse zu Lasten der Krankenversicherung<br />

auf Fälle beschränkt bleiben, in denen einerseits ein unabweisbarer und anders nicht zu befriedigender Bedarf an der<br />

Arzneitherapie besteht und andererseits die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung<br />

hinreichend belegt sind. Die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten<br />

Anwendungsgebiet kommt deshalb nur in Betracht, wenn es (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen<br />

oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn (2) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3)<br />

aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg<br />

(kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Damit Letzteres angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse<br />

vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon<br />

kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse<br />

einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante<br />

Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines<br />

Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels<br />

in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund<br />

deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne<br />

besteht.<br />

Im Fall des Klägers sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt. Zwar gehört die Multiple Sklerose zu den schweren<br />

Krankheiten, bei denen die Behandlung mit einem für die Indikation nicht zugelassenen Arzneimittel ausnahmsweise in<br />

Betracht käme. Es fehlen aber hinreichend gesicherte Erkenntnisse über die Wirksamkeit einer Behandlung mit<br />

Sandoglobulin. Das gilt jedenfalls für die nach den Feststellungen des LSG beim Kläger bestehende primär<br />

chronischprogrediente Verlaufsform dieser Erkrankung. Klinische Studien, die insoweit einen therapeutischen Nutzen<br />

belegen könnten, sind nach Auswertung der verfügbaren Publikationen bis heute nicht bekannt. Die zuletzt vom<br />

PaulEhrlichInstitut veröffentlichten Ergebnisse eines internationalen Symposiums vom 11.2001 (Pressemitteilung des PaulEhrlichInstituts<br />

vom 29. 11.2001) machen deutlich, dass auch für die sekundärprogressive Multiple Sklerose, für die solche Studien vorliegen,<br />

der Nutzen einer Behandlung mit Immunglobulinen kontrovers diskutiert wird, ein wissenschaftlicher Konsens hierzu<br />

also bisher nicht besteht. Hinzu kommt, dass bei dieser Verlaufsform mindestens seit 1999 eine<br />

Behandlungsalternative mit dem für die Therapie zugelassenen Betaferon zur Verfügung steht.<br />

Die Revision konnte danach keinen Erfolg haben.<br />

BSG NJW 2002, 238<br />

Der Vertragsarzt darf wesentliche Leistungen seines Fachgebietes nicht mit dem Hinweis auf die fehlende<br />

Rentabilität verweigern.<br />

Thöns BGH VI ZR 418/99 vom 3. 07.2001<br />

Der Tatrichter darf einen groben Behandlungsfehler nicht ohne ausreichende Grundlage in den medizinischen<br />

Darlegungen des Sachverständigen bejahen.<br />

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BGB § 823 Aa; ZPO § 286 A - OLG Frankfurt am Main LG Hanau<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 3. 07.2001 durch die Vorsitzende<br />

Richterin Dr. Müller, die Richter Dr. Dressler und Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und den Richter Pauge<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 2.<br />

11.1999 aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an<br />

das Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

Die 1962 geborene Klägerin verlangt Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen der Folgen eines<br />

Narkosezwischenfalls. Sie unterzog sich am 8. 08.1993 in dem von der Beklagten zu 3) betriebenen Krankenhaus in H.<br />

einer Kaiserschnittentbindung, die der ursprünglich mitbeklagte Gynäkologe Dr. K. unter Vollnarkose durchführte.<br />

Anästhesistin war die Beklagte zu 1). Sie versorgte die Klägerin zunächst mit Sauerstoff und leitete um 10.10 Uhr die<br />

Intubation ein. Etwa zwei Minuten später hörte sie bei der Auskultation beider Lungenseiten gleichmäßige spastische<br />

Atemgeräusche. Um 10.17 Uhr erfolgte die Entbindung. Die Erstbeklagte nahm eine kurze Untersuchung des<br />

Neugeborenen vor und stellte dessen Lebensfrische fest. Bei der im Anschluß an die Entbindung vorgenommenen<br />

PlazentaAblösung bemerkte Dr. K. eine Blauverfärbung des Blutes. Die Erstbeklagte wandte sich wieder der Klägerin<br />

zu und nahm um 10.25 Uhr eine Neuintubation vor. Um 10.28 Uhr alarmierte sie den Notdienst des Krankenhauses.<br />

Nach etwa zwei Minuten erschienen die Chefanästhesistin Dr. G und der Internist Dr. M.. Letzterer stellte eine starke<br />

Zyanose fest. Die Pupillen der Klägerin waren geweitet und reagierten nicht mehr auf Licht. Ihr Kreislauf war<br />

zusammengebrochen. Die Herzfrequenz sank auf 25 Schläge ab. Dr. G. leitete Herzdruckmassagen ein, die von dem<br />

ebenfalls hinzugekommenen Oberarzt Dr. E. fortgesetzt wurden. Nachdem Dr. K. bemerkte, dass der Magen der<br />

Klägerin überbläht war, überprüfte Dr. G. die Tubuslage. Sie fand den Endotrachealkatheter im Rachenraum vor der<br />

Luftröhre liegend und schob den Tubus um 10.30 Uhr in die Luftröhre. Nach weiterer Reanimierung stellte sich alsbald<br />

eine Besserung der Herz- und Kreislaufwerte ein.<br />

Die Klägerin erlitt als Folge der vorübergehenden Sauerstoffunterversorgung eine hochgradige Großhirnschädigung,<br />

aus der sich ein apallisches Syndrom entwickelte. Sie ist nicht mehr ansprechbar. Ein irgendwie gearteter Kontakt mit<br />

ihr ist nicht möglich.<br />

Die Klägerin hat Ersatz von Besuchskosten (Nachtwache durch ihren Vater) in Höhe von 37.384,80 DM, fiktive<br />

Haushaltsführungskosten (Betreuung ihres Kindes) von monatlich 1.200,00 DM, ein angemessenes Schmerzensgeld (Vorstellung: 300.000<br />

DM) sowie die Feststellung der Ersatzpflicht für künftige materielle und immaterielle Schäden begehrt. Das Landgericht<br />

hat der allein noch gegen die Beklagten zu 1) und 3) gerichteten Klage überwiegend stattgegeben und der Klägerin u.a.<br />

ein Schmerzensgeld von 500.000 DM zuerkannt. Auf die Berufungen der Beklagten hat das Oberlandesgericht<br />

dasSchmerzensgeld auf 250.000 DM herabgesetzt. Mit ihrer Revision verfolgen die Beklagten ihr<br />

Klageabweisungsbegehren weiter. Die Klägerin hat ihre Revision zurückgenommen.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I. Das Berufungsgericht bejaht eine sowohl vertragliche als auch deliktische Haftung der Beklagten für die<br />

gesundheitliche Schädigung der Klägerin. Es geht davon aus, dass innerhalb von zwei Minuten nach Beginn der<br />

Operation wahrscheinlich durch das Zurückfluten von Magensaft in die Speiseröhre (Regurgation) und dessen Eindringen in<br />

den Bronchialraum ein Bronchospasmus aufgetreten sei, der zu einer fortschreitenden Hypoxie geführt und einen Herz-<br />

und Kreislaufstillstand zur Folge gehabt habe. Zwar sei eine Fehlintubation durch die Erstbeklagte nicht bewiesen. Eine<br />

stille Aspiration von Magensaft könne nämlich auch bei fehlerfreier Intubation nicht ausgeschlossen werden. Gegen<br />

eine fehlerhafte Erstintubation spreche auch, dass die Blutwerte des Neugeborenen gut gewesen seien. Unstreitig<br />

habe auch die Zweitintubation die Beatmungsprobleme nicht verursacht. Die von Dr. G. festgestellte fehlerhafte Lage<br />

des Endotrachealkatheters sei möglicherweise darauf zurückzuführen, dass der Tubus bei der Herzmassage verrutscht<br />

sei. Der Erstbeklagten sei aber vorzuwerfen, die Klägerin nicht genügend beobachtet und überwacht zu haben;<br />

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deswegen habe sie das tatsächliche Ausmaß der Symptome des sich entwickelnden Sauerstoffmangels nicht bemerkt<br />

und nicht rechtzeitig und ausreichend erfolgversprechende Gegenmaßnahmen ergriffen. Sie habe sich nicht bemüht,<br />

die Ursache für die kurz nach der Erstintubation aufgetretenen und sich ständig verschlimmernden Atemprobleme<br />

festzustellen, den Notdienst zu spät benachrichtigt und ihre Aufmerksamkeit für ein bis zwei Minuten dem<br />

Neugeborenen statt der Klägerin gewidmet. Deren lückenlose Beobachtung wäre wegen der bestehenden Atemstörung<br />

und auch deshalb erforderlich gewesen, weil zur Überwachung weder ein Pulsoxymeter noch ein Kapnometer zur<br />

Verfügung gestanden hätten. Die verspätete Alarmierung des Notdienstes sei für den Schadenseintritt kausal. Es<br />

könne zwar nicht sicher gesagt werden, ob Dr. G. bei früherem Erscheinen nur eine Herzmassage vorgenommen oder<br />

andere wirksame Maßnahmen ergriffen hätte. Es sei aber jedenfalls nicht unwahrscheinlich, dass eine frühere<br />

Benachrichtigung des Notdienstes die Schädigung der Klägerin verhindert hätte. In der Gesamtbetrachtung sei der<br />

Erstbeklagten ein grober Behandlungsfehler anzulasten. Dabei sei ergänzend in die Beurteilung mit einzubeziehen,<br />

dass sie die Vitalparameter nicht oder nur ungenügend dokumentiert habe. Der Umstand, dass das Anästhesieprotokoll<br />

nicht alle wichtigen Daten enthalte und dass hieran später auf Anweisung der Chefanästhesistin Dr. G. Korrekturen mit<br />

Tippex vorgenommen worden seien, zeige, dass die Dokumentation nicht ernst genug genommen worden sei.<br />

II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand. Die bisher getroffenen Feststellungen vermögen die<br />

Annahme einer Haftung der Beklagten nicht zu tragen.<br />

1. Auch wenn das Berufungsgericht einerseits im Zuwarten der Erstbeklagten mit der Alarmierung des Notdienstes bis<br />

10.28 Uhr eine ―kausale Pflichtverletzung‖ sieht, lassen seine weiteren Ausführungen erkennen, dass es lediglich nicht<br />

für unwahrscheinlich hält, dass eine frühere Benachrichtigung die bei der Klägerin eingetretene<br />

Persönlichkeitszerstörung verhindert hätte und deshalb die Haftung der Beklagten im Wege der Beweislastumkehr auf<br />

einen groben Behandlungsfehler stützt. Hiergegen macht die Revision durchgreifende Bedenken geltend.<br />

2. Ein grober Behandlungsfehler liegt nur dann vor, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche<br />

Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus<br />

objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (st.Rspr., vgl. BGHZ<br />

138, 1, 6; Senatsurteile vom 4. 10.1994 VI ZR 205/93 - VersR 1995, 46, 47; vom 19. 11.1996 VI ZR 350/95 - VersR 1997, 315, 316; vom 3. 11.1998 VI ZR 253/97 - VersR 1999, 231, 232; vom 29. 05.2001 VI<br />

ZR 120/00 zur Veröffentlichung bestimmt). Die Beurteilung, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, obliegt zwar dem Tatrichter; dessen<br />

wertende Entscheidung muss aber auf ausreichenden tatsächlichen Feststellungen beruhen, die sich auf die<br />

medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen stützen und auf dieser Grundlage<br />

die juristische Gewichtung des ärztlichen Vorgehens als grob behandlungsfehlerhaft zu tragen vermögen. Es ist dem<br />

Tatrichter nicht gestattet, ohne entsprechende medizinische Darlegungen des Sachverständigen einen groben<br />

Behandlungsfehler aus eigener Wertung zu bejahen (vgl. z.B. BGHZ 138, 1, 6 f.; Senatsurteile vom 19. 11.1996 VI ZR 350/95 - aaO; vom 16. 05.2000 VI ZR 321/98<br />

VersR 2000, 1146, 1148; sowie vom 27. 03.2001 VI ZR 18/00 , vom 29. 05.2001 VI ZR 120/00 und vom 19. 06.2001 VI ZR 286/00 - sämtlich zur Veröffentlichung bestimmt).<br />

3. Die Revision beanstandet zu Recht, dass die Erwägungen des Berufungsgerichts diesen Grundsätzen nicht gerecht<br />

werden. Das Berufungsgericht stützt sich bei seiner Bewertung in erster Linie auf die Größe der abzuwendenden<br />

Gefahr und führt in diesem Zusammenhang aus, die Erstbeklagte hätte zu bedenken gehabt, dass kurze Störungen der<br />

Ventilation zu einer Hypoxie und sogar zum Tod der Klägerin führen konnten. Damit sei die Tatsache, dass sie die<br />

Klägerin nicht genau beobachtet und sich sogar für ein bis zwei Minuten in einer sehr kritischen Phase von ihr<br />

abgewandt habe, ein fataler Fehler, der einer Anästhesistin schlechthin nicht unterlaufen dürfe. Sie habe von ihr<br />

einzuhaltende medizinische Standards in einem besonders schwerwiegenden Maße vernachlässigt. Welche konkreten<br />

medizinischen Standards die Erstbeklagte mißachtet haben soll, hat das Berufungsgericht nicht näher dargelegt. Sie<br />

erschließen sich auch nicht aus der im Berufungsurteil in Bezug genommenen Begutachtung des vom Landgericht<br />

beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. D.. Soweit dieser in seinem Ergänzungsgutachten vom 13. 11.1996 die<br />

Übernahme der Erstversorgung durch die Beklagte zu 1) als "problematische Prioritätssetzung" bezeichnet hat, mag<br />

zwar unter Berücksichtigung der bei der Klägerin zuvor aufgetretenen Atmungsprobleme ein Behandlungsfehler in<br />

Betracht zu ziehen sein. Die Annahme eines aus medizinischer Sicht eindeutigen Verstoßes gegen bewährte ärztliche<br />

Behandlungsregeln läßt sich daraus aber nicht herleiten, zumal weder der Gutachter noch das Berufungsgericht eine<br />

statt dessen gebotene Handlungsalternative aufzeigen. Wie die Drittbeklagte in ihrer Berufungsbegründung unter<br />

Beweisantritt vorgetragen hat, gab es für die Erstbeklagte in dem Zeitraum, in dem diese mit der Untersuchung des<br />

Neugeborenen befaßt war, keinen unmittelbaren zusätzlichen Handlungsbedarf. Mit dieser Behauptung hat sich das<br />

Berufungsgericht verfahrensfehlerhaft nicht auseinandergesetzt. Es hätte zumindest, wenn es bei der Bewertung des<br />

angenommenen Behandlungsfehlers die Erstversorgung des Neugeborenen ausschlaggebend zum Nachteil der<br />

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Beklagten berücksichtigen wollte, dem zu diesem Punkt von der Drittbeklagten gestellten Antrag entsprechen müssen,<br />

den Sachverständigen Prof. Dr. D. zur (weiteren) Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens zu laden (vgl. Senatsurteil vom 3. 06.1986 VI<br />

ZR 95/85 - VersR 1986, 1079). Hierzu bestand umso mehr Anlaß, als die bisherige medizinische Beurteilung des Sachverständigen<br />

erkennbar nicht geeignet war, den Vorwurf eines groben Behandlungsfehlers zu stützen. Von dessen Einschätzung<br />

durfte das Berufungsgericht mangels Ausweisung entsprechender eigener Sachkunde nicht abweichen (vgl. Senatsurteile vom 19.<br />

11.1996 VI ZR 350/95 aaO, und vom 21. 01.1997 VI ZR 86/96 - VersR 1997, 510). 4. Anhand der bisher getroffenen Feststellungen läßt sich auch nicht<br />

beurteilen, ob eine Haftung der Beklagten aus anderen Gründen gerechtfertigt ist. So ist nicht festgestellt, ob die der<br />

Erstbeklagten vom Berufungsgericht angelastete unzureichende Beobachtung der Klägerin innerhalb der Zeitspanne<br />

zwischen der Einleitung der Narkose und der Entbindung für die gesundheitliche Schädigung (mit)ursächlich war. Mit<br />

Recht weist die Revision darauf hin, dass Feststellungen dazu fehlen, wann und auf welche Weise die Erstbeklagte die<br />

beginnende Hypoxie in ihrem frühen Anfangsstadium (spätestens) hätte wahrnehmen können. Ob die Erstbeklagte vor dem<br />

Eintreffen des herbeigerufenen Notfalldienstes die gräuliche Hautverfärbung und die Weitung der Pupillen sowie die<br />

Zyanose bemerken konnte, hat das Berufungsgericht ausdrücklich offengelassen. Es hat auch nicht festgestellt, welche<br />

Maßnahmen der Notdienst ergriffen hätte, wenn er früher alarmiert worden wäre. Ob eine Herzmassage zu einem<br />

früheren Zeitpunkt indiziert gewesen wäre, müßte gegebenenfalls aufgeklärt werden. Die Drittbeklagte hat dies<br />

bestritten und auch dazu die Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. D. beantragt.<br />

III. Nach alledem konnte das Berufungsurteil keinen Bestand haben. Es war deshalb aufzuheben und die Sache zur<br />

weiteren Sachaufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.<br />

Dr. Müller Dr. Dressler Dr. Greiner Diederichsen Pauge<br />

AG Rudolfstadt vom 03.02.1998<br />

Durch einen Gerätefehler wird eine Patientin während der Narkose nicht beatmet, sie erleidet unter Überwachung<br />

einer Ärztin im Praktikum einen Herzstillstand und stirbt später. Die Ärztin im Praktikum und die überwachende<br />

Oberärztin werden verurteilt.<br />

ThönsOLG Köln<br />

5 U 67/96 vom 02.07.1997, 5. Zivilsenat<br />

Bei einer unter Assistenz eines Anästhestisten in Vollnarkose erfolgenden Zahnbehandlung in einer<br />

zahnärztlichen Praxis ist es Aufgabe des Anästhesisten für die Führung der Narkose und die<br />

Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der vitalen Parameter bei der Patientin zu sorgen. Der Zahnarzt<br />

braucht erst auf Hinweis des Anästhesisten einen Notarzt zu verständigen. Entscheidung zur horizontalen<br />

Aufgabenteilung.<br />

Tatbestand:<br />

Die ursprüngliche, während des vorliegenden Rechtsstreits am 22.3.1993 verstorbene Ehefrau, als deren Erbe ihr<br />

Ehemann, der Kläger, das Verfahrenfortführt, hat Schadensersatz und Schmerzensgeld geltend gemacht wegen<br />

derFolgen einer ambulanten, in Vollnarkose durchgeführten Zahnoperation, bei der eswährend der Vollnarkose zu<br />

Komplikationen gekommen ist.Die verstorbene Ehefrau des Klägers, die zuvor längere Zeit keinen Zahnarztaufgesucht<br />

hatte, weil sie unter extremer Angst vor Zahnbehandlungen litt, begabsich im Jahre 1991 in die Behandlung der beiden<br />

Beklagten. Akute Beschwerdenlagen zu diesem Zeitpunkt nicht vor, jedoch war in Aussicht genommen,zahnärztliche<br />

Sanierungsmaßnahmen durchzuführen. In einem erstenBesprechungstermin vom 11.6. 1991 füllte die Klägerin einen<br />

Patienten-Erhebungsbogen aus, in welchem sie hohen Blutdruck und Allergien angab. Indiesem Termin wurden auch<br />

bereits Röntgenaufnahmen gemacht, deren Befund die Beklagten in den Behandlungsunterlagen niederlegten.<br />

Hiernach bestanden umfangreiche Schäden der Zahnsubstanz sowie auch Entzündungen. Ein zweiter<br />

Besprechungstermin fand am 10.7.1991 statt. Was im einzelnen in diesen beidenTerminen besprochen worden ist, ist<br />

unter den Parteien streitig. DerStreitverkündete, Schwiegersohn der ursprünglichen Klägerin und seinerseits Facharzt<br />

für Anästhesie, der bei den vorgenannten beiden Besprechungen auch zugegen war und die Vollnarkose bei der<br />

Klägerin in der Praxis der Beklagten durchführen sollte, untersuchte die Klägerin am 22.7.1991 und informierte sie in<br />

seiner Praxis über die vorgesehene Narkose.<br />

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Die Parteien waren sich darüber einig, dass die gesamte operative Behandlung ineiner Sitzung unter Vollnarkose<br />

durchgeführt werden sollte, weil die ursprüngliche Klägerin, wie bereits erwähnt, sehr ängstlich und schmerzempfindlich<br />

war.<br />

Die Operation fand am 27.7.1991 statt. Am Morgen dieses Tages, einem Samstag, unterzeichnete die Ehefrau des<br />

nunmehrigen Klägers auch eine Einwilligungserklärung, woraufhin der Eingriff durchgeführt wurde. Die Beklagten<br />

nahmen die zahnärztliche Behandlung vor, assistiert von zwei Helferinnen, den in erster Instanz vernommenen<br />

Zeuginnen K. und Kr.. Der Streitverkündete führte die Narkose durch mit Assistenz einer von ihm gestellten<br />

Narkoseschwester, der Zeugin X. Der Streitverkündete stellte auch die zur Durchführung der Narkose erforderlichen<br />

Geräte. Die Operationsvorbereitungsmaßnahmen begannen um8.00 Uhr morgens. Der Streitverkündete intubierte die<br />

Klägerin. Um 8.45 Uhrwurde die Narkose eingeleitet, um 8.57 Uhr begannen die Beklagten mit der Operation. Die<br />

operative Behandlung zog sich über ungefähr 4 Stunden hin. In ihrem Verlauf wurde insgesamt 12 Zähne extrahiert. Im<br />

Hinblick auf die hiermit verbundenen Blutungen setzten die Beklagten während der operativen Behandlung insgesamt<br />

mehrere - zwischen sieben und neun - Spritzen mit dem Lokalanästhetikum Ultracain DS in den Mundhöhlenbereich;<br />

nach vier Stunden gegen Ende der Behandlung setzte der Beklagte zu 1) der Klägerin zwei weitere Spritzen Ultracain<br />

DS, wobei die genaue Menge des injizierten Anästhetikum unter den Parteien streitig ist.<br />

Um 12.55 Uhr begann der Streitverkündete mit der Ausleitung der Narkose. DieZufuhr von Enfluran wurde abgestellt,<br />

um 13.05 Uhr die Zufuhr von Lachgas. Ab13.10 Uhr wurde die Patientin mit reinem Sauerstoff beatmet.<br />

Während dieses Zeitraums der Ausleitung der Narkose kam es um 13.15 Uhr zu einem Blutdruckabfall mit Bradycardie;<br />

die Herzfrequenz fiel von zunächst 80 über 45 auf 30 Schläge pro Minute ab. Um 13.10 Uhr bzw. um 13.18 Uhr weist<br />

dasNarkoseprotokoll eine Asystolie auf. Bei Ausleitung der Narkose wurde im Rachenraum eine größere<br />

Blutansammlung festgestellt. Da diese den Tubus zu verstopfen drohte, wurde dieser abgesaugt.<br />

Der Streitverkündete, der auch eine Ausbildung als Notarzt hat, und die Beklagten- letztere unter Anleitung des<br />

Streitverkündeten - begannen unverzüglich mit der Reanimation. Der Streitverkündete beatmete die Klägerin mit einem<br />

manuellen Beatmungsgerät und führte zugleich eine externe Herzmassage durch. Die Beklagten zu 1) und 2)<br />

beteiligten sich an der manuellen Beatmung bzw. der Herzmassage. Diese Bemühungen führten nach 10 Minuten zum<br />

Wiedereintreten einer normalen Herztätigkeit sowie stabiler Kreislaufverhältnisse. Die Ehefrau des Klägers blieb jedoch<br />

weiterhin bewußtlos, wobei der Streitverkündete eine Übersäuerung des Blutes feststellte. Er ließ daraufhin das Mittel<br />

Bicarbonat besorgen, welches er der Klägerin fast eine Stunde nach dem Zwischenfall verabreichte. Nachdem um<br />

15.00 Uhr die Klägerin noch immer nicht aufgewacht war, wurde der Notarzt unterrichtet. Die Klägerin wurde im<br />

intubierten Zustand in das Klinikum A. eingewiesen, wo eine hypoxische Hirnschädigung mit dem Vollbildeines<br />

apallischen Syndroms festgestellt wurde.<br />

Der Kläger hat behauptet, es habe bereits an einer wirksamen Einwilligung seiner Ehefrau zu der durchgeführten<br />

Operation gefehlt. Am Morgen des Operationstages sei diese nämlich nicht mehr fähig gewesen, eine wirksame<br />

Einwilligung zu erklären, zumal sie schon am Vorabend ein Beruhigungsmittel, nämlich Oxzepam erhalten hatte. Auch<br />

bei den Vorgesprächen sei sie nicht ausreichend über dieRisiken einer derart langen zahnärztlichen Operation<br />

aufgeklärt worden. Auchderen Zeitdauer sei von den Beklagten mit höchstens zwei Stunden angegeben worden. Auch<br />

über weitere Risiken sei sie nicht aufgeklärt worden wie z. B. die Notwendigkeit einer Kieferhöhlenöffnung in<br />

Verbindung mit dem diesbezüglichen lnfektionsrisiko, Nachblutungen, Wundheilungsstörungen. Auch sei sie nicht<br />

darüber aufgeklärt worden, dass das Anästhetikum Ultracain gespritzt werden sollte.Auf die Möglichkeit, die<br />

Behandlung in mehreren Abschnitten durchzuführen, seiebenfalls nicht hingewiesen worden. Wäre die Patientin über<br />

alle Risiken ordnungsgemäß aufgeklärt worden, hätte sie der Operation niemals zugestimmt, da sie eine<br />

ausgesprochene ängstliche Persönlichkeit gewesen sei.Während der Operation hätten die Beklagten nur einmal nach<br />

ca. zweistündiger Operationsdauer den Streitverkündeten gefragt, ob alles in Ordnung sei und man mit der Operation<br />

fortfahren könne, was er, Streitverkündeter, bejaht habe, weil erdavon ausgegangen sei, die weitere Operation werde<br />

nun nicht mehr lange währen.Nach Durchführung der zahnärztlichen Maßnahmen hätten die Beklagtenüberraschend<br />

zwei UltracainInjektionen verabreicht, was nicht mit dem Streitverkündeten abgesprochen gewesen sei; auch die<br />

vorausgehenden Injektionen von Ultracain habe er nicht bemerkt und auch nicht bemerken können. Durch dieses Mittel<br />

sei bei der ehemaligen Klägerin ein anaphylaktischer Schock ausgelöst worden, der zum Herzversagen geführt<br />

habe.Die Gabe von Ultracain sei auch fehlerhaft gewesen, weil die Patientin unterhohem Blutdruck und Allergien<br />

gelitten habe, was eine Verwendung von Ultracainverboten hätte.<br />

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Außerdem seien Injektionen in entzündetes Gewebe vorgenommen worden, dader gesamte Mundbereich der Klägerin<br />

entzündet gewesen sei.Die Gabe von 11 Injektionen Ultracain D8 habe zudem die zulässigen toxischen<br />

Schwellenwerte bei weitem überschritten. Außerdem seien die Injektionen mitgrößter Wahrscheinlichkeit versehentlich<br />

intravasal gesetzt worden, was die toxische Wirkung des Mittels verstärkt habe.Ein längerfristiger Sauerstoffmangel<br />

komme als Schadensursache nicht inBetracht. Die Sauerstoffsättigung habe nach dem Pulsoximeter zwischen den<br />

Werten 98 und 99 gelegen, was ausreichend sei.Die in der Narkose-Ausleitungsphase festgestellte Nachblutung habe<br />

nicht mit der Intubation zusammengehangen, sondern von der Behandlung der Zähne 11 und26 hergerührt.Die<br />

Beklagten hätten auch nicht wirksam bei den Wiederbelebungsmaßnahmenmitgewirkt.Zur Anspruchshöhe hat der<br />

Kläger behauptet, nach dem Unfall sei seine Ehefrau ein Vollpflegefall gewesen, weshalb ein Schmerzensgeld von<br />

mindestens 175.000,00 DM angemessen sei. Außerdem sei der Eigenanteil hinsichtlich desPflegedienstes, der sich auf<br />

über 7.000,00 DM belaufen habe, zu erstatten. Für die regelmäßige Pflege durch den Kläger, die Tochter der Patientin<br />

und den Schwiegersohn seien monatlich 10.400,00 DM in Ansatz zu bringen und fürPflegemittel monatlich 291,00 DM.<br />

Außerdem sei die frühere Klägerin alsHausfrau ausgefallen, wofür ein Betrag von monatlich 1.780,00 DM zu<br />

erstattensei. Außerdem sei dem nunmehrigen Kläger durch den Tod zusätzlich einUnterhaltsschaden in Höhe von<br />

1.393,27 DM monatlich entstanden.<br />

Der Kläger und der Streitverkündete haben beantragt,die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihre Erben<br />

1. 239.742,52 DM nebst 4 % Zinsen seit Rechtsanhängigkeit zu zahlen;<br />

2. ein Schmerzensgeld, dessen Höhe ausdrücklich in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst 4 % Zinsen seit<br />

Rechtshängigkeit, zu zahlen;<br />

3. einen Betrag von 34.831,75 DM nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit sowie ab dem 1.5.1995 eine monatliche<br />

Geldrente in Höhe von1.393,27 DM nebst 4 % Zinsen seit Fälligkeit der jeweiligen Zahlung für die Dauer von20,78<br />

Jahren zu zahlen.<br />

Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.<br />

Sie haben behauptet, die Ehefrau des Klägers sei vor dem Eingriff in den beidenBesprechungsterminen ausführlich<br />

beraten worden. Die vorgeschlageneDurchführung der Behandlung in mehreren Terminen habe sie<br />

ausdrücklichabgelehnt und einen einzigen Behandlungstermin in Vollnarkose gewünscht. Hinsichtlich dieses Wunsches<br />

habe auch der Streitverkündete keinerleiEinwendungen erhoben. Auf die zu erwartende Operationsdauer von 4 bis<br />

5Stunden sei hingewiesen worden, wobei diese Dauer auch angesichts desUmfangs der operativen Behandlung<br />

durchaus im Normbereich liege.Bei Unterzeichnung des Einverständnisses am 27.7.1991 sei die Klägerin vollorientiert<br />

gewesen; im Übrigen sei die mündliche Einwilligung bereits in denvorgenannten beiden Vorgesprächen ausgesprochen<br />

worden. Eine präoperativeMedikation sei gegenüber den Beklagten nicht erwähnt worden. Der Patientin undauch dem<br />

Streitverkündeten sei auch durchaus die konkrete Operationsdauerbewußt gewesen, was bereits der Umstand zeige,<br />

dass die ursprünglich für denselben Tag geplante Behandlung der Ehefrau des Streitverkündeten, Tochter<br />

derursprünglichen Klägerin, auf einen anderen Tag verlegt worden sei. Eingesteigertes Narkoserisiko bei einer derart<br />

langen Operation hätte derStreitverkündete berücksichtigen und entsprechende Hinweise machen müssen.<br />

Tatsächlich habe dieser jedoch keine Einwände gegen die Operationsdauererhoben. Während der Operation sei der<br />

Streitverkündete jeweils in Behandlungsabschnitten gefragt worden, ob man weitermachen könne, was er bejaht habe.<br />

Diese Fragen seien schon deshalb erfolgt, weil die Klägerin während der Operation wiederholt aus der Nase geblutet<br />

und blaue Lippen gezeigt habe. Auch über die vorgesehene Gabe von Ultracain sei der Streitverkündete untergerichtet<br />

gewesen und habe keine Einwände erhoben. Im Übrigen habe das Lokalanästhetikum Ultracain auch nicht einen<br />

anaphylaktischen Schock ausgelöst. Die Klägerin habe während der gesamten Operation keine allergischen<br />

Reaktionen gegenüber diesem Mittel gezeigt. Außerdem fehlten insoweit auch die typischenSymptome, wie<br />

Hautauschlag, Übelkeit, Erbrechen. Die Injektionen dieses Mittels seien auch nicht etwa intravasal erfolgt, und auch die<br />

verwendete Menge sei nicht zu beanstanden gewesen. Die Injektionen sei auch nicht etwa in entzündetes Gebiet<br />

erfolgt.Der Streitverkündete habe auch nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt den Notarztunterrichtet, obwohl sie ihn<br />

sofort nach der Reanimation und auch später mehrfach dringend gefragt hätten, ob nicht ein Notarzt gerufen werden<br />

solle. Nach zwei Stunden hätten sie sich dann gegen den Willen des Streitverkündeten zur Benachrichtigung des<br />

Notarztes entschlossen.Zur Anspruchshöhe bestreiten die Beklagten die Pflegebedürftigkeit und die Intensität der<br />

Pflege, wie der Kläger sie behauptet hat. Sie bestreiten auch dieeinzelnen Positionen<br />

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derSchadensersatzansprüche.Durch Urteil vom 23.11.1995, auf das wegen aller Einzelheiten Bezug genommenwird,<br />

hat das Landgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, den Beklagten seien nach<br />

dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme (Zeugenvernehmung und mehrere Sachverständigengutachten)<br />

Behandlungsfehler nicht nachzuweisen. Weder sei bewiesen, dass das Lokalanästhetikum in entzündetes Gebiet<br />

gesetzt worden sei, noch auch, dass dieses Mittel überhaupt nicht hätte gespritzt werden dürfen. Zur Blutstillung sei<br />

dieses Mittel einzusetzen gewesen, und nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme müsse auch davon<br />

ausgegangen werden, dass die Beklagten den Streitverkündeten als Narkosearzt auf die vorgesehen Verwendung<br />

dieses Mittels hingewiesen hätten. Selbst vor dem Hintergrund eines zu hohen Blutdruckes und bei der Patientin<br />

vorhandener Allergien sei die Verwendung des Mittels Ultracain nicht zu beanstanden, wie sich aus den Ausführungen<br />

der Sachverständigen Prof. Dr. Sch. und Prof. Dr. Bo. ergebe. Eine intravasale Injektion des Mittels sei nicht bewiesen<br />

ebensowenig wie eine Überschreitung einer zulässigen Höchstmenge.<br />

Außerdem seien jedenfalls die Gaben des Medikamentes Ultracain für den Herzstillstand und den hypoxischen<br />

Hirnschaden nicht ursächlich gewesen, wie sich ebenfalls aus den sachkundigen Äußerungen der vorgenannten<br />

Sachverständigen ergebe. Da bei der ehemaligen Klägerin im Zusammenhang mit dem Herzstillstand weder eine<br />

Tachykardie noch eine Urtikaria noch ein Quinke-Ödem noch ein Bronchospasmus beobachtet worden seien, könne<br />

man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es sich beidiesem Zwischenfall nicht um<br />

eine Reaktion auf Ultracain DS gehandelt habe, inwelchem Fall die vorgenannten Symptome zu erwarten gewesen<br />

wären. Ferner habe auch die kurze Reanimationszeit von 10 Minuten gegen eine Ursächlichkeit von Ultracain für den<br />

eingetretenen Herzstillstand gesprochen; im Falle einer Intoxikation durch ein Lokalanästhetikum lasse sich nämlich<br />

das Herz sehr schwer reanimieren, weil das Lokalanästhetikum eine Blockierung der Natriumpumpen aller<br />

Zellmembranen, insbesondere der erregbaren Zellen des Reizleitungsgewebes des Herzens bewirke. Angesichts der<br />

relativ kurzen Reanimierungsphase überrasche auch die Intensität und das Ausmaß des irreversiblen hypoxischen<br />

Hirnschadens. Die Schwere dieses Schadens lasse vermuten, dass über längere Zeit ein kritischer Sauerstoffmangel<br />

bestanden haben müsse, der nicht auf dem Lokalanästhetikum beruht haben könne.<br />

Den Beklagten könnten auch keine Vorwürfe im Zusammenhang mit derReanimation der ursprünglichen Klägerin<br />

gemacht werden, die in erster Linie Aufgabe des Anästhesisten und Notfallarztes, nämlich des Streitverkündeten,<br />

gewesen sei.Zwar hätten die Beklagten möglicherweise den Notarzt schon früher rufen müssen, diese Unterlassung<br />

sei jedoch nicht kausal für den eingetretenen Schaden gewesen, wie sich aus dem Gutachten von Prof. Dr. Bo. ergebe,<br />

wonach auch beifrühzeitiger Benachrichtigung des Notarztes an dem Zustand der Patientin nichts mehr zu ändern<br />

gewesen wäre.Auch eine Verletzung der Aufklärungspflicht liege nicht vor, weil die Klägerinausreichend aufgeklärt<br />

worden sei, wie sich u. a. aus den Aussagen der in erster Instanz vernommenen Zeuginnen ergebe. Dies gelte sowohl<br />

hinsichtlich der vorgesehenen Operationsdauer als auch der Verwendung des Lokalanästhetikums Ultracain. Im<br />

Übrigen wäre eine Aufklärung über die Behandlung mit Ultratracin auch nicht erforderlich gewesen, da im Falle der<br />

Klägerin nicht mit allergischen Reaktionen auf eine Lokalanästhesie zu rechnen gewesen sei und diese auch nicht<br />

erfolgt sei.<br />

Gegen dieses am 29.11.1995 (Kläger) bzw. 5.12.1995 (Streitverkündeten) zugestellte Urteil haben der Kläger am 28.12.1995 und<br />

der Streitverkündete am 5.1.1996 Berufung eingelegt und diese, nach jeweils entsprechenderFristverlängerung,<br />

fristgerecht am 28.3.1996 begründet. Mit der Berufung verfolgen der Kläger und der Streitverkündete die<br />

ursprünglichen Klageanträge weiter.Sie wiederholen und vertiefen ihr erstinstanzliches Vorbringen und<br />

machenergänzend geltend, das Landgericht sei zu wenig auf die Frage der medizinischen Indikation der operativen<br />

Behandlung eingegangen, ebensowenig auch auf dieFrage der insoweit erforderlichen Aufklärung seitens der<br />

Beklagten. Der spärlichen Dokumentation der Beklagten und auch dem von diesen erstellten Heil- und Kostenplan<br />

lasse sich zum einen keine genaue Diagnose entnehmen; jedenfalls würden in dem Heil- und Kostenplan die<br />

Behandlungskosten nur mit weniger als 600,00 DM und die Material- und Laborkosten mit 990,00 DM geschätzt.<br />

Hiermit könne keine Behandlung geplant gewesen sein, die länger als zwei Stunden gedauert hätte, insbesondere<br />

keine solche von vier Stunden.Auch den in den Krankenunterlagen niedergelegten Befunden lasse sich keineIndikation<br />

für die umfangreiche operative Behandlung entnehmen.Der früheren Klägerin sei auch bei den beiden<br />

Vorbesprechungen weder mitgeteiltworden, welche Diagnose gestellt werde noch auch, was zur Therapie insoweit<br />

erforderlich sei. Insbesondere sei zu keinem Zeitpunkt darauf hingewiesen worden, dass eine ungefähr vierstündige<br />

Operation erforderlich sein werde, die eine ebensolange bzw. noch längere Vollnarkose erforderlich machen werde.<br />

Eine derart langdauernde Behandlung unter Vollnarkose sei nicht nur wegen der Narkose, sondern auch wegen der<br />

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durch die Extraktion von zwölf Zähnen zugefügten Verletzungen und des Blutverlustes ein gravierender Eingriff. Ein<br />

solcher Eingriff hätte nicht ambulant in der Praxis durchgeführt werden dürfen. Tatsächlich hätten auch die Beklagten<br />

der Patientin zu dieser Behandlung geraten und sie als problem- und riskikolos hingestellt.<br />

Eine sachgerechte Aufklärung der früheren Klägerin sei zu keinem Zeitpunkt erfolgt. In eine solch umfangreiche<br />

Behandlung - teilweise Öffnung von Kieferknochen pp. - hätte die ursprüngliche Klägerin nie eingewilligt, dies um<br />

soweniger, als ihr auch nicht vor Augen geführt worden sei, dass es mit der einen operativen Behandlung keineswegs<br />

getan sei, sondern sich weitere Behandlungen anschließen würden. Auch bei ausreichender Aufklärung über den<br />

Umfang undInhalt der vorgesehenen Operation hätte die Klägerin in diese Behandlung in dieser Form nicht<br />

eingewilligt.Der Streithelfer macht zur Frage einer nicht ausreichenden Aufklärung gleicheAusführungen wie der Kläger.<br />

Im Übrigen vertritt er ebenso wie auch der Kläger die Ansicht, dass auch vorwerfbare Behandlungsfehler vorlägen. Ein<br />

solcher Behandlungsfehler ergebe sich insbesondere daraus, dass die Beklagten das Lokalanästhetikum Ultracain<br />

gespritzt und dabei in jedem Fall die Höchstdosis überschritten hätten.In formaler Hinsicht rügt der Streithelfer, dass<br />

das Landgericht den Ergänzungsbeweisbeschluß vom 5.8.1994 nicht vollständig ausgeführt habe. Die Vernehmung<br />

des Zeugen Prof. Dr. Ringelstein sei unterblieben. (Dieser Zeuge hatallerdings in erster Instanz schriftlich eine Aussage verweigert. Die Klägerin war vorher verstorben,<br />

und es lag deshalb hinsichtlich dieses Zeugen keine Befreiung von der ärztlichen Schweigepflicht vor).Der Kläger und der Streithelfer beantragen,unter<br />

Abänderung des angefochtenen Urteils nach den in erster Instanz zuletztgestellten Anträgen zu erkennen, hilfsweise<br />

ihnen nachzulassen, etwaige Zwangsvollstreckungen durchSicherheitsleistung abzuwenden, die auch durch die<br />

Bürgschaft einer deutschen Großbank, Sparkasse oder Genossenschaftsbank erbracht werden darf. Die Beklagten<br />

beantragen,die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.<br />

Auch sie wiederholen und vertiefen ihr erstinstanzliches Vorbringen und machen ergänzend geltend, der Streithelfer<br />

habe sie unter Hinweis auf seine Tätigkeit als niedergelassener Arzt und ambulant tätiger Anästhesist kontaktiert und<br />

ihnen erklärt, seine Schwiegermutter und auch seine Ehefrau litten hochgradig an Zahnarztphobie; für beide komme<br />

daher nur eine Zahnbehandlung in Volinarkose in Betracht. Er selbst wolle die Narkose übernehmen. Bei der ersten<br />

persönlichen Vorstellung der Patientin hätten weder der Streithelfer selbst noch die Klägerin über eine Zahnbehandlung<br />

in Lokalanästhesie auch nur sprechen wollen. Nicht einmal den Versuch einer ambulanten Zahnsteinentfernung habe<br />

die ursprüngliche Klägerin toleriert, weshalb diese habe abgebrochen werden müssen. Sowohl am11.6. als auch am<br />

10.7.1991 habe jeweils eine einstündige Behandlungsvorbesprechung stattgefunden. Schon anlässlich der ersten<br />

Besprechung sei eine erste Röntgendiagnostik erfolgt, die außerordentlich gravierende Befunde ergeben habe, welche<br />

ausführlich mit der Patientin erörtertworden seien dergestalt, dass eine umfassende Zahnsanierung als erforderlich<br />

dargestellt worden sei und auch erforderlich gewesen wäre, weil der schlechte Zustand der Zähne bereits zu<br />

Entzündungen geführt habe. Die Patientin sei schon bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen worden, dass die<br />

Operation bis zu vier Stunden dauern könne und es sich um einen verhältnismäßig großen Eingriff handele. Die<br />

Alternative einer Operation in mehreren Terminen unter lokaler Betäubung sei ausdrücklich erwähnt worden, was die<br />

extrem ängstliche Patientin jedoch abgelehnt habe. Eine weitere Erörterung sei am 10.7. 1991 erfolgt. Hierbei sei auch<br />

die vorgesehene Zahl von 14 Extraktionen erörtert worden und erneut die zu erwartende Operationsdauer<br />

angesprochen worden. Wegen deren Länge habe man auch die ursprünglich für den gleichen Tag geplante<br />

Behandlung der Tochter der Patientin um eine Woche verschoben. Auch über die Verwendung von Ultracain sei<br />

hinreichend aufgeklärt worden. Im Übrigen habe über die Verwendungdieses Mittels mangels diesbezüglicher Allergien<br />

der Patientin gar nicht aufgeklärt zu werden brauchen. Ferner sei auch der Zwischenfall nicht auf die Gabe dieses<br />

Mittels zurückzuführen, wie die erstinstanzlich eingeholten Sachverständigengutachten eindeutig ergeben hätten. Die<br />

Behandlung sei nach dem Zahnstatus der Klägerin dringend indiziert gewesen, was der Patientin ebenfalls klargemacht<br />

worden sei. Die Operation sei auch sachgerecht durchgeführt worden, insbesondere sei nicht etwa in entzündetes<br />

Gebiet injiziert worden und auch seien die Injektionen nicht etwa intravasal gesetzt worden. Auch sei die insoweit<br />

zulässige Höchstdosis keineswegs überschritten worden. Die Überwachung der Narkose sei ausschließlich Sache des<br />

Streitverkündeten als Anästhesisten gewesen, der jederzeit die Operation hätte abbrechen lassen können. Nur er sei<br />

auch verantwortlich für die Durchführung der Reanimation der Patientin.<br />

Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die Schriftsätze der Parteien nebstAnlagen Bezug genommen.<br />

Der Senat hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluß vom 9.9.1996. Wegendes Ergebnisses wird auf das schriftliche<br />

Gutachten der Sachverständigen FrauDr. R. vom 17. 2. 1997 (Blatt 1206) sowie das Protokoll der mündlichen Anhörung der<br />

Sachverständigen vom 14. 5. 1997 Bezug genommen.<br />

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Entscheidungsgründe<br />

Die Berufungen des Klägers und des Streithelfers sind zulässig; sie haben in derSache jedoch keinen Erfolg.Eine<br />

Haftung der Beklagten aus der Behandlung der inzwischen verstorbenenEhefrau des Klägers ist zu verneinen.Dies gilt<br />

sowohl hinsichtlich deliktischer als auch hinsichtlich vertraglicherAnsprüche.<br />

Nach dem Ergebnis der gesamten Beweisaufnahme sind wederBehandlungsfehler noch auch Aufklärungsmängel zum<br />

Nachteil der Patientin nachzuweisen.Entgegen der Ansicht der Berufungsführer bestand für die größere operative<br />

Behandlung eine medizinisch-therapeutische Indikation.Die mit dieser Frage in zweiter Instanz befaßte<br />

Sachverständige Frau Dr. R. hatdies in anschaulicher und überzeugender Weise pausibel dargetan.<br />

Nach ihren Ausführungen fehlten die Zähne 14, 15, 28, 24, 25, 27, 28, 47 und 48 und waren die Zähne 11, 21, 23, 34,<br />

35 und 45 kariös, wobei bei Zahn 45 zusätzlich eine Karies profunda diagnostiziert werden mußte. Des weiteren waren<br />

von den Zähnen 13, 16, 17, 22, 26, 36, 37, 38 und 46 nur noch Wurzelreste vorhanden und waren ferner Zahnstein und<br />

eine Mundschleimhauterkrankung festzustellen, wobei das Zahnfleisch stark geschwollen, gerötet und<br />

hochgradigentzündet war. Unter Bezugnahme auf die von ihr ausgewerteteRöntgenübersichtsaufnahme hat die<br />

Sachverständige die Gebißsituation der Patientin als desolat― bezeichnet und darauf hingewiesen, dass die Kronen der<br />

Zähne 17, 18, 13, 21, 22, 26, 36, 37, 38,45 und 47 jeweils total kariös zerstört waren, so dass überwiegend nur<br />

Wurzelreste vorhanden waren, die im apicalen Bereich Aufhellungen im Sinne einer apicalen Parodontitis aufwiesen.<br />

Ferner war geringer horizontaler Knochenabbau vorhanden, bei Zahn 11 eine ausgedehnte Karies.<br />

Diese desolate Gebißsituation erscheint auch ohne weiteres verständlich angesichts der - unstreitigen - Tatsache, dass<br />

die äußert ängstliche Patientin eben wegen dieser Angst vor jedem zahnmedizinischen Eingriff lange Zeit nicht beim<br />

Zahnarzt gewesen war, obwohl regelmäßige Zahnarztbesuche - u. a. auch imHinblick auf ihr Alter, Jahrgang 1934 ‚<br />

angezeigt gewesen wären.<br />

Vor diesem Hintergrund ist die weitere Feststellung der Sachverständigen, wonach schon nach der am 11.6.1991<br />

gefertigten Röntgenübersichtsaufnahme der Umfang der Gebißschädigung bis in die Kieferbereiche klar war und<br />

schonhiernach eine Aussage über eine notwendige umfangreiche Gebißsanierung mit Extraktion von 12 Zähnen und<br />

Erhaltung der Restzähne gemacht werden konnte, ohne weiteres nachvollziehbar und überzeugend.<br />

Ergänzend hat die Sachverständige hierzu ausgeführt, dass bei dem verwahrlostenZahnstatus der Patientin, die<br />

vorgenommene Extraktionstherapie die einzige Behandlungsmöglichkeit darstellte und eine alternative konservative<br />

Behandlung nur insoweit in Frage kommen konnte, wie sie tatsächlich auch von den Beklagten vorgenommen worden<br />

ist (Erhaltung der weniger geschädigten Restzähne zunächst durch Füllungen).<br />

Dies ist ohne weiteres einleuchtend, dies umso mehr angesichts der Tatsache, dass ausweislich des<br />

Behandlungsbogens das Zahnfleisch stark geschwollen, gerötet und hochgradig entzündet war, was die<br />

Sachverständige als Folge einerchronischen Entzündung, hervorgerufen durch den schlechten Zustand des Gebisses,<br />

gewertet hat.Dass ein verwahrloster Gebißstatus mit der Folge chronischer Entzündungen eineumfassende<br />

Gebißsanierung verbunden mit zahlreichen Extraktionen indiziert, hat die Sachverständige eindeutig und überzeugend<br />

bejaht und dabei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch eine gewisse Behandlungsdringlichkeit geboten<br />

gewesen sei, da die Wurzelreste teilweise apicale, sich im Knochen weiter ausbreitende Entzündungsherde<br />

ausgewiesen hätten und die erhaltungswürdigen Zähne hätten versorgt werden müssen, um sie in eine funktionelle<br />

prothetische Versorgung einbeziehen zu können. In diesem Zusammenhang hat sie des weiteren darauf hingewiesen,<br />

dass die Patientin durch den kariösen Verfall des Gebisses alle Stützzonen verloren hatte, was sich auf das gesamte<br />

stomatognathe System auf Dauer schädigend ausgewirkt habe. Deutlicher läßt sich die dringliche Indikation der<br />

tatsächlich durchgeführten Gebißsanierung nicht darstellen, und die Berufungsführer haben hiergegen auch keine<br />

fundierten Einwände mehr vorgebracht.<br />

Der Vorwurf fehlender Indikation zur durchgeführten Operation ist damit widerlegt.Es war auch nicht sachwidrig, diesen<br />

Eingriff mit der konkreten Dauer von nahezu4 Stunden ambulant unter Vollnarkose durchzuführen.<br />

Die Sachverständige Frau Dr. R. hat verschiedene Indikationen zur Allgemeinanästhesie in der ambulanten Praxis<br />

benannt, wie z. B. umfangreicheEingriffe, Infektionen im Operationsbereich, Lokalanästhesieversager, Allergie gegen<br />

Lokalanästhetica, oder mangelnde Kooperation des Patienten undvor diesem Hintergrund klarstellend darauf<br />

hingewiesen, dass auch bei der Ehefrau des Klägers eine Allgemeinanästhesie für die geplante zahnärztliche<br />

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Behandlung in Frage gekommen sei, wobei die Durchführung ambulanter Allgemeinanästhesien inzwischen auch<br />

schon zur Routine geworden sei; allerdings müsse die Narkose von einem Facharzt für Anästhesie vorgenommen<br />

werden, der allein für deren sachgerechte Durchführung und Überwachung während sowie nach der Narkose<br />

verantwortlich sei.<br />

Da die Ehefrau des Klägers unstreitig extrem ängstlich gegenüber zahnärztlichen Behandlungen war, Behandlungen<br />

unter Lokalanästhesie schlechthin ablehnte und nicht einmal eine Zahnsteinentfernung in Lokalanästhesie zu tolerieren<br />

vermochte,verblieb für die Durchführung insbesondere der erforderlichen Zahnextraktionen nur der Weg der<br />

Vollnarkose.<br />

Dass diese auch angesichts der körperlichen Verfassung der Ehefrau des Klägersnicht etwa kontraindiziert war, folgt<br />

entsprechend den Ausführungen der Sachverständigen daraus, dass der Streitverkündete sie in die Risikogruppe ASA<br />

II eingestuft hatte ( = Patient mit leichter Allgemeinerkrankung, die zu keiner allgemeinen Leistungseinschränkung führt), welche eine ambulante Behandlung unter<br />

Vollnarkose in der ärztlichen Praxis zuläßt.<br />

Die Beklagten brauchten nach dem Inhalt des Anamnesebogens auch nicht etwa davon auszugehen, dass diese<br />

Risikoeinstufung seitens des Anästhesisten unsachgemäß sein könne, denn dort hatte die Patientin keine<br />

Herzerkrankung,keine Lebererkrankung oder sonstige Erkrankungen angegeben, sondern lediglich einen zu hohen<br />

Blutdruck, der medikamentös behandelt wurde und eine Allergie (Heuschnupfen) benannt.<br />

Gegen die lndikationsstellung eines ambulanten operativen Eingriffes mitzahlreichen Extraktionen unter Vollnarkose<br />

sind Beanstandungen demzufolge nicht berechtigt, dies auch nicht angesichts der zu erwartenden längeren Dauer des<br />

operativen Eingriffes; die Sachverständige hat nämlich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Art und die Dauer<br />

der Operation die Auswahl des Anästhesieverfahrens beeinflussen und Analgesie und Kurznarkose sich ausschließlich<br />

für kurzdauernde Eingriffe eignen, wohingegen die Operationsdauer bei Anwendung der lntubationsnarkose<br />

unbegrenzt ist. In diesem Zusammenhang hat die Sachverständige des weiteren darauf hingewiesen, dass in der<br />

MundKieferGesichtschirurgie angestrebt wird, umfangreiche Zahnsanierungen möglichst in einer Sitzung<br />

durchzuführen, wobei Operationszeiten von 24 Stunden keine Seltenheit sind und die Narkose in einem solchen Fall in<br />

Intubationsnarkose und nach Möglichkeit nasotracheal durchgeführt werden sollte, wobei in der Regel bei diesen<br />

Eingriffen gleichzeitig ein adrenalinhaltiges Lokalanästheticum injiziert wird, wodurch eine relative Blutleere und damit<br />

ein übersichtliches OPFeld sowie eine postoperative Analgesie erreicht werden. Schon an dieser Stelle sei darauf<br />

hingewiesen, dass nach den weiteren Hinweisen der Sachverständigen Frau Dr. R. die Durchführung einer<br />

Intubationsnarkose in der zahnärztlichen Praxis eine besondere Erfahrung des Anästhesisten voraussetzt und man<br />

deshalb davon auszugehen hat, dass der Streitverkündete auch über die zuvor genannten Besonderheiten der<br />

speziellen Eingriffe der MundKieferGesichtschirurgie Bescheid wissen mußte. Jedenfalls war er verpflichtet, sich zur<br />

Durchführung der Narkose anlässlich eines derartigen Eingriffes nur dann bereitzufinden, wenn er die vorgenannten<br />

Besonderheiten kannte und auch beherrschte, denn der gesamte Narkosebereich, und damit auch die Koordination der<br />

lntubationsvollnarkose in Verbindung mit der zur Blutstillung erforderlichen Lokalanästhesierung fiel in seinen<br />

Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich. Es war demzufolge auch nicht etwa Aufgabe der Beklagten, von sich aus<br />

auf die Notwendigkeit von UltracainInjektionen hinzuweisen, da dies nach den Ausführungen der Sachverständigen<br />

nach Maßgabe des durchzuführenden Eingriffes eine Selbstverständlichkeit war, die dem Streitverkündeten als<br />

Anästhesisten bekannt sein mußte bzw. die er gegebenenfalls durch entsprechende Nachfrage hätte abklären müssen,<br />

um die lntubationsnarkose gegebenenfalls hierauf abstimmen zu können.<br />

Auch Aufklärungsmängel hinsichtlich der vorgesehenen operativen Behandlungsind nicht festzustellen.<br />

Zwar war die Patientin über Umfang, Art sowie Risiken der vorgesehenenBehandlung aufzuklären und war ihre zu der<br />

Operation erklärte Einwilligung nur unter der Voraussetzung einer solchen Aufklärung wirksam; nach dem Ergebnis der<br />

Beweisaufnahme und insbesondere den vorliegenden Unterlagen sieht der Senat aber eine ausreichende Aufklärung<br />

als erwiesen an.<br />

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Aufklärung über die Vollnarkose und deren Risiken<br />

angesichts der zwischen den Beklagten und demStreitverkündeten als Anästhesisten bestehenden sog. horizontalen<br />

Arbeitsteilung letzterem oblag und die Beklagten angesichts des von der Ehefrau des Klägers unterzeichneten<br />

Aufklärungs- und Anamnesebogens des Anästhesisten vom 22. 7.1991 davon ausgehen konnten und mußten, dass<br />

die Patientin hinsichtlich der Narkose und der damit verbundenen Risiken ausreichend aufgeklärt war.<br />

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Auch die Aufklärung der Patientin durch die Beklagten ist nicht zu beanstanden.<br />

Nach den Ausführungen der Sachverständigen Frau Dr. R. war - wie bereits referiert - schon nach der<br />

Befunderhebungsskizze, den Behandlungsunterlagen der Beklagten in Verbindung mit der am 11.6.1991 gefertigten<br />

Röntgenübersichtsaufnahme die desolate Gebißsituation, deren umfassende Sanierungsbedürftigkeit sowie die damit<br />

verbundene Notwendigkeit, 12 - 14 Zähnezu extrahieren, offenkundig. Dies legt nahe, dass schon zu diesem Zeitpunkt<br />

die durchzuführenden Maßnahmen mit der Patientin besprochen worden sind. Dies gilt umso mehr angesichts des<br />

Umstandes, dass die Patientin bereits an diesem Tag, also am 11.6. 1991, von den Beklagten einen Anamnesebogen<br />

erhalten hat, was für die Planung einer - größeren - Behandlungsmaßnahme spricht. Auch aus dem der Patientin am<br />

26. 7. 1991 ausgehändigten Heil- und Kostenplanergaben sich 12 Zähne als ―nicht erhaltungswürdig―, was ebenfalls<br />

dafür spricht, dass man der Patientin zeitlich vor der Operation den Umfang des durchzuführenden Eingriffes erläutert<br />

hat.<br />

Hinzu kommt, dass ausweislich der Behandlungsunterlagen - unstreitig - am 10. 7. 1991 eine ―Besprechung über die<br />

vorgesehene Operation in Narkose mit demStreitverkündeten und der Patientin durch die Beklagten geführt worden ist.<br />

Zwar ist der Inhalt dieses Gespräches nicht im einzelnen dokumentiert, angesichtsder vorstehend zitierten<br />

Behandlungsunterlagen, die den ―verwahrlosten Gebißstatus― und die Notwendigkeit einer umfangreichen Sanierung<br />

mit zahlreichen Extraktionen (12 nicht erhaltungswürdige Zähne) auswiesen, liegt es jedoch auf der Hand, dass bei diesem Gespräch<br />

der Umfang der durchzuführenden Operationsbehandlung der Patientin dargelegt worden ist. Angesichts des Inhaltes<br />

der für sich sprechenden Behandlungsunterlagen - vorstehend zitiert - ist schlechterdings unerfindlich, was anders -<br />

wenn nicht die durchzuführende umfangreiche Behandlung - mit der Patientin anlässlich der beiden Vorbesprechungen<br />

hätte erörtert werden sollen. Die Berufungsführer haben auch in keiner Weise eine substantiierte gegenteilige<br />

Darstellung dessen gegeben, was bei diesen Vorbesprechungen mit der Patientin anderes besprochen worden sein<br />

soll. Gerade auch der Umstand, dass auch der Streitverkündete als Anästhesist an diesen Besprechungen teilnahm,<br />

spricht zur Überzeugung des Senats dafür, dass hierbei Art, Umfang und voraussichtliche Dauer des umfangreichen<br />

Eingriffes erörtert worden sind.<br />

Über die Risiken der Vollnarkose brauchten die Beklagten - wie dargelegt - nicht selbst aufzuklären, sondern durften<br />

sich insoweit auf die dokumentierte Aufklärungdes Anästhesisten verlassen.<br />

Dass hierbei - mit dem Streitverkündeten - auch über die zu erwartende längereDauer der Operation gesprochen<br />

worden sein muß, erhellt daraus, dass man eine lntubationsnarkose vorgesehen hat, die nach den bereits erwähnten<br />

Ausführungen der Sachverständigen Frau Dr. R. gerade nur bei längerer Operationsdauer angezeigt ist und eine<br />

unbegrenzte Operationsdauer erlaubt, wohingegen Analgesie und Kurznarkose nur bei kurzdauernden Eingriffen in<br />

Betracht kommen.<br />

Eine exakte zeitliche Festlegung der Operationsdauer auf 4 Stunden war vor diesem Hintergrund auch gegenüber der<br />

Patientin nicht geboten, im Übrigen nach den Ausführungen der Sachverständigen auch nicht möglich, weil die<br />

intraoperativ entstehenden und zu beherrschenen Komplikationen einen sehr unterschiedlichenSchwierigkeitsgrad<br />

aufweisen und der zeitliche Aufwand u. a. von der Routine und Qualifikation des Operateurs abhängt. Die<br />

Sachverständige hat aber auch darauf hingewiesen, dass bei Zahnsanierungen Operationszeiten von 2 bis 4 Stunden<br />

möglich sind. Eine Aufklärung darüber, dass während der Operation auch Lokalanästhetica injiziert werden würden,<br />

war gegenüber der Patientin nichterforderlich, weil ausweislich der Ausführungen der Sachverständigen dies bei<br />

entsprechenden zahnärztlich operativen Eingriffen üblich und mit keinen besonderen Risiken verbunden ist,<br />

ausgenommen nur in Fällen von Allergien gegen Lokalanästhetica, die jedoch bei der Patientin nicht gegeben waren.<br />

Ob die Patientin über sonstige in Betracht kommenden Risiken, die inzahnärztlicher Hinsicht mit der Behandlung<br />

verbunden waren, im Vorfeld ausreichend informiert worden ist, wie z. B. über die Möglichkeit von<br />

Kieferhöhleneröffnungen mit plastischer Deckung und ähnlichem, kann im Ergebnis offen bleiben, denn jedenfalls hat<br />

die Klägerin keinen Entscheidungskonflikt im Falle umfassender Aufklärung substanthert und nachvollziehbar dargetan.<br />

Die einfache Behauptung, sie hätte sich dann dem Eingriff nicht unterzogen, reicht insoweit nicht aus. Insbesondere ist<br />

in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass die Patientin sich zu dem umfangreichen Eingriff entschlossen hat,<br />

obwohl auch die damit verbundene mehrstündige Intubationsnarkose mit gravierenden Risiken verbunden war und die<br />

Patientin durch den Streitverkündeten als Anästhesisten hierüber bei zu unterstellender ordnungsgemäßer Aufklärung<br />

unterrichtet worden sein muß. Die mit der zahnärztlichen Behandlung verbundenen Risiken wogen jedenfalls nicht<br />

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schwerer, sondern eher geringer als die mit der Vollnarkose verbundenen Risiken, und wenn die Patientin sich trotz der<br />

mit einer Volinarkose immer verbundenen schwerwiegenden Risiken für den Gesamtorganismus hierzu bereit finden<br />

konnte, dann hätte es einer substantiierten Darlegung und Begründung dafür bedurft, weshalb sie sich bei<br />

umfassender Aufklärung über die mit der zahnärztlichen Behandlung verbundenen Risiken hierdurch in einen<br />

schwerwiegenden Entscheidungskonflikt versetzt gefühlt hätte. In diesem Zusammenhang ist zusätzlich zu<br />

berücksichtigen, dass nach den Ausführungen der Sachverständigen Frau Dr. R. der Gebißstatus der Patientin desolat<br />

war und insbesondere im Hinblick auf die hierdurch hergerufenen chronischen Entzündungen dringend eine<br />

umfassende Sanierung nahelegte, worüber sich auch die Patientin im Klaren sein mußte und im Klaren war. Auch vor<br />

diesem Hintergrund ist schlechterdings nicht nachzuvollziehen und von den Berufungsklägern auch nicht plausibel<br />

dargetan, dass und inwiefern die Patientin sich bei umfänglicherer Information durch die Beklagten in einem<br />

Entscheidungskonflikt hinsichtlich der Durchführung des Eingriffes befunden haben sollte. Nur ergänzend sei darauf<br />

hingewiesen, dass sich im Übrigen auch kein Risiko der zahnärztlichen Behandlung realisiert hat, weshalb die<br />

Sachverständige diese auch als nicht zu beanstandend bezeichnet hat. Die durchgeführte zahnärztliche Behandlung<br />

wies auch im Übrigen keine Fehler auf. Die Behandlungszeit lag nach den Ausführungen der Sachverständigen Dr. R.<br />

noch am Rand der oberen Norm. Im übrigen hat sie ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Durchführung der<br />

Operation insgesamt lege artis erfolgt ist.<br />

Bei der Nachuntersuchung in der Abteilung für ZahnMundKieferchirurgie des Klinikums A. ist nämlich intraoral ein<br />

unauffälliger reizloser Zustand diagnostiziert worden.<br />

Auch im Hinblick auf die mehrfache Injektion des Lokalanästhetikums Ultracainsind den Beklagten keine<br />

Behandlungsfehler vorzuwerfen.<br />

Zwar ist es nach dem Ergebnis der in erster Instanz durchgeführtenBeweisaufnahme nach wie vor als nicht definitiv<br />

geklärt anzusehen, wievieleInjektionen mit jeweils welcher Füllmenge injiziert worden sind; hierauf kommt esaber auch<br />

nicht entscheidend an, denn schon die in erster Instanz beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. Sch. und Prof. Dr. Bo.<br />

sind mit überzeugender Begründung zu dem Ergebnis gelangt, dass selbst bei Zugrundelegung einer denkbaren<br />

höchstmöglichen Dosierung von 25,66 ml Bestandungen nicht gerechtfertigt sind, sondern bei großen<br />

kieferchirurgischen Operationen inIntubationsnarkose sogar 40 ml eines Lokalanästheticums bedenkenlos gespritzt<br />

werden können und die von den Beklagten injizierten Menge durchaus im tolerablen Bereich gelegen hat, weshalb<br />

auch unter Berücksichtigung des gesamten Narkoseverlaufes der Zwischenfall bei Ausleitung der Narkose nicht auf die<br />

konkrete Anwendung von Ultracain zurückgeführt werden kann.<br />

Die Sachverständige Dr. R. hat in diesem Zusammenhang des weiterenausdrücklich erwähnt, dass auch nach<br />

Auskunft der Herstellerfirma, der Fa. H. (Privatdozent Dr. Ra.) keine Interaktionen zwischen Ultracain und der Vollnarkose zu<br />

erwarten sind.<br />

Dass die Verwendung von Ultracain vorliegend auch indiziert war, hat die Sachverständige Dr. R. mit der<br />

nachvollziehbaren Begründung bestätigt, dass die Verabreichung eines Lokalanästhetikums vorliegend notwendig war,<br />

um die anlässlich der Zahnextraktionen nicht zu vermeidenden Blutungen zu beherrschen,wobei hinsichtlich der<br />

injizierten Gesamtmenge zusätzlich zu berücksichtigen ist, dass diese in Einzeldosen, verteilt über einen Zeitraum von<br />

4 Stunden verabreicht worden ist und demzufolge ein Teil der anfänglichen Injektionen bei Setzen der späteren schon<br />

wieder abgebaut war.<br />

Darüber hinaus hatte nach den wiederholten Hinweisen der Beklagten derStreitverkündete als Anästhesist, was die<br />

Sachverständige bestätigt hat, auch während des Narkoseverlaufes jederzeit die Möglichkeit, die Narkose<br />

abzubrechen, wenn sich eine Gefahr für die Vitalfunktionen der Patientin ergeben hätte. Unstreitig haben die Beklagten<br />

den Streitverkündeten auch während der operativen Behandlungen nach ca. zweistündiger Dauer jedenfalls gefragt, ob<br />

eine Weiterführung der Operation möglich sei, was dieser bejaht hat.<br />

Fehler sind auch hinsichtlich der Durchführung der Injektion des Lokalanästhetikums nicht festzustellen, insbesondere<br />

ist nicht bewiesen, dass die Injektionen in entzündetes Gebiet gesetzt worden sind. Die Sachverständige Dr. R. hat<br />

hierzu nämlich dargelegt, dass die Ehefrau des Klägers nicht etwa an einer Paradontitis profunda gelitten hat, sondern<br />

an einer chronischen Entzündung, die durch den schlechten Zustand des Gebisses hervorgerufen worden war, wobei<br />

eine chronische Entzündung keine akute Entzündung sei, auf die sich die Empfehlung beziehe, dass nicht in<br />

entzündetes Gebiet zu injizieren sei. Eine akute Entzündung etwa im Sinne eines Abszesses habe bei der Patientin<br />

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nichtvorgelegen, ebensowenig wie eine akute Taschenentzündung an einem einzelnen Zahn, in welchem letzteren<br />

Falle die Patientin auch Schmerzen gehabt hätte, was vorliegend bei der Ehefrau des Klägers nach dessen eigener<br />

Bekundung nicht der Fall gewesen ist. Zusätzlich hat die Sachverständige, was das Setzen der Injektionen anbetrifft,<br />

darauf hingewiesen, dass die Leitungsanästhesien im Unterkiefer eine Injektion in entzündetes Gebiet schon deshalb<br />

ausschlössen, weil dort fernab von dem Behandlungsort in der Nähe des Nerven injiziert werde. Die Beklagten hätten<br />

auch im Übrigen die lnjektionstechnik richtig ausgeführt. Eine intravasale lnjektierung sei ebenfalls nicht nachweisbar.<br />

Auch der Umstand, dass insgesamt 8 Osteotomien ausgeführt worden sind, erweistkeine Behandlungsfehler zu Lasten<br />

der Beklagten. Die Sachverständige hat darauf hingewiesen, dass sich die diesbezügliche Notwendigkeit erst am<br />

Operationstisch selbst beurteilen läßt und ein geübterer Zahnarzt unter Umständen weniger Osteotomien benötigt als<br />

ein ungeübter, vorliegend jedoch nicht festzustellen sei, dass die Zahl der Osteotomien ungebührlich und sachwidrig zu<br />

hoch gewesen sei. Dass die Beklagten unter Umständen noch keine nennenwerte Erfahrung im Bereich der<br />

Kieferchirurgie hatten, stand einer Durchführung des konkreten Eingriffes nicht entgegen, denn nach den Ausführungen<br />

von Frau Dr. R. hat jeder Zahnarzt, der niedergelassen ist, die Möglichkeit, derartige Operationen vorzunehmen. Die<br />

Operationsdauer lasse keine Rückschlüsse auf fehlendeErfahrung oder Kenntnisse der Beklagten zu. Nach dem<br />

Röntgenbild seien bei den meisten Zähnen der Patientin nur noch die Wurzeln vorgehanden gewesen, wobei derartige<br />

Wurzelreste nicht immer leicht zu entfernen seien; außerdem seien die Verhältnisse bei einer Vollnarkose schwieriger.<br />

Im übrigen erweist auch die von der Sachverständigen geschilderte lege artiserfolgte Durchführung der Operation (wie<br />

bereits erwähnt, wurde bei der Nachuntersuchung im Klinikum A. ein unauffälliger reizloser Zustand des Gebisses diagnostiziert), dass die Beklagte ersichtlich zur<br />

Durchführung dieser Operation die ausreichende Qualifikation besaßen.<br />

Behandlungsfehler der Beklagten sind auch für den Zeitraum nach demZwischenfall nicht festzustellen.<br />

Die Sachverständige Dr. R. hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich beidem Zwischenfall nicht um eine<br />

operativ bedingte Komplikation, sondern um einen Anäthesiezwischenfall handelte, die Bewältigung der Notfallsituation<br />

zunächst in die Verantwortlichkeit und Zuständigkeit des Anästhesisten gefallen sei, was im Übrigen auch nicht<br />

ernstlich in Zweifel gezogen werden kann, da - nur - der Anästhesist als Facharzt Narkosezwischenfälle zu<br />

beherrschen vermag, oder, wenn dies nicht der Fall ist, der Anästhesist in erster Linie gehalten ist, sich notärztlicher<br />

Hilfe zu bedienen und die diesbezüglichen Maßnahmen zu veranlassen. Zutreffend weist die Sachverständige Dr. R. in<br />

diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass die Beklagten als Zahnärzte auf die Fähigkeiten des Anästhesisten und<br />

Notfallarztes, also des Streithelfers, vertrauen konnten und deshalb nicht die Verpflichtung hatten, sofort einen Notarzt<br />

herbeizurufen. Auch die Durchführung der Reanimation fiel ausschließlich in den Zuständigkeits- und<br />

Verantwortungsbereich des Anästhesisten. In diesem Zusammenhang ist auch erneut auf die vom Senat bereits im<br />

Beweisbeschluß vom 9. 9. 1996 erwähnte höchstrichterliche Rechtsprechung (BGH VersR 1991/694) hinzuweisen, wonach nach<br />

den Grundsätzen der horizontalen Arbeitsteilung der Anästhesist während und unmittelbar nach der Operation für die<br />

Uberwachung der Narkose und die Aufrechterhaltung und Sicherung der vitalen Funktionen verantwortlich ist und auch<br />

eine längere Dauer des Eingriffs und ein höherer Blutverlust als der Operation anhaftende Umstände vom<br />

Anästhesisten wahrzunehmen und im Rahmen seiner Aufgaben zu berücksichtigen sind.<br />

Auch die Sicherung der vitalen Funktionen nach einem Narkosezwischenfall obliegt deshalb vorrangig dem<br />

Anästhesisten, und die behandelnden Zahnärzte dürfen, solange sie nicht konkrete Veranlassung hatten, an dessen<br />

Fähigkeiten zu zweifeln, darauf vertrauen, dass er in der Lage sei, einem derartigen Zwischenfall in der medizinisch<br />

gebotenen Weise zu begegnen. Dies gilt im vorliegenden Falle umso mehr, als der Streitverkündete als Schwiegersohn<br />

der Patientin - dies auch aus der Sicht der Beklagten - ein gesteigertes - auch persönliches - Interesse an einer<br />

sachgerechten Behandlung der Patientin nach dem Zwischenfall habenmußte und deshalb zu erwarten stand, dass er<br />

alles daran setzen werde, die vitalen Parameter wieder zu normalisieren, in welcher Annahme die Beklagten sich auch<br />

deshalb bestärkt sehen konnten, weil es dem Streitverkündeten immerhin schon nach 10 Minuten gelungen war, stabile<br />

Kreislaufverhältnisse wiederherzustellen. Selbst wenn die Patientin auch nach erfolgreicher Reanimation noch nicht<br />

wieder erwachte, so ist den Beklagten gleichwohl kein Vorwurf daraus zu machen, dass sie nachfolgend nicht<br />

entgegen dem Willen des Streitverkündeten als Anästhesistenunverzüglich den Notarzt herbeigerufen haben. Auch<br />

insoweit gilt, dass sie aus ihrer Sicht zum einen darauf vertrauen konnten, dass die Hinzuziehung eines Notarztes<br />

schon deshalb nicht erforderlich sei, weil der Streitverkündete selbst eine Notfallausbildung hatte und im Übrigen als<br />

Anästhesist und somit für Durchführung und Folgen der Narkose auch bei Zwischenfällen Verantwortlicher in der Lage<br />

war, zu beurteilen, ob er die Notfallsituation zu beherrschen vermochte oder aber sich fremder Hilfe bedienen mußte.<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 256


Auch der Umstand, dass der Streitverkündete als Schwiegersohn der Patientin ein gesteigertes Interesse an der<br />

Bewältigung des Narkosezwischenfalles haben mußte, durfte die Beklagte in der Annahme bestärken, dass ein Notarzt<br />

erst nach entsprechendem Hinweis seitens des Streitverkündeten hinzuzurufen sei.<br />

Im übrigen wäre ein als pflichtwidrig zu wertendes, verspätetes Hinzuziehen desNotarztes nach den Ausführungen<br />

insbesondere der erstinstanzlichen Sachverständigen auch nicht kausal für die bei der Patientin aufgetretenen<br />

Schäden, denn nach den Ausführungen der Sachverständigen erscheint es fraglich, ob ein sofort hinzugerufener<br />

Notarzt den Schaden hätte vermindern können, dies angesichts der Tatsache, dass bei der Patientin aller<br />

Wahrscheinlichkeit nach während der Narkose ein längerdauernder unerkannter kritischer Sauerstoffmangel bestanden<br />

hat und dieser die Ursache für den sodann aufgetreten Zwischenfall darstellt. Diese Schlußfolgerung ist ohne weiteres<br />

nachvollziehbar auf der Grundlage der weiteren Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Sch. dazu, worauf der<br />

Narkosezwischenfall aller Wahrscheinlichkeit nach beruht hat. Hierzu hat der Sachverständige u. a. ausgeführt, schon<br />

die 1 0minütige Reanimationsphase mit unproblematischer Wiederherstellung eines stablien Kreislaufes lasse darauf<br />

schließen, dass über längere Zeit ein kritischer Sauerstoffmangel zuvor bestanden haben müsse, der dazu geführt<br />

habe, dass es dann im weiteren Verlauf zu einem Herzstillstand gekommen sei, wobei angesichts des längerfristigen<br />

Sauerstoffmangels zum letztgenannten Zeitpunkt des Herzstillstandes bzw. auch nach der 10minütigen<br />

Reanimationsphase schon ein irreversibler Sauerstoffmangel im Gehirn eingetreten sei, an welchem dann auch ein<br />

sofort nach dem Zwischenfall herbeigerufener Notarzt nichts mehr hätte ändern können. Dass im Falle einer<br />

Lokalanästheticaintoxikation nicht in der kurzen Zeit von 10 Minuten eine Reanimation hätte erfolgen können, hat der<br />

Sachverständige nachvollziehbar damit begründet, dass sich dann das Herz nur sehr schwer hätte reanimieren lassen,<br />

weil das Lokalanästhetikum eine Blockierung der Natriumpumpen aller Zellmembranen, insbesondere der erregbaren<br />

Zellen des Reizleitungsgewebes des Herzens zur Folge habe; eine kurze Reanimationsphase schließe auch aus, dass<br />

in diesem kurzen Zeitraum ein derart schwerer und letztlich unumkehrbarer hypoxischer Hirnschaden hätte eintreten<br />

können, was wiederum dafür spreche, dass dieser Hirnschaden Folge eines längerfristigen Sauerstoffmangels unter<br />

der Narkose gewesen sein müsse.<br />

Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen erscheint die Schlußfolgerung desSachverständigen ohne weiteres<br />

nachvollziehbar und überzeugend, wonach dieUltracingaben nicht ursächlich für den eingetretenen Schaden bei der<br />

Patientinwaren. Dies hat der Sachverständige darüber hinaus mit dem Fehlen jeglicherSymptomatik begründet, wie sie<br />

im Falle einer Intoxikation oder allergischenReaktion auf das Lokalanästhetikum zu fordern gewesen wären,<br />

nämlichQuaddelbildung am ganzen Körper verbunden mit diffuser Schwellung desGesichts (QuinckeÖdem) Hypotonie,<br />

Bronchospasmus und Schocksituation,wobei diese Symptomatik innerhalb weniger Minuten nach dem<br />

erstmaligenKontakt mit dem Antigen, also dem Lokalanästhetikum, aufzutreten pflegt.Tachykardie, Tachyarrhythmie<br />

und Blutdruckabfall seien immer Zeichen einermassiven HistaminAusschüttung, die jede schwere allergische Reaktion<br />

begleite, wobei diese Symptome innerhalb von zwei bis fünfzehn Minuten nach dem Kontakt mit dem Antigen aufträten,<br />

während es nur in ganz seltenen Fällen bis zu 2 1/2 Stunden nach der Anitgenzufuhr dauern könne, bis sich die<br />

Rekation voll entwickele.<br />

Der Sachverständige hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass, da bei derKlägerin im Zusammenhang mit dem<br />

Zwischenfall weder eine Tachykardie, noch eine Urticaria, noch ein QuinckeOdem, noch ein Bronchospasmus<br />

beobachtet worden seien, man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen könne, dass es sich<br />

bei diesem Zwischenfall nicht um eine anaphylaktische oder anphylaktoide Reaktion auf Ultracain DS gehandelt haben<br />

könne. Ebensowenig könne es sich um eine kardiovaskuläre Reaktion durch Uberdosierung des Mittels Ultracain DS<br />

handeln. Zum einen handele es sich bei diesem Lokalanästhetikum um ein solches mit relativ geringer kardiovaskulärer<br />

Toxizität, welches darüber hinaus sehr rasch aus dem Körper eliminiert werde. Deshalb sei die Wahrscheinlichkeit<br />

äußerst gering, dass - auch bei mehrfacher Anwendung von Ultracain DS - sich binnen weniger Stunden toxische<br />

Blutspiegel aufbauen könnten, die dann zu einer lebensbedrohlichen kardiovaskulären Reaktion führen könnten. Die<br />

Maximaldosierung betrage 500 mg bzw. 7 mg Ultracain pro Kilogramm Körpergewicht, wobei diese toxischen<br />

Schwellenwerte nur für die erstmalige Injektion gälten. Bei der Ehefrau des Klägers seien aber maximal 560 mg<br />

Ultracain, verteilt über ca. 4 Stunden gegeben worden, wobei die Uberschreitung der Höchstdosis um 60 mg belanglos<br />

sei, weil diese Menge nicht in einer Injektion, sondern auf mehrere Injektionen verteilt innerhalb von 4 Stunden<br />

gegeben worden seien. In der Literatur werde über problemlose Anwendung von Ultracain in deutlichen höheren<br />

Dosierungen berichtet, wobei selbst bei Patienten mit schweren kardiovaskulären Erkrankungen die Anwendung der<br />

Höchstdosierung keine Schäden verursacht habe. Selbst bei kardial vorgeschädigten Patienten könne die empfohlene<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 257


Maximaldosierung auch bei einmaliger Anwendung erheblich überschritten werden, ohne dass dadurch<br />

schwerwiegende Komplikationen aufgetreten wären.<br />

Der in erster Instanz ebenfalls beauftragte Sachverständige Prof. Dr. Bo. ist seinem pharmakologischtoxikologischen<br />

Gutachten ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass es nicht zu beanstanden ist, wenn im Verlauf einer<br />

Allgemeinnarkose eine zahnärztliche Lokalanästhesie vorgenommen wird, um die Blutungsneigung herabzusetzen um<br />

postoperativen Schmerzen vorzubeugen. Er hat des weiteren ausdrüklich darauf hingewiesen, dass ein<br />

anaphylaktischer Schock oder anaphylaktoide Raktionen sich auf die kardiovaskulären und pulmonalen<br />

Funktionsparameter ausgewirkt hätten, wohingegen im Narkoseprotokoll bis zum Ende der Narkose stabile<br />

Herztöne/Kreislaufverhältnisse aufgezeigt würden und dem Zwischenfall (Asystolie) eine zunehmende Bradykardie<br />

vorausgegangen sei, wohingegen bei allergischen Reaktionen Tachykardie und Tachyarrhytmie zuerwarten gewesen<br />

wären. Ferner hat er sich dem Sachverständigen Prof. Dr. Sch. dahingehend angeschlossen, dass im Falle einer<br />

allergischen Reaktion auf Ultracain weitere Symptome wie Urticaria, Bronchospasmus usw. zu erwarten gewesen<br />

wären. Ebenfalls in Ubereinstimmung mit dem Sachverständigen Prof. Dr. Sch. hat er darauf hingewiesen, dass bei<br />

Ultracain von einer raschen Articain - Elimination, also Abbau, auszugehen sei und im Falle der Ehefrau des Klägers<br />

die applizierte Menge von Ultracain als unbedenklich angesehen werden müsse, weshalb sich auch im<br />

Narkoseprotokoll keine Auffälligkeiten in Bezug auf die kardiovaskulären Parameter fänden. Auch eine Gesamtmenge<br />

von 17,2 ml = 688 mg über vier Stunden sei angesichts der raschen Elimination von Articain und der hohen<br />

PlasmaEiweißbindung der Substanz unproblematisch. Selbst eineversehentlich intravasal erfolgte letzte Applikation<br />

von Ultracain vor Eintreten der Asystolie sei hierfür nicht ursächlich. Auch eine Einnahme von Solatex durch die<br />

Patientin sei nicht geeignet gewesen, die systemische Toxizität von Ultracain DS zu erhöhen. Wiederum in<br />

Ubereinstimmung mit Prof. Dr. Sch. hat Dr. Bo. darauf hingewiesen, die 10minütige Reanimation spreche für, dass die<br />

Verabreichung von Ultracain nicht für die Asystolie verantwortlich zu machen sei, weil Lokalanästhetika nur langsam<br />

aus dem Gewebe ausgewaschen würde und eine schwere kardiale Intoxikation mit Articain, die zu einer Asystolie führt,<br />

nicht innerhalb von zehn Minuten reversibel gewesen wäre. Einhellig haben somit beide Sachverständigen bestätigt,<br />

dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass die Ultracaingaben ursächlich oder auch nur mitursächlich für die<br />

eingetretenen Schäden der Patientin waren. Selbst bei kardialer Vorschädigung konnten Dosierungen von Ultracain DS<br />

oberhalb von 500 mg keine schwerwiegenden Komplikationen auslösen.<br />

Zusätzlich hat der Sachverstänige Prof. Dr. Bo. darauf hingewiesen, dass die EKGAufzeichnungen während der<br />

kritischen Phase vor Eintreten der Asystolie Veränderungen in Form von extremer Bradykardie, VABlock 1. bis 3.<br />

Grades und spitze hohe TWellen als Indiz für hohes extrazelluläres Kalium bzw. eine azidotische Stoffelwechsellage<br />

durch Hypoxämie auswiesen und insbesondere die letztgenannten Veränderungen als Folge einer<br />

Lokalanästhetikagabe nicht bekannt seien, hingegen als deutliches Zeichen einer Hypoxämie bzw. azidotischen<br />

Stoffwechsellage zu werten seien. Auch dieser Sachverständige hat sich im Übrigen dem Sachverständigen Prot Dr.<br />

Sch. dahingehend angeschlossen, dass auch ein früher herbeigerufener Notarzt die Schädigung weder hätte<br />

vermeiden noch vermindern können, weil die pathophysiologischen Prozesse, die zum zerebralen Hypoxieschaden<br />

geführt hätten, zum Zeitpunkt der erfolgreichen Reanimation bereits abgelaufen seien. Der Asystolie müsse vielmehr<br />

eine Hypoxie vorausgegangen sein, die die Erklärung für den zerebralen Hypoxieschaden darstelle. Dafür, dass sich<br />

eine derartige Hypoxie in der letzten Phase der lntubationsnarkose aufgebaut hat, und vom Streitverkündeten<br />

unbemerkt geblieben ist, spricht auch, dass, obwohl ein Kapnometer und Pulsoximeter dem Streitverkündeten als<br />

Anästhesisten zur Verfügung standen, sich gleichwohl im Narkoseprotokoll keinerlei Eintragungen über die mit diesen<br />

Apparaturen gemessenen Konzentrationen in der Ausatmungsluft von Kohlendioxzyd, Lachgas, Sauerstoff und Nifloran<br />

finden, ebensowenig wie die mit dem Pulsoximeter gemessene Sauerstoffstättigung des Blutes. Hieraus erhellt, dass<br />

der Streitverkündete ersichtlich die entsprechenden Meßwerte, die auf eine sich anbahnende Mypoxie hindeuten<br />

konnten, entweder nicht zur Kenntnis genommen oder aber diese überhaupt nicht gemessen hat und demzufolge über<br />

einen längeren Zeitraum hinweg eine Sauerstoffmangelversorgung nicht berücksichtigt hat, welche die beiden<br />

vorbenannten Sachverständigen, bestätigt durch die Sachverständige Dr. R., als höchstwahrscheinliche Ursache der<br />

Asystolie und der hierdurch ausgelösten irreversiblen Hirnschäden der Patientin erachtet haben. Im Ergebnis bleibt<br />

festzustellen, dass nach den übereinstimmenden Ausführungen sämtlicher Sachverständiger die irreversiblen<br />

zerebralen Hirnschäden der Ehefrau des Klägers auf einer längerfristigen Sauerstoffmangelversorgung unter<br />

derlntubationsnarkose beruhen, was ausschließlich in den Verantwortungsbereich des Streitverkündeten als des<br />

zuständigen Anästhesisten fällt und nicht den Beklagten angelastet werden kann.<br />

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Eine Haftung der Beklagten kommt nach allem nicht in Betracht, so dass dieBerufung des Klägers und des Streithelfers<br />

mit der Kostenfolge der § 97, 100, 1 ZPO zurückzuweisen war.<br />

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Ziffer 10,<br />

OLG Hamburg vom 20.10.1995<br />

Anspruch eines Patienten wird abgelehnt, der im Rahmen einer normalen Narkoseeinleitung einen Zahnschaden<br />

erlitt. … Ohne Bedeutung ist, dass die Angaben zum Zahnstatus des Klägers im Aufklärungsbogen nicht ganz<br />

korrekt sind, weil von „Zahnbrücken gesprochen wird, obwohl beim Kläger im Frontzahnbereich Überkronungen<br />

vorgelegen haben. Entscheidend ist, dass ein Kläger Zahnersatz im Ober- und Unterkiefer dokumentiert worden<br />

ist und dies bei der Durchführung der Anästhesiemaßnahmen zu berücksichtigen war. Entgegen der Ansicht des<br />

Klägers kann allein aus dem Eintritt eines Zahnschadens nicht auf eine fehlerhafte Durchführung der Intubation<br />

geschlossen werden. Auch wenn im Vorwege nicht mit Intubationsschwierigkeiten gerechnet werden musste, so<br />

schließt dises gleichwohl nicht aus, dass es intraoperativ zu Schwierigkeiten kommen konnte, die es erforderlich<br />

machten, etwas mehr Kraft und eine Hebelwirkung auf den Kehlkopfspiegel auszuüben, um die Intubation<br />

erfoglreich durchführen zu können. Dabei ist nicht immer zu vermeiden, dass es zu einer Beschädigung des<br />

Zahnschmelzes oder einer Zahnkrone kommt. Lassen sich demnach keine Anhaltspunkte für einen Verstoß<br />

gegen die fachlichen Regeln erkennen, muss dieses zum Nachteil des insoweit beweisbelasteten Klägers gehen.<br />

ThönsOLG Karlsruhe<br />

AZ 2 0 277/90 vom 01. 02.1995<br />

Verurteilung des Arztes wegen unterlassener Antibiotikaprophylaxe bei einem bekannten Herzfehler.<br />

... wegen<br />

Schadensersatz u.a.<br />

hat das Oberlandesgericht Karlsruhe - 13. Zivilsenat iii Freiburg - auf :die mündliche Verhandlung vom 11. Januar<br />

.1995, an der mitgewirkt haben,<br />

Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Dierenbach, Richterin am Oberlandesgericht, Becker, Richter am<br />

Oberlandesgericht, Schmitz<br />

13 U 4/94<br />

als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle<br />

- Kläger / Berüfungsbeklagter Prozeßbev.: .<br />

gegen<br />

1…. ‚ Arzt für Anästhesie,<br />

3. Oberarzt<br />

für<br />

Recht erkannt:<br />

1., Auf die Berufung des Beklagten Ziff. 1 wird das Urteil des Landgerichts Freiburg vom 14.12.1993 ‗(2 o 277/90)<br />

abgeändert.<br />

a) Die Beklagten Ziff. 2, 3 und 4 werden verurteilt, als .Gesamtschuldner an den Kläger ein Schmerzensg6ld von<br />

50.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 2a.08.1990 zu zahlen.<br />

b) Es wird festgestellt, dass die Beklagten Ziff. 2, 3 und 4 als Gesamtschuldner ‗verpflichtet sind,<br />

b 1) dem Kläger alle gegenwärtigen und zukünftigen<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 259


• Vermögensschäden zu ersetzen, die dieser infolge der vom 21.. bis 29.05.1987 im Kreiskrankenhaus X<br />

durchgeführten Behandlung erleidet, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen sind,<br />

- und .‚<br />

b 2) dem Kläger die zukünftigen weiteren Nichtvermögensschäden zu ersetzen, die dieser infdlge dervom 21. bis<br />

29.05.1987 im Kreiskrankenhaus in X durchgeführten stationären Behandlung erleidet.<br />

c) • Im übrigen wird die Klage abgewiesen.<br />

.2. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.<br />

3. Von den Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen ‗tragen der Kläger 1/4 der Gerichtskosten und seiner eigenen<br />

außergerichtlichen Kosten; außerdem die außergerichtlichen Kosten das Beklagten Ziff. 1, • •die Beklagten Ziff. 2, 3<br />

und 4 als Gesamtschuldner 3/4 der GerichtskOstefl uhd der außergetichtlichen Kosten de Klägers; außerdem ihre<br />

eigenen außergerichtlichen Kosten.<br />

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.. . Die Beklagten Ziff.. 2, 3 und 4 dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung<br />

in Höhe vön 74.000,00 DM<br />

• abwenden, wenn nidht der Kläger. vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe 1eist?et. • :<br />

Der Kläger darf die Vollstreckuiig durch Sicherheitslei—<br />

stung in Höhe von 2.100,00 DM abwenden, wenn n±cht der Beklagte Ziff. 1 vor der Vollstreckung Sicherheit in<br />

gleicher Höhe leistet.<br />

Die Beschwer des Klägers und die Beschwer der Beklagten 7<br />

Ziff. 2, 3 und 4 übersteigt jeweils den Betrag von<br />

60.000,00 DM. • • • • • • — Tatbestand:<br />

1. Der am 08.02.1948 geborene Kläger begehrt von den zU Ziff. 1 bis 3 beklagten Ärzten sowie von dem Beklagten<br />

Ziff. 4 als Träger des Kreiskrankenhauses Schadenersatz wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung.<br />

Der Kläger hatte einen, angeborenen Herzfehler in Form einer bikuspiden (zwei- statt dreiflügeligen) Aottenklappe, die durch eine<br />

im. Kindesalter erlittene Angina 4eschädigt worden war. Dies wurde im Jahre 1972 in der Universitätsklinik<br />

festgestellt; darüber hinaus, im 06.1986, eine Aorteninsuffizienz (BU Bl. 2).<br />

Ära 11.05.1987 stellte der Kläger ich wegen‗ eines 1985 diagnostizierten lCrampfäderleidens, das ihn bei seinem<br />

überwiegend im Stehen ausgeübten Beruf als Holzbildhauer behinderte, im Krankenhaus des Beklagten Ziff. 4 bei dem<br />

dort als Oberarzt (Chirurg) tätigen Beklagten Ziff. 2 vor. ‗Dieser empfahl eine operative Sanierung durch Crossektomie und<br />

Stripping der Saphena magna links. . .‗ ‚<br />

Am 21.05.1987 wurde der ‗Kläger hierfür stationär aufgenommen. Die dabei veranlaßten Laboruntersuchungen<br />

ergaben ‗eine erhöhte Blutsenkun5geschwindigk.eit. von 27/6 1 (Norm; 3 bis 8/5 bis 18), einen im oberen Bereich liegndexi<br />

Leukozytenwert von 9400 und einen leicht eingeschränkten:Quickwert von 67 %‚. Die ThoraxRöntgenaufnahme zeigte<br />

ein ―deutlich linkstypisch figuriertes und links verbreitertes Herz―.<br />

Vor dem ersten, mit dem Beklagten Ziff. 1 •(Anästhesisten) am 21.05.1,987 geführten Aufklärungsgespräch füllte,der K1äer<br />

einen Aufklärungs‗- und Anamnesebogen der Anästhesieabteilung (BU 8 ff) aus, in dem er u.a. die Frage nach ärztlichen<br />

Behandlungen in letzter Zeit mit ―nein― und die Frage nach Herzerkrankungen mit ―ja― sowie dem Vermerk<br />

―Herzklappen― beantwortete. Der Beklagte Ziff. 2 vermerkte anlässlich dernoch am selben Tag von ihm durchgeführten<br />

Untersuchung im Anamnesebogen als frühere Erkrankungen ―Herzklappenehler (?) nach Angina pectoris, ohne<br />

Beschwerden―. Nach einem weiteren Aufklärungsgespräch mit dem Beklagten Ziff. 3 (Statidnsarzt) erteilte der Kläger sein<br />

schriftliches Einverständnis mit der beabsichtigten KrampfadernoperatiOn.<br />

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Diese wurde am 22.05.1987 durch den Beklagten Ziff.2 mit dem Beklagten Ziff. 1 als Anästhesisten durchgeführt und<br />

verlief komplikationslos. Im Narkoseprotokoll (BU 17) findet sich. unter der Rubrik ―Komplikationen praeop― die Eintragung<br />

―MitralinsuffizienZ, keine Herzinsuffizienzzeichen―.<br />

Vom zweiten Tag nach der Operation an klagte der Kläger über Rückenschmerzen. Zwei Tage nach der am<br />

29.05.1987 erfolgten. Entlassung aus dem Krankenhaus trat deutlich erhöhtes Fieber. auf. Der Kläger wurde bei<br />

fortbestehendem intermittierendem Fieber bis zu 39,7 Grad Celsius am 11.06.1987 in das Kantons spital eingewiesen.<br />

Dort wurde aufgrund eingehender Abklärung 18 Tage nach der Operation eine infektiöse Aorten.klappenendokarditis ,<br />

hervorgerufen durch den Erreer koagulasenegativer Staphylokokkus epidermis, •festgstellt. Nach antibiotischer<br />

Behandlung bis zum 07.06.1987 wurde der Kläger zunächst in das Kreiskrankeflhaus Q$ verlegt, von wo er nach<br />

fortgesetzter Peniäillinbehandlüng sodann am 1Q.07.1987<br />

• ―in gutem Allgemeinzustand―entlassen wurde.<br />

Der Zustand des Klägers verschlechterte sich jedoch alsbald wieder, weshalb er vom 19. bis 21.07.1987 wegen<br />

―kompensierter linksventrikulärer Herzinsuffizienz bei valvulärer Herzerkrankung und Status nach<br />

Äortenklappenendokarditis 6/87― erneut im. Kantonsspital 3 stationär behandelt wurde, und schließlich am 09.10.1987<br />

die beschädigte Aorteiiklappe durch eine Eunststoffprothese ersetzt sowie, am 23.10.1987, ein Herzschrittmacher<br />

eingesetzt wurde. . - 6 - Der Kläger war von der ersten Operation vom 22.05.1987 bis zum 16.11.1988 wegen der<br />

seibher einget±etenen Komplikationen arbeitsunfähig krank. Er ist nach einem Rentenbescheid der LVA seither zu 50<br />

% berufsunfähig und erhält deswegen seit 29.12.1.987 eine Berufsunfähigkeitsrente. Die künstliche Herzk1ppe bringt<br />

für ihn erhebliche gesundheitliche Nachteile<br />

mit sich. Es ist zeitlebens ine Kontrolle und medikamentöse Behandlüng der geminderten Blutgerinnungsfähigkeit<br />

erforder.lich, es besteht das erhöhte RisikQ einer erneuten Entzündung des Herzrnuskels und der Herzklappen,<br />

körperliche Listungsfähigkeit und Lebenserwartung sind deutlich reduziert. Der Kläger hat ständige Angstgefühle, die<br />

umfassenden psychischen Belastungen wirken sich auch.nachteilig.auf seine familiären und soz.ialen Beziehungen<br />

aus.<br />

II. Der Kläger hat behauptet, die Beklagten Ziff. 1 bis 3<br />

hätten die AortenklappenendOkarditis und die in deren Folge<br />

eingetretene Verschlechterung seines gesündheitlichen Zustan<br />

• des schuldhaft‗ verursacht. In Anbetracht des bei ihm vorliegenden Risikoprofils, so hat er vorgetragen, habe s einen<br />

Kunstfehler dargestellt, die Operation am 22.05.1987 ohne Endokarditispröphylaxe durchuführen. Die Staphylokokken,<br />

typische Hautkeime, seiön mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei dieser Operation eingeschwemmt<br />

worden und hätten die Endokarditis ‗ausgelöst. Durch eineentsprechende<br />

Prophylaxe wäre dies verhindert worden. Selbst wenn bereits zuvor eine Infektion vorgelegen haben sollte, sei diese<br />

durch.<br />

bei der Operation eiiigeschwenunte Erreger derartig verstärkt worden, dass es zum Bakterienbefall der Aortenklappe<br />

gekommen<br />

sei. Die am 21.05.1987 erhobenen Befunde, . insbesöndere die erhöhte Blutsenkungsgeschwindigkeit, hätten eine<br />

Operation ohne Endokarditisprophylaxe kontraindiziert; jedenfalls hätten die Beklagten Ziff. 1 bis 3 die Operation bis<br />

zur Abklärung der erhöhten Blutsenkungsgeschwindigkeit verschieben müssen. Außerdem hätten die nach der<br />

Operation aufgetretenen Rücken- schmerzen, die septisch gewesen seien, und die Temperaturen<br />

Anlaß zu weiterer Abklärung und zur Antibiotikagabe seinmüssen.• Schließlich sei den beklagten Ärzten vorzuwerfen,<br />

dass sie - was unstreitig. ist - über das Risiko des Eingriffs ohne.• Endokarditisprophylaxe, insbesondere im Hinblick<br />

auf die erhöhte Blutsenkungsgeschwindigkeit, nicht aufgeklärt hätten.<br />

Der Kläger hat beantragt, .<br />

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger zum Ausgleich aller bis zur Entscheidung<br />

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- des Rechtsstreits in der Tatsacheninstanz eingetretenen Nichtvermögensschäden aus der vom 21. bis zum<br />

29.05.1987 im Kreiskrankenhaus in durchgeführten stationären Behandlung ein angemesse.nes Schmerzensgeld zu<br />

zahlen und dieses mit 4 % p.a.<br />

• ab Rechtshängigkeit zu verzinsen;<br />

2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet seien,<br />

a) dem Kläger alle gegenwärtign und zukünftigen vermögensschäden zu ersetzen die diser aus der vom 21. bis zum<br />

29.05.1987 im Kreiskrankenhaus in - durchgeführten stationären Behandlung erleidet, soweit die Ansprüche des<br />

Klägers nicht auf Versicherungsträger übetgegangen sind, dem Kläger alle weiteren, zukünftigen<br />

Nichtvermögensschäden zu ersetzen, die dieser aus der vom 21, bis 29.05.1987 im- Kreiskrankenhaus in<br />

durchgeführten stationären<br />

Behandlung erleidet. .<br />

Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.<br />

Sie habn bestritten, dass das Risikoprofil des Klägers, soweit es ihnen bekannt gewesen sei, die Verschiebung der<br />

Operationund/oder eine Endokarditisprophylaxe erfordert hätte; ebenso, däß die Hautkeime, die zur Endokarditis, der<br />

Aortenklappe geführt haben, •bei der Operation eingeschwemmt worden seien. Die Krampfadernentfernung, so haben<br />

sie vorgettagen, sei eine völlig aseptische Operation, die selbst bei einer bereits vorhandenen Infektion den Pati€nten<br />

nicht nennenswert belaste. Der Hinweis des Klägers auf einen Herzklappenfehler sei zu unbestimmt gewesen, um die<br />

Annahme. eines Endokarditis Risikos zu begründen. Auch die Erg&nisse der voruntersuchungen hätten dieses Risiko<br />

nicht nahegelegt. Insbesondere habe die erhöhte Blutsenkungsgeschwindigkeit vielerlei Ursachen gehabt haben<br />

können. Der Umstand, dass die Hautkeime erst drei Wochen nach der Operation festgestellt worden seien, spreche<br />

gegen eine Einschwemmung schon bei der bperation. Die Rückenschmerzen danach und die postoperativ<br />

gemessenen Temperaturen rechtf er tigten keine gegenteiligen Schlußfolgerungen. Die dem Kläger zuteil gewordene<br />

Aufklärung sei mangels besonderer Risikenausreichend ‗gewesen. . III. Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme<br />

durch Urteil vom 14.12.1993, auf das Bezug genommen wird, die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung eins<br />

Schmerzensgeldes von 50.000,00 DM. verurteilt und die Schadenersatzpflicht. der Beklagten .entsprechend den<br />

Klaganträgen zu Ziff. 2 festge stellt.<br />

IV. .. Mit der gegen dieses Urteil gerichteten Berufung verfolgen die Beklagten die Klagabweisung weiter.<br />

Sie heben darauf ab, . dass sowohl die von der ärztlichen Gutchterkommission eingeschalteten - Sachverständigen als<br />

auch- zunächst - der vom Landgerichb beauftragte SachverständigeProf. Dr. J (Universitätsklinik ) einen<br />

ärztlicheiBehandlungsfehler verne.int •haben. Selbst wenn der gerichtlicheSachverständige - der später seine Meinung<br />

geändert ünd dieOperation ohne vorheige Abklärung der Ursachen für dieerhöhte Blutsenkungsgeschwindigkeit und<br />

ohneEndokarditisprophylaxe als, grob fehlerhaft bezeichnet hat - sich bei seiner ersten Stellungnahme (schriftliches Gutachten vom<br />

24.01.1992, 1 201 ff) geirrt haben sollte, könne den beklagten Ärzten jedenfalls ein grober Behandlungsfehler nicht vorgeworfen<br />

werden, da diese •nicht hätten klüger sein müssen als die Fachprofessoren.<br />

Den ihni obliegenden Beweis der Ursächlichkeit fehlerhafter Behandlung für die bei ihm aufgetretene Endokärditis habe<br />

der Kläger nicht erbracht. Außer dem von ihm selbst beauftragten Gutachter Dr.. — habe keiner der Sachverständigen<br />

die Kausalitätsfrage bejaht. Die Kausalität sei auch noch aus anderen Gründen zu verneinen: Falls die<br />

differentialdiagnostische Abklärun der geringgradig erhöhten Blutäenkungsgeschwindigkeit das Ergebnis erbracht<br />

hätte, dass eine Endokarditis nicht vorhanden oder in der Entwicklung begriffen war,. hätte die varizenoperatioii ohne<br />

Endokarditisprophylaxe durchgeführt werden können; die spätere Keiminvasaon könne nicht mangelnder Abklärung<br />

zugeschrieben werden. Andernfalls, falls sich eine bereits bestehende oder in der Entwicklung begriffene Endokarditis<br />

herausgestellt hätte, hätte sich bestätigt, dass diese nicht auf die VarizenOperation zurückzuführen sei. Der<br />

unkomplizierte und ungefährliche Eingriff hätte das manifeste Krankheitsgeschehen nicht mehr beeinflußt.<br />

Der Beklagte Ziff. 1 macht darüber hinaus, wie schon in erster Instanz, geltend, dass er als Anästhesist nicht dafür<br />

v&antwortlich gemacht werden könne, dass keine Endokarditisprophylaxe durchgeführt wurde.<br />

Die Beklagten beantragen, unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen. .<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 262


Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen<br />

Er hält die Gutachten der für die GutachterkommissiOn tätig gwordenen Sachverständigen für untaüglich, weil ie von.<br />

falschen AnknüpfungstatsaChøn ausgegangen bzw. in ihren Bewertungen unrichtig seien. Bezüglich der<br />

Stellungnahmen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Jweist er darauf hin, dass dieser, bereits bei seiner ersten<br />

Anhörung am 16.12.1992 von dem durch einen Assistenten formulierten ersten schriftlichen Gutachten‗ abgerückt sei<br />

und betont habe, dass die beschleunigte Blutsenkung bei Vorliegen eines Herzklappenfehlers hätte Anlaß zu weiteren<br />

Nachforschungen sein müssen. Nach den danach übereinstimmenden Ausführungen dieses Sachverständigen und<br />

des Sachverständigen. Dr. H_ ‚ so trägt er weiter vor, hätten die Beklagten gegen elementare<br />

medizinischeBehandlungsstandards verstoßen, als sie den Kläger im Wege einer nicht dringlichen Operation einem<br />

schwerwiegenden,erkennbaren Gesundheitsrisiko ausgesetzt hätten., das sich dann.‗auch prompt verwirklicht habe.<br />

Infolge der groben Behandlungs.fehler werde der Kausalzusammenhang zwischen diesem und defteingetretenen<br />

Gesundheitsschäden vermutet. Davon unabhängigsei der Ursachenzusammenhang durch die mündlichen<br />

Ausführungendes Sachverständigen Dr. H und die Privatgutachten, der Sachverständigen PD Dr. Z ff, PD Dr. IC und<br />

Prof. Dr. L ‗ auch nachgewiesen.<br />

Auch wenh die Abklärung der erhöhten Blutsenkungsgeschwin‗ digkeit ergeben hätte, dass die Herzklappe keinen<br />

Kelmbefallaufwies, hätte nicht ohne Endokarditisprophylaxe operiert .werden dürfen, da die beklagten Ärzte verpflichtet<br />

gewesenseien, den sichersten Weg zu. wählen. Die Angriffe der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil gingen<br />

insgesamt fehl.<br />

Für die Einzelheiten des beiderseitigen Vorbringens wird auf den Inhalt der in beiden Rechts‗zügen von dän Parteien<br />

eingereichten Schriftsätze Bezug genommen. Entscheidungsgründe:<br />

1. Die Berufung aller Beklagten ist zulässig. Die Berufung des Beklagten Ziff. ‗.1 hat auch in der Sache Erfolg im<br />

Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.<br />

1. Der Senat geht im Anschluß an die mündlichen Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. JS und<br />

das Gutachten des Sachverständigen Dr. IL_ mit dem Landgericht davon aus, dass die Operation ohne<br />

Antibiotikaprophylaxe bei Bestehen eines Herzklappenfehlers undeiner ungeklärten erhöhten<br />

Blutsenkungsgeschwindigkeit einen Behandlungsfehler dastellte. Die Notwendigkeit einer vorherigen Abklärung der<br />

erhöhten Blutsenkungsgeschwindigkeit, die auf einen entzündlichen. Prozeß im Körper hindeuten konnte, leuchtet in,<br />

Anbetracht der Tatsache, dass‗ das Risiko einer kardialen ‗Erkrankung. bereits durch den - bekannten -<br />

Herzklappenfehler (lt. ‚Narkoseprotokoll Mitralinsuffizienz, d.h. Herzklappenf eh- 1er mit Schlußunfähigkeit der Mitralklappe dutch narbigeSchrumpfung . infolge Endokarditis; vgl. Pschyrefnbel<br />

Medizinisches‗ Wörterbuch, 257. Aufl.)‗ erhöht war, ohneweiteres ein.‗ Sie klingt ‚auch in den schriftlichen, jeweils von Assistenten<br />

verfaßten und möglicherweise von Prof. J nicht ganz sorgfältig überprüften Gutachten der Universitätsklinik bereits an.<br />

Im ersten Gutachten vom 24.01.1992. CI 241 unten) heißt‗ es, eine präoperativ deutlich erhöhte<br />

Blutsenkungsgeschwindigkeit hätte Anlaß zu weiteren Untersuchungen und zur Abklärung einer Entzündung geben<br />

können. Im zweiten Gutachten wird ausgeführt, die Operation hätte zunächst verschoben werden müssen, um eine<br />

präoperativ erhöhte ‗Blutsenkung weiter abzuklären CI 443). Trotz der letztendlicherfolgten Verneinung eines<br />

Behandlungsfehlers in beiden Gutachten erscheinen deshalb die Widersprüche in den verschiedenen Stellungnahmen<br />

der Universitätsklinik nicht so gravierend, dass die Richtigkeit der in diesem Punkteindeutigen mündlichen<br />

Ausführungen des Sachverständigen Prof. J in Zweifel gezogen werden müßte. Auch die vorgerichtlich, durch die<br />

Gutachterkommission eingeholten Gutachten rechtfertigen dies nicht. Das Gutachten de Sachverständigen Prof. .A (K 7)<br />

geht, wie der Kläger zutreffend aufzeigt, von unzutreffenden bzw. unvollständigen Grundlagen aus, indem es einen<br />

Herzklappenfehler als seinerzeit nicht gesichert ahsieht. Das Gutachten von Prof. Dr. sr (AnL K 6) verneint das Bestehen<br />

gezielter Hinweise auf eine endokarditisgefährdete Aortenklappeninsuffizienz trotz vollständiger Erfassung der<br />

Anknüpfungstatsachen ohne nachvollziehbare Begründung.<br />

Die Berufung stellt das Vorliegen eines (einfachen)Behandlungsfehlers in Bezug auf die Beklagten Ziff. 2 und 3. letztlich<br />

auch gar nicht mehr ernsthaft in Frage. Siewendet sich substantiiert nur gegen die Annahme eines Behandlungsfehlers<br />

bzw. die Verantwortlichkeit auch des Beklagten. Ziff. 1 und gegen die Annahme eines groben Verstoßes. Insofern<br />

beanstandet sie das angefochtene Urteil allerdings zu Recht.<br />

Der Erstbeklagte hat für den Schaden des Klägers nicht einzustehen.<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 263


Aus den vorliegenden Gutachten ergibt sich nicht, dass die unterlassene Abklärung der Ursachen der erhöhten<br />

Blutsenkungsgeschwindigkeit bzw. die uhterlassene Antibiotika.rophylaxe bei der dhne diese Abklärung durchgeführteii<br />

Operation irgend einen Einfluß auf die Anästhesieführung gehabt hätte. Es bestehen weder Anhaltspunkte dafür, dass<br />

die Spinalanästhesie, die der Erstbeklagte vorgenommen hat, nach dem Zustand des Klägers und der Art und Weise<br />

des operativen Eingriffs als solche kontraindiziert gewesen wäre, hoch ist es auch nur wahrscheinlich, dass gerade<br />

diese Anästhesie zur Schädigung des Klägersgeführt hat. Der sachverständige Prof. J hat lediglich die Auffassung<br />

vertreten, dass der Anästhesist in de Situation der Untersuchungen vor der Operation nicht nur das Risiko der mit dem<br />

Eingriff verbundenen Narkose oder Anästhesie einschätzen, sondern auch zur Gesamtgefährdung des Patienten durch<br />

den Einriff und damit zu allen Faktoren, die das Operationsrisiko erhöhen können, Stellung nehmen müsse.<br />

Dem kann in dieser Form und Allgemeinheit nicht gefolgt werden; jedenfalls kann aus den Ausführungendes<br />

Sachverständigen nicht der rechtliche Schluß gezogen werden, dass der Anästhesist im allgemeinen und/oder auch<br />

hier •im besonderen über seinen eigenen Aufgabenbereich – dieAnästhesie - hinaus die Aufgabe hat, sich an<br />

diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen zu beteiligen, dienicht mit der Anästhesie zusammenhängen, und<br />

dass er für die Folgen der Unterlassung solcher Maßnahmen Mitverantwortung zu tragen hat, auch wenn sie nicht auf<br />

die<br />

Anästhesi.e zurückzuführen sind. Nach der Rechtsprechung des BGH (VersR 1987, 1092/1094) ‚ der der Senat folgt; ist<br />

grundsätzlich von einer Arbeits- (Aufgaben)Teilung zwischen dem Anästhesisten und dem Operateür sowie den übrigen bei<br />

der Behandlung mitwirkenden Ärzten auszugehen und damit von einer entsprechenden Aufteilung der<br />

Veräntwortungsbereich.. Der Anästhesist, der nur als solcher ander Behandlung beteiligt ist, hat nur die für die<br />

Anästhesie erforderlichen Maßnahmen durchzuführen und zu verantworten. Ihm kann selbst dann, wenn er für, die<br />

Anästhesie erforderliche. Befunderhebungen oder Maßnahmen unterlassen hat, ohne dass dies zu einer Schädigung<br />

bei der Anästhesie geführt hat, eine Schädigung des Patienten aus Versäumnissen anderer Ärzte nicht zugerechnet<br />

werden, die ihrerseits zum Zweck einer Therapie des Patienten erforderliche Befunde gleicher Art nicht erhoben oder<br />

Maßnahmen gleicher Ärt getroffen haben (vgl. BGH aao).<br />

Da der Erstbeklagte hier, auch im Rahmen der Untersuchungen vor der Operation, nur als Anästhesist tätig geworden<br />

ist und nur insoweit •an der Behandlung des Klägers beteiligt war, kann ihm danach die Schädigung des Klägers<br />

(Endokarditis) nicht zugerechnet werden. Es ist noch. nicht einmal dargetan, dass die datgestellten Unterlassungen<br />

Behandlungsfehler (auch) in Bezug auf die Anästesie darstellten. Jedenfalls war es nicht Aufgabe des Erstbeklagten zu<br />

entscheiden, ob bei den beim Kläger erhobenen Befunden der operative Eingriff sogleich durchgeführt werden sollte<br />

und wenn ja, ob mit oder ohne Antibiotikaprophylaxe. Auch besteht nicht 4einmal eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass<br />

die dann aufgetretene Endokarditis gerade auf die Anästhesie zurückzuführen ist.<br />

Auch die Auffassung des Landgerichts, das in Frage stehende Unterlassen der beklagten Ärzte sei aus objektiver<br />

ärztlicher Sicht bei Anlegung des für einen Arzt geltenden Ausbildungs- und Wissensstandes nicht mehrverständlich,<br />

es läge ein grober Behandlungsfehler vor, begegnet. in Anbetracht des Umstandes, dass in den schrif tlichen<br />

Stellungnahmen der Universitätsklinik unter Beteiligung des Sachverständigen Prof. .i einBehandlungsfehler überhaupt<br />

verneint wurde, und dass Prof.zur Aussage, es habe ein grober Verstoß vorgelegen, erst bei seiner zweiten Anhörung,<br />

ersichtlich unter dem<br />

Eindruck des - allerdings zwäifelsfrei kompeteiiten .) Privatgutachters Dr. Hfl, gelangt ist, Bedenken.Schon die späte,<br />

―Einsicht― des gerichtlichen Sachverständigen, der grundsätzlich als besonders qualifiziert angesehen werden muß,<br />

läßt die Annahme eines groben Behandlungsfehlers der an einem Kreiskrankenhaus beschäftigten beklaten Ärzte<br />

(Beklagte Ziff. 2 und 3) nicht zu. Von einem groben Fehler sind auch die übrigen vom Kläger als Privatgutachter zugezogenen<br />

Sachverständigen (Dr. H ausgenommen) nicht ausgegangen.<br />

Die Kausalität des Behandlungsfehlers der Beklagten Ziff. 2 und 3 für den Gesundhejtsschaden des Klägers, um die es<br />

in disem Zusammenhang in erster Linie geht, ist gleichwohl zu bejahen nie Ärzte, die den Kläger im Kantonsspital —<br />

behandelt haben, gehen aufgrund der Tatsache,. dass es sich bei dem dort festgestellten Erreger um einen Eautkim<br />

handelte, sowie aufgrund des zeitlicher Ablaufs davon aus, dass die Endokarditis durch die Operation ausgelöst wurde<br />

(vgl. die Stellungnahmen von Prof. B_ — - und PD nr. 1 147, 161). Nach der Stellungnahme des Infektiologen Dr. ‚ besteht daran ―kaum ein<br />

.Zweifel―. Dr. hat im schriftlichen Gutachten den Kausalzusammenhang als zweifelsfrei, im Termin vor dem Landgericht<br />

vom 19.10.1993 die Kausalkette zwischen Operation und Erkrankung jedenfalls als mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 264


gegeben bezeichnet undhat dies zusätzlich mit der ersichtlich hohen Aggressivität des Keims begründet. Auch im<br />

ersten schriftlichen Gutachten der Universitätsklinik — hdißt es im Anschluß an die Darstellung des zeitlichen Ablaufs<br />

der Erkrankung, ein Zusammenhang zwischen dem. operativeh Eingriff und der Endokarditis •erscheine<br />

wahrscheinlich; es könne nur nicht sicher geklärt werden, wann und auf weiche Weise der die Endokarditis<br />

verursachende Keim in ‗die Blutbahn gelangt sei. Diese Aussage wird durch das zweite schriftliche Gutachten (1 44]) zwar<br />

wiederum eingeschränkt und es wird erklärt, nach Ansicht der Verfasser habe eine Infektion söhon vor der Operation<br />

im Sinne einer präexistenten Endokarditis vorgelegen (erhöhte Blutsenkung); über einen Zusammenhang zwischen der<br />

Endokarditis. und der durchge führten varizenexhairese könne nicht entschieden werden. Insofern hat der<br />

Sachverständige Prof. J im Termin vom 19.10.1993 (1 471 ff) seine Aussage aber wiederum modifiziert dahin, dass für<br />

eine Verursachung der Endokarditiserst durch den Eingriff die größere Wahrscheinlichkeit bestehe.<br />

Ein ursachenzusammenhang zwischen dem ärztlichen Behandlungsfehler in Form der Durchführung der Operation am<br />

22.05.1987 trotz Bestehens einer Herzklappenerkrankung sowie einerbezüglich ihrer Urachen ungeklärten erhöhten<br />

Blutsenkungsgeschwindigkeit ohne AntibiOtikaprophylaxe und dem Schaden ist danach und weil eine solche<br />

Prophylaxe eine Aortenklappenendokarditis, auch eine vor der Operatiön bereits bestehende, wahrscheinlich verhindert<br />

bzw. beseitigt hätte (Sachverständiger Jfl 1 289)immerhin wahrscheinlich. Die Aufklärun dieses Zusammenhangs ist aber wegen<br />

der fehlenden Befundsicherung durchAbklärung der Ursachen der erhöhten Blutsenkungsgeschwindigkeit letztlich<br />

vereitelt. Die Abklärung in dieser Richtung wäre eben wegen des erhöhten Risikos einer Endokarditis bei<br />

Herzklappenerkrankung auch erforderlich gewesen. Deshalb und weil nach den mündlichen Ausführungen beider im<br />

Termin vom 19.10.1993 angehörten Sachverständigen die Erhebung dieses Befundes jedenfalls zweifelsfrei<br />

medizinisch geboten war, kommt dem Kläger hier unabhängig voM Vorliegen eines grobeh Behandlungsfehlers eine<br />

Beweiserleichterung zuute, die ihm den sonst regelmäßig zu erbringenden Vollbeweis für die haftungsbegründende<br />

Kausalität gern. § 286 erspart (vgl. BGH VersR 87, 1089; ‗OLG Düsseldorf‗‗VersR 89, 192/193)<br />

Die Haftung der Beklagten wäre nur dann ausgeschlossen, wenn anzunehmen wäre, dass, der •Schaden auch bei<br />

sachgerechter Behandlung, d.h. zunächst Abklärung der Ursachen der erhöhten Blutsenkungsgeschwindigkeit oder<br />

aber Operatioh mit Antibiotikapxophy1axe, eingetreten wäre. bas steht jedoch nicht fest.<br />

Wenn die Befunderhebung iz diesem Sinne eine bereits bestehende oder in der Entstehung begriffene ‗Endokarditis<br />

ergeben hätte, hätte die Operation am 22.05.1987 nichtdurchgeführt werden dürfen, sondern es hätte zunächst diese<br />

Störung behandelt werden müssen (Sachverstiändiger J 1 475). Bei einer in. diesem Sinne sachgerechten Behandlung, die relativ<br />

früh eingesetzt hatte, wäre der Verlauf der Erkrankung im Zweifel zumindest nicht so gravierend und folgenreich<br />

gewesen, wie er es tatsächlich war, zumal auch die zusätzlichen Belastungen durch die Operation (Sachverständiger J 1 299 unten)<br />

entfallen wären.<br />

Wenn man, was möglich erscheint (Sachverständiger r 1 303), die Ursache der erhöhten Blutsenkungsgeschwindigkei.t nicht hätte<br />

feststellen können, hätte die Operation, wenn überhaupt; nur bei Endokarditisprophylaxedurchgeführt werden dürfen<br />

(Sachverständiger a i 477), die auch eine bereits bestehende Endokarditis wahrscheinlich beseitigt hätte (Sachverständiger J 1 299).<br />

Dasselbe muss entgegen.der Auffassung der Beklagten auch für den Fall gelten., dass durch weitere Untersuchungen<br />

gesichert gewesen wäre, dass die kerzklappe keinen Befall aufwies. Denn nach den Ausführungen des<br />

Sachverständigen j 1 295 deutete die erhöhte .Blutsenkungsgeschwindigkeit jedenfalls auf eine wie immer auch<br />

geartete Erkrankung im Organismus hin, die die Abwehrlage beeinflussen konnte und .. die in Anbetracht der<br />

bekannten Herzerkrankung einerseits un der fehlenden Dringlichkeit des Eingriffs andererseits trotz des grundsätzlich<br />

.aseptischen Chärakters der Operation dem Eingriff. ohne. Antibiotikaprophylaxe entggengestariden hätte. Auch bei<br />

einem derartigen Eingriff kann es nämlich vorkommen, dass Hautkeime in die Blutbahn eindringen (Sachverständiger1 297), und<br />

die Ärzte mußten den sichersten Weg gehen. Der Kausalzusammenhang zwischen Behandlungsfehler und Schaden<br />

wäre nur dahn zu verneinen, wenn die Ursache der erhöhten Blutsenkungsgeschwindigkeit feststände und gleichzeitig,<br />

dass diese keinerlei Einfluß auf Entstehung und Ausmaß der Endokarditis gehabt hat ode haben konnte:<br />

Das steht jedoch nicht fest:<br />

2. Unter den aufgezeigten Umständen ist im Anschluß an das landgerichtliche Urteil auch von einer Verletzung der<br />

denBeklagten Ziff. 2 und 3 obliegenden ärztlichen AufklärungspfIichten auszugehen. Auf die Gründe des<br />

angefochtenen Urteils insoweit (Ziff. II 4) kann. Bezug genommen werden.<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 265


Dagegen kann dem Beklagten Ziff. 1 aufgrund der dargelegten Aufgabenteilung auch in dieser Beziehung ein Fehler<br />

nicht zur Last gelegt werden.<br />

3. Ein Schmerzensgeld von 50.000,00 DM erscheint auch ohne groben Behandlungsfehler aus den vom Landgericht zu<br />

- . Ziff.. 1111, 2 des angefochtenen Urteils dargelegten Gründen gerechtfertigt.<br />

4 . Hinsichtlich der Haftung des Beklagten Ziff. 4 für dendurch das Verschulden der Ärztä (Beklagte Ziff. 2 und 3)verursachten.<br />

Schaden greift die Berufung das angefochteneUrteil nicht an. Dieses ist inoweit auch nicht zu beanstanden.<br />

II. • Das angefochtene Urteil war aus dieben Gründen auf die Berufung des Beklagten Ziff. 1 abzuäxdern; die gegen<br />

diesen Beklagten gerichtete Klage war abzuweisen. Im Übrigen, bezüglich der Beklagten Ziff. 2 bis 4, war die Berufung<br />

zurückzuweisen. - .<br />

Die Nebenentscheidungen folgen aus §5 92, 97 1, 100 IV, 708 Nr. 10, 711, 546 II ZPO.<br />

Dierenbach Schmitz . Becker<br />

BGH vom 04.10.1994 VI ZR 205/93 - VersR 1995, BGHZ 138, 1, 6;<br />

Ein grober Behandlungsfehler liegt nur dann vor, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln<br />

oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht<br />

mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.<br />

ThönsBGH Urteil<br />

vom 13.9.1994 1 StR 357/94 – (LG Kempten)<br />

Urteil zur passiven Sterbehilfe<br />

Leitsätze<br />

1. Bei einem unheilbar erkrankten, nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten kann der Abbruch einer ärztlichen<br />

Behandlung oder Maßnahme ausnahmsweise auch dann zulässig sein, wenn die Voraussetzungen der von der<br />

Bundesärztekammer verabschiedeten Richtlinien für die Sterbehilfe nicht vorliegen, weil der Sterbevorgang noch nicht<br />

eingesetzt hat. Entscheidend ist der mutmaßliche Wille des Kranken. 2. An die Voraussetzungen für die Annahme<br />

eines mutmaßlichen Einverständnisses sind strenge Anforderungen zu stellen. Hierbei kommt es vor allem auf frühere<br />

mündliche oder schriftliche Äußerungen des Patienten, seine religiöse Überzeugung, seine sonstigen persönlichen<br />

Wertvorstellungen, seine altersbedingte Lebenserwartung oder das Erleiden von Schmerzen an. 3. Lassen sich auch<br />

bei der gebotenen sorgfältigen Prüfung konkrete Umstände für die Feststellung des individuellen mutmaßlichen Willens<br />

des Kranken nicht finden, so kann und muss auf Kriterien zurück gegriffen werden, die allgemeinen Wertvorstellungen<br />

entsprechen. Dabei ist jedoch Zurückhaltung geboten; im Zweifel hat der Schutz menschlichen Lebens Vorrang vor<br />

persönlichen Überlegungen des Arztes, eines Angehörigen oder einer anderen beteiligten Person.<br />

OLG Koblenz VersR 1994, 353<br />

Der Arzt schuldet dem ihm anvertrauten Patienten die bestmögliche medizinische Versorgung. Dazu gehört<br />

grundsätzlich die schnellstmögliche Anwendung der wirksamsten Therapie<br />

OLG Düsseldorf 2620/15<br />

Die Methodenfreiheit gilt nicht schrankenlos. Die Rechtsprechung verlangt prinzipiell, die für den Patienten<br />

wirksamste, risikoärmste und schonendste methode zu wählen.<br />

BGH vom 14.12.1993<br />

Festgestellt wird, dass sich die Anforderungen an den Sorgfaltsmaßstab nicht unbesehen an den Möglichkeiten<br />

von Universitätskliniken und Spezialkrankenhäusern orientieren dürfen, sondern auch an den für diesen Patienten<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 266


in dieser Situation faktisch erreichbaren Gegebenheiten ausrichten müssen, sofern auch mit ihnen ein zwar nicht<br />

optimaler, aber noch ausreichender medizinischer Standard erreicht werden kann.<br />

LG Essen vom 11.11.1993<br />

Strafrechtliche Verurteilung des Narkosearztes, weil die (unzureichende) Anamneseerhebung nicht die bekannte<br />

Muskeldystrophie aufdeckte und so die Gabe von Succinylcholin zum Tod des Kindes führte.<br />

BGH vom 26.10.1993<br />

Der Ursachenzusammenhang zwischen dem Fehler und der Gesundheitsschädigung des Patienten (sogenannter<br />

Primärschaden oder haftungsbegründende Kausalität, § 286 ZPO) ist dann anzunehmen, wenn für den<br />

Ursachenzusammenhang ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit besteht.<br />

BGH vom 15.06.1993<br />

Zum Facharztstandard in der Anästhesiologie: Tubusverlegung nach Umlagerung durch Nichtfacharzt mit<br />

Herzstillstand. Oberarzt und Assitenzarzt werden verurteilt.<br />

OLG Düsseldorf vom 04.03.1993<br />

Verurteilung eines Frauenarztes, der eine Narkose mit tödlichem Ausgang selber durchführte.<br />

OLG Düsseldorf vom 17.12.1992<br />

Während der Anlage eines Vena jugularis Katheters wurde der Patient unzureichend überwacht und erlitt einen<br />

Herzstillstand. Wegen Dokumentationslücken wird der Patientenseite die Beweislast erleichtert. Beide<br />

Narkoseärzte werden zu Schadensersatz verurteilt.<br />

BGH vom 22.09.1992<br />

Für weitere Schäden, die sich aus dem Primärschaden entwickeln (sog. Haftungsausfüllende Kausalität, § 287<br />

ZPO), reicht eine lediglich überwiegende Wahrscheinlichkeit.<br />

OLG Stuttgart vom 02.07.1992 Der Anästhesist wurde wegen einer Fehlintubation bei einer<br />

Blinddarmoperation verurteilt.<br />

Der Sachverständige legte mit überzeugender Begründung dar, es entspräche anerkanntem und gesichertem<br />

Stand in der Anästhesiologie, dass der Anästhessist durch genaue Beobachtung der Narkoseabläufe und des<br />

Patienten sicherzustellen habe, den Zustand einer Sauerstoffunterversorgung innerhalb eines Zeitfensters von 1<br />

Minute zu erkennen.<br />

LG Stuttgart vom 07.12.1990<br />

Mag eine Fehlintubation allein noch kein vorwerfbarer Behandlungsfehler sein- nach den Ausführungen des<br />

Sachverständigen, kann es auch einem erfahrenen Anästhesisten passieren, dass er bei einem Asthmatiker die<br />

Belüftung des Magens für eine solche der Lungen hält, so liegt doch ein vorwerfbarer Behandlungsfehler darin,<br />

dass diese Fehlintubation in der Folgezeit nicht erkannt und nicht beseitigt wurde.<br />

OLG Oldenburg vom 15.05.1990 Der Narkosenarzt wurde verurteilt<br />

Beim Auftreten unerwarteter Probleme gehört die Überprüfung der Lage des Tubus zu den zu erhebenden<br />

elementaren Kontrollbefunden… Solange die Ursache des Herzstillstandes weiterhin unklar war oder auch nur<br />

geringste Zweifel an der korrekten Tubuslage bestanden, mussten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die<br />

ordnungsgemäße Platzierung des Tubus festgestellt und - sofern daran Zweifel blieben – der Tubus gewechselt<br />

werden.<br />

BGHZ 159, 254, 257; Urteile vom 9. 05.1989 - VI ZR 268/88<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 267


Berücksichtigt werden muss beim Beweismaßstab, dass es nicht um einen medizinisch-naturwissenschaftlichen<br />

Nachweis und nicht um eine mathematische, jede Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs<br />

ausschließende, von niemandem anzweifelbare Gewissheit ("mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit")<br />

gehen kann. Ausreichend ist vielmehr ein Grad von Gewissheit, der Zweifeln eines besonnenen, gewissenhaften<br />

und lebenserfahrenen Beurteilers Schweigen gebietet; Zweifel, die sich auf lediglich theoretische Möglichkeiten<br />

gründen, für die tatsächliche Anhaltspunkte nicht bestehen, sind hierbei nicht von Bedeutung.<br />

BGH NJW 1988, 1511<br />

Der Standard hängt in gewissem Umfang von den Möglichkeiten vor Ort ab: Ein kleines Krankenhaus wird nicht<br />

am Standard einer Universitätsklinik gemessen unter der Voraussetzung der „ausreichenden Behandlung―.<br />

OLG Bamberg vom 14.07.1987 Der Anästhesist wurde verurteilt<br />

Eine Fehlintubation ist nach wie vor als schuldhafter ärztlicher Fehler anzusehen, zumindest wenn nicht eine<br />

Kontrolle des Tubus und eine sofortige Behebung des fehlerhaften Sitzes des Tubus vorgenommen wurden.<br />

BGH vom 19.05.1987<br />

Bei einer Wiederholungsnarkose mit Halothan starb die Patientin am Leberversagen. Der Anästhesist wurde<br />

freigesprochen, ihm sei der Tod nicht zuzurechnen.<br />

ThönsBSG 3<br />

RK 5/86 vom 17.09.1986<br />

1. Technische Hilfen (hier: Treppenlift), die fest mit einem Gebäude verbunden sind oder sonst der Anpassung des<br />

individuellen Wohnumfeldes an die Bedürfnisse des Behinderten dienen, sind keine Hilfsmittel der<br />

gesetzlichen Krankenversicherung (Bestätigung von BSG vom 4.8.1981 - 5a/5 RKn 16/80 = SozR 2200 § 182b Nr. 23; Aufgabe von BSG vom 17.9.1986 - 3 RK 5/86 = SozR<br />

2200 § 182b Nr. 33).<br />

Tatbestand<br />

Streitig ist ein Anspruch des Klägers gegen die beklagte Krankenkasse auf Kostenerstattung für den Einbau eines<br />

Treppenlifts.<br />

Der 1959 geborene Kläger ist verheiratet und hat ein Kind. Aufgrund einer Krebserkrankung wurde 1993 die linke<br />

Beckenschaufel nebst Hüftgelenk entfernt und eine Beckenteilprothese sowie eine Hüftendoprothese eingesetzt.<br />

Zudem besteht eine inkomplette Läsion des Plexus lumbosakralis. Die Gehfähigkeit des Klägers ist erheblich<br />

eingeschränkt; er kann noch ungefähr 50 m mit Gehhilfen gehen. Das Versorgungsamt hat nach dem<br />

Schwerbehindertengesetz einen Grad der Behinderung von 80 vH festgesetzt sowie die Merkzeichen "G", "aG" und "B"<br />

zuerkannt. Der Kläger, der eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezieht, bewohnt ein eigenes Einfamilienhaus. Im<br />

Erdgeschoß befinden sich ua das Wohnzimmer und die Küche, im Obergeschoß die Schlafzimmer und das<br />

Badezimmer. Die verbindende Treppe ist viertelgewendelt. Der Kläger konnte sie 1994 ohne eigene Gefährdung und<br />

ohne Gefahr der Verschlimmerung seiner Behinderung nicht mehr allein bewältigen. Seine Ehefrau, die<br />

teilzeitbeschäftigt ist, kann ihn nicht allein hinauf- oder hinuntertragen. Der Kläger entschloß sich deshalb zum Einbau<br />

eines Treppenlifts. Er entschied sich für das Angebot der Firma L. L. und A. GmbH vom 19. 07.1994 über 22.500 DM.<br />

Unter Hinweis auf die Verordnung eines Treppenlifts durch seinen Hausarzt beantragte er am 30. 08.1994 die<br />

Übernahme dieser Kosten. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 13. 09.1994, Widerspruchsbescheid vom 21. 04.1995). Sie vertrat die<br />

Ansicht, die behinderungsgerechte Herrichtung einer Wohnung werde von der Leistungspflicht der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung nicht umfaßt. Der Treppenlift wurde am 2. 11.1994 installiert. Den Rechnungsbetrag hat der<br />

Kläger im 12.1994 beglichen.<br />

Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 19. 09.1996). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der<br />

Beklagten das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. 09.1997). Es ist der Auffassung, bei dem<br />

Treppenlift handele es sich nicht um ein Hilfsmittel iS des § 33 Abs 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Eine<br />

Kostenerstattung nach § 13 Abs 3 SGB V scheide schon aus diesem Grunde aus. Die Frage, ob die sonstigen<br />

Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind, könne daher offenbleiben. Mit der Revision rügt der Kläger eine<br />

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Verletzung der §§ 13 Abs 3 und 33 Abs 1 SGB V. Er hält die Beklagte für verpflichtet, die von ihm aufgebrachten<br />

Kosten für den Einbau des Treppenlifts zu erstatten, da dieses Gerät ein Hilfsmittel zur Erhöhung seiner<br />

behinderungsbedingt eingeschränkten Mobilität innerhalb seines Hauses sei.<br />

Der Kläger beantragt,<br />

das Urteil des SchleswigHolsteinischen Landessozialgerichts vom 9. 09.1997 zu ändern und die Berufung der<br />

Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 19. 09.1996 zurückzuweisen.<br />

Die Beklagte beantragt,<br />

die Revision zurückzuweisen.<br />

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.<br />

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz<br />

(SGG) einverstanden erklärt.<br />

Entscheidungsgründe<br />

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene<br />

Bescheid der Beklagten vom 13. 09.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. 04.1995 ist rechtmäßig.<br />

Der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch richtet sich nach § 13 Abs 3 SGB V idF des Gesetzes vom 21.<br />

12.1992 (BGBl I S 2266). Danach hat die Krankenkasse Kosten zu erstatten, die dadurch entstehen, dass sie eine<br />

unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte (1. Alternative) oder dass sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt<br />

hat (2. Alternative). Die Kostenerstattungspflicht der Krankenkasse hängt in beiden Alternativen ua davon ab, dass die vom<br />

Versicherten selbst beschaffte Leistung von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfaßt wird.<br />

Das ist hier nicht der Fall. Ein Treppenlift ist kein Hilfsmittel iS des § 33 SGB V.<br />

Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte als Teil der Krankenbehandlung (§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V) Anspruch auf<br />

Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall<br />

erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die<br />

Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V<br />

(Heil- und Hilfsmittel von geringem oder umstrittenem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis) ausgeschlossen sind. Durch die Einbeziehung auch aller<br />

nicht ausdrücklich genannten geeigneten, aber nicht näher definierten "anderen Hilfsmittel" in den Leistungskatalog hat<br />

der Gesetzgeber verdeutlicht, dass er von einem umfassenden Hilfsmittelbegriff ausgeht (Schneider in: Schulin, Handbuch des<br />

Sozialversicherungsrechts, Bd 1 Krankenversicherungsrecht, § 22 RdNr 274). Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat dies dahin<br />

ausgelegt, dass für den hier interessierenden Bereich des Behinderungsausgleichs der Hilfsmittelbegriff erfüllt ist, wenn<br />

fehlende Körperteile ersetzt oder beeinträchtigte bzw. ausgefallene Körperfunktionen ganz oder teilweise<br />

wiederhergestellt, ermöglicht, ersetzt, ergänzt oder wesentlich erleichtert werden (BSG SozR 2200 § 182b Nrn 12, 29 mwN; BSG SozR 32500 § 33<br />

Nrn 7, 15, 16 mwN; st Rspr), und zwar auch dann, wenn eine technische Hilfe nur unter Einschaltung Dritter genutzt werden kann<br />

(BSG SozR 2200 § 182b Nr. 20 Krankenlifter; BSG SozR 32200 § 182b Nr. 2 Notrufanlage; BSG SozR 32500 § 33 Nr. 7 Rollstuhlboy). Die ausgefallene oder beeinträchtigte<br />

Körperfunktion (zB Gehen, Stehen, Sitzen, Treppensteigen, Greifen, Sehen, Hören) muss dabei nicht unmittelbar ersetzt oder verbessert werden; es<br />

genügt auch der indirekte Ausgleich über eine andere Körperfunktion (BSGE 50, 77 = SozR 2200 § 182b Nr. 17 Blattwendegerät; BSG SozR 2200 § 182b<br />

Nr. 25 Kopfschreiber, Nr. 26 Schreibtelefon; BSG SozR 32500 § 33 Nr. 7 Rollstuhlboy, Nr. 16 LeseSprechgerät, Nr. 18 Farberkennungsgerät). Es kommt auch nicht darauf an, ob<br />

das Hilfsmittel unmittelbar am Körper des Behinderten ausgleichend wirkt, wie es zB bei Prothesen, Brillen,<br />

Kontaktlinsen, Hörgeräten und orthopädischen Schuhen der Fall ist, oder ob der Ausgleich indirekt auf andere Weise<br />

erzielt wird (BSGE 50, 77 = SozR 2200 § 182b Nr. 17; st Rspr). Allerdings hat die Rechtsprechung immer die Einschränkung gemacht, dass<br />

Hilfsmittel, die nicht unmittelbar an der Behinderung ansetzen, sondern bei deren Folgen auf beruflichem,<br />

gesellschaftlichem oder auch nur privatem, dh die Freizeitinteressen betreffendem Gebiet, grundsätzlich nicht als<br />

Hilfsmittel der Krankenversicherung anzuerkennen seien und insoweit zwischen Hilfsmitteln der Krankenversicherung<br />

und solchen der Eingliederungshilfe zu unterscheiden sei (vgl zu einer elektrischen Schreibmaschine bei einer Phokomelie der oberen Gliedmaßen: BSG SozR 2200<br />

§ 187 Nr. 1 und zu einer BlindenschriftSchreibmaschine: BSG SozR 2200 § 182b Nr. 5). Soweit elementare Grundbedürfnisse des täglichen Lebens<br />

betroffen sind, fällt der Ausgleich der Folgen der Behinderung auf den genannten Gebieten aber in die Leistungspflicht<br />

der Krankenversicherung, wie zum Closomat entschieden (BSG SozR 2200 § 182b Nr. 10; stRspr).<br />

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Das LSG hat im Hinblick auf diese Entwicklung die Revision zugelassen, obwohl bereits vom BSG einmal entschieden<br />

worden ist, dass ein Treppenlift kein Hilfsmittel der Krankenversicherung ist (BSG SozR 2200 § 182b Nr. 23). Der Senat kommt nach<br />

erneuter Überprüfung zu einer Bestätigung dieser Entscheidung, sieht sich aber veranlaßt, die maßgeblichen<br />

Gesichtspunkte deutlicher hervorzuheben und sich auch teilweise von anderen Entscheidungen aus heutiger Sicht zu<br />

distanzieren. Zunächst ist hervorzuheben, dass die gesetzliche Krankenversicherung allein die Aufgabe hat, die<br />

Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder zu bessern, und zwar durch Krankenbehandlung<br />

(einschließlich Vorsorgemaßnahmen) und durch medizinische Rehabilitation (§§ 1 und 11 SGB V). Sonstige übergreifende Aufgaben wie etwa<br />

die soziale Eingliederung oder die berufliche Rehabilitation sind ihr hingegen nicht zugewiesen, wodurch sie sich von<br />

anderen Zweigen der Sozialversicherung und von der Sozialhilfe unterscheidet. Für einen Behinderten nützliche Mittel<br />

fallen im Bereich des Behinderungsausgleichs nur dann als Hilfsmittel in die Leistungspflicht der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung, wenn sie Körperfunktionen im Bereich der Grundbedürfnisse ganz oder weitgehend ausgleichen,<br />

und zwar in behinderungsspezifischer Weise, so dass Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens auch dann nicht in<br />

die Leistungspflicht der Krankenversicherung fallen, wenn sie im Einzelfall für einen Behinderten nützlicher sind als für<br />

einen Gesunden. Bei einem Treppenlift läßt sich unter diesen Gesichtspunkten allerdings feststellen, dass er einmal<br />

geeignet ist, eine Körperfunktion bei einem Grundbedürfnis zu ersetzen, nämlich dem Treppensteigen, das im<br />

Alltagsleben von vergleichbarer Bedeutung ist wie Gehen, Stehen oder Sitzen. Auch wirkt dieses Mittel<br />

behindertenspezifisch, weil es in der Regel nicht - wie etwa ein Fahrstuhl - auch von Gesunden benutzt wird und damit<br />

nicht als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens einzuordnen ist. Damit sind aber noch nicht alle<br />

Voraussetzungen für ein Hilfsmittel im Sinne der Krankenversicherung erfüllt. Aus der Gegenüberstellung der in § 33<br />

Abs 1 SGB V ausdrücklich genannten Hilfsmittel, nämlich der Seh- und Hörhilfen, der Körperersatzstücke und der<br />

orthopädischen Hilfsmittel, einerseits und der nicht näher konkretisierten "anderen Hilfsmittel" andererseits folgt ferner,<br />

dass nur solche technischen Hilfen als Hilfsmittel im Sinne dieser Vorschrift anzuerkennen sind, die - wie die<br />

ausdrücklich genannten Hilfen - vom Behinderten getragen oder mitgeführt, bei einem Wohnungswechsel auch<br />

mitgenommen und benutzt werden können, um sich im jeweiligen Umfeld zu bewegen, zurechtfinden und die<br />

elementaren Grundbedürfnisse des täglichen Lebens zu befriedigen. Das Hilfsmittel soll die Körperfunktionen des<br />

Behinderten ersetzen, ergänzen oder verbessern, die für die möglichst selbständige Durchführung der<br />

Alltagsverrichtungen notwendig sind. Der Behinderte wird dadurch den Erfordernissen der Umwelt angepaßt, nicht aber<br />

das Umfeld an die Bedürfnisse des Behinderten angeglichen. Andernfalls ließe sich die Leistungspflicht der<br />

Krankenkassen nur schwerlich eingrenzen und würde nicht nur den behinderungsgerechten Umbau eines Hauses<br />

umfassen, sondern sich auch auf die Herrichtung der Zufahrtswege oder noch weitergehende Umgestaltungen des<br />

Wohnumfeldes erstrecken. Der Einwand, für einen Gehbehinderten sei zumindest die selbständige Beweglichkeit<br />

innerhalb der eigenen Wohnung von grundlegender Bedeutung, ist zwar zutreffend, aber dennoch nicht geeignet, aus<br />

diesem Grunde die Leistungspflicht der Krankenkasse zu begründen. Denn er besagt nur, dass damit ein<br />

Grundbedürfnis betroffen ist, ändert aber nichts an der Erkenntnis, dass es sich beim Einbau eines Treppenlifts um die<br />

Anpassung des Wohnumfeldes handelt, die nur deshalb aus der Sicht des Klägers notwendig geworden ist, weil in<br />

seiner Wohnung eine Treppe zu überwinden ist. Für einen Versicherten mit gleicher Behinderung, der in einer<br />

ebenerdigen Wohnung wohnt, ergibt sich diese Notwendigkeit nicht. Die Hilfsmitteleigenschaft eines Geräts hängt aber<br />

nicht von den jeweiligen Wohnverhältnissen ab. Dass nach dem Gesetz das Hilfsmittel "im Einzelfall" erforderlich sein<br />

muß, besagt nicht, dass bereits die Frage, ob ein nützliches Mittel ein Hilfsmittel iS der Krankenversicherung ist, nach<br />

allen Umständen des Einzelfalls zu beurteilen wäre, sondern nur, dass Anspruch auf ein Hilfsmittel insoweit besteht, als<br />

es nach den individuellen (körperlichen und geistigen) Verhältnissen des Versicherten erforderlich ist (BSG SozR 2200 § 182b Nr. 17). Fest in ein<br />

Haus oder eine Wohnung eingebaute technischen Hilfen fallen folglich nicht in den Anwendungsbereich des § 33 Abs 1<br />

SGB V. Von daher kann die in der Entscheidung des erkennenden Senats vom 17. 09.1986 - 3 RK 5/86 - (SozR 2200 § 182b Nr.<br />

33) zum insoweit inhaltsgleichen § 182b Reichsversicherungsordnung (RVO) vertretene Auffassung nicht mehr<br />

aufrechterhalten werden, eine Klingelleuchte könne für einen Schwerhörigen selbst dann ein in die Leistungspflicht der<br />

Krankenversicherung fallendes Hilfsmittel sein, wenn sie mit dem Gebäude fest verbunden ist. Die für den Bereich des<br />

Bundesversorgungsgesetzes (BVG) ausdrücklich niedergelegte Regelung, dass "unbewegliche Gegenstände" nicht<br />

geliefert werden und damit von der Versorgung mit Hilfsmitteln ausgeschlossen sind (vgl § 18 Abs 1 Orthopädieverordnung), gilt daher<br />

in entsprechender Weise auch für die gesetzliche Krankenversicherung. Der Ausschluß fest eingebauter technischer<br />

Hilfen von der Leistungspflicht der Krankenkassen erlaubt aber nicht den Umkehrschluß, dass alle nicht fest<br />

eingebauten, also in diesem Sinne "beweglichen" Hilfen zwangsläufig von § 33 Abs 1 SGB V erfaßt werden. Insoweit<br />

bleibt auch hier maßgeblich, ob die Hilfe der "Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung" oder dem "Ausgleich<br />

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einer Behinderung" durch eine Verbesserung oder - bei völligem Ausfall - durch einen Ersatz von Körperfunktionen<br />

dient. Damit scheiden alle Maßnahmen, die sich im Gegensatz dazu als Beseitigung eines den Behinderten störenden<br />

äußeren Hindernisses darstellen, aus dem Anwendungsbereich des § 33 Abs 1 SGB V aus. Insoweit kommt lediglich<br />

die Möglichkeit in Betracht, dass notwendige Aufwendungen für solche Ausstattungsmaßnahmen bei Bedürftigkeit des<br />

Behinderten nach § 29 Abs 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil (SGB I) iVm § 40 Abs 1 Nr. 6a<br />

Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom zuständigen Sozialhilfeträger zu tragen sind. Den Ausschluß der Leistungspflicht der<br />

gesetzlichen Krankenversicherung bei Maßnahmen zur Anpassung bzw. Verbesserung des individuellen<br />

Wohnumfeldes hat der Gesetzgeber zuletzt dadurch bestätigt, dass er im vergleichbaren Bereich der sozialen<br />

Pflegeversicherung eine differenzierte Regelung vorgesehen hat, ohne zugleich eine Änderung des SGB V<br />

vorzunehmen. Nach § 40 Abs 1 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) haben Pflegebedürftige einen Anspruch auf<br />

Versorgung mit Pflegehilfsmitteln, die zur Erleichterung der Pflege oder zur Linderung der Beschwerden des<br />

Pflegebedürftigen beitragen oder ihm eine selbständige Lebensführung ermöglichen, soweit die Hilfsmittel nicht wegen<br />

Krankheit oder Behinderung von der Krankenversicherung oder anderen zuständigen Leistungsträgern zu leisten sind.<br />

Diese Leistungspflicht der Pflegekassen für Pflegehilfsmittel wird ergänzt durch die als Ermessensleistung<br />

ausgestaltete subsidiäre Möglichkeit zur Zahlung finanzieller Zuschüsse bis zur Höhe von 5.000 DM "für Maßnahmen<br />

zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes des Pflegebedürftigen", wenn dadurch im Einzelfall die häusliche<br />

Pflege ermöglicht oder erheblich erleichtert oder eine möglichst selbständige Lebensführung des Pflegebedürftigen<br />

wiederhergestellt wird (§ 40 Abs 4 SGB XI). Der Gesetzgeber hat hier also zwischen Hilfsmitteln und Maßnahmen zur<br />

Verbesserung des Wohnumfeldes unterschieden. Dann kann nicht angenommen werden, dass er diese<br />

Unterscheidung bei den Hilfsmitteln der Krankenversicherung nicht gelten lassen will, wie sie bereits die frühere<br />

Rechtsprechung vorgenommen hat (BSG SozR 2200 § 182b Nrn 23, 29).<br />

BGH vom 18.06.1985<br />

Zur Parallelnarkose und der Verantwortung des Krankenhausträgers für die Infrastruktur. Der narkoseführende<br />

Arzt wird am Facharztstandard der Anästhesiologie gemessen.<br />

BGH vom 14.03.1985 (Zivilverfahren)<br />

Nach der Adäquanztheorie ist ein Fehler dann ursächlich für den Schaden des Patienten, wenn er im allgemeinen und<br />

nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer<br />

Betracht zu lassenden Umständen geeignet ist, einen Schaden der eingetretenen Art herbeizuführen.<br />

BGH vom 20.09.1983, NJW 1984,661<br />

Die Kausalverläufe bei ärztlichen Eingriffen sind, weil jeweils ein anderer Organismus betroffen ist, dessen<br />

Zustand und Reaktion nicht sicher berechenbar ist, weder vorausschauend noch rückwirkend eindeutig<br />

feststellbar. Misserfolg und Komplikationen im Verlauf einer ärztlichen Behandlung weisen deshalb nicht sets auf<br />

ein Fehlverhalten des behandelnden Arztes hin.<br />

OLG Celle vom 1.12.1980 Der Anästhesist wurde nach einer Fehlintubation verurteilt.<br />

Entscheidend ist bei solchen Situationen jedoch, dass schon der Anästhesist – und nicht erst der Operateur bei<br />

seiner chirurgischen Tätigkeit – rechtzeitig bemerken muss, dass ihm eine Fehlintubation unterlaufen ist und<br />

daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen hat.<br />

BGH vom 02.10.1979<br />

Freispruch der Narkoseärztin. Es kam im Rahmen der Narkoseeinleitung zur Aspiration, dies musste die Ärztin<br />

nicht erwarten, da sie sich auf die Befundung durch den Operateur im Rahmen der horizontalen Arbeitsteilung<br />

verlassen durfte.<br />

OLG Bamberg vom 17.04.1978<br />

Eine blinde Intubation ist kein Behandlungsfehler.<br />

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BGH vom 11.10.1977<br />

Durch einen Gerätefehler kam es zu einer fehlenden Sauerstoffzufuhr. Der Patient erlitt ein apallisches Syndrom<br />

und verstarb später. Der Krankenhausträger wurde zu Schadenersatz verurteilt: Er habe für eine Operation ein<br />

funktionsfähiges Narkosegerät zur Verfügung zu stellen.<br />

LG Saarland vom 04.10.1975<br />

Unterlassene Blutzuckerkontrollen von Chirurg und Anästhesist führen zum Tod eines Kindes im Diabetischen<br />

Koma. Beide werden strafrechtlich verurteilt. Trotz der auf eine diabetische Stoffwechellage hinweisenden<br />

Symptome wurde die Untersuchung unterlassen.<br />

BGH NJW 1973, 556<br />

Hat der Patient aus vorangegangenen Eingriffen hinreichende Kenntnisse, muss die Aufklärung nicht jedes Mal<br />

wiederholt werden.<br />

Einsichtsrecht von Akten<br />

Der Patient hat einen Anspruch, seine Krankenunterlagen einzusehen. Dies beinhaltet den Anspruch auf<br />

Überlassung von Kopien (BGH NJW 1983,328), jedoch nicht von Originalunterlagen. Ein Anspruch auf<br />

Übersendung von Kopien besteht nicht (LG Dortmund NJW 2001, 2806). Erben eines verstorbenen Patienten<br />

haben ein Einsichtrecht nur, soweit die vermögensrechtliche Situation des Patienten betroffen ist und mit rücksicht<br />

auf die ärztliche Schweigepflicht dem der mutmaßliche Wille des Patienten nicht engegensteht (BGH VersR 1983,<br />

834).<br />

Aufklärung<br />

Der Arzt muss durch Aufklärung dem Patienten so informieren, dass er eine Entscheidung über den Austausch<br />

des Krankheits- gegen das Behandlungsrisiko treffen kann (Steffen 2006).<br />

Der aufklärungspflichtige Arzt hat – notfalls durch Beiziehung eines Sprachmittlers – sicher zu stellen, dass der<br />

ausländische Patient der Aufklärung sprachlich folge leisten kann (KG, Urt. Vom 08.05.2008; VersR 2008, 1649).<br />

Unter Umständen reicht eine Aufklärung durch Zeichensprache und anhand von Zeichnungen (OLG Nürnberg<br />

VersR 1996, 1372).<br />

JVEG (Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetz)<br />

Leistungsentschädigung nach Gruppe M1 – M3 (50,00; 60,00; 85,00), zzgl. Fahrtkostenerstattung, durch<br />

Terminwahrnehmung verursachte Mehrkosten.<br />

Dem Sachverständigen sind einseitige Kontakte mit den beteiligten Parteien untersagt.<br />

BVerfG, 1 BvR 550/08 vom 7.4.2008, Absatz-Nr. (1 - 13), – Die Verfassungsbeschwerde einer Patientin mit<br />

Multipler Sklerose zur Behandlung mit Polyglobulin im off label use wird abgelehnt.<br />

In dem Verfahren überdie Verfassungsbeschwerde<br />

der Frau V...<br />

- Bevollmächtigte:<br />

Rechtsanwälte Michaelsen, Fehse, Michaelsen, Albrechtstraße 83, 12167 Berlin -<br />

gegen das Urteil des Bundessozialgerichts vom 27. März 2007 - B 1 KR 17/06 R -<br />

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch<br />

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die Richterin Hohmann-Dennhardt und die Richter Gaier, Kirchhof<br />

gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993<br />

(BGBl I S. 1473) am 30. Juni 2008 einstimmig beschlossen:<br />

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.<br />

Gründe:<br />

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versorgung der Beschwerdeführerin mit einem für dieses Krankheitsbild<br />

nicht zugelassenem Arzneimittel (sog. off-label-use).<br />

I.<br />

Die 1955 geborene, bei der im Ausgangsverfahren beklagten Ersatzkasse versicherte Beschwerdeführerin leidet<br />

an Multipler Sklerose, die bei ihr in einer sekundär-chronischen Form mit Schüben besteht. Da es unter der<br />

Therapie mit dem für die Behandlung der Multiplen Sklerose zugelassenen Arzneimittel Betaferon zu<br />

Nebenwirkungen kam, erhielt die Beschwerdeführerin aufgrund entsprechender Verordnungen ihres<br />

behandelnden Nervenarztes intravenös zu verabreichende Immunglobuline in der Form von "Polyglobin 10 %".<br />

Dieses Mittel verfügt in Deutschland über eine Arzneimittelzulassung für verschiedene Indikationen, nicht jedoch<br />

für die Behandlung von Multipler Sklerose.<br />

Nachdem der behandelnde Arzt wegen seiner vertragsärztlichen Verordnungen von "Polyglobin 10 %"<br />

Arzneikostenregressen ausgesetzt war und die Krankenkasse eine Kostenübernahme ablehnte, erhielt die<br />

Beschwerdeführerin das Mittel ab August 2001 nur noch auf Privatrezept.<br />

Mit ihrer Klage auf Erstattung der für die Beschaffung des Arzneimittels in der Zeit von August 2001 bis Januar<br />

2002 entstandenen Kosten in Höhe von 4.776,98 € ist die Beschwerdeführerin vor den Gerichten der<br />

Sozialgerichtsbarkeit erfolglos geblieben. Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil ausgeführt, mangels<br />

Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit seien Arzneimittel nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehle. "Polyglobin 10<br />

%" sei für die Behandlung der Multiplen Sklerose nicht zugelassen. Eine zulassungsüberschreitende Anwendung<br />

(sog. off-label-use) komme nur in Betracht, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden<br />

(lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung gehe, keine<br />

andere Therapie verfügbar sei und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht bestehe, dass mit dem<br />

betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden könne. Hier fehle es an der für einen off-label-use<br />

erforderlichen Erfolgsaussicht. Diese sei gegeben, wenn Forschungsergebnisse vorlägen, die erwarten ließen,<br />

dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden könne. Das sei im Behandlungszeitraum<br />

für die Behandlung der Multiplen Sklerose mit Immunglobulinen nicht der Fall gewesen. Aus dem Beschluss des<br />

Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25) könne die<br />

Beschwerdeführerin keine weitergehenden Ansprüche herleiten. Die verfassungskonforme Auslegung setze<br />

voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder eine zumindest wertungsmäßig<br />

damit vergleichbare Erkrankung vorliege. Das sei bei der Beschwerdeführerin nicht der Fall.<br />

Mit ihrer gegen das Urteil des Bundessozialgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt die<br />

Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip sowie von<br />

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Ihr werde das einzige individuell helfende Arzneimittel, welches der behandelnde Arzt<br />

nach gewissenhafter Prüfung verordnet und welches nach seinem Zeugnis in auffallender Weise ihre Bewegungsund<br />

Gehfähigkeit verbessert habe, verweigert. Das stehe mit der Rechtsprechung des<br />

Bundesverfassungsgerichts nicht im Einklang. Das Bundessozialgericht verkenne bereits, dass sie an einer<br />

lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit im Sinne der Rechtsprechung des<br />

Bundesverfassungsgerichts leide. Die Multiple Sklerose gehöre zu den kausal nicht heilbaren Krankheiten, die zu<br />

einer erheblichen Verkürzung der Lebenszeit führe. Es sei nicht zulässig, die individuelle Wirkung der Behandlung<br />

zu ignorieren und allein auf den wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis abzustellen. Vielmehr müsse es<br />

ausreichen, wenn es eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens<br />

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auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf gebe. Das sei in Bezug auf das bei ihr zur<br />

Anwendung kommende Arzneimittel „Polyglobin 10 %― der Fall. Zudem seien bei der Anwendung von<br />

Immunglobulinen bei schubförmig verlaufender Multipler Sklerose im Rahmen wissenschaftlicher Forschungen<br />

bereits positive Effekte nachgewiesen worden.<br />

II.<br />

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe nach § 93a BVerfGG<br />

liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg. Die angegriffene Entscheidung<br />

verletzt die Beschwerdeführerin nicht in ihren Grundrechten.<br />

1. Die mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen sind in der Rechtsprechung des<br />

Bundesverfassungsgerichts geklärt. Das Bundesverfassungsgericht hat im Beschluss vom 6. Dezember 2005<br />

(vgl. BVerfGE 115, 25 ff.) dargelegt, dass aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip<br />

regelmäßig kein verfassungsmäßiger Anspruch auf bestimmte Leistungen der Krankenbehandlung folgt. Es<br />

bedarf allerdings einer besonderen Rechtfertigung, wenn dem Versicherten Leistungen für die Behandlung einer<br />

Krankheit und insbesondere einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung durch<br />

gesetzliche Bestimmungen oder durch deren fachgerichtliche Auslegung und Anwendung vorenthalten werden.<br />

Darüber hinaus sind auch die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG<br />

zu beachten. Ein mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbarer Anspruch auf Bereithaltung bestimmter oder<br />

sogar spezieller Gesundheitsleistungen, die der Heilung von Krankheiten dienen oder jedenfalls bezwecken, dass<br />

sich Krankheiten nicht weiter verschlimmern, kann aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zwar regelmäßig nicht hergeleitet<br />

werden. Jedoch können diese Grundsätze in besonders gelagerten Fällen die Gerichte zu einer<br />

grundrechtsorientierten Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten.<br />

Übernimmt der Staat mit dem System der gesetzlichen Krankenversicherung Verantwortung für Leben und<br />

körperliche Unversehrtheit der Versicherten, so gehört die Vorsorge in Fällen einer lebensbedrohlichen oder<br />

regelmäßig tödlichen Erkrankung unter den genannten Voraussetzungen zum Kernbereich der Leistungspflicht<br />

und der von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geforderten Mindestversorgung (vgl. BVerfGE 115, 25 ).<br />

2. Die Ablehnung der begehrten medikamentösen Behandlung verletzt die Beschwerdeführerin nicht in ihren<br />

Grundrechten Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip.<br />

Das Bundessozialgericht geht in der angegriffenen Entscheidung und in ständiger Rechtsprechung davon aus,<br />

dass Fertigarzneimittel mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit nicht von der Leistungspflicht der<br />

gesetzlichen Krankenversicherung umfasst sind, wenn ihnen die nach § 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG)<br />

erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt. Das Bundessozialgericht schließt einen off-label-use aber<br />

nicht grundsätzlich aus. Die Verordnung in einem von der Zulassung nicht erfassten Anwendungsgebiet kommt in<br />

Betracht, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf<br />

Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn keine andere Therapie verfügbar ist und wenn<br />

aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein<br />

Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Im Fall der Beschwerdeführerin hat es die<br />

letztgenannte Voraussetzung verneint, weil nach den vorliegenden Erkenntnissen keine wissenschaftlichen<br />

Forschungsergebnisse vorliegen, welche hinreichende Erfolgsaussichten einer Behandlung der sekundärprogressiven<br />

Multiplen Sklerose mit Immunglobulinen ergeben.<br />

Diese Rechtsprechung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Bundesverfassungsgericht hat<br />

ausgeführt, dass es mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nicht<br />

vereinbar ist, den Einzelnen unter den Voraussetzungen des § 5 SGB V einer Versicherungspflicht in der<br />

gesetzlichen Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit<br />

ausgerichteten Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber,<br />

wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die<br />

schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten<br />

Behandlungsmethode durch die Krankenkasse auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung<br />

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außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu verweisen (vgl. BVerfGE 115, 25 ). Anknüpfungspunkt<br />

war also auch im Rahmen der Prüfung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip das<br />

Vorliegen einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage, welche es geboten erscheinen<br />

lässt, auch solche ärztlich verantworteten Behandlungen in die Leistungspflicht der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung einzubeziehen, bei denen der Nachweis einer dem allgemein anerkannten Stand der<br />

medizinischen Erkenntnisse entsprechenden Qualität und Wirksamkeit der Behandlung (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 3<br />

SGB V) noch nicht erbracht ist. Das Bundesverfassungsgericht hat aber gleichzeitig betont, dass aus den<br />

Grundrechten regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere<br />

spezieller Gesundheitsleistungen folgt, und die gesetzlichen Krankenkassen nicht von Verfassungs wegen<br />

gehalten sind, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist.<br />

Es hat weiter darauf hingewiesen, dass es dem Gesetzgeber nicht verwehrt ist, zur Sicherung der Qualität der<br />

Leistungserbringung, im Interesse der Gleichbehandlung der Versicherten und zum Zweck der Ausrichtung der<br />

Leistungen am Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ein Verfahren vorzusehen, in dem neue Untersuchungs- und<br />

Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung auf ihren diagnostischen und therapeutischen<br />

Nutzen sowie ihre medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nach dem jeweiligen Stand der<br />

wissenschaftlichen Erkenntnisse sachverständig geprüft werden, um die Anwendung dieser Methoden auf eine<br />

fachlich-medizinisch zuverlässige Grundlage zu stellen. Konkret in Bezug auf Arzneimitteltherapien hat das<br />

Bundesverfassungsgericht bereits früher auf das in § 12 Abs. 1 SGB V enthaltene Wirtschaftlichkeitsgebot<br />

hingewiesen, welches die finanziellen Grenzen markiert, die der Leistungspflicht der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung von der Belastbarkeit der Beitragszahler und der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft<br />

gezogen werden. Danach ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die Frage nach der<br />

Wirtschaftlichkeit einer Leistung im Sinne von § 12 Abs. 1 SGB V mit den Anforderungen des Arzneimittelrechts<br />

verknüpft und deshalb verneint wird, weil das Arzneimittel nicht oder noch nicht zugelassen ist (BVerfG,<br />

Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. März 1997, NJW 1997, S. 3085). Denn das Arzneimittelrecht<br />

schließt neben der Unbedenklichkeit auch die Prüfung der Qualität und der Wirksamkeit des jeweiligen<br />

Arzneimittels mit ein (§ 1 AMG).<br />

Vor Art. 2 Abs. 1 GG ist es deshalb nicht zu beanstanden, wenn das Bundessozialgericht die Leistungspflicht der<br />

gesetzlichen Krankenversicherung für einen zulassungsübergreifenden Einsatz von Arzneimitteln an engere<br />

Voraussetzungen etwa in Bezug auf die begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg knüpft. Dabei ist die<br />

Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den konkreten Fall allein Sache der dafür<br />

zuständigen Fachgerichte; das Bundesverfassungsgericht greift erst ein, wenn Grundrechte unbeachtet bleiben,<br />

wenn also ein Fehler sichtbar wird, der auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines<br />

Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruht (vgl. BVerfGE 95, 96 , stRspr).<br />

Hierfür gibt der vorliegende Sachverhalt keinen Anhalt.<br />

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.<br />

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.<br />

Hohmann-Dennhardt Gaier Kirchhof<br />

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT- 1 BvR 550/08 vom 06.05.2010– Die Verfassungsbeschwerde eines<br />

AIDS Kranken zur Anwendung eines Medikaments im off-label-use wird nicht zur Entscheidung<br />

angenommen.<br />

In dem Verfahrenüberdie Verfassungsbeschwerde<br />

des Herrn F…<br />

- Bevollmächtigte:<br />

Rechtsanwältin Ulrike Mandelartz, Antonienstraße 1, 80802 München -<br />

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gegen a) den Beschluss des Bundessozialgerichts vom 20. November 2007 - B 1 KR 118/07 B -,<br />

b) das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 31. Juli 2007 - L 5 KR 352/05 -,<br />

c) das Urteil des Sozialgerichts München vom 26. Oktober 2005 - S 29 KR 286/04 -<br />

und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung<br />

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch<br />

die Richterin Hohmann-Dennhardt und die Richter Gaier,Kirchhof<br />

gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993<br />

(BGBl I S. 1473) am 7. April 2008 einstimmig beschlossen:<br />

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.<br />

Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.<br />

Gründe:<br />

Die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die<br />

Versorgung des an AIDS erkrankten Beschwerdeführers mit einem für diesen Anwendungsbereich nicht<br />

zugelassenen Medikament („off-label-use―).<br />

I.<br />

Bei dem 1960 geborenen, bei einer Ortskrankenkasse versicherten Beschwerdeführer besteht eine<br />

fortgeschrittene HIV-Infektion im Vollbild AIDS. Sein im Dezember 2003 gestellter Antrag, die Kosten für eine<br />

Immunglobulintherapie mit dem Fertigarzneimittel „Flebogamma― zu übernehmen, hatte nur im Rahmen des<br />

einstweiligen Rechtsschutzes für einen eingeschränkten Zeitraum Erfolg. Im Hauptsacheverfahren ist der<br />

Beschwerdeführer vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit dagegen erfolglos geblieben. Das<br />

Landessozialgericht hat ausgeführt, die Voraussetzungen für einen „off-label-use― zu Lasten der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung seien nicht erfüllt, weil es bei der HIV-Infektion keine hinreichend gesicherten Erkenntnisse<br />

über die Wirksamkeit einer Behandlung mit Immunglobulinen gebe. Zwar seien die Regelungen des<br />

Leistungsrechts dann anspruchserweiternd verfassungskonform auszulegen, wenn eine lebensbedrohliche oder<br />

regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vorliege, wovon im Fall des Beschwerdeführers auszugehen sei, bei<br />

dem jederzeit lebensbedrohliche Komplikationen auftreten könnten. Hieraus könne der Beschwerdeführer aber<br />

keinen Versorgungsanspruch ableiten, da er nach wie vor schulmedizinische Behandlungsmethoden in Anspruch<br />

nehmen könne, die die Vermehrung des HIV-Virus bei ihm derzeit weitgehend unterdrückten und zu deren<br />

Kostenübernahme sich die Krankenkasse bereiterklärt habe. Auf eine zusätzliche, die medikamentöse Therapie<br />

unterstützende Behandlung habe der Beschwerdeführer keinen Anspruch, zumal eine intravenöse<br />

Immunglobulintherapie nicht ohne Nebenwirkungen sei. Solange die gesetzliche Krankenversicherung eine<br />

lebensverlängernd wirkende Therapie zur Verfügung stelle, sei die Krankenkasse auch aus<br />

Wirtschaftlichkeitsgründen nicht gezwungen, sämtliche weitere Therapieoptionen ungesicherter Art zu finanzieren.<br />

Das Bundessozialgericht hat die Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des Landessozialgerichts als<br />

unzulässig verworfen.<br />

Mit seiner Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, er sei auf die Therapie mit<br />

Immunglobulinen angewiesen, um sein Leben erhalten zu können. Das Landessozialgericht habe diese<br />

Behandlung zu Unrecht als bloße weitere Therapieoption ungesicherter Art angesehen. Das Gericht verkenne die<br />

Wirkweise der Medikation mit antiretroviralen Kombinationspräparaten, die nur eine Ausbreitung des Virus im<br />

Körper eindämmten. Mit der zusätzlichen Gabe von Immunglobulinen würden die mit der HIV-Infektion<br />

einhergehenden weiteren Infektionen bekämpft und vermieden. Weil diese zusätzlichen Infektionen geeignet<br />

seien, ein Fortschreiten der HIV-Infektion zu bewirken, sei es von größter Bedeutung, Immunglobuline zusätzlich<br />

zum Einsatz zu bringen. Würde die hochaktive antiretrovirale Kombinationstherapie in der Weise wirken, wie das<br />

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Landessozialgericht unterstelle, hätte er die desolate gesundheitliche Situation, in der er sich derzeit befinde,<br />

nicht erreicht.<br />

II.<br />

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe nach § 93a Abs. 2<br />

BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Damit erledigt<br />

sich gleichzeitig der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.<br />

1. Es kann offen bleiben, ob die Verfassungsbeschwerde unzulässig ist, weil der Beschwerdeführer entgegen §<br />

90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG den Rechtsweg nicht ordnungsgemäß erschöpft hat. Eine Verfassungsbeschwerde ist<br />

in der Regel unzulässig, wenn - wie hier - ein an sich gegebenes Rechtsmittel, durch dessen Gebrauch der<br />

behauptete Grundrechtsverstoß ausgeräumt werden könnte, aus prozessualen Gründen erfolglos bleibt (vgl.<br />

BVerfGE 74, 102 ; BVerfGK 1, 222 ). Es ist nicht ersichtlich, dass das Bundessozialgericht an die<br />

Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde überhöhte Anforderungen gestellt hat.<br />

2. Die Verfassungsbeschwerde begegnet Zulässigkeitsbedenken auch im Hinblick auf die Begründungspflicht<br />

nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG. Die Begründung einer Verfassungsbeschwerde muss substantiiert<br />

darlegen, mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidiert (vgl. BVerfGE<br />

108, 370 ). Soweit das Bundesverfassungsgericht bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe formuliert hat,<br />

muss anhand dieser Maßstäbe aufgezeigt werden, inwieweit die Grundrechte durch die angegriffenen<br />

Maßnahmen verletzt werden (vgl. BVerfGE 101, 331 ; 102, 147 ).<br />

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 6. Dezember 2005 (vgl. BVerfGE 115, 25 ff.) für<br />

den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung verfassungsrechtliche Maßstäbe zum Umgang mit nicht<br />

allgemein anerkannten medizinischen Behandlungsmaßnahmen entwickelt, mit denen sich der Beschwerdeführer<br />

nicht auseinandersetzt. Diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird in der Beschwerdeschrift<br />

nicht einmal erwähnt. Der Beschwerdeführer beschränkt sich auf eine Kritik an der Auffassung des<br />

Landessozialgerichts, das ausgeführt hat, solange die gesetzliche Krankenversicherung eine Therapie der<br />

schweren lebensbedrohlichen Krankheit zur Verfügung stelle, die lebensverlängernd wirke, könne sie auch aus<br />

Wirtschaftlichkeitsgründen nicht gezwungen werden, sämtliche weitere Therapieoptionen ungesicherter Art zu<br />

finanzieren. Dagegen äußert der Beschwerdeführer "verfassungsrechtliche Bedenken"; welcher Art diese sind,<br />

teilt der Beschwerdeführer nicht mit.<br />

3. Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls unbegründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den<br />

Beschwerdeführer nicht in seinen Grundrechten. Nach den Kriterien, wie sie in der genannten Entscheidung des<br />

Bundesverfassungsgerichts entwickelt worden sind, kann sich aus den Grundrechten ein Anspruch auf nicht<br />

allgemein anerkannte medizinische Behandlungsmaßnahmen ergeben, wenn bei einer lebensbedrohlichen oder<br />

sogar regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen und<br />

eine medizinisch begründete Erfolgsaussicht der erstrebten Behandlung besteht.<br />

Diese Kriterien haben die Sozialgerichte bei ihren Entscheidungen beachtet. Das Landessozialgericht hat<br />

ausgeführt, es stünden schulmedizinische Behandlungsmethoden in Form verschiedener antiretroviraler<br />

Medikamente zur Verfügung, welche die Vermehrung des HIV-Virus bei dem Beschwerdeführer derzeit<br />

weitgehend unterdrückten und zu deren Finanzierung sich die Krankenkasse bereiterklärt habe. Damit sei der<br />

Lebensschutz des Beschwerdeführers aktuell gewährleistet, so dass er weitere Therapieoptionen ungesicherter<br />

Art nicht beanspruchen könne.<br />

Dem setzt der Beschwerdeführer keine verfassungsrechtlich relevanten Einwände entgegen. Seine Ausführungen<br />

beschränken sich auf eine Kritik an der Beweiswürdigung des Landessozialgerichts, dem er vorwirft, die<br />

Wirkweise der Medikation mit antiretroviralen Medikamenten zu verkennen und den zusätzlichen Nutzen des<br />

Einsatzes von Immunglobulinen zu übersehen. Einen für den Lebensschutz des Beschwerdeführers<br />

bedeutsamen, zusätzlichen Nutzen des Einsatzes von Immunglobulinen haben die angegriffenen Entscheidungen<br />

aber nicht festgestellt. Mit der Behauptung, die Tatsachenfeststellung der Fachgerichte sei falsch, kann der<br />

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Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren jedoch keinen Erfolg haben, denn die Feststellung und<br />

Würdigung des Tatbestandes ist allein Sache der Gerichte (vgl. BVerfGE 22, 267 ; 83, 119 ). Der<br />

Beschwerdeführer legt auch nicht dar, dass die von seiner Sichtweise abweichenden Feststellungen des<br />

Landessozialgerichts in verfassungsrechtlich zu beanstandender Weise, insbesondere durch eine unvertretbare<br />

Sachverhaltsfeststellung, getroffen worden sind.<br />

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.<br />

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.<br />

Hohmann-Dennhardt Gaier Kirchhof<br />

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 5.5.2010, B 6 KA 20/09 R. Der Regress durch eine Krankenkasse<br />

gegen eine Gemeinschaftspraxis wegen des off label use ist rechtens.<br />

Parallelentscheidung zu dem BSG-Urteil vom 5.5.2010 - B 6 KA 6/09 R.<br />

Tatbestand<br />

Umstritten ist ein Arzneikostenregress wegen der Verordnung des Arzneimittels Polyglobin in den<br />

Quartalen I und III/2000.<br />

Die Klägerin zu 1. ist eine zwischen dem 1.7.2000 und dem 31.12.2004 bestehende Gemeinschaftspraxis,<br />

der der Kläger zu 2. und die Klägerin zu 3. angehörten. Der Kläger zu 2. nimmt seit Jahren als Hausarzt an der<br />

vertragsärztlichen Versorgung teil. Zum 1.7.2000 schloss er sich mit der Klägerin zu 3., einer Internistin, zu einer<br />

Gemeinschaftspraxis zusammen. Der Kläger zu 2. (Quartal I/2000) und die zu 1. klagende Gemeinschaftspraxis<br />

(Quartal III/2000) verordneten zugunsten des M., der bei der Rechtsvorgängerin der zu 2. beigeladenen<br />

Krankenkasse versichert war, in 12 Fällen das Arzneimittel Polyglobin 5 % bzw 10 %. Der Versicherte litt an<br />

einem "embryonalem Hodenkarzinom mit Lungenmetastasierung".<br />

Wegen dieser Verordnungen beantragte die Rechtsvorgängerin der Beigeladenen zu 2. bei den<br />

Prüfgremien die Feststellung eines sonstigen Schadens. Der Prüfungsausschuss setzte nach Anhörung der<br />

Kläger wegen der Verordnung von Polyglobin einen Regress gegen die Kläger zu 2. und 3. in Höhe von 17 821<br />

Euro fest. Der beklagte Beschwerdeausschuss wies den Widerspruch der Kläger zu 2. und 3. mit der Begründung<br />

zurück, Polyglobin sei nicht im Rahmen seiner arzneimittelrechtlichen Zulassung verordnet worden.<br />

Das SG hat die von den Klägern zu 2. und 3. gegen diese Entscheidung des Beklagten erhobene Klage<br />

mit der Begründung abgewiesen, Polyglobin sei zur Behandlung eines Karzinomleidens außerhalb der Zulassung<br />

eingesetzt worden, und die Voraussetzungen für einen ausnahmsweise zulässigen Off-Label-Use hätten nicht<br />

vorgelegen. Die Wirksamkeit von Polyglobin zur Behandlung auch eines metastasierenden Karzinomleidens sei<br />

nicht belegt.<br />

Mit seiner Berufung gegen dieses Urteil hat der Kläger zu 2. geltend gemacht, der Einsatz von Polyglobin<br />

zur Behandlung des Versicherten M. sei medizinisch gerechtfertigt. Die Klägerin zu 3. hat vorgetragen, im Quartal<br />

I/2000 sei sie noch nicht Mitglied der Gemeinschaftspraxis gewesen, weshalb sie für Verordnungen aus diesem<br />

Quartal nicht in Regress genommen werden dürfe.<br />

Das LSG hat zunächst durch eine Änderung des Rubrums klargestellt, dass die Klageerhebung durch die<br />

nunmehr als Klägerin zu 1. rubrizierende Gemeinschaftspraxis erfolgt sei. Es hat die Berufungen (nur) der<br />

Klägerin zu 2. und zu 3. gegen das sozialgerichtliche Urteil für zulässig gehalten, weil jeder Gesellschafter einer<br />

BGB-Gesellschaft berechtigt sei, Forderungen der Gesellschaft gerichtlich geltend zu machen. Das LSG hat<br />

sodann das Urteil des SG sowie den Bescheid des Beklagten aufgehoben, soweit dieser die Regressfestsetzung<br />

für Verordnungen aus dem Quartal I/2000 betrifft. Die Regressfestsetzung sei nach dem nicht auslegungsfähigen<br />

Wortlaut der angefochtenen Entscheidung des Beklagten gegen "die" Gemeinschaftspraxis gerichtet, die im<br />

Quartal I/2000 aber noch nicht bestanden habe. Allein aus diesem Grunde sei der Bescheid insoweit rechtswidrig.<br />

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Hinsichtlich der Verordnungen aus dem Quartal III/2000 hat es die Berufungen der Kläger zu 2. und zu 3.<br />

zurückgewiesen. Die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use hätten nicht vorgelegen (Urteil vom 18.3.2009).<br />

Mit seiner Revision rügt der Kläger zu 2., der vom Berufungsgericht herangezogene § 14 Abs 1 der<br />

Prüfvereinbarung (PV) ergebe schon generell keine tragfähige Grundlage für einen Regress wegen der<br />

Verordnung nicht verordnungsfähiger Arzneimittel. Die PV regele lediglich Verstöße gegen das<br />

Wirtschaftlichkeitsgebot sowie Regresse wegen schuldhafter Verursachung eines "sonstigen Schadens". Der in<br />

der Rechtsprechung des BSG zugelassene Regress wegen der Verordnung nicht verordnungsfähiger Mittel hätte<br />

in der PV zwar geregelt werden können, sei dort tatsächlich aber nicht geregelt worden. Zudem habe ein<br />

fristgerechter Antrag nach § 14 Abs 1 PV für das Quartal III/2000 nicht vorgelegen. Das LSG habe zu Unrecht<br />

unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des BSG angenommen, soweit in der maßgeblichen Berliner PV ein<br />

Antragserfordernis normiert sei, stehe das mit höherrangigem Recht nicht in Einklang. Auch dem SG könne nicht<br />

gefolgt werden, soweit dieses davon ausgegangen sei, die Frist zur Stellung des Prüfantrags beginne erst zu<br />

laufen, wenn den Krankenkassen die arztbezogen sortierten Rezepte abschließend vorgelegen hätten. Die<br />

Notwendigkeit eines fristgerechten Antrags der betroffenen Krankenkasse diene auch dem Schutz der von den<br />

Regressfestsetzung potenziell betroffenen Ärzte.<br />

Die Verordnung von Polyglobin sei zur Behandlung des Hodenkarzinoms bei dem Versicherten M.<br />

notwendig gewesen. Zwar sei der Einsatz von Polyglobin nicht unmittelbar zur Heilung der Tumorerkrankung bzw<br />

zur Linderung der damit verbundenen Beschwerden erfolgt, doch habe der Versicherte als Folge der<br />

Chemotherapie unter einer Antikörperstörung gelitten, die dringend habe behandelt werden müssen. Der Einsatz<br />

von Polyglobin habe die Voraussetzungen für eine Fortsetzung der Chemotherapie schaffen sollen, und seine<br />

Rechtmäßigkeit müsse deshalb aus medizinischen Gründen nach denselben Maßstäben beurteilt werden wie die<br />

Verordnung von Arzneimitteln zur kausalen Krebstherapie. Jedenfalls habe er - der Kläger - darauf vertrauen<br />

dürfen, dass im Hinblick auf die Rechtsprechung des BSG auch der die Indikationsgrenzen überschreitende<br />

Einsatz generell zugelassener Arzneimittel (Off-Label-Use) im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

zulässig gewesen sei. Das habe der 1. Senat des BSG im Juli 1995 zum Einsatz des Codeinpräparates<br />

Remedacen zur Drogensubstitution entschieden, und der 8. Senat des BSG, der mit dieser Rechtsprechung nicht<br />

einverstanden gewesen sei, habe im Jahr 1999 für die Zeit bis zur Verkündung seiner Entscheidung den<br />

Versicherten Vertrauensschutz zugebilligt. Auf diesen Vertrauensschutz könne er - der Kläger - sich hier auch<br />

berufen. Soweit der 6. Senat des BSG am 31.5.2006 entschieden habe, Vertrauensschutzaspekte spielten<br />

insoweit keine Rolle, weil Vertragsärzte, die Arzneimittel außerhalb der Zulassungsindikationen einsetzen wollten,<br />

gehalten seien, ein Privatrezept auszustellen und die Versicherten bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche gegen<br />

die Krankenkasse zu unterstützen, sei das auf die hier maßgebliche Rechtslage des Jahres 1999 nicht<br />

übertragbar. Zu diesem Zeitpunkt sei nach § 29 Abs 1 Satz 2 Bundesmantelvertrag Ärzte (BMV-Ä) die<br />

Genehmigung von Verordnungen durch eine Krankenkasse unzulässig gewesen. In Verbindung mit dem<br />

Remedacen-Urteil des 1. Senats des BSG habe sich daraus die Berechtigung von Vertragsärzten ergeben, den<br />

Off-Label-Use im regulären Verfahren durch Ausstellen vertragsärztlicher Verordnungen zu praktizieren.<br />

Schließlich hätte das LSG dem in der mündlichen Verhandlung vom 18.3.2009 unter Bezugnahme auf den<br />

Schriftsatz zur Berufungsbegründung ausdrücklich aufrecht erhaltenen Beweisantrag zur Einholung eines<br />

Sachverständigengutachtens nachgehen und zur Anwendung von Polyglobin ein entsprechendes Gutachten<br />

einholen müssen. Das habe es unter Verletzung des § 103 Satz 1 SGG fehlerhafterweise unterlassen.<br />

Der Kläger zu 2. beantragt,<br />

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18.3.2009, soweit die Klage dort abgewiesen wurde,<br />

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14.6.2006 und den Bescheid des Beklagten vom 25.3.2003 aufzuheben,<br />

hilfsweise,<br />

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das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18.3.2009, soweit die Klage dort abgewiesen wurde,<br />

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14.6.2006 und den Bescheid des Beklagten vom 25.3.2003 aufzuheben<br />

und den Beklagten zu verpflichten, über seinen - des Klägers - Widerspruch vom 21.11.2001 unter Beachtung der<br />

Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden,<br />

weiter hilfsweise,<br />

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18.3.2009, soweit die Klage abgewiesen wurde,<br />

aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht<br />

zurückzuverweisen.<br />

Die Beigeladene zu 2. beantragt,<br />

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18.3.2009 abzuändern und die Berufung<br />

vollumfänglich zurückzuweisen sowie die Revision des Klägers zu 2. zurückzuweisen.<br />

Sie rügt vor allem die Auffassung des Berufungsgerichts, der angefochtene Bescheid des Beklagten sei<br />

rechtswidrig, soweit er Verordnungen aus dem Quartal I/2000 betreffe. Der Beklagte habe nicht hinreichend<br />

beachtet, dass in diesem Quartal die Gemeinschaftspraxis noch nicht bestanden habe. Deshalb könne sich der<br />

Bescheid nur gegen den Kläger zu 2. richten, der die betroffenen Verordnungen ausgestellt habe. Nicht die<br />

Gemeinschaftspraxis, sondern die Kläger zu 2. und 3. seien im sozialgerichtlichen Verfahren als (einzige) Kläger<br />

aufgetreten. Damit sei immer klar gewesen, dass auch die Verordnungen des Klägers zu 2. betroffen gewesen<br />

seien.<br />

Die Klägerin zu 3. schließt sich der Revision der Beigeladenen zu 2. an und beantragt,<br />

1. die Revision der Beigeladenen zu 2. zurückzuweisen,<br />

2. das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18.3.2009, soweit die Klage dort abgewiesen<br />

wurde, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14.6.2006 und den Bescheid des Beklagten vom 25.3.2003<br />

aufzuheben,<br />

3. hilfsweise das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18.3.2009, soweit die Klage dort<br />

abgewiesen wurde, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14.6.2006 und den Bescheid des Beklagten vom<br />

25.3.2003 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, über den Widerspruch vom 21.11.2001 unter<br />

Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden,<br />

4. weiter hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18.3.2009, soweit die Klage dort<br />

abgewiesen wurde, aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das<br />

Berufungsgericht zurückzuverweisen.<br />

Sie verweist auf den Umstand, dass sie im Quartal I/2000 der zu 1. klagenden Gemeinschaftspraxis nicht<br />

angehörte, und nimmt in der Sache auf die Ausführungen des Klägers zu 2. Bezug.<br />

Der Beklagte beantragt,<br />

die Revision zurückzuweisen.<br />

Er hält das Berufungsurteil für zutreffend.<br />

Entscheidungsgründe<br />

Die Revision der zu 2. beigeladenen Krankenkasse hat Erfolg. Das LSG hat das sozialgerichtliche Urteil<br />

sowie den angefochtenen Bescheid des beklagten Beschwerdeausschusses hinsichtlich der Verordnungen aus<br />

dem Quartal I/2000 zu Unrecht aufgehoben (1.). Dagegen haben die Revisionen des zu 2. klagenden Arztes und<br />

der zu 3. klagenden Ärztin in der Sache keinen Erfolg (2.). Auch die Verfahrensrüge des Klägers zu 2. ist nicht<br />

begründet (3.).<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 280


1. Das LSG hat angenommen, der angefochtene Bescheid des Beklagten sei hinsichtlich der aus dem<br />

Quartal I/2000 stammenden Verordnungen schon deshalb rechtswidrig, weil dieser Bescheid sich gegen eine<br />

Gemeinschaftspraxis - bestehend aus den Klägern zu 2. und 3. - richte, die im Quartal I/2000 nicht bestanden<br />

habe. Regressbescheide, die sich gegen eine Gemeinschaftspraxis richten, die zu dem Zeitpunkt, in dem die<br />

beanstandeten Verordnungen vorgenommen wurden, nicht bestand, sind rechtswidrig. Auch die Ausführungen<br />

des Berufungsgerichts hinsichtlich der vertragsarztrechtlich gebotenen Unterscheidung von Gemeinschaftspraxis<br />

und Einzelpraxis stehen mit Bundesrecht im Einklang. Nicht zu folgen ist dem Berufungsgericht jedoch insoweit,<br />

als es - zumindest inzident - ausgeschlossen hat, dass sich der Bescheid des Beklagten für das Quartal I/2000<br />

(auch) gegen den Kläger zu 2. richtete.<br />

a. Der Antrag der BKK Berlin (Rechtsvorgängerin der Beigeladenen zu 2.) vom 22.5.2001 nennt als Betreff<br />

"Gemeinschaftspraxis Dres. med. Kindler und Dietzmann" und verweist zunächst auf die Arztnummer 7290241,<br />

die dem Kläger zu 2. zugeordnet war, und - später - auf die Arztnummer 7280821, die der Gemeinschaftspraxis,<br />

bestehend aus den Klägern zu 2. und 3., zugeordnet war. Die Fassung des Antrags rührt daher, dass der<br />

Rechtsvorgängerin der Beigeladenen zu 2. im Mai 2001 nicht bewusst war, dass ein Teil der Verordnungen auf<br />

einen Zeitraum entfiel, in dem sich hinter der Abrechnungsnummer 7290241 nur die Einzelpraxis des Klägers zu<br />

2. und noch nicht die zu 1. klagende Gemeinschaftspraxis verbarg.<br />

Dieser Umstand fiel, offenbar weil hier kein quartalsweise festzusetzender Regress wegen<br />

unwirtschaftlichen Behandlungs- oder Verordnungsverhaltens, sondern ein Regress wegen unzulässiger<br />

Arzneimittelverordnungen zu Gunsten eines einzelnen Patienten über mehrere Quartale hinweg betroffen war (zu<br />

den damit verbundenen verfahrensrechtlichen Konsequenzen näher Senatsurteil vom 5.5.2010 - B 6 KA 6/09 R -;<br />

zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen), auch weder der antragstellenden Krankenkasse noch dem<br />

Prüfungsausschuss bzw dem beklagten Beschwerdeausschuss auf. In dessen Entscheidung vom 25.3.2003 wird<br />

im Rubrum die "Gemeinschaftspraxis" als Widerspruchsführer geführt.<br />

Im Klageverfahren sind dagegen - ohne Beanstandung durch das Sozialgericht - lediglich die Kläger zu 2.<br />

und 3. als Kläger aufgetreten und durch die jetzigen Bevollmächtigten des Klägers zu 2. vertreten worden. Die<br />

Vollmacht vom 27.11.2001 ist von den Klägern zu 2. und 3. unterschrieben und in Sachen dieser beiden Kläger<br />

ausgestellt worden. Bis zum Abschluss des sozialgerichtlichen Verfahrens haben die Bevollmächtigten nicht auf<br />

den Umstand hingewiesen, dass die Gemeinschaftspraxis im Quartal I/2000 noch nicht bestand. Noch im Termin<br />

der mündlichen Verhandlung am 14.6.2006, also fast 1 1/2 Jahre nach Auflösung der Gemeinschaftspraxis, ist<br />

Rechtsanwalt Dr. S. für beide Kläger aufgetreten, ohne darauf hinzuweisen, dass der Kläger zu 2. im Quartal<br />

I/2000 noch in Einzelpraxis tätig war.<br />

Erst im Berufungsverfahren sind die Kläger zu 2. und 3. getrennt aufgetreten; der Kläger zu 2. ist durch die<br />

bisherigen Bevollmächtigten beider Kläger und die Klägerin zu 3. durch ihre jetzige Bevollmächtigte vertreten<br />

worden. Die Klägerin zu 3. hat erstmals mit ihrer Berufung vom 30.8.2006 erläutert, dass sie ihre Tätigkeit in der<br />

Praxis des Klägers zu 2. erst zum Quartal III/2000 aufgenommen habe (vgl das ursprünglich unter dem<br />

Aktenzeichen L 7 KA 109/06 geführte Berufungsverfahren, das das LSG zum Verfahren L 7 KA 108/06 des<br />

Klägers zu 2. verbunden hat).<br />

b. In dieser besonderen Konstellation stellt sich die Rubrizierung der zu 1. klagenden Gemeinschaftspraxis<br />

im Rubrum des angefochtenen Bescheides des Beklagten als partielle, aber unschädliche Falschbezeichnung<br />

heraus (zur revisionsgerichtlichen Befugnis, Verwaltungsakte auszulegen, s BSGE 96, 161 = SozR 4-2500 § 13<br />

Nr 8, RdNr 16 mwN). Der Bescheid des Beklagten sollte ersichtlich die unter der Arztnummer 7290241 (Kläger zu<br />

2.) ausgestellten Verordnungen auch des Quartals I/2000 erfassen, und das ist weder im Widerspruchs- noch im<br />

Klageverfahren als fehlerhaft gerügt worden. Die Beigeladene zu 2. hat zu keinem Zeitpunkt den Eindruck<br />

erweckt, sie wolle aus dem Bescheid des Beklagten gegenüber der Klägerin zu 3. Rechte im Hinblick auf<br />

Verordnungen aus dem Quartal I/2000 herleiten. Bei verständiger Auslegung der angefochtenen Entscheidung<br />

des Beklagten und bei Würdigung des Verhaltens der zu 2. und 3. klagenden Ärzte sowie ihrer Bevollmächtigten<br />

im Widerspruchs- und Klageverfahren betrifft der Bescheid des Beklagten, soweit er sich auf das Quartal I/2000<br />

bezieht, Verordnungen nur des Klägers zu 2. und setzt nur diesem gegenüber einen Regress fest. Diese<br />

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selbstverständliche Rechtsfolge hat der Senat ausdrücklich zur Klarstellung in den Tenor seines Urteils<br />

aufgenommen.<br />

2. Die Regressfestsetzungen des Beklagten gegenüber dem Kläger zu 2. hinsichtlich der Quartale I und<br />

III/2000 und gegenüber der Klägerin zu 3. hinsichtlich des Quartals III/2000 sind weder in formeller noch in<br />

materieller Hinsicht zu beanstanden.<br />

a. Das Berufungsgericht hat zunächst angenommen, § 14 Abs 1 iVm Abs 3 der seit dem Jahre 1994<br />

geltenden PV, die für die Verordnungen der Kläger im Jahre 2000 noch galt, gestatte die Festsetzung von<br />

Arzneikostenregressen, soweit der Vertragsarzt Arzneimittel verordnete, die in der vertragsärztlichen Versorgung<br />

nicht verordnungsfähig sind. Die Kenntnis des Vertragsarztes von der fehlenden Verordnungsfähigkeit oder<br />

generell ein Verschulden des Arztes seien insoweit nicht Voraussetzung für die Festsetzung eines Regresses.<br />

Soweit der Kläger zu 2. § 14 PV anders versteht und annimmt, diese Norm erfasse nur Verfahren der<br />

Wirtschaftlichkeitsprüfung bzw die Festsetzung eines verschuldensabhängigen "sonstigen Schadens" und nicht<br />

die Verordnung nicht verordnungsfähiger Arzneimittel, ist dem im Revisionsverfahren nicht weiter nachzugehen.<br />

Die PV stellt Landesrecht iS des § 162 SGG dar, das das Revisionsgericht in der Auslegung des<br />

Berufungsgerichts seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat.<br />

Von diesem Grundsatz sind in der Rechtsprechung des BSG zwei Ausnahmen anerkannt. Danach können<br />

landesrechtliche Normen vom Revisionsgericht eigenständig ausgelegt und angewandt werden, wenn es sich um<br />

Normen handelt, die inhaltsgleich in Bezirken verschiedener LSG gelten, soweit die Übereinstimmung im<br />

Interesse der Rechtsvereinheitlichung bewusst und gewollt ist (BSG vom 8.9.2009 - B 1 KR 8/09 R - RdNr 26, zur<br />

Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt. Es ist weder geltend gemacht<br />

noch gerichtsbekannt, dass die Berliner PV aus dem Jahr 1994 inhaltsgleich in anderen KÄV-Bezirken gilt bzw<br />

gegolten hat.<br />

Landesrechtliche Normen sind weiterhin einer eigenständigen Auslegung und Anwendung des BSG<br />

zugänglich, wenn das LSG entscheidungserhebliche Vorschriften unberücksichtigt gelassen hat (BSGE 98, 89 =<br />

SozR 4-2500 § 85 Nr 31, jeweils RdNr 15). Hier hat jedoch das LSG die als Rechtsgrundlage des angefochtenen<br />

Bescheides ersichtlich einschlägige Vorschrift des § 14 PV zutreffend herangezogen und unter Anwendung der<br />

allgemein anerkannten juristischen Auslegungskriterien ausgelegt. Der Kläger zu 2. rügt auch keinen Verstoß<br />

gegen diese Auslegungsgrundsätze oder die Denkgesetze, sondern setzt der Auslegung des Berufungsgerichts<br />

seine abweichende Auslegung entgegen. Das führt nicht dazu, dass entgegen der Vorgabe des § 162 SGG das<br />

Revisionsgericht zu einer eigenständigen Auslegung berufen wäre.<br />

Soweit § 14 PV in der Auslegung des LSG eine hinreichende Grundlage für die Festsetzung von<br />

Arzneikostenregressen wegen der Verordnung nicht verordnungsfähiger Arzneimittel darstellt, steht die Vorschrift<br />

mit Bundesrecht in Einklang. Der Senat hat mehrfach entschieden, dass auf der Grundlage des § 106 Abs 2 SGB<br />

V in den PV Rechtsgrundlagen für Arzneikostenregresse festgeschrieben werden dürfen, soweit Vertragsärzte<br />

Arznei- und Heilmittel verordnet haben, die nicht Gegenstand der Leistungspflicht der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung sind (zB BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 52; vgl zuletzt BSG vom 3.2.2010 - B 6 KA 37/08 R -<br />

RdNr 17 ff mwN, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Das stellt der Kläger zu 2. selbst nicht in Abrede.<br />

b. Soweit der Kläger zu 2. geltend macht, der Antrag der Rechtsvorgängerin der zu 2. beigeladenen<br />

Krankenkasse sei verspätet gestellt worden, muss dem ebenfalls nicht weiter nachgegangen werden. Es kann<br />

vielmehr offen bleiben, ob die Frist von "sechs Monaten nach Bekanntwerden des Sachverhalts" iS des § 14 Abs<br />

2 PV hier eingehalten ist, wie das SG angenommen hat, oder ob die Normierung dieser Frist in der PV wegen<br />

Unvereinbarkeit mit § 106 SGB V unwirksam ist, wovon das LSG ausgegangen ist. Selbst wenn eine Antragsfrist<br />

normiert werden durfte und diese von der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen zu 2. nicht eingehalten worden<br />

sein sollte, würde daraus nicht die Rechtswidrigkeit der Regressfestsetzung folgen. Aus einer evtl Versäumung<br />

der Antragsfrist durch die Krankenkasse kann nämlich nicht abgeleitet werden, das Prüf- und Regressverfahren<br />

dürfe nicht durchgeführt werden. Das hat der Senat mit Urteil vom 3.2.2010 (B 6 KA 37/08 R; - RdNr 19 ff, zur<br />

Veröffentlichung in SozR vorgesehen) entschieden.<br />

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Der Senat hatte bereits früher dargelegt, dass solche Fristen nicht zum Schutz des Arztes im Sinne eines<br />

Ausschlusses der Verfahrensdurchführung normiert sind, sondern dass sie - auch im Interesse des Arztes - der<br />

Verfahrensbeschleunigung und einer effektiven Verfahrensdurchführung dienen (s insbesondere BSG USK 9596,<br />

S 526; vgl auch BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 28 S 159 f zur Zulässigkeit späterer Antragsnachholung). Wird der<br />

Antrag zu spät gestellt, so ist damit dem Interesse an einer Verfahrensbeschleunigung nicht Rechnung getragen.<br />

Daraus aber ein Hindernis für die Verfahrensdurchführung überhaupt abzuleiten, liefe der Zielrichtung der<br />

Regelung und im Übrigen auch dem hohen Rang des Wirtschaftlichkeitsgebots mit dem daraus folgenden Ziel<br />

möglichst effektiver Verhinderung unwirtschaftlicher Behandlungs- und Verordnungsweise zuwider (vgl BSG USK<br />

aaO und SozR aaO S 159).<br />

Dem Interesse des Vertragsarztes, nicht damit rechnen zu müssen, dass noch nach Jahr und Tag ein<br />

Prüf- und Regressverfahren gegen ihn eingeleitet wird, dient eine andere Frist, nämlich die generell für<br />

vertragsärztliche Prüf- und Regessverfahren bestehende Vier-Jahres-Frist (zu dieser Frist allgemein zB BSGE 96,<br />

1 = SozR 4-2500 § 85 Nr 22 RdNr 14; BSGE 97, 84 = SozR 4-2500 § 106 Nr 15 RdNr 12 ff; BSG MedR 2008,<br />

100, 101 f RdNr 16 ff, vgl jetzt § 106 Abs 2 Satz 7 Halbs 2 SGB V zur Frist von zwei Jahren für<br />

Verordnungsregresse wegen Überschreitung von Richtgrößenvolumina). Von dieser Ausschlussfrist und ihrer<br />

Funktion unterscheidet sich die Sechs-Monats-Frist für die Stellung des Prüfantrags mit ihrer Ausrichtung auf<br />

Beschleunigung. Würde aus deren Versäumung ein Verfahrenshindernis abgeleitet werden, so würde ihr die<br />

Funktion beigemessen, die allein der Vier-Jahres-Frist zukommt.<br />

c. Die Kläger durften über "Polyglobin 5 %" in den streitbefangenen Quartalen keine vertragsärztliche<br />

Verordnung ausstellen. Sie haben dieses Arzneimittel außerhalb der arzneimittelrechtlichen Zulassung verordnet.<br />

Die Zulassung von Polyglobin war nach den Feststellungen des LSG - bei Vorliegen eines<br />

Immunmangelsyndroms - auf die Behandlung eines primären, ursächlichen Mangelsyndroms oder - bei<br />

sekundärem Immunmangelsyndrom - auf die Behandlung von Grunderkrankungen wie eine chronischlymphatische<br />

Leukämie oder ein multiples Myelom begrenzt. An solchen Erkrankungen hat der Versicherte M.<br />

nicht gelitten. Ein Arzneimittel darf grundsätzlich nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung für einen<br />

Einsatz außerhalb der arzneimittelrechtlich zugelassenen Indikation verordnet werden. Das hat der 1. Senat des<br />

BSG mit Urteil vom 19.3.2002 (BSGE 89, 184 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8) unter Aufgabe seiner früheren<br />

Rechtsprechung entschieden und daran bis heute festgehalten (zB BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr 1). Der<br />

6. Senat des BSG ist dem für die Festsetzung von Arzneikostenregressen gefolgt (zB BSG SozR 4-2500 § 106 Nr<br />

21 RdNr 19; vgl auch BSG vom 3.2.2010 - B 6 KA 37/08 R - RdNr 26, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).<br />

Die Kläger können sich zur Rechtfertigung ihrer Verordnung von Polyglobin weder auf Vertrauensschutz<br />

noch auf einen der Annahmefälle stützen, in denen Arzneimittel vertragsärztlich auch außerhalb der<br />

zugelassenen Indikation verordnet werden dürfen. Der Kläger zu 2. ist der Auffassung, Vertragsärzte hätten in der<br />

Zeit zwischen dem Urteil des 1. Senats vom 5.7.1995 zur Drogensubstitution mit dem Codein-Präparat<br />

Remedacen (BSGE 76, 194 = SozR 3-2500 § 27 Nr 5) und dem Bekanntwerden des Urteils des 8. Senats vom<br />

30.9.1999 zur SKAT-Therapie (BSGE 85, 36 = SozR 3-2500 § 27 Nr 11) generell darauf vertrauen dürfen,<br />

Arzneimittel im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung auch außerhalb der Zulassungsindikationen nach dem<br />

Arzneimittelrecht verordnen zu dürfen. Dem folgt der Senat in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht nicht.<br />

Es ist bereits fraglich, ob ein Vertragsarzt im Hinblick auf das zu der sehr speziellen Situation der<br />

Drogensubstitution ergangene Urteil des 1. Senats vom 5.7.1995 generell darauf vertrauen durfte, Arzneimittel<br />

auch außerhalb ihrer Zulassungsindikation verordnen zu dürfen. Allenfalls kommt ein Vertrauen darauf in<br />

Betracht, dass die Bindung der vertragsärztlichen Verordnung an die Zulassung des jeweiligen Fertigarzneimittels<br />

nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) in dem Sinne gelockert ist, dass in bestimmten Konstellationen eine die<br />

arzneimittelrechtliche Zulassung überschreitende Verordnung, die medizinisch sinnvoll oder sogar geboten ist,<br />

auch krankenversicherungsrechtlich zulässig sein kann. In diesem Sinne ist das Urteil des 8. Senats vom<br />

30.9.1999 richtigerweise zu verstehen. Weitergehende Schlussfolgerungen aus diesem Urteil im Sinne eines<br />

uneingeschränkt erlaubten indikationsfremden Einsatzes von Fertigarzneimitteln liegen eher fern, zumal ein<br />

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eliebiger, allein nach Gutdünken jedes einzelnen Arztes erfolgender, Einsatz eines Medikaments außerhalb der<br />

Zulassung nicht ernsthaft für sachgerecht gehalten werden kann .<br />

d. Im Übrigen sind schon kurz nach Veröffentlichung des Urteils des 1. Senats vom 5.7.1995 zur<br />

Drogensubstitution in der Rechtsprechung des BSG Zweifel an der allgemeinen Aussagekraft dieses Urteils über<br />

den entschiedenen Fall hinaus artikuliert worden. Schon drei Monate nach dem Urteil des 1. Senats hat der allein<br />

für das Vertragsarztrecht zuständige erkennende Senat Bedenken gegen die Zulässigkeit des Einsatzes von<br />

Remedacen zur Drogensubstitution geäußert und auf die Problematik der Beachtung der Richtlinien des<br />

(früheren) Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen im Zusammenhang mit sog Außenseitermethoden<br />

hingewiesen (Urteil vom 18.10.1995, SozR 3-5550 § 17 Nr 2 S 5). In der Sache sind sodann die Grundsätze des<br />

Urteils vom 5.7.1995 durch die neuere Rechtsprechung des 6. und des 1. Senats zur Rechtsqualität der<br />

Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, zur Methodenanerkennung nach § 135 Abs 1<br />

SGB V und zum Zusammenhang zwischen dieser Anerkennung und den Prinzipien der Arzneimitteltherapie<br />

deutlich modifiziert worden (Urteil des 6. Senats vom 20.3.1996, BSGE 78, 70 = SozR 3-2500 § 92 Nr 6<br />

"Methadon"; Urteile des 1. Senats vom 16.9.1997, BSGE 81, 54 = SozR 3-2500 § 135 Nr 4, BSGE 81, 73 = SozR<br />

3-2500 § 92 Nr 7). Spätestens nach Bekanntwerden dieser Urteile war deutlich, dass die ältere Rechtsprechung<br />

des BSG zu den (untergesetzlichen) Vorgaben des Leistungs- und Leistungserbringungsrechts in der<br />

gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr uneingeschränkt fortgeführt werden würde. Kein Vertragsarzt<br />

musste die aufgezeigten Wendungen der Rechtsprechung kennen oder nachvollziehen. Wer aber - wie der Kläger<br />

zu 2 - geltend macht, Verordnungen aus dem Jahre 2000 im Vertrauen auf eine zu einer Sonderkonstellation<br />

ergangene und vereinzelt gebliebene Rechtsprechung des BSG aus dem Jahre 1995 getätigt zu haben, muss<br />

sich entgegenhalten lassen, dass sich die Rechtsprechung weiterentwickelt hat. Jedenfalls im Jahr 2000 hat es<br />

für einen Vertragsarzt erkennbar keine hinreichende Sicherheit mehr gegeben, nach eigener Einschätzung Off-<br />

Label-Use-Verordnungen ausstellen zu dürfen, ohne Gefahr zu laufen, insoweit in Regress genommen zu<br />

werden.<br />

e. Zudem sind sowohl das Urteil des 1. Senats vom 5.7.1995, auf das sich der Kläger zu 2. beruft, wie<br />

auch die folgenden Entscheidungen des 1. und des 8. Senats des BSG zu den Rechtsansprüchen von<br />

Versicherten gegen ihre Krankenkasse ergangen. Aus diesen Urteilen ergibt sich nicht unmittelbar, wie sich ein<br />

Vertragsarzt zu Arzneimittelverordnungen verhalten sollte, die erkennbar außerhalb der Zulassungsindikation des<br />

jeweiligen Arzneimittels erfolgten, von denen er aber annahm, sie könnten vom Patienten beansprucht werden.<br />

Dazu ist dem Urteil des erkennenden Senats vom 18.10.1995 (6 RKa 3/93) zur Drogensubstitution zu entnehmen,<br />

dass in solchen Fällen jedenfalls eine exakte Dokumentation und eine engmaschige Verlaufskontrolle der<br />

Behandlung geboten waren (SozR 3-5550 § 17 Nr 2 S 8; vgl auch BSG vom 3.2.2010 - B 6 KA 37/08 R - RdNr<br />

39, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Damit ist es zB nicht vereinbar, auf laborchemische<br />

Untersuchungen zum Nachweis eines - vermeintlichen oder tatsächlich bestehenden -<br />

"Antikörpermangelsyndroms" zu verzichten, wenn die umstrittene Off-Label-Verordnung von Immunglobulinen<br />

gerade auf diese Diagnose reagiert.<br />

Ein Vertragsarzt, der Medikamente außerhalb ihrer zugelassenen Indikationen verordnet, kann weder sich<br />

noch der Krankenkasse Gewissheit darüber verschaffen, dass die Verordnung den Vorgaben des<br />

Wirtschaftlichkeitsgebotes genügt, also notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich ist. Bei Off-Label-<br />

Verordnungen hat nämlich gerade keine Prüfung von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des jeweiligen<br />

Arzneimittels stattgefunden, die seinen Einsatz (auch) im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

rechtfertigt. Eine solche Prüfung ist im AMG nur indikationsbezogen vorgeschrieben und durchführbar; die von der<br />

Zulassung nach dem AMG ausgehende Schutzwirkung und Qualitäts- wie Wirksamkeitserwartung greift bei einem<br />

Einsatz des Medikaments außerhalb der Zulassung gerade nicht ein (vgl BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 21 RdNr 19;<br />

s auch BSG vom 3.2.2010 - B 6 KA 37/08 - RdNr 27 ff, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Soweit danach<br />

ein Vertragsarzt Verordnungen ohne gesicherten Nachweis von Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels<br />

ausstellt, muss zwingend nachträglich geprüft werden dürfen, ob die jeweilige Verordnung den Regeln des Rechts<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht. Wenn der Vertragsarzt davon absieht, in Fällen eines Off-Label-<br />

Use die Krankenkasse vor Ausstellung der Verordnung einzuschalten, wie es der Senat in einem Beschluss vom<br />

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31.5.2006 dargestellt hat (B 6 KA 53/05 B, MedR 2007, 557, 560), muss er hinnehmen, dass die Einhaltung der<br />

Vorgaben der vertragsärztlichen Versorgung im Nachhinein geprüft wird.<br />

Der Beklagte hält den Klägern - anders als diese nahe legen wollen - keine schuldhafte Verletzung<br />

vertragsärztlicher Pflichten vor, die nunmehr sanktioniert wird. Der Beklagte hat lediglich die Position der zu 2.<br />

beigeladenen Krankenkasse bestätigt, dass sie objektiv zu Unrecht erhebliche Kosten für die Versorgung des M.<br />

mit einem Immunglobulin aufgewandt hat. Weil die Kläger der Beigeladenen zu 2. keine Gelegenheit gegeben<br />

haben, ihre Auffassung zur Rechtmäßigkeit des Einsatzes von Immunglobulinen bei dem Versicherten M. vor<br />

Einlösung der Verordnungen darzulegen, muss es der Krankenkasse möglich sein, ihren Standpunkt nachträglich<br />

durchzusetzen, soweit er rechtlicher Prüfung standhält. Dazu sieht die PV im Einklang mit Bundesrecht das<br />

Verfahren der Regressfestsetzung vor. Soweit der Kläger zu 1. geltend macht, nach dem im Jahr 2000 geltenden<br />

Recht habe er zu Gunsten des M. kein Privatrezept ausstellen dürfen, weil das gegen § 29 Abs 1 Satz 2 BMV-Ä<br />

verstoßen hätte, folgt der Senat dem nicht. Der Beschluss des Senats vom 31.5.2006 (MedR 2007, 557), der<br />

diesen Weg aufgezeigt hat, ist zu Off-Label-Use-Verordnungen aus dem Jahr 1997 ergangen. Auch in den Jahren<br />

1997 und 2000 galt das Verbot, sich als Vertragsarzt vertragsärztliche Verordnungen einzeln genehmigen zu<br />

lassen; dieses Verbot hat sich - wie der Senat dargelegt hat - immer nur auf Verordnungen im Rahmen der<br />

Leistungspflicht der Krankenkassen bezogen. Wie die Rechtslage zu beurteilen wäre, wenn die Kläger zu Beginn<br />

des Jahres 2000 vergeblich bei der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen zu 2. angefragt und explizit um eine<br />

Entscheidung über das aus Sicht dieser Krankenkasse richtige Vorgehen gebeten hätten, kann offen bleiben. Die<br />

Kläger machen selbst nicht geltend, diesen Weg beschritten zu haben.<br />

f. Der vom Beklagten aufrecht erhaltene Regress ist schließlich nicht deshalb rechtswidrig, weil dem<br />

Versicherten M. bei Ausstellung der umstrittenen Verordnungen nach den Grundsätzen des Beschlusses des<br />

BVerfG vom 6.12.2005 (BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5) gegen die Rechtsvorgängerin der zu 2.<br />

beigeladenen Krankenkasse ein Anspruch auf Versorgung mit Polyglobin 5 % zugestanden hätte. Nach den<br />

Feststellungen des LSG liegen die tatsächlichen Voraussetzungen eines solchen, auf §§ 27 und 31 SGB V iVm<br />

Art 2 Abs 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip bzw Art 2 Abs 2 Satz 1 GG und der hieraus abzuleitenden<br />

Schutzpflicht gegründeten Anspruchs nicht vor. Diese Feststellungen des LSG sind für den Senat nach § 163<br />

SGG bindend, weil die dazu vom Kläger zu 2. angebrachte Rüge nicht durchgreift (unten 3.).<br />

Richtig ist allerdings der Ausgangspunkt der Revision: Wenn feststünde, dass M. nach den tatsächlichen<br />

Verhältnissen des Jahres 2000 einen Anspruch auf Versorgung mit Polyglobin als Sachleistung der Krankenkasse<br />

gehabt hätte, dürfte wegen der für diese Versorgung angefallenen Kosten kein Regress gegen die Kläger<br />

festgesetzt werden. Diese Konsequenz aus der Entscheidung des BVerfG hat der Senat bereits in seinem Urteil<br />

vom 5.11.2008 zu Wobe Mugos (SozR 4-2500 § 106 Nr 21; ebenso BSG MedR 2010, 276) inzident<br />

angesprochen und hält daran fest. Der verschuldensunabhängige Schadensersatzanspruch der Krankenkasse<br />

gegen einen Vertragsarzt wegen unzulässiger Arzneimittelverordnungen beruht im Kern darauf, dass die<br />

Krankenkasse einen Ausgleich für die Bezahlung von Medikamenten erhält, die sie bei korrektem Verhalten des<br />

Arztes nicht hätte finanzieren müssen. Wenn sich nachträglich herausstellt, dass der Versicherte, zu dessen<br />

Gunsten der Vertragsarzt die umstrittenen Verordnungen ausgestellt hat, auf die Versorgung mit dem verordneten<br />

Arzneimittel einen Anspruch gegen seine Krankenkasse hatte, ist dieser durch die Bezahlung dieses Arzneimittels<br />

dem Grunde nach jedenfalls kein Schaden entstanden, den der Vertragsarzt nunmehr ersetzen müsste. Lässt<br />

sich allerdings nicht mit hinreichender Gewissheit feststellen, dass die Voraussetzungen für einen<br />

ausnahmsweise gerechtfertigten Off-Label-Use vorgelegen haben, geht das zu Lasten des Arztes. Er rückt,<br />

obwohl er sich nach der Ausrichtung des Verfahrens gegen einen Regress wendet, hinsichtlich der Verteilung von<br />

Darlegungs- und Beweislast in die Stellung ein, die der Versicherte gehabt hätte, wenn er seinen Standpunkt zur<br />

der Verordnungsfähigkeit eines Arzneimittels gegen die Krankenkasse nach § 13 Abs 3 SGB V im Wege der<br />

Geltendmachung eines Kostenerstattungsanspruchs durchsetzen müsste. Wer geltend machen will, der<br />

Versorgungsanspruch umfasse in einer bestimmten Konstellation auch die Versorgung mit zugelassenen<br />

Arzneimitteln außerhalb der Zulassungsindikationen, dringt damit nicht durch, wenn sich unter Ausschöpfung aller<br />

Möglichkeiten zur Sachaufklärung nicht feststellen lässt, dass die dafür insbesondere in der Rechtsprechung des<br />

BVerfG und des BSG und inzwischen auch vom Gemeinsamen Bundesausschuss (§ 30 der Arzneimittel-<br />

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Richtlinie iVm Anlage VI) formulierten Voraussetzungen vorgelegen haben. Das ist auch hier der Fall und geht zu<br />

Lasten der Kläger.<br />

g. Das LSG ist in Übereinstimmung mit der Revision zutreffend davon ausgegangen, dass der Versicherte<br />

M. an einer schwerwiegenden Erkrankung (Hodenkarzinom) gelitten hat. Ob zu dessen kausaler Behandlung bei<br />

Fehlen einer allgemein anerkannten, medizinischem Standard entsprechenden Behandlungsmethode nach der<br />

Rechtsprechung des BVerfG ein Arzneimittel auch außerhalb seiner Zulassungsindikation hätte eingesetzt<br />

werden dürfen, wenn nach der vorhandenen Studienlage auf diese Weise die nicht ganz entfernt liegende<br />

Aussicht auf positive Behandlungserfolge bestanden hätte (BVerfGE 115, 25, 49 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr<br />

33), kann offen bleiben. Das nehmen die Kläger nämlich selbst für die Verordnung von Polyglobin nicht an. Sie<br />

gehen vielmehr davon aus, dass der Versicherte M. an einem Antikörpermangel litt, der unbehandelt eine<br />

Fortführung der notwendigen Chemotherapie erschwert hätte oder hat. Wenn die Rechtsprechung des BVerfG auf<br />

diese Konstellation Anwendung finden sollte, was der Senat entgegen der Auffassung des LSG nicht von<br />

vornherein für ausgeschlossen hält, müssen jedenfalls die Anforderungen an einen zulässigen Off-Label-Use<br />

entsprechend erfüllt sein. Es muss deshalb feststehen, dass der Patient neben der besonders schwerwiegenden<br />

Erkrankung (Karzinom) an einer weiteren Gesundheitsstörung gelitten hat, die die Anwendung aller zur<br />

Behandlung des Hauptleidens in Betracht kommenden Behandlungsmöglichkeiten ausschließt. Weiterhin muss<br />

der Off-Label-Einsatz des anzuwendenden Arzneimittels mit gewisser Wahrscheinlichkeit die zweite Erkrankung<br />

so beeinflussen, dass eine Erfolg versprechende Behandlung des Hauptleidens wieder oder erstmals möglich<br />

wird. Schließlich darf es für die zweite Erkrankung keine anerkannten Behandlungsmöglichkeiten - zB mit<br />

entsprechend zugelassenen Arzneimitteln - geben. Diese Voraussetzungen sind hier jedenfalls nicht - wie es<br />

notwendig wäre, um der Klage zum Erfolg zu verhelfen - kumulativ erfüllt.<br />

h. Erhebliche Zweifel bestehen bereits daran, ob das von den Klägern so bezeichnete "sekundäre<br />

Antikörpermangelsyndrom" eine eigenständige und hinreichende spezifische Erkrankung ist, die abgegrenzt vom<br />

Karzinomleiden behandelt werden kann und muss. Die Kläger haben dazu in den Tatsacheninstanzen nicht<br />

Präzises vorgetragen. Zudem steht nicht fest, dass M. an einem Antikörpermangelsyndrom litt, das<br />

schulmedizinisch nicht behandelbar war. Die zur Abstützung dieser Diagnose und des Ausmaßes der Erkrankung<br />

möglichen laborchemischen Untersuchungen haben die Kläger nach den Feststellungen des LSG nicht<br />

durchgeführt oder veranlasst. Dazu mögen sie - wie die Revision geltend macht - berufsrechtlich nicht verpflichtet<br />

gewesen sein. Sie haben damit aber im Hinblick auf den Off-Label-Use zur Unaufklärbarkeit des genauen<br />

Gesundheitszustandes des Versicherten M. im Jahr 2000 beigetragen. Das geht zu ihren Lasten.<br />

i. Außerdem fehlt es an ausreichenden Feststellungen bzw Belegen für das von den Klägern geltend<br />

gemachte Dilemma, die schwerwiegende Ersterkrankung nur durch die Behandlung der Zweiterkrankung mit<br />

Polyglobin 5 % therapieren zu können. Der Kläger zu 2. setzt schon die Anforderungen an den Nachweis einer<br />

eigenständigen Zweiterkrankung zu niedrig an. Der Versicherte M. litt nach den Ausführungen des Klägers zu 2.<br />

an einer "Verminderung der Immunitätslage" als Folge vor allem der aggressiven Chemotherapien. Einzelne<br />

Infektionen des Patienten hätten sie - die Kläger - als "Zeichen eines sekundären Antikörpermangels" gedeutet.<br />

Für diese Infektionen haben die Kläger im Verwaltungsverfahren oder in den Vorinstanzen jedoch nicht konkret<br />

und eingehend belegt, dass ihnen durch anerkannte Behandlungsmaßnahmen nicht hätte effektiv<br />

entgegengewirkt werden können. Spezifische Darlegungen dazu, die dann dem LSG ggf Anlass zu weiterer<br />

Sachaufklärung hätten geben können, waren vor allem deshalb unerlässlich, weil der Kläger zu 2. selbst einen<br />

Zusammenhang zwischen dem Krebsleiden und der Chemotherapie mit der geschwächten Immunitätslage des<br />

M. herstellt. Da nicht alle Patienten, deren Abwehrsystem durch Krebs und Chemotherapie geschwächt ist, mit<br />

Immunglobulin behandelt werden bzw nach dem gebotenen Behandlungsstandard behandelt werden müssen<br />

oder im Jahr 2000 so behandelt wurden oder behandelt werden mussten, hätten die Kläger fallbezogen und<br />

detailliert darlegen müssen, inwieweit sich die gesundheitliche Lage des M. von derjenigen anderer<br />

chemotherapeutisch behandelter Krebspatienten unterschied, und auf der Basis welcher exakten Befunde sie die<br />

Anwendung von Polyglobin 5 % für unerlässlich hielten. Das ist nicht geschehen und spricht dafür, dass sich die<br />

Kläger von der Gabe eines Immunglobulins ganz generell eine Stärkung der Abwehrlage des M. und damit<br />

mutmaßlich eine bessere Resistenz gegen Infektionen versprachen. Das reicht für einen Off-Label-Use, dessen<br />

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Zulässigkeit jedenfalls in Fällen der hier vorliegenden Art von dem Gesundheitszustand des konkreten Patienten<br />

abhängt, nicht aus.<br />

j. Schließlich ist die positive Wirkung, die die Kläger dem Einsatz von Immunglobulin bei fortgeschrittener<br />

Krebserkrankung zuschreiben, nach den Feststellungen des LSG nicht hinreichend belegt.<br />

Das LSG hat im Einzelnen dargestellt, dass die bis 1999 zum Einsatz von Immunglobulinen vorhandenen<br />

Studien und publizierten Forschungsergebnisse nicht darauf hindeuten, dass die Gesundheitsstörungen des<br />

Versicherten M. durch den Einsatz von Polyglobin erfolgreich behandelt werden konnten. Das LSG ist zutreffend<br />

von den in der Rechtsprechung des 1. Senats des BSG entwickelten Grundsätzen zum Anspruch der<br />

Versicherten auf Versorgung mit (in Deutschland oder der EU) nicht zugelassenen Arzneimitteln (dazu BSGE 96,<br />

170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4) oder mit Arzneimitteln außerhalb zugelassene Indikationen (BSGE 89, 184 = SozR<br />

3-2500 § 31 Nr 8) ausgegangen. Es hat näher ausgeführt, dass keine wissenschaftliche Arbeit vorliege oder von<br />

den Klägern benannt sei, in der der zulassungsüberschreitende Einsatz von Immunglobulinen zur Behandlung<br />

einer auf der Intoleranz von Chemotherapeutika beruhenden Erkrankung als medizinisch geboten bewertet wird.<br />

Einen Konsens der einschlägigen Fachkreise, dass Polyglobin ein sekundäres Antikörpersyndrom positiv<br />

beeinflussen könne, hat das LSG gerade nicht feststellen können. Soweit die Revision die vorhandenen<br />

medizinischen Unterlagen lediglich anders würdigt, vermag sie damit die Feststellungen iS des § 163 SGG nicht<br />

zu entkräften.<br />

Soweit der Kläger zu 2. die Sachaufklärung des LSG zu den Erfolgsaussichten der Behandlung mit<br />

Immunglobulinen für unzureichend hält, berücksichtigt er nicht hinreichend, dass sich der 1. Senat des BSG<br />

bereits mehrfach mit dem Anspruch der Versicherten auf Versorgung mit Immunglobulinen befasst hat. In den<br />

Urteilen vom 19.3.2002 (BSGE 89, 184 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8), vom 27.3.2007 (B 1 KR 17/06 R) und vom<br />

28.2.2008 (SozR 4-2500 § 13 Nr 16), die sämtlich die Versorgung mit Immunglobulinpräparaten - jeweils bezogen<br />

auf die Indikation Multiple Sklerose - zum Gegenstand hatten, wird der Stand der medizinischen Forschung zu<br />

dieser Wirkstoffgruppe für die streitbefangenen Jahre 1997 bis 2003 eingehend aufgearbeitet. Zwar können die<br />

Forschungsergebnisse zur Möglichkeit, durch die Gabe von Immunglobulinen die Multiple Sklerose günstig zu<br />

beeinflussen, nicht ohne Weiteres auf die hier zu beurteilende Situation der unterstützenden Behandlung bei<br />

Krebserkrankungen übertragen werden, doch sind die Wirkungen und die in Frage kommenden Indikationen für<br />

Immunglobulin bezogen auf den hier relevanten Zeitraum gut erforscht und die Forschungsergebnisse - soweit<br />

krankenversicherungsrechtlich von Bedeutung - in der Rechtsprechung des BSG umfassend rezipiert worden.<br />

Zudem sind die Urteile des 1. Senats des BSG vom 27.3.2007 und vom 28.2.2008 Gegenstand der<br />

verfassungsgerichtlichen Prüfung gewesen. Mit Kammerbeschlüssen vom 30.6.2008 (1 BvR 1665/07 zum BSG-<br />

Urteil B 1 KR 17/06 R) und vom 8.7.2009 (1 BvR 1531/09 zum BSG-Urteil B 1 KR 15/07 R) sind die<br />

Verfassungsbeschwerden der unterlegenen Kläger jeweils nicht zur Entscheidung angenommen worden. Beide<br />

Kammerbeschlüsse sind auf der Basis der grundlegenden Entscheidung des BVerfG vom 6.12.2005 ergangen<br />

und billigen insbesondere, dass die Rechtsprechung des BSG strenge Anforderungen an den Nachweis stellt,<br />

dass mit dem zulassungsüberschreitenden Einsatz des jeweils betroffenen Arzneimittels hinzureichende<br />

Erfolgsaussichten verbunden sein müssen (BVerfG vom 30.6.2008 - 1 BvR 1665/07 - NJW 2008,<br />

3556 f RdNr 9 bis 11). Es reicht danach als Grundlage für einen Off-Label-Use von Arzneimitteln in der<br />

gesetzlichen Krankenversicherung nicht aus, dass positive Folgen einer solchen Behandlung nach dem<br />

Wirkungsmechanismus von Immunglobulinen nicht schlechthin ausgeschlossen werden können, dass Patienten<br />

in Einzelfällen nach Verabreichung der umstrittenen Medikamente eine Verbesserung ihres Befindens<br />

beschreiben und dass einzelne Ärzte oder Wissenschaftler mit plausiblen Gründen einen von der verbreiteten<br />

Auffassung abweichenden Standpunkt zu den Erfolgsaussichten einer Behandlung vertreten. Bei Zugrundelegung<br />

dieser Maßstäbe und im Hinblick auf die schon vorliegende Rechtsprechung des 1. Senats des BSG ist die<br />

Sachverhaltsermittlung des Berufungsgerichts ausreichend.<br />

3. Ohne Erfolg macht der Kläger zu 2. schließlich geltend, das LSG hätte einem Beweisantrag vom<br />

12.3.2009, den er in der mündlichen Verhandlung explizit aufrechterhalten hat, nachkommen und ein Gutachten<br />

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zur Wirkung von Polyglobin 5 % einholen müssen. Das LSG ist diesem Antrag mit hinreichender Begründung<br />

nicht gefolgt.<br />

Grundsätzlich liegt es im Ermessen des Gerichts, ob es dem Antrag auf Einholung eines Gutachtens oder<br />

eines weiteren Gutachtens nachkommt. Der für andere Beweismittel wie insbesondere den Zeugenbeweis<br />

geltende Grundsatz, dass eine Beweiswürdigung nicht vorweggenommen werden darf, gilt nicht für die Frage der<br />

Einholung von Sachverständigengutachten. Hier darf das Gericht unter Hinweis darauf, dass von einem<br />

Sachverständigengutachten keine (weiteren) Erkenntnisse zu erwarten seien, weil das Gericht ausreichend<br />

eigene Sachkunde habe oder weil ihm bereits ausreichende sachverständige Erkenntnisse vorliegen, dessen<br />

Einholung ablehnen. Das Gericht übt sein Ermessen nur dann fehlerhaft aus, wenn sich ihm die Notwendigkeit<br />

der Einholung eines Sachverständigengutachtens hätte aufdrängen müssen (s zB BVerwG NVwZ 1993, 268;<br />

BVerfG NVwZ 2009, 320, RdNr 4; BVerwG NJW 2009, 2614 RdNr 7; BSG SozVers 2002, 218 f; ebenso BSG<br />

vom 17.3.2010 - B 6 KA 23/09 B - RdNr 29). Ein solcher Ausnahmefall hat hier nicht vorgelegen. Das LSG hat in<br />

seiner Entscheidung dargelegt, warum es keinen weiteren Aufklärungsbedarf gesehen hat. Dabei spielt eine<br />

Rolle, dass zur Wirksamkeit von Immunglobulinen im (auch) hier betroffenen Zeitraum zahlreiche Entscheidungen<br />

des BSG ergangen sind, wie oben (unter 2. j.) näher dargelegt worden ist.<br />

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 154 Abs 1 iVm § 155 Abs 1 VwGO<br />

und berücksichtigt die unterschiedliche wirtschaftliche Betroffenheit der Kläger zu 2. und 3. Die außergerichtlichen<br />

Kosten der zu 1. beigeladenen KÄV sind nach § 162 Abs 3 VwGO nicht erstattungsfähig, weil diese keine Anträge<br />

gestellt hat (vgl BSGE 96, 257 = SozR 4-1300 § 63 Nr 3, RdNr 16).<br />

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 3.2.2010, B 6 KA 37/08 R Der vom Vertragsarzt angefochtene<br />

Arzneikostenregress ist nicht zu beanstanden.<br />

Vertragsärztliche Versorgung - Regressbescheid gegen Gemeinschaftspraxis - Anfechtung durch ein Mitglied<br />

dieser Praxis - Frist für Prüfanträge in Prüfvereinbarung - keine Voraussetzung für Rechtmäßigkeit eines<br />

Arzneikostenregresses - Voraussetzung für Verordnung von Rezepturarzneimitteln bei Nichtvorliegen einer<br />

positiven Empfehlung iS des § 135 Abs 1 SGB 5 - Verordnungsregress setzt grundsätzlich kein Verschulden des<br />

Arztes noch eine Ermessensausübung der Prüfgremien voraus - keine Gegenrechnung der hypothetischen<br />

Kosten mit anderer zulässiger Therapie<br />

Tatbestand<br />

Streitig ist die Rechtmäßigkeit von Regressbescheiden wegen der Verordnung autologer Tumorvakzine<br />

(Quartale II und III/1998, I, II und IV/1999).<br />

Der Kläger zu 1. betrieb bis zum Quartal III/1999 zusammen mit dem Kläger zu 2. eine<br />

Gemeinschaftspraxis, die danach in eine Praxisgemeinschaft umgewandelt wurde. Beide waren bzw sind als<br />

Fachärzte für Innere Medizin im Bezirk der zu 1. beigeladenen Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) zur<br />

vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Gegen sie bzw gegen die von ihnen geführte Gemeinschaftspraxis<br />

ergingen Regressbescheide, weil sie in den Quartalen II und III/1998, I, II und IV/1999 autologe Tumorvakzine<br />

verordnet hatten, ohne dass sie dazu berechtigt gewesen seien. Die jeweiligen Patienten waren bzw sind bei den<br />

zu 2., 9. bis 11. beigeladenen Krankenkassen (KKn) - bzw bei deren Rechtsvorgängern - versichert.<br />

Die Verordnungen betrafen das Therapieverfahren der sogenannten aktiv-spezifischen Immunisierung<br />

(ASI) mit autologen Tumorvakzinen (Impfungen mit eigenem Körperzellmaterial) bei Patienten, die an Darmkrebs,<br />

Nierenkrebs oder Osteosarkom litten. Die Gewinnung autologer Tumorvakzine wird als sogenanntes<br />

Rezepturarzneimittel auf Rezeptblättern verordnet und erfolgt für jeden Patienten individuell aus seinen<br />

körpereigenen Tumorzellen. Die Bearbeitung und die Injektion der Zellen führte für die Kläger der damalige<br />

Pharmahersteller macropharm GmbH bzw für diese Firma der Arzt Dr. N. durch. Dabei fielen je Verordnung bzw<br />

Verordnungsserie ca 15.000 DM an. Das vorliegende Revisionsverfahren betrifft insgesamt zehn solcher<br />

Verordnung(sseri)en.<br />

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Die wegen dieser Verordnungen ergangenen Regressbescheide bestätigte - unter Zurückweisung der<br />

Widersprüche der Kläger - der beklagte Beschwerdeausschuss. Im Verlauf des sozialgerichtlichen<br />

Klageverfahrens ersetzte der Beklagte seine Bescheide durch neue Bescheide vom 9.11.2002. Hierin führte er<br />

unter Bezugnahme auf § 106 SGB V aus, dass er von einer vorgängigen Beratung habe absehen können, weil<br />

die Kläger - bereits seit 1992 bzw 1997 vertragsärztlich tätig - über das Wirtschaftlichkeitsgebot ausreichend<br />

informiert gewesen seien. Zur ASI mit autologen Tumorvakzinen habe es keine Anwendungsempfehlung des<br />

Bundesausschusses der Ärzte und KKn (BA - heute Gemeinsamer Bundesausschuss ) gegeben.<br />

Der BA beschloss am 10.4.2000 die Zuordnung der ASI zu den nicht anerkannten Behandlungsmethoden<br />

(s Richtlinien über die Bewertung ärztlicher Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gemäß § 135 Abs 1 SGB<br />

V mit der Anfügung der Nr 29 in die Anlage B "nicht anerkannte Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden",<br />

BAnz Nr 137 vom 25.7.2000 S 14470 = DÄ 2000, C 1828).<br />

Das von den Klägern angerufene SG hat ihre Klagen abgewiesen (Gerichtsbescheide vom 18.8.2003, vom<br />

26.8.2003, vom 27.8.2003, vom 8.10.2003, vom 29.10.2003, vom 20.11.2003, vom 19.11.2003 und vom<br />

2.12.2003). Mit ihren dagegen gerichteten Berufungen sind die Kläger nur zu einem geringen Teil erfolgreich<br />

gewesen. Das LSG, das die Berufungsverfahren zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung verbunden hat,<br />

hat mit Urteil vom 27.8.2008 auf die Berufung des Klägers zu 2. den Bescheid des Beklagten vom 9.11.2002<br />

insoweit aufgehoben, als dieser einen Regress wegen der Verordnung im Quartal IV/1999 auch gegen den Kläger<br />

zu 2. ausgesprochen hatte (L 3 KA 484/03 - in Juris dokumentiert): Hierzu hat das LSG ausgeführt, die<br />

Gemeinschaftspraxis habe nur bis zum Quartal III/1999 bestanden und daher habe der Kläger zu 2. diese<br />

Verordnung nicht mehr mitzuverantworten, vielmehr habe der Kläger zu 1. sie allein vorgenommen.<br />

Im Übrigen hat das LSG in seinem Urteil vom 27.8.2008 die Berufungen der Kläger zurückgewiesen. Der<br />

Bescheid vom 9.11.2002, der alleiniger Gegenstand des Verfahrens sei (§ 96 SGG), sei hinsichtlich des Klägers<br />

zu 2. im Übrigen rechtmäßig und hinsichtlich des Klägers zu 1. insgesamt rechtmäßig. Der auf eine<br />

Einzelfallprüfung nach § 106 SGB V gestützte Regress sei sowohl in formeller als auch in inhaltlicher Hinsicht<br />

nicht zu beanstanden. Weder hätte zunächst eine Beratung durchgeführt werden müssen, noch stehe dem<br />

Regress eine Überschreitung der Prüfantragsfrist entgegen. Die inhaltliche Rechtmäßigkeit der Bescheide ergebe<br />

sich daraus, dass eine Leistungspflicht der KKn für die ASI nicht bestanden habe. Für diese habe es keine<br />

Empfehlung des BA oder des G-BA gemäß § 135 Abs 1 Satz 1 SGB V gegeben. Es habe sich auch nicht um<br />

Fälle seltener Krankheiten im Sinne der Rechtsprechung des BSG zu ausnahmsweise zulässigen sogenannten<br />

Einzelimporten gehandelt. Zwar seien die betroffenen Patienten im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG<br />

lebensbedrohlich erkrankt; sie hätten an metastasierenden bzw rezidivierenden Karzinomerkrankungen mit<br />

infauster Prognose gelitten. Die ASI sei allerdings nur adjuvant zur Lebensverlängerung eingesetzt worden. Es<br />

fehle sowohl an Darlegungen zur Nichteignung der allgemein anerkannten medizinischen Standardmaßnahmen<br />

als auch an ernsthaften Hinweisen dafür, dass die umstrittene Therapie Aussicht auf positive Einwirkung geboten<br />

habe, was erhebliche ernsthafte Hinweise auf einen Wirkungszusammenhang erfordere. Wirksamkeitsbelege mit<br />

Aussagekraft für die hier zum Einsatz gebrachten Tumorvakzine der Firma macropharm ergäben sich indessen<br />

aus den von den Klägern angeführten Phase-III-Studien nicht. Die von der Firma macropharm selbst<br />

veröffentlichte Studie von R. reiche nicht aus, denn sie weise methodische Unzulänglichkeiten auf, wie bereits ein<br />

LSG und das BSG ausgeführt hätten. Ferner fehle es an der erforderlichen Dokumentation durch die Kläger.<br />

Diese hätten lediglich nachträglich kurze Zusammenfassungen angefertigt, zudem habe die verantwortliche<br />

Behandlung jedenfalls in einigen Fällen nach ihren eigenen Berichten nicht bei ihnen gelegen, sondern bei Dr. N.<br />

Im Übrigen gebe es Zweifel, ob es sich nicht um ein Massenexperiment gehandelt habe, das als Heilversuch den<br />

Anforderungen der Deklaration von Helsinki mit vorheriger Anhörung der Ethik-Kommission und ausdrücklicher<br />

Einwilligung der Patienten hätte Rechnung tragen müssen. Schließlich könne zur Rechtfertigung der ASI nicht auf<br />

ein sogenanntes Systemversagen wegen verspäteter Entscheidung des BA zurückgegriffen werden. Dies komme<br />

allenfalls in Betracht, wenn die Wirksamkeit der Therapie durch wissenschaftlich einwandfrei geführte Statistiken<br />

aufgrund einer ausreichenden Anzahl von Behandlungsfällen belegt gewesen sei. Solche Belege hätten bis<br />

1998/1999 nicht vorgelegen, wie sich daraus ableiten lasse, dass der BA kurze Zeit später (10.4.2000) festgestellt<br />

habe, dass es an ausreichenden Wirksamkeitsnachweisen fehle; dies habe auch das BSG in seiner ASI-<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 289


Entscheidung vom 28.3.2000 so bestätigt. Auch dafür, dass sich die ASI 1998/1999 wenigstens in der<br />

medizinischen Praxis durchgesetzt habe, lägen keine ausreichenden Belege vor. Aufgrund der nach alledem zu<br />

verneinenden Leistungspflicht der KKn für die ASI könne der bei den KKn entstandene Schaden regressiert<br />

werden. Wie sich aus der Rechtsprechung des BSG ergebe, sei weder Raum für den Gesichtspunkt, dass ohne<br />

den Einsatz der Tumorvakzine - durch andere Behandlungsmaßnahmen - ebenfalls Kosten entstanden wären<br />

(sogenannte Vorteilsausgleichung), noch sei bei Verordnungsregressen, die auf § 106 SGB V gestützt seien, ein<br />

etwaiges Fehlen von Verschulden bedeutsam.<br />

Der Kläger zu 1. hat allein Revision eingelegt. Er rügt sinngemäß eine falsche Anwendung des § 106 SGB<br />

V in formeller und materieller Hinsicht. Entgegen der Auffassung des LSG sei der Prüfantrag nicht fristgerecht mit<br />

hinreichender Begründung gestellt worden. Auch in materieller Hinsicht sei der Regress nicht rechtmäßig. Die<br />

Auffassung, er und sein Partner, der Kläger zu 2., hätten die ASI nicht verordnen dürfen, treffe nicht zu. Als<br />

zulassungsfreie Rezepturarzneimittel hätten die Tumorvakzine keiner Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz<br />

(AMG) bedurft. Das LSG habe nicht ausreichend berücksichtigt, dass der BA durch sein Schreiben vom 7.6.1999<br />

die Tumorvakzine vorläufig als verordnungsfähig anerkannt habe. Auch wenn dieses Schreiben nicht die<br />

rechtliche Form einer Richtlinie habe, sei es zumindest im Rahmen des Vertrauensschutzes bzw Ermessens bei<br />

der Regressentscheidung bis zu der ablehnenden Entscheidung des BA vom 10.4.2000 maßgebend gewesen.<br />

Das LSG habe auch die Vorgaben des BVerfG vom 6.12.2005 und des sogenannten Systemversagens fehlerhaft<br />

verneint. Die Annahme, die vorliegenden statistischen Wirksamkeitsnachweise seien auf die Vakzine der Firma<br />

macropharm nicht übertragbar, leide an Defiziten der Sachverhaltsaufklärung. Soweit das LSG der Auffassung<br />

sei, die Vakzine der Firma macropharm unterschieden sich wesentlich von denen, zu denen die<br />

Wirksamkeitsnachweise vorgelegen hätten, hätte dem zumindest ein Hinweis an die Kläger vorausgehen müssen,<br />

damit klägerseits hätte weiter vorgetragen werden können. Die Ansicht des LSG stehe im Gegensatz zu den<br />

Feststellungen des Gerichtsgutachters in dem früheren Verfahren des LSG Niedersachsen und der Studie von<br />

Vermorken von 1999. Auch gehe es nicht an, die bei unerklärten Krankheiten geminderten Anforderungen an ein<br />

Systemversagen bei Krebserkrankungen mit hohen Erkrankungszahlen außer Anwendung zu lassen. Jedenfalls<br />

bei Nieren- und Darmkrebs könne nicht einfach von der Zahl der Erkrankungen auf eine Klärung von Entstehung<br />

und Verlauf geschlossen werden. Zu beanstanden sei ferner das Erfordernis, die ASI könne nur dann als<br />

verordnungsfähig anerkannt werden, wenn auch eine substantiierte Dokumentation erfolgt sei. Derartige<br />

Dokumentationen seien vor 10 Jahren noch nicht üblich gewesen und könnten nicht jetzt nachträglich gefordert<br />

werden. In Fällen der vorliegenden Art dürfe nur eine Schlüssigkeit gefordert werden. Dem genügten seine - des<br />

Klägers zu 1. - Darlegungen, dass es sich bei den Krebserkrankungen in jedem Einzelfall um unheilbare<br />

Erkrankungen gehandelt habe, bei denen die ASI eine nicht fern liegende Aussicht auf Heilung bzw jedenfalls<br />

Linderung versprochen habe. Die Anforderung einer Dokumentation passe auch nicht zur Durchführung einer<br />

Einzelfallprüfung. Diese gebiete nötigenfalls die Heranziehung der Patienten. Insofern liege ein Mangel der<br />

Sachaufklärung vor. Schließlich sei zu beanstanden, dass das LSG das Erfordernis eines Verschuldens und<br />

einen Ermessensspielraum der Prüfgremien verneint habe. Dies sei weder mit § 106 Abs 5 SGB V noch mit dem<br />

verfassungsrechtlichen Willkür- und Übermaßverbot vereinbar. Die Prüfgremien müssten im Rahmen der von<br />

ihnen geforderten wertenden Entscheidung eine Verschuldensprüfung vornehmen oder jedenfalls eine<br />

Ermessensentscheidung mit einer Abwägung zwischen den Gemeinwohlbelangen und den Auswirkungen auf den<br />

betroffenen Arzt treffen. Eine Haftung könne im Falle bösgläubiger Ärzte berechtigt sein, aber nicht bei schuldlos<br />

handelnden wie den Klägern, die in nachvollziehbarem Vertrauen subjektiv rechtstreu gehandelt hätten. Ein<br />

Regress stelle sich als "maßlose" Haftung des Vertragsarztes dar, die einer Garantiehaftung für ein Verhalten von<br />

vor 10 Jahren gleichkomme und zur Wahrung der Wirtschaftlichkeit weder erforderlich noch verhältnismäßig sei.<br />

Der Kläger zu 1. beantragt,<br />

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 27.8.2008 und die Gerichtsbescheide des<br />

Sozialgerichts Hannover vom 18.8.2003, 26.8.2003, 27.8.2003, 8.10.2003, 29.10.2003 und 19.11.2003 sowie die<br />

Bescheide des Beklagten vom 9.11.2002 aufzuheben,<br />

hilfsweise,<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 290


das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 27.8.2008 aufzuheben und die Sache an das<br />

Landessozialgericht zurückzuverweisen.<br />

Der Beklagte beantragt,<br />

die Revision zurückzuweisen.<br />

Die Beigeladene zu 2. beantragt ebenfalls, wie sie schriftsätzlich ausgeführt hat,<br />

die Revision zurückzuweisen.<br />

Der Beklagte und die Beigeladenen zu 1., 2., 6., 9. und 10. verteidigen das Urteil des LSG.<br />

Die übrigen Beigeladenen äußern sich im Revisionsverfahren nicht.<br />

Entscheidungsgründe<br />

Die Revision des Klägers zu 1. ist sowohl im Haupt- als auch im Hilfsantrag unbegründet. Das<br />

angefochtene Urteil des LSG lässt keine Verletzung von Bundesrecht erkennen. Der angefochtene<br />

Arzneikostenregress ist nicht zu beanstanden.<br />

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die neuen Widerspruchsbescheide des Beklagten vom<br />

9.11.2002, mit denen dieser - seine früheren Bescheide gemäß § 96 SGG ersetzend - die Widersprüche gegen<br />

die Regressbescheide des Prüfungsausschusses wegen Verordnung autologer Tumorvakzine im Rahmen von<br />

ASI-Behandlungen zurückgewiesen, dh die Regressforderungen des Prüfungsausschusses bestätigt hat (zur<br />

Anfechtung nur des Widerspruchsbescheids vgl stRspr des BSG, zB BSGE 72, 214, 219 f = SozR 3-1300 § 35 Nr<br />

5 S 10 f; BSGE 74, 59, 60 = SozR 3-2500 § 106 Nr 22 S 118 f). Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die<br />

Bescheide allerdings nur insoweit, als sie sich gegen den Kläger zu 1. gerichtet haben. Der Kläger zu 2. hat das<br />

Urteil des LSG nicht angefochten; deshalb sind die Bescheide, soweit sie gegen ihn gerichtet worden sind,<br />

bestandskräftig.<br />

Da nur noch der Kläger zu 1. das Verfahren im Revisionsverfahren weiter betreibt, stellt sich hier nicht die<br />

Frage, ob die Mitglieder der Gemeinschaftspraxis im Rubrum als Gemeinschaftspraxis zu führen sind. Die<br />

Befugnis des Klägers zu 1., sowohl die Revision als auch die zugrunde liegende Anfechtungsklage allein zu<br />

führen, ist nicht zweifelhaft. Er ist persönlich haftender Schuldner für Forderungen gegen die<br />

Gemeinschaftspraxis, die sich zB im Falle rechtswidrigen Behandlungs- oder Verordnungsverhaltens von<br />

Praxispartnern ergeben (vgl hierzu zB BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 6 RdNr 21 f; BSG SozR 4-5555 § 15 Nr 1<br />

RdNr 15; BSG SozR 4-1500 § 141 Nr 1 RdNr 17 mwN; - zum fiktiven Fortbestehen der Gemeinschaftspraxis für<br />

schwebende Auseinandersetzungen um Forderungen und Verbindlichkeiten s § 730 Abs 2 Satz 1 BGB und BSG<br />

SozR 4-2500 § 87 Nr 15 RdNr 14; BSGE 98, 89 = SozR 4-2500 § 85 Nr 31, RdNr 11; BSG SozR 4-1500 § 141 Nr<br />

1 RdNr 17). Als Gesellschafter muss er für solche Forderungen gegen die Gemeinschaftspraxis auch in eigener<br />

Person einstehen (s zB Sprau in Palandt, BGB, 69. Aufl 2010, § 714 RdNr 10 ff mwN; vgl auch zB BSG SozR 4-<br />

2500 § 106 Nr 6 RdNr 22). Er kann Forderungen, die gegenüber der Gemeinschaftspraxis geltend gemacht<br />

werden, wahlweise zusammen mit seinen Praxispartnern gemeinschaftlich abwehren, oder er kann sie - sowohl<br />

wenn sie nur gegenüber der Gemeinschaftspraxis als auch wenn sie auch ihm selbst gegenüber geltend gemacht<br />

werden - allein abwehren (BSGE 89, 90, 92 f = SozR 3-2500 § 82 Nr 3 S 5; vgl auch BSG, MedR 2004, 172). Aus<br />

der Befugnis, eigenständig zu handeln, folgt zugleich, dass der Mitgesamtschuldner weder als sogenannter<br />

notwendiger Streitgenosse einbezogen noch notwendig beigeladen werden muss (so auch BSGE aaO mwN). Die<br />

eigenständige Anfechtungsbefugnis und Aktivlegitimation steht dem Kläger zu 1. nicht nur gegenüber denjenigen<br />

Regressforderungen zu, die die Verordnungen in den Quartalen II und III/1998 sowie I und II/1999 betreffen,<br />

sondern ohnehin auch gegenüber der Regressforderung für die Verordnung(sserie) im Quartal IV/1999, als die<br />

Gemeinschaftspraxis bereits aufgelöst war.<br />

2. Rechtsgrundlage des Arzneikostenregresses ist § 106 Abs 2 SGB V (hier zugrunde zu legen in der<br />

Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21.12.1992, BGBl I 2266, die in den Jahren 1998 und 1999 galt;<br />

zur Maßgeblichkeit des § 106 Abs 2 SGB V vgl BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 21 und MedR 2010, 276, jeweils<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 291


RdNr 14 mwN). Danach wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung unter anderem durch arztbezogene Prüfungen<br />

ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen, entweder nach Durchschnittswerten oder anhand von<br />

Richtgrößenvolumina (aaO Nr 1) und/oder auf der Grundlage von Stichproben (aaO Nr 2), geprüft. Über diese<br />

Prüfungsarten hinaus können die Landesverbände der KKn mit den KÄVen gemäß § 106 Abs 2 Satz 4 SGB V<br />

andere arztbezogene Prüfungsarten vereinbaren (vgl BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 17 RdNr 12 f mwN; BSG SozR<br />

4-2500 § 106 Nr 21 RdNr 14). Diese Prüfvereinbarungen (PrüfVen) ermächtigen regelmäßig auch zu<br />

Einzelfallprüfungen. Diese waren auch in § 9 Abs 3, § 12 Abs 6 ff der hier einschlägigen PrüfV vorgesehen (vgl<br />

zur Nicht-Revisibilität der Feststellung und Auslegung von Landesrecht § 162 SGG, dazu zB BSG SozR 4-2500 §<br />

106 Nr 21 RdNr 14 mwN). Einzelfallprüfungen sind insbesondere dann sachgerecht - und die Wahl dieser<br />

Prüfmethode daher rechtmäßig -, wenn das individuelle Vorgehen eines Arztes in bestimmten einzelnen<br />

Behandlungsfällen hinsichtlich des Behandlungs- oder Verordnungsumfangs am Maßstab des<br />

Wirtschaftlichkeitsgebots überprüft werden soll (s BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 21 RdNr 14).<br />

3. Die durchgeführten Einzelfallprüfungen lassen Rechtsfehler nicht erkennen. Weder die vom Kläger<br />

erhobenen formellen Rügen (nachfolgend a) noch seine materiellen Beanstandungen (unten b) greifen durch.<br />

a) Der Senat folgt nicht der Ansicht des Klägers zu 1., das Prüf- und Regressverfahren hätte hinsichtlich<br />

derjenigen Quartale, für welche die Prüfanträge erst nach Ablauf der in der PrüfV normierten Frist gestellt worden<br />

seien, nicht durchgeführt werden dürfen. Zwar galt nach § 12 Abs 6 PrüfV (hier zugrunde zu legen in der Fassung<br />

vom 24.6.1996) eine Frist von zwölf Monaten nach Quartalsende; innerhalb dieser Frist konnten die KKn die<br />

Prüfung der Verordnungsweise nach Einzelfällen beantragen. Aus einer Versäumung dieser Frist kann aber nicht<br />

abgeleitet werden, das Prüf- und Regressverfahren dürfe nicht durchgeführt werden.<br />

Der Senat hat bereits früher dargelegt, dass solche Fristen nicht zum Schutz des Arztes im Sinne eines<br />

Ausschlusses der Verfahrensdurchführung normiert sind, sondern dass sie - auch im Interesse des Arztes - der<br />

Verfahrensbeschleunigung dienen, also dem Interesse an effektiver Verfahrensdurchführung (s insbesondere<br />

BSG USK 9596 S 526; vgl auch BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 28 S 159 f zur Zulässigkeit späterer<br />

Antragsnachholung). Wird der Antrag zu spät gestellt, so ist damit dem Interesse an einer<br />

Verfahrensbeschleunigung nicht Rechnung getragen. Daraus aber ein Hindernis für die Verfahrensdurchführung<br />

überhaupt abzuleiten, liefe der Zielrichtung der Regelungen und im Übrigen auch dem hohen Rang des<br />

Wirtschaftlichkeitsgebots mit dem daraus folgenden Ziel möglichst effektiver Verhinderung unwirtschaftlicher<br />

Behandlungs- oder Verordnungsweise zuwider.<br />

Dem Interesse des Vertragsarztes, nicht damit rechnen zu müssen, dass noch nach Jahr und Tag ein<br />

Prüf- und Regressverfahren gegen ihn eingeleitet wird, dient eine andere Frist, nämlich die generell für<br />

vertragsärztliche Prüf- und Regressverfahren bestehende Vier-Jahres-Frist (zu dieser Frist allgemein zB BSGE<br />

96, 1 = SozR 4-2500 § 85 Nr 22, RdNr 14; BSGE 97, 84 = SozR 4-2500 § 106 Nr 15, RdNr 12 ff; BSG MedR<br />

2008, 100, 101 f RdNr 16 ff; vgl jetzt § 106 Abs 2 Satz 7 Halbs 2 SGB V zur Frist von zwei Jahren für<br />

Verordnungsregresse wegen Überschreitung von Richtgrößenvolumina). Von dieser Ausschlussfrist und ihrer<br />

Funktion unterscheidet sich die Zwölf-Monate-Frist für die Stellung des Prüfantrags mit ihrer Ausrichtung auf<br />

Beschleunigung. Würde aus deren Versäumung ein Verfahrenshindernis abgeleitet werden, so würde ihr die<br />

Funktion beigemessen, die allein der Vier-Jahres-Frist zukommt.<br />

Hat mithin die Nichteinhaltung der Zwölf-Monats-Frist nicht die Wirkung eines Verfahrenshindernisses, so<br />

kommt es vorliegend nicht darauf an, ob diese Frist in einem der Regressfälle überschritten wurde. Im Übrigen<br />

beginnt sie gemäß § 12 Abs 6 PrüfV jeweils erst ab Quartalsende. Daher wurde sie vorliegend auch ohnehin nur<br />

in wenigen Fällen - und jeweils auch nur um wenige Tage - überschritten (Eingang der KK-Anträge für das Quartal<br />

II/1998 erst am 12.7.1999 - Fall 2 - und am 20.7.1999 - Fall 1 - und für das Quartal II/1999 erst am 3.7.2000 - Fall<br />

6 -; zu diesen Feststellungen s LSG Niedersachsen-Bremen vom 27.8.2008 - L 3 KA 484/03 - Juris RdNr 4 bis 9<br />

iVm 37).<br />

Soweit der Kläger zu 1. der Ansicht ist, entsprechend dem Grundsatz "Beratung vor Regress" hätte kein<br />

Regress, sondern nur eine Beratung erfolgen dürfen, trifft das nicht zu. Für Prüfungen der Wirtschaftlichkeit der<br />

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Behandlungs- und Verordnungsweise ist eine vorgängige Beratung gemäß § 106 Abs 5 Satz 2 SGB V dann nicht<br />

erforderlich, wenn dem Arzt ein Mehraufwand im Ausmaß eines sogenannten offensichtlichen Missverhältnisses<br />

anzulasten ist (vgl BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 21 und BSG MedR 2010, 276, jeweils RdNr 27 mit Hinweis auf<br />

BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 53 S 296; SozR 4-2500 § 106 Nr 1 RdNr 19; BSG MedR 2004, 577, 578 f). Noch<br />

weniger ist eine vorgängige Beratung dann geboten, wenn nicht Unwirtschaftlichkeiten durch einen zu hohen<br />

Aufwand, sondern einzelne Fälle gänzlich unzulässiger Verordnungen in Frage stehen, wenn also dem Arzt das<br />

Fehlen der Arzneimittelzulassung des verordneten Medikaments, ein unzulässiger Off-Label-Use, eine<br />

Verordnung entgegen einem Verordnungsausschluss durch die Arzneimittel-Richtlinie (AMRL) oder die<br />

Unvereinbarkeit einer Verordnung mit den Vorgaben des § 135 Abs 1 SGB V angelastet wird, also in Fällen, in<br />

denen ein sogenannter Basismangel vorliegt (vgl hierzu BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 21 und BSG MedR 2010,<br />

276, jeweils RdNr 27 am Ende; - zu solchen Verordnungsregressfällen vgl Clemens in<br />

Schlegel/Voelzke/Engelmann, , jurisPraxisKommentar SGB V, 2008, § 106 RdNr 53 ff, 56 ff, 71 ff).<br />

Dementsprechend ist in der hier einschlägigen PrüfV ausdrücklich geregelt, dass im Falle von Verordnungen<br />

unter Verstoß gegen die Arznei-, Heil- und Hilfsmittel-Richtlinien Regressfestsetzungen keine vorherige Beratung<br />

voraussetzen (§ 12 Abs 10 iVm Abs 12 PrüfV). Die dem gleichwertige Konstellation des Vorwurfs der<br />

Unvereinbarkeit von Verordnungen mit den Vorgaben des § 135 Abs 1 SGB V ist hier gegeben.<br />

b) Die vom Kläger zu 1. angefochtenen Verordnungsregresse sind inhaltlich nicht zu beanstanden.<br />

Hinsichtlich der ASI bestand weder eine Leistungspflicht der KKn noch ein Versorgungsanspruch der<br />

Versicherten.<br />

Der Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln besteht im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

(GKV) nur nach Maßgabe des § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 iVm § 31 Abs 1 SGB V. Aus den dabei mit<br />

heranzuziehenden § 2 Abs 1 Satz 3 und § 12 Abs 1 SGB V folgt, dass im Rahmen der GKV nur solche<br />

Verordnungen zulässig sind, die die Gewähr für Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit, jeweils nach<br />

Maßgabe des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse, bieten (vgl BSG SozR 4-2500 §<br />

106 Nr 21 und BSG MedR 2010, 276, jeweils RdNr 17 mwN).<br />

aa) Für die Überprüfung von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit hält die Rechtsordnung zwei<br />

Verfahren bereit, zum einen für Arzneimittel die Überprüfung im Rahmen der arzneimittelrechtlichen Zulassung -<br />

durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nach §§ 21 ff AMG oder durch die Europäische<br />

Arzneimittel-Agentur nach Europäischem Verordnungs- und Richtlinienrecht -, und zum anderen für Behandlungs-<br />

und Untersuchungsmethoden die Überprüfung durch den BA - bzw heute G-BA - gemäß § 135 Abs 1 SGB V.<br />

Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit müssen grundsätzlich anhand zuverlässiger wissenschaftlich<br />

nachprüfbarer Aussagen aufgrund der Beurteilung einer ausreichenden Anzahl von Behandlungsfällen belegt<br />

sein; dafür ist in beiden vorgenannten Verfahren die Überprüfung durch Auswertung sogenannter randomisierter,<br />

doppelblind durchgeführter und placebokontrollierter Studien vorgesehen.<br />

Soweit diese Überprüfung der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit, wie es bei Arzneimitteln die<br />

Regel ist, bereits im Rahmen der arzneimittelrechtlichen Zulassung erfolgt, wird eine etwaige zusätzliche Prüfung<br />

nach § 135 Abs 1 SGB V als entbehrlich angesehen (vgl zusammenfassend BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 21 und<br />

BSG MedR 2010, 276, jeweils RdNr 19 mwN zur Rspr und zum Streitstand). Bei Arzneimitteln folgt somit im<br />

Regelfall aus der Verkehrsfähigkeit zugleich die Verordnungsfähigkeit im Rahmen der GKV (vgl zu diesem<br />

Zusammenhang BSG SozR aaO und MedR aaO, jeweils RdNr 19)<br />

bb) Von diesen Grundsätzen sind bei Arzneimitteltherapien allerdings Ausnahmen anerkannt. In den Fällen, in<br />

denen die arzneimittelrechtliche Verkehrsfähigkeit nach dem AMG ohne fundierte Überprüfung von Qualität,<br />

Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erlangt werden kann, fehlt die Grundlage dafür, um von der Verkehrsfähigkeit<br />

gemäß dem AMG auf die Verordnungsfähigkeit im Rahmen der GKV schließen zu können.<br />

In diesem Sinne hat das BSG zu Fällen aus der ersten Zeit nach der Neuordnung des deutschen<br />

Arzneimittelrechts Ende der 70er Jahre ausgesprochen, dass die damalige sogenannte fiktive Zulassung, die<br />

übergangsrechtlich bis zur fundierten Überprüfung der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit gewährt<br />

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wurde, nicht für die Annahme der Verordnungsfähigkeit ausreicht (BSG - 1. Senat - BSGE 95, 132 RdNr 18 ff =<br />

SozR 4-2500 § 31 Nr 3 RdNr 25 ff; BSG - 1. Senat - BSGE 82, 233, 235 ff = SozR 3-2500 § 31 Nr 5 S 17 ff; BSG<br />

- 6. Senat - SozR 4-2500 § 106 Nr 21 und BSG MedR 2010, 276, jeweils RdNr 21 ff).<br />

Dem ist vergleichbar, wenn - wie vorliegend - ein Arzneimittel ohne fundierte Überprüfung von Qualität,<br />

Wirksamkeit und Unbedenklichkeit deshalb nach dem AMG verkehrsfähig ist, weil es sich um ein sogenanntes<br />

Rezepturarzneimittel handelt. Bei Rezepturarzneimitteln, dh solchen, die nicht wie Fertigarzneimittel im Voraus<br />

hergestellt und in einer zur Abgabe an den Verbraucher bestimmten Packung in den Verkehr gebracht werden (§<br />

4 Abs 1 AMG), reicht für die arzneimittelrechtliche Verkehrsfähigkeit eine Herstellungserlaubnis aus (vgl §§ 13 bis<br />

15 iVm § 43 Abs 2 Halbs 2 iVm § 47 AMG); ein Zulassungsverfahren mit Überprüfung von Qualität, Wirksamkeit<br />

und Unbedenklichkeit anhand randomisierter, doppelblind durchgeführter und placebokontrollierter Studien ist<br />

arzneimittelrechtlich nicht vorgesehen (vgl dazu BSGE 86, 54, 60 = SozR 3-2500 § 135 Nr 14 S 65 f). Bei solchen<br />

Arzneimitteln fehlt es mithin an der fundierten Überprüfung von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit,<br />

sodass sie zwar verkehrsfähig gemäß dem AMG sind, aber ohne dass daraus abgeleitet werden könnte, dass sie<br />

auch verordnungsfähig sind.<br />

cc) Anders wiederum liegt der Fall, wenn das Arzneimittel, das arzneimittelrechtlich keiner Zulassung<br />

bedarf, so eingesetzt wird, dass darin zugleich eine auf einem bestimmten theoretisch-wissenschaftlichen<br />

Konzept fußende Vorgehensweise der Krankenbehandlung liegt (sogenannte Pharmakotherapie - zur Definition s<br />

zB BSGE 86, 54, 58 f = SozR 3-2500 § 135 Nr 14 S 63 f; zum Methodenbegriff vgl ferner zB BSG - 6. Senat - zB<br />

BSGE 84, 247, 249 f = SozR 3-2500 § 135 Nr 11 S 50 f; BSG SozR 3-5533 Nr 2449 Nr 2 S 9 f; ebenso BSG - 1.<br />

Senat - zB BSGE 94, 221 RdNr 24 = SozR 4-2400 § 89 Nr 3 RdNr 25; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 10 RdNr 16;<br />

BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 19 RdNr 14 mwN). Dann liegt eine Behandlungsmethode vor, deren Einsatz im<br />

Rahmen der GKV gemäß § 135 Abs 1 SGB V eine positive Empfehlung durch den BA bzw G-BA erfordert. In<br />

solchen Fällen ist zwar arzneimittelrechtlich keine fundierte Überprüfung der Qualität, Wirksamkeit und<br />

Unbedenklichkeit vorgesehen; da aber eine Behandlungsmethode im Sinne des § 135 Abs 1 SGB V vorliegt, ist<br />

das Arzneimittel bzw die dieses einschließende Behandlungsmethode im Verfahren gemäß § 135 Abs 1 SGB V<br />

zu überprüfen (BSGE 86, 54, 58, 59 f = SozR 3-2500 § 135 Nr 14 S 63, 65; vgl auch zB BSG SozR 3-2500 § 135<br />

Nr 12 S 55 f). Falls die in diesem Verfahren stattfindende Überprüfung von Qualität, Wirksamkeit und<br />

Unbedenklichkeit anhand randomisierter, doppelblind durchgeführter und placebokontrollierter Studien zu einer<br />

positiven Empfehlung des BA bzw G-BA führt, ist das Arzneimittel dann auch verordnungsfähig. Kommt es<br />

demgegenüber zur Zuordnung zu den nicht anerkannten Behandlungsmethoden, so darf eine Therapie mit<br />

diesem Arzneimittel nicht erfolgen; dieses ist nicht verordnungsfähig.<br />

Differenziert sind die Fälle zu beurteilen, in denen das Arzneimittel im Rahmen einer Behandlungsmethode<br />

im Sinne des § 135 Abs 1 SGB V eingesetzt werden soll, aber - wie im vorliegenden Fall - im<br />

Behandlungszeitpunkt die nach dieser Bestimmung notwendige Überprüfung durch den BA bzw G-BA noch nicht<br />

zu einem Ergebnis geführt hat (zur Maßgeblichkeit des Behandlungszeitpunkts s zB BSGE 86, 54, 64 = SozR 3-<br />

2500 § 135 Nr 14 S 69 f; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 10 RdNr 12 ff; BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12,<br />

RdNr 15 f). Dann ist zu prüfen, ob die Vorenthaltung des Einsatzes in der GKV noch gerechtfertigt ist, ob nämlich<br />

die Dauer des Verfahrens noch rechtens ist oder ob die Durchführung des Verfahrens aus sachfremden Gründen<br />

verzögert wurde; in letzterem Fall ist weiter zu prüfen, ob die Behandlungsmethode als dem Stand der<br />

medizinischen Erkenntnisse entsprechend bewertet werden kann und deshalb ungeachtet des Noch-Nicht-<br />

Vorliegens einer positiven Empfehlung für die GKV freigegeben werden kann (BSGE 86, 54, 60 ff, 64 ff = SozR 3-<br />

2500 § 135 Nr 14 S 66 ff, 69 ff; BSGE 94, 221 RdNr 23 = SozR 4-2400 § 89 Nr 3 RdNr 24). Bei der ersatzweise<br />

gerichtlicherseits vorzunehmenden Bewertung sind die Belege zu würdigen, die im Behandlungszeitpunkt für eine<br />

Wirksamkeit sprechen konnten. Dabei sind für eine Wirksamkeitsanerkennung grundsätzlich wissenschaftlich<br />

einwandfrei geführte Statistiken zu fordern. Im Falle von Krankheiten allerdings, bei denen Entstehung und<br />

Verlauf ungeklärt sind, sodass Therapien nur bei Symptomen ansetzen können, und daher die Forderung von<br />

Wirksamkeitsbelegen den Anspruch auf umfassende Krankenbehandlung gemäß § 27 Abs 1 SGB V und die<br />

damit korrespondierende Behandlungspflicht des Vertragsarztes unmöglich machen würde (vgl zu diesem Ansatz<br />

BSGE 86, 54, 60 f = SozR 3-2500 § 135 Nr 14 S 66), reicht es ersatzweise aus, wenn sich die in Anspruch<br />

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genommene Therapie in der medizinischen Praxis und/oder in der medizinischen Fachdiskussion durchgesetzt<br />

hat (BSG aaO S 62 bzw S 67 f; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 8 RdNr 37; vgl auch BSG SozR 4-2500 § 18 Nr 5<br />

RdNr 25 ff, 29) bzw - in Fällen lebensbedrohlicher oder im Regelfall tödlich verlaufender Erkrankungen - eine auf<br />

Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung bzw auf eine positive Einwirkung auf den<br />

weiteren Krankheitsverlauf gegeben ist (BVerfGE 115, 25, 49 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 33).<br />

Auch in Fällen lebensbedrohlicher oder im Regelfall tödlich verlaufender Erkrankungen sind aber weitere<br />

einschränkende Voraussetzungen zu beachten. Zwar ergeben sich aus der Entscheidung des BVerfG (BVerfGE<br />

115, 25, 49 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 33 f) und dem von diesem herangezogenen Sozialstaatsprinzip sowie<br />

aus der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht des Staates einerseits Abschwächungen zugunsten der<br />

Versicherten (vgl hierzu BVerfGE aaO S 41 ff, 44 ff = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 17 ff, 24 ff; BSGE 96, 170 =<br />

SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 24 ff). Andererseits besteht aber auch eine Schutzpflicht in der Weise, dass der<br />

Staat den Versicherten davor zu bewahren hat, mit zweifelhaften Therapien behandelt zu werden. Dem dient das<br />

Erfordernis fundierter Überprüfung von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit. Dies darf nicht durch eine<br />

vermeintlich großzügige Gestattung der Versorgung mit Arzneimitteln unterlaufen und umgangen werden (vgl<br />

BSG aaO RdNr 25 iVm 35). Dementsprechend darf eine Pharmakotherapie, bei der eine fundierte Überprüfung<br />

von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Arzneimittel nicht stattgefunden hat, im Rahmen der<br />

vertragsärztlichen Versorgung nur eingesetzt werden, wenn der Wirksamkeitszusammenhang, der dieser<br />

Arzneimitteltherapie zugeschrieben wird, wenigstens in gewissem Umfang belegt werden kann. Fehlen<br />

höherwertige Studien, so können als Beleg auch Assoziationsbeobachtungen, pathophysiologische<br />

Überlegungen, deskriptive Darstellungen, Berichte von Expertenkomitees, Konsensuskonferenzen und<br />

Einzelfallberichte in Betracht kommen (vgl Nr 8.2 unter III der NUB-RL; vgl ebenso BSGE 96, 170 = SozR 4-2500<br />

§ 31 Nr 4, RdNr 40 am Ende). Insgesamt müssen - auch bei lebensbedrohlichen oder im Regelfall tödlich<br />

verlaufenden Erkrankungen - erhebliche ernsthafte Hinweise auf einen jedenfalls individuellen<br />

Wirkungszusammenhang vorliegen (BSG aaO RdNr 47). Dabei kommt auch der fachlichen Einschätzung durch<br />

den behandelnden Arzt Bedeutung zu (vgl BVerfGE aaO S 50 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5, RdNr 35 am Ende und<br />

BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 47 am Ende).<br />

dd) Bei Anwendung dieser Maßstäbe auf die vorliegend zu beurteilenden Verordnungen ergibt sich, dass<br />

die vom Kläger zu 1. durchgeführten ASI-Verfahren in der GKV nicht zulässig waren. Die autologen Tumorvakzine<br />

wurden im Rahmen einer gemäß § 135 Abs 1 SGB V anerkennungsbedürftigen Behandlungsmethode verordnet,<br />

wie das BSG bereits in seiner früheren Entscheidung vom 28.3.2000 ausgeführt hat (BSGE 86, 54, 57 = SozR 3-<br />

2500 § 135 Nr 14 S 62). In dem Zeitpunkt, als der Kläger zu 1. bzw die Gemeinschaftspraxis die Verordnungen<br />

vornahm (1998/1999), war das Verfahren der ASI gemäß § 135 Abs 1 SGB V noch beim BA anhängig (dieser gab<br />

erst am 10.4.2000 eine - negative - Empfehlung ab, s BAnz Nr 137 vom 25.7.2000 S 14470 = DÄ 2000, C 1828),<br />

sodass also der Fall fehlender Entscheidung des BA bzw G-BA gemäß § 135 Abs 1 SGB V vorlag.<br />

Zu der Frage, ob das Verfahren beim BA im Sinne der in RdNr 32 angesprochenen ersten Voraussetzung<br />

zu lange dauerte, braucht vorliegend nicht Stellung genommen zu werden. Denn es fehlen jedenfalls die weiteren<br />

Voraussetzungen für eine Akzeptanz der Anwendung dieser Therapiemethode: Ausgehend davon, dass die<br />

betroffenen Patienten hier an lebensbedrohlichen oder im Regelfall tödlich verlaufenden Erkrankungen litten (vgl<br />

BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 17 betreffend Darmkrebs), bedürfte es wenigstens ausreichender<br />

Belege im Sinne erheblicher ernsthafter Hinweise auf einen individuellen Wirkungszusammenhang (s oben RdNr<br />

33 am Ende). Daran fehlt es.<br />

Nach den Feststellungen im Berufungsurteil (L 3 KA 484/03 - Juris RdNr 45) gab es zwar Phase-III-<br />

Studien, diesen konnte aber keine Aussagekraft für die vom Kläger zu 1. verordneten Tumorvakzine der Firma<br />

macropharm entnommen werden. Denn die Tumorvakzine unterschieden sich nach den vorinstanzlichen<br />

Feststellungen schon in der Herstellungsweise der verschiedenen Herstellerfirmen. Diese hatten unterschiedliche<br />

Anwendungs- und Verarbeitungsmethoden. Zudem erfolgte die Herstellung jeweils speziell für den jeweiligen<br />

Versicherten, sodass sie auch untereinander verschieden waren und individueller Beurteilung bedurften (vgl LSG<br />

aaO RdNr 44). Tauglich könnte insoweit lediglich die von der Firma macropharm veröffentlichte Studie von R.<br />

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sein; diese wies aber nach den Feststellungen im Berufungsurteil (aaO RdNr 45) und auch nach der Wertung des<br />

BSG in seinem früheren Urteil (BSGE 86, 54, 64 = SozR 3-2500 § 135 Nr 14 S 70) methodische<br />

Unzulänglichkeiten auf.<br />

Auch hatte sich die ASI mit autologen Tumorvakzinen nicht etwa schon in der medizinischen Praxis<br />

durchgesetzt. Diese Behauptung hat das Berufungsgericht als nicht ausreichend belegt bezeichnet (LSG aaO<br />

RdNr 48 bis 51). Die dazu vom Kläger zu 1. erhobene Verfahrensrüge, das LSG habe insoweit den Sachverhalt<br />

nicht ausreichend aufgeklärt, greift nicht durch. Die Rüge unzureichender Aufklärung des LSG erfordert im Falle<br />

eines Klägers, der bereits dort anwaltlich vertreten gewesen ist, die Darlegung, dass sich dem LSG auf der<br />

Grundlage des Vorbringens des Klägers weitere Ermittlungen hätten aufdrängen müssen (vgl zB BVerwGE 131,<br />

186, 189 RdNr 13; s auch zB BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 24 bis 26). In der<br />

Revisionsbegründung wird indessen nicht aufgezeigt, aufgrund welcher konkreten Darlegungen des Klägers zu 1.<br />

im LSG-Verfahren sich dem LSG weitere Ermittlungen hätten aufdrängen müssen. Mit seinen Ausführungen,<br />

entgegen der Auffassung des LSG hätten die vorliegenden Phase-III-Studien durchaus Aussagekraft für die von<br />

ihm zum Einsatz gebrachten Tumorvakzine der Firma macropharm, setzt der Kläger zu 1. dem LSG lediglich<br />

seine gegenteilige Ansicht entgegen. Er müsste aber konkrete Ansatzpunkte für Möglichkeiten des LSG zu<br />

weitergehender Aufklärung benennen und darlegen, dass er auf diese schon im LSG-Verfahren hingewiesen<br />

habe. Dies ist der Revisionsbegründung so nicht zu entnehmen.<br />

Zu diesem Fragenkomplex hat es keines Hinweises des LSG bedurft - wie der Kläger zu 1. geltend macht<br />

-. Denn dieser Streitpunkt lag schon während des gesamten Verfahrens zu Tage (s dazu auch schon BSGE 86,<br />

54, 64 ff = SozR 3-2500 § 135 Nr 14 S 70 ff). Zudem hat bei ihm, da er bereits im Berufungsverfahren anwaltlich<br />

vertreten gewesen ist, vorausgesetzt werden können, dass er die Anforderungen kennt, die erfüllt sein müssen,<br />

damit das Gericht Anlass zu weiterer Aufklärung hat.<br />

Bei den hier betroffenen Behandlungsfällen fehlt zudem eine weitere Voraussetzung, die für die<br />

Anerkennung ärztlich sachgerechten Vorgehens erforderlich wäre: Für die ausnahmsweise Zulässigkeit von<br />

Verordnungen zweifelhafter Art muss eine ausreichend substantiierte fachliche Einschätzung durch den<br />

verordnenden Arzt selbst erkennbar sein (vgl hierzu BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 47 am Ende<br />

und 50); dafür ist auch eine entsprechende therapiebegleitende Kontrolle und Dokumentation durch den<br />

behandelnden Arzt erforderlich (vgl dazu BSG aaO RdNr 50 f; s auch BSG SozR 3-5550 § 17 Nr 2 S 8). Indessen<br />

lag nach den Feststellungen im Urteil des LSG die Behandlung vor allem in den Händen des Dr. N., der im<br />

Auftrag der Firma macropharm die autologen Tumorvakzine herstellte und bearbeitete sowie die ASI bei den<br />

Patienten im Wesentlichen durchführte (LSG aaO RdNr 46). Wie im Urteil des LSG festgestellt ist, fertigten der<br />

Kläger zu 1. bzw der Partner der damaligen Gemeinschaftspraxis lediglich nachträglich kurze<br />

Zusammenfassungen an (LSG aaO RdNr 46).<br />

Diese Feststellungen des LSG sind nach alledem tragfähig. Dem LSG fallen keine Verfahrensmängel zur<br />

Last. Abgesehen davon, dass die erhobenen Aufklärungsrügen nicht durchgreifen, sind auch keine Verstöße<br />

gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ersichtlich. Insbesondere liegen keine ausreichenden<br />

Umstände für die Annahme einer unzulässigen Überraschungsentscheidung vor. Dass das LSG, ohne dass dies<br />

voraussehbar gewesen wäre, strengere Anforderungen gestellt hätte als die bisherige BSG-Rechtsprechung,<br />

kann bei einem anwaltlich vertretenen Kläger nicht anerkannt werden (vgl zB zu vorgenannten<br />

Dokumentationsanforderungen: BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 50 f). Der Kläger zu 1. hat das<br />

auch nicht in ausreichend substantiierter Weise geltend gemacht.<br />

ee) Waren mithin die autologen Tumorvakzine nicht verordnungsfähig, so war Unwirtschaftlichkeit<br />

gegeben (zu dieser Gleichsetzung s BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 21 und BSG MedR 2010, 276, jeweils RdNr 25<br />

mwN). Bei unwirtschaftlicher Verordnungsweise ist die Festsetzung eines Regresses grundsätzlich berechtigt.<br />

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kommt vorliegend nicht in Betracht.<br />

(1) Ohne Erfolg ist der Einwand des Klägers, ihm könne kein Verschulden oder höchstens vermindertes<br />

Verschulden angelastet werden und deshalb sei entweder ein Regress ganz ausgeschlossen oder dieser müsse<br />

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jedenfalls erheblich herabgesetzt werden. Nach der Rechtsprechung des BSG setzen Honorarkürzungen oder<br />

Verordnungsregresse gemäß § 106 SGB V kein Verschulden des Vertragsarztes voraus (zuletzt BSG SozR 4-<br />

2500 § 106 Nr 21 und BSG MedR 2010, 276, jeweils RdNr 28 mwN, im Anschluss an BSG SozR 4-2500 § 106 Nr<br />

1 RdNr 18; BSG MedR 2004, 577, 578).<br />

Bei Verordnungsregressen der hier vorliegenden Art ist auch kein Raum für eine Ermessensausübung. Bei<br />

Regressen, denen unzulässige Verordnungen zugrunde liegen, wie dies beim Fehlen der Arzneimittelzulassung<br />

des verordneten Medikaments, bei einem unzulässigen Off-Label-Use, bei Verordnung entgegen einem AMRL-<br />

Verordnungsausschluss oder bei Unvereinbarkeit einer Verordnung mit den Vorgaben des § 135 Abs 1 SGB V<br />

der Fall ist, kann eine Unwirtschaftlichkeit nur bejaht oder verneint werden (sogenannter Basismangel, vgl oben<br />

RdNr 23, vgl dazu BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 21 und BSG MedR 2010, 276, jeweils RdNr 29). Mit dem Regress<br />

lediglich einen Teil der Unwirtschaftlichkeit abzuschöpfen, kann nur in anders gelagerten Fällen in Betracht<br />

kommen, zB im Rahmen eines Regresses aufgrund einer sogenannten Durchschnittsprüfung bei insgesamt<br />

deutlich höherem Verordnungsvolumen als im Durchschnitt der Arztgruppe und/oder bei einer Anfängerpraxis,<br />

evtl auch bei der Belassung von Restüberschreitungen (vgl hierzu BSG SozR 4-1500 § 141 Nr 1 RdNr 30 am<br />

Ende; vgl weiterhin BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 21 und BSG MedR 2010, 276, jeweils RdNr 29 mit Hinweis auf<br />

die Fallgruppe "Anfängerpraxis", hierzu s zB Clemens in Schlegel/Voelzke/Engelmann ,<br />

jurisPraxisKommentar SGB V, 2008, § 106 RdNr 145-147 mwN). Bei Rezepturarzneimitteln, die nicht von<br />

Apotheken bezogen werden, ist im Übrigen nicht einmal Raum für einen Abzug von Apothekenrabatt und/oder<br />

Patienteneigenanteilen (vgl hierzu zB BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 50 S 269 mwN; BSG SozR 4-1500 § 141 Nr 1<br />

RdNr 32; BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 21 und BSG MedR 2010, 276, jeweils RdNr 33). Dementsprechend ist in<br />

solchen Fällen die Höhe des Regresses dahingehend vorgezeichnet, dass vom Arzt Ersatz der vollen Kosten zu<br />

fordern ist. Raum für eine Regressermäßigung aufgrund einer Ermessensentscheidung besteht nicht.<br />

(2) Zu Unrecht beruft sich der Kläger weiterhin darauf, dass er jedenfalls vor dem Hintergrund des<br />

Schreibens des BA vom 7.6.1999 auf die Zulässigkeit der ASI habe vertrauen dürfen. Ein Vertrauen könnte<br />

insoweit ohnehin allenfalls für diejenigen Verordnungen in Betracht gezogen werden, die der Kläger zu 1. nach<br />

Bekanntwerden des BA-Schreibens tätigte (also für seine Verordnungen im Quartal IV/1999). Indessen begründet<br />

das Schreiben bereits von seinem Inhalt her keinen Vertrauensschutz. Denn der BA hat ausdrücklich mitgeteilt,<br />

dass der Behandlungsansatz (die Verordnung autologer Tumorvakzine) "bisher ohne abschließendes Ergebnis"<br />

von dem dem BA zuarbeitenden Arbeitsausschuss bearbeitet worden sei und dass daher "eine verbindliche<br />

Auskunft … zum jetzigen Zeitpunkt nicht gemacht" werden könne. Da das Schreiben somit schon aufgrund seines<br />

"offenen Inhalts" für eine Vertrauensbegründung nicht ausreichen kann, bedarf es keiner Erörterung, ob der vom<br />

Kläger zu 1. geltend gemachten rechtlichen Bedeutung auch entgegensteht, dass das Schreiben des BA nicht an<br />

ihn selbst gerichtet war und dass es nicht die dem BA durch § 135 Abs 1 SGB V vorgegebene Handlungsform<br />

"Richtlinie" aufwies. Ist das Schreiben des BA vom 7.6.1999 mithin für den vorliegenden Fall rechtlich irrelevant,<br />

so fehlt der vom Kläger zu 1. erhobenen Verfahrensrüge, das LSG hätte es nicht ausreichend berücksichtigt, die<br />

Grundlage.<br />

Ein Vertrauenstatbestand kann auch nicht darauf gestützt werden, dass in der Regel aus der<br />

arzneirechtlichen Verkehrsfähigkeit des Arzneimittels dessen Verordnungsfähigkeit folgt. Denn dies betrifft nur<br />

den Regelfall von Fertigarzneimitteln, für deren Verkehrsfähigkeit das Zulassungsverfahren mit fundierter<br />

Überprüfung der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit durchlaufen werden muss, während hier der<br />

besondere Fall eines Rezepturarzneimittels zu beurteilen ist. Dass insoweit keine Überprüfung nach dem AMG<br />

und typischerweise auch keine dem nahekommende Überprüfung stattgefunden hat, kann bei Ärzten als bekannt<br />

vorausgesetzt werden (zur ärztlichen Sachkunde vgl BSGE 103, 1 = SozR 4-2500 § 106a Nr 7, RdNr 24 mit<br />

Hinweis auf zB BSGE 96, 1= SozR 4-2500 § 85 Nr 22 RdNr 34). Von daher bedürfte es besonderer Umstände,<br />

um annehmen zu können, der Arzt habe auf die Verordnungsfähigkeit vertrauen dürfen. Hierfür fehlt es an den<br />

ausreichenden Anhaltspunkten. Den vom Kläger zu 1. angeführten Gerichtsentscheidungen stehen gegenläufige<br />

Entscheidungen gegenüber, in denen die Verordnungsfähigkeit autologer Tumorvakzine verneint wurde (s die<br />

Angaben im Bescheid des Beklagten vom 9.11.2002 S 4; vgl dazu BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 21 und BSG<br />

MedR 2010, 276, jeweils RdNr 30).<br />

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(3) Ohne Erfolg wendet der Kläger zu 1. ferner ein, er habe sich in schwierigen Konfliktsituationen bei<br />

lebensbedrohlichen Erkrankungen dafür entschieden, eine Behandlung durchzuführen, die immerhin von<br />

manchen Medizinern und Gerichten gebilligt worden sei, und deshalb sei unter dem Gesichtspunkt der<br />

Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot) ein Regress ausgeschlossen. Dabei ist schon zweifelhaft, inwieweit nach<br />

der vom Beklagten und von den Vorinstanzen vorgenommenen umfänglichen Prüfung überhaupt noch Raum für<br />

eine Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sein kann. Selbst wenn hierfür Raum wäre, könnte dies<br />

nicht zu einem Erfolg für den Kläger zu 1. führen. Denn mit den autologen Tumorvakzinen sind Arzneimittel<br />

betroffen, bei denen sich Zweifel an der Verordnungsfähigkeit aufdrängen mussten: Eine fundierte Überprüfung<br />

der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit in einem Zulassungsverfahren hatte - da Rezepturarzneimittel -<br />

erkennbar nicht stattgefunden, eine Empfehlung des BA gab es nicht, und die Studienlage konnte nicht ohne<br />

Weiteres als tragfähig angesehen werden (vgl oben RdNr 34 ff). Nicht Gegenstand des vorliegenden<br />

Rechtsstreits - und daher offenzulassen - ist die Frage, ob bzw unter welchen Voraussetzungen ein Arzt, der von<br />

einem pharmazeutischen Hersteller zur Verordnung nicht verordnungsfähiger Arzneimittel veranlasst bzw verleitet<br />

wird und Regress an die vertragsärztlichen Institutionen leisten muss, Rückgriff gegen den Hersteller nehmen<br />

kann.<br />

Im Rahmen von Regressen in der GKV ist auch kein Raum für die Berücksichtigung des Gesichtspunktes,<br />

dass bei Nicht-Durchführung dieser Arzneimitteltherapie Kosten für andere Behandlungsarten angefallen wären -<br />

sogenannte Vorteilsausgleichung - (vgl BSG SozR 4-2500 § 39 Nr 3 RdNr 14 mwN; BSGE 96, 99 = SozR 4-5520<br />

§ 33 Nr 6, RdNr 11 mwN; BSG SozR 4-2500 § 115b Nr 2 RdNr 21).<br />

c) Dem Regress stehen schließlich auch keine Grundrechtspositionen des Klägers zu 1. entgegen.<br />

Insbesondere ist das Grundrecht der Berufsfreiheit gemäß Art 12 Abs 1 GG nicht verletzt. Dieses Grundrecht<br />

unterliegt - ebenso wie Art 14 Abs 1 GG - einem Gesetzesvorbehalt, darf also durch Gesetz eingeschränkt<br />

werden. Das ist durch die vorliegend einschlägigen Bestimmungen der §§ 106, 135 Abs 1 SGB V geschehen. Die<br />

Anwendung dieser Regelungen belastet den Kläger zu 1. nicht unverhältnismäßig (vgl oben RdNr 46).<br />

4. Nach alledem ist nicht nur der Hauptantrag des Klägers zu 1. auf Bescheidaufhebung zurückzuweisen,<br />

sondern ebenso der Hilfsantrag: Für die hilfsweise begehrte Zurückverweisung der Sache an das LSG ist kein<br />

Raum, denn der gegenüber dem Kläger zu 1. ausgesprochene Regress hat sich im Revisionsverfahren gemäß<br />

vorstehenden Ausführungen abschließend als rechtmäßig erwiesen.<br />

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und Abs 4 SGG in der bis zum 1.1.2002 geltenden - im<br />

Hinblick auf die Klageerhebung vor diesem Stichtag hier noch anwendbaren - Fassung (vgl BSG SozR 3-2500 §<br />

116 Nr 24 S 115 ff).<br />

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 30.6.2009, B 1 KR 5/09 RKrankenversicherung - Erwachsener mit<br />

ADHS-Leiden - kein Anspruch auf zulassungsüberschreitende Anwendung eines nur zur Behandlung von<br />

Kindern und Jugendlichen zugelassenen Arzneimittels - Kostenerstattungsanspruch - ADHS keine<br />

lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung<br />

Leitsätze<br />

In der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Erwachsene haben grundsätzlich keinen Anspruch auf<br />

zulassungsüberschreitende Anwendung eines nur zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen zugelassen<br />

Arzneimittels unter erleichterten Voraussetzungen, selbst wenn eine gleiche Wirksamkeit des Mittels unterstellt<br />

wird.<br />

Tatbestand<br />

Die Beteiligten streiten über die Versorgung des Klägers mit einem Arzneimittel im Off-Label-Use und die<br />

Erstattung entsprechend aufgewandter Kosten.<br />

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Der im Mai 1985 geborene, bei der beklagten Ersatzkasse versicherte Kläger, der seit Oktober 2004 auf<br />

privatärztliche Verordnung hin methylphenidathaltige Arzneimittel (Ritalin; Concerta) erhielt, beantragte am<br />

21.2.2005 - unterstützt durch einen Brief des Nervenarztes Dr. S. vom 10.11.2004 - die Kostenübernahme für<br />

diese Mittel. Er (der Kläger) sei schon als Kind hyperaktiv gewesen; das seit einem halben Jahr im<br />

Erwachsenenalter wieder zum Vorschein gekommene Krankheitsbild eines Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktiv-<br />

Syndroms (ADHS) werde durch die Mittel deutlich gebessert; die zur Behandlung von Kindern vorgesehenen<br />

Mittel dürften ihm nicht nur deshalb versagt werden, weil er inzwischen über 18 Jahre alt sei.<br />

Das Krankheitsbild des ADHS stellt sich - in unterschiedlicher Ausprägung - speziell für das Erwachsenenalter wie<br />

folgt dar:<br />

1. Aufmerksamkeitsstörung bei fehlender Stimulation<br />

2. Hyperaktivität (zB "Gefühl innerer Unruhe/Nervosität")<br />

3. Affektlabilität<br />

4. Desorganisiertes Verhalten<br />

5. Gestörte Affektkontrolle<br />

6. Impulsivität<br />

7. Emotionale Überreagibilität.<br />

Die Diagnose einer ADHS wird gestellt, wenn die Kriterien 1. und 2. sowie zusätzlich zwei Kriterien aus<br />

dem Katalog 3. bis 7. vorliegen (sog Wender-Utah-Kriterien, vgl zB Philipsen/Heßlinger/Tebartz van Elst, DÄBl<br />

2008, A-311).<br />

Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers nach Einholung eines Gutachtens von Dr. B. vom<br />

Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ab, weil die nach der Rechtsprechung des<br />

Bundessozialgerichts (BSG) erforderlichen Voraussetzungen für eine zulassungsüberschreitende Anwendung der<br />

Arzneimittel auf Kosten der Krankenkassen nicht erfüllt seien; der Kläger leide nicht an einer die Lebensqualität<br />

nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung; die Krankheit könne auch durch Psychotherapie behandelt werden;<br />

zudem reiche die Studienlage für eine Arzneimittelzulassung der Mittel auch für Erwachsene mit ADHS nicht aus<br />

(Bescheid vom 10.5.2005; Widerspruchsbescheid vom 23.11.2005).<br />

Das dagegen angerufene Sozialgericht (SG) hat - nach Einholung von Auskünften des behandelnden<br />

Arztes und des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) - die Klage abgewiesen (Urteil vom<br />

27.10.2006). Das Landessozialgericht (LSG) hat weitere MDK-Gutachten von Dr. B. l und von Dr. St. von 2007<br />

bzw 2008 beigezogen. Sodann hat es die Berufung des Klägers - gerichtet auf Kostenerstattung für die seit<br />

Oktober 2004 verordneten methylphenidathaltigen Arzneimittel sowie auf künftige Versorgung mit "Concerta<br />

retard 36 mg" - zurückgewiesen: Das Mittel sei arzneimittelrechtlich nur für Kinder zugelassen, dem Kläger aber<br />

erstmals mit 19 Jahren verordnet worden. Eine zulassungsüberschreitende Versorgung scheide aus, weil die<br />

Datenlage keine begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg mit dem Präparat eröffne. Entsprechend den<br />

Ausführungen der MDK-Ärzte könne aufgrund der Datenlage derzeit nicht sicher von einer Zulassung des<br />

Arzneimittels für die Behandlung Erwachsener ausgegangen werden. Eine von der Firma Medice vorgelegte<br />

Phase III-Studie habe den Nachweis für einen unbedenklichen Einsatz methylphenidathaltiger Arzneimittel bei<br />

Erwachsenen noch nicht erbracht. Empfehlungen einer nach § 35b Abs 3 SGB V konstituierten Expertengruppe<br />

seien bislang nicht veröffentlicht worden. Es brauche nicht den Fragen nachgegangen zu werden, wie zu<br />

würdigen sei, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) früher die Anwendung von Methylphenidat als<br />

Psychostimulanz bereits bei postpubertären Kindern untersagt habe und dass der Wirkstoff unter das<br />

Betäubungsmittelgesetz falle (Urteil vom 30.7.2008).<br />

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V iVm § 27 Abs 1 Satz 2 Nr<br />

1 und 3, § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V. Aus der Rechtsprechung des BSG lasse sich nicht herleiten, dass die<br />

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Versorgung mit einem Arzneimittel auch dann ausscheide, wenn ihm die arzneimittelrechtliche Zulassung nur<br />

deshalb fehle, weil sie bei gleicher Wirkung nur für eine bestimmte Altersgruppe erfolgt bzw beantragt worden sei.<br />

Gehe es - wie beim ADHS - um die gleiche Erkrankung und Symptomatik, liege unabhängig davon, ob der Patient<br />

Kind, Jugendlicher oder Erwachsener sei, gar kein Off-Label-Use vor. Das LSG habe zudem die Datenlage zu<br />

Unrecht trotz mehrerer doppelblinder Placebo-kontrollierter Studien und einer Phase III-Studie (EMMA-Studie,<br />

publiziert im Januar 2009) nicht für ausreichend erachtet. Auch die aktuellen deutschen Leitlinien aus dem<br />

Bereich der Erwachsenenpsychiatrie berechtigten Ärzte zur Verordnung von Methylphenidat an Erwachsene mit<br />

ADHS. In anderen Staaten (zB USA) schlössen Arzneimittelzulassungen eine solche Behandlung bereits mit ein.<br />

Der Kläger beantragt,<br />

die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. Juli 2008 und des Sozialgerichts Mannheim<br />

vom 27. Oktober 2006 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 10. Mai 2005 in der<br />

Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. November 2005 zu verurteilen, ihm die seit Oktober 2004 für<br />

verordnete methylphenidathaltige Arzneimittel entstandenen Kosten zu erstatten und ihn zukünftig mit dem<br />

Arzneimittel Concerta Retard zu versorgen.<br />

Die Beklagte beantragt,<br />

die Revision zurückzuweisen.<br />

Sie hält das LSG-Urteil für zutreffend.<br />

Entscheidungsgründe<br />

Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet.<br />

Die beklagte Ersatzkasse und die Vorinstanzen haben im Ergebnis zutreffend entschieden, dass der<br />

Kläger keinen Anspruch auf Erstattung der entstandenen Kosten für die ihm von Oktober 2004 bis zum Zeitpunkt<br />

des Zugangs des Bescheides der Beklagten vom 10.5.2005 verordneten Methylphenidat enthaltenden<br />

Arzneimittel hat (dazu 1.). Ebenso hat der Kläger keinen Anspruch auf Kostenerstattung für die in der<br />

anschließenden Zeit bis zum Tag der mündlichen Verhandlung beim LSG am 20.7.2008 sowie auf künftige<br />

Versorgung/Kostenfreistellung in Bezug auf das Arzneimittel Concerta Retard nach diesem Zeitpunkt (dazu 2.).<br />

1. Soweit der Kläger Kostenerstattung für die Zeit von Oktober 2004 bis zum Zugang des Bescheides der<br />

Beklagten vom 10.5.2005 begehrt, ist die Klage schon wegen Nichteinhaltung des gesetzlich vorgesehenen<br />

Beschaffungsweges unbegründet.<br />

Der Senat sieht insoweit davon ab, das Verfahren an das LSG zurückzuverweisen, obwohl der geltend<br />

gemachte Kostenerstattungsanspruch unbeziffert ist und die Tatsacheninstanzen nicht auf die insoweit<br />

erforderliche Konkretisierung des Antrags und die Ergänzung des Tatsachenvortrags hingewirkt haben (§ 106 Abs<br />

1, § 112 Abs 2, § 153 Abs 1 SGG; vgl zB BSGE 83, 254, 263 = SozR 3-2500 § 37 Nr 1 S 10 f; zuletzt BSG, Urteil<br />

vom 6.11.2008 - B 1 KR 6/08 R -, RdNr 8 mwN - Gelormyrtol forte, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR<br />

vorgesehen) . Denn eine Leistungsgewährung scheitert bereits aus anderen Gründen.<br />

Es liegt nichts dafür vor, dass die Versorgung mit den methylphenidathaltigen Arzneimitteln Ritalin und<br />

Concerta, die der begehrten Kostenerstattung für die Vergangenheit zu Grunde liegt, wegen einer dringenden<br />

Behandlungsnotwendigkeit unaufschiebbar iS von § 13 Abs 3 Satz 1 Alt 1 SGB V war. Daher kommt als<br />

Rechtsgrundlage der Kostenerstattung allein § 13 Abs 3 Satz 1 Alt 2 SGB V (anzuwenden idF des Art 5 Nr 7<br />

Buchst b SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19.6.2001, BGBl I 1046) in Betracht.<br />

Diese Rechtsnorm bestimmt: Hat die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch<br />

Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der<br />

entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Ein Anspruch auf Kostenerstattung besteht<br />

demnach nur, wenn zwischen dem die Haftung der Krankenkasse begründenden Umstand (rechtswidrige<br />

Ablehnung) und dem Nachteil des Versicherten (Kostenlast) ein Ursachenzusammenhang besteht (so zB BSGE<br />

96, 161 = SozR 4-2500 § 13 Nr 8, jeweils RdNr 23; zuletzt: BSG, Urteil vom 16.12.2008 - B 1 KR 2/08 R, RdNr<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 300


29, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen) . Daran fehlt es, wenn die Krankenkasse vor Inanspruchnahme<br />

einer vom Versicherten selbst beschafften Leistung mit dem Leistungsbegehren gar nicht befasst wurde, obwohl<br />

dies möglich gewesen wäre (stRspr, zB BSG SozR 3-2500 § 13 Nr 15 S 74 mwN; BSGE 98, 26 = SozR 4-2500 §<br />

13 Nr 12, jeweils RdNr 10; BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 16 RdNr 13 mwN) . So verhält es sich hier.<br />

Während der Kläger vorträgt, ihm seien Kosten bereits für die seit Oktober 2004 verordneten<br />

methylphenidathaltigen Arzneimittel entstanden, hat er bei der Beklagten eine entsprechende Versorgung<br />

erstmals im Februar 2005 beantragt. Er hat sich mithin schon vor der Antragstellung und in der Folgezeit<br />

Leistungen unter Umgehung der Beklagten selbst beschafft und in Anspruch genommen, ohne zunächst den<br />

ablehnenden Bescheid vom 10.5.2005 abzuwarten.<br />

2. Ebenso hat der Kläger keinen Anspruch auf Kostenerstattung in der anschließenden Zeit bis zum Tag<br />

der mündlichen Verhandlung beim LSG am 20.7.2008 (dazu a) und auf künftige Versorgung mit dem Arzneimittel<br />

Concerta Retard als Sachleistung bzw auf Kostenfreistellung nach diesem Zeitpunkt (dazu b, c) .<br />

a) Soweit es die Zeit vom Zugang des ablehnenden Bescheides der Beklagten vom 10.5.2005 bis zur<br />

letzten mündlichen Verhandlung beim LSG anbelangt, kommen Zahlungsansprüche des Klägers nur insoweit in<br />

Betracht, als ihm tatsächlich Kosten entstanden sind. In prozessualer Hinsicht gilt dafür das unter 1. Gesagte.<br />

Auch bezogen auf diesen Zeitraum ist der Kostenerstattungsanspruch im Klage- und Berufungsverfahren nicht<br />

beziffert worden und auch das LSG hat nicht spätestens in der mündlichen Verhandlung auf eine Konkretisierung<br />

des Antrags und eine Ergänzung des Tatsachenvortrags hingewirkt. Allerdings bedarf es ebenfalls keiner<br />

Zurückverweisung der Sache, weil der Erfolg des Klagebegehrens an anderen rechtlichen Gesichtspunkten<br />

scheitert.<br />

b) Sowohl der Anspruch auf Kostenerstattung für die Vergangenheit als auch der Anspruch auf<br />

Versorgung oder Kostenfreistellung für die Zeit nach der mündlichen Verhandlung beim LSG reicht nicht weiter<br />

als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch. Er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte und zukünftig<br />

zu beschaffende Krankenbehandlung - hier in Gestalt der laufenden Versorgung des Klägers mit einem<br />

Fertigarzneimittel - zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sachleistung zu<br />

erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 79, 125, 126 f = SozR 3-2500 § 13 Nr 11 S 51 f mwN; zuletzt zB BSG,<br />

Urteil vom 16.12.2008 - B 1 KR 11/08 R - RdNr 12 mwN, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen) . Einen<br />

solchen Naturalleistungsanspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Concerta Retard oder wirkstoffgleichen<br />

anderen Präparaten hat der Kläger nicht, weil diese Mittel in seinem Falle nicht von der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung (GKV) zu leisten sind.<br />

c) Das begehrte methylphenidathaltige Fertigarzneimittel Concerta Retard besitzt ebenso wie das<br />

zeitweise seit 2004 beim Kläger angewandte wirkstoffgleiche Ritalin weder die erforderliche Zulassung zur<br />

Behandlung der beim Kläger bestehenden Krankheit (dazu aa) noch kommt eine Versorgung des Klägers nach<br />

den Grundsätzen des Off-Label-Use (dazu bb) in Betracht. Ein sog Seltenheitsfall oder ein Systemversagen, die<br />

den Wirksamkeitsnachweis eines Arzneimittels erleichtern könnten, liegen ebenso wenig vor wie ein<br />

Anwendungsfall, in dem nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) leistungseinschränkende<br />

Vorschriften des SGB V verfassungskonform auszulegen sind (dazu cc).<br />

aa) Arzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs 1 Satz 1, § 12 Abs 1 SGB<br />

V) nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und 3, § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V umfasst,<br />

wenn ihnen die nach § 21 Abs 1 Arzneimittelgesetz (AMG; Gesetz hier erstmals anwendbar in der ab 6.8.2004<br />

geltenden, später mehrfach geänderten Fassung des Gesetzes vom 30.7.2004, BGBl I 2031, zuletzt mit Wirkung<br />

(mW) vom 1.1.2008 geändert durch Gesetz vom 23.11.2007, BGBl I 2631) erforderliche arzneimittelrechtliche<br />

Zulassung fehlt (vgl zB BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr 7, jeweils RdNr 22 mwN - D-Ribose; BSGE 97, 112<br />

= SozR 4-2500 § 31 Nr 5, jeweils RdNr 15 - Ilomedin; BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 16 RdNr 20 - Venimmun; BSGE<br />

100, 103 = SozR 4-2500 § 31 Nr 9, jeweils RdNr 29 mwN - Lorenzos Öl). Eine arzneimittelrechtliche Zulassung in<br />

diesem Sinne liegt nur vor, wenn das Arzneimittel die Zulassung gerade für dasjenige Indikationsgebiet besitzt, in<br />

dem es im konkreten Fall eingesetzt werden soll.<br />

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Das zulassungspflichtige Fertigarzneimittel Concerta Retard hatte und hat - wie andere<br />

methylphenidathaltige Arzneimittel auch - weder in Deutschland noch EU-weit diese erforderliche<br />

Arzneimittelzulassung für das Indikationsgebiet, für das es bei dem Kläger eingesetzt werden soll. Wie sich aus<br />

der vom SG eingeholten Stellungnahme des BfArM vom 23.6.2006 und den in den Akten befindlichen<br />

Gebrauchsinformation ergibt, ist das Anwendungsgebiet des Mittels nur auf einen Einsatz bei Kindern mit ADHS<br />

über sechs Jahre und bei Jugendlichen mit diesem Krankheitsbild bezogen (vgl auch zB Pressemitteilung der<br />

European Medicines Agency vom 22.1.2009,<br />

www.emea.europa.eu/pdfs/human/referral/phenedate/2231509en.pdf, im Internet recherchiert am 10.6.2009) . Als<br />

Arzneimittel zur Behandlung von Erwachsenen ist ein solches Mittel damit nicht zugelassen.<br />

Dass methylphenidathaltige Arzneimittel in Deutschland für Kinder und Jugendliche mit ADHS zugelassen<br />

sind, genügt entgegen der vom Kläger vertretenen Ansicht nicht, um auch bei Erwachsenen von einer<br />

bestimmungsgemäßen Anwendung auszugehen, die sich im Bereich der arzneimittelrechtlichen Zulassung<br />

bewegt. Die Bestimmung, dass ein Arzneimittel unter bestimmten Voraussetzungen nicht eingenommen werden<br />

darf, stellt eine Einschränkung der Anwendungsgebiete dar und steht folglich mit deren Festlegung auf einer<br />

Stufe; dem entspricht es, dass § 22 Abs 1 Nr 6 AMG die Anwendungsgebiete als Umstände aufführt, über die in<br />

den Unterlagen für die Arzneimittelzulassung Angaben zu machen sind (vgl Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom<br />

21.6.2007 - 3 C 39.06, NVwZ-RR 2007, 776 RdNr 23 = GesR 2007, 533, 534 f; vgl ferner - für die Zuordnung der<br />

Verwendung von Erwachsenen-Arzneimitteln auch für Kinder zum "Anwendungsgebiet" - Kloesel/Cyran,<br />

Arzneimittelrecht, Kommentar, Stand 2008, § 22 AMG Anm 37). Eine Leistungsgewährung an den Kläger, der bei<br />

der hier streitigen, erstmaligen Anwendung im Oktober 2004 bereits 19 Jahre alt war, scheidet damit aus.<br />

Die bloße Möglichkeit als solche, dass es einem pharmazeutischen Unternehmen offensteht, eine<br />

Zulassungserweiterung der Anwendung eines Arzneimittels auf Patienten mit dem gleichen Leiden auch auf<br />

andere Altersgruppen zu beantragen, führt nicht schon zu einem anderen Ergebnis. Die Zulassung ist nach § 25<br />

Abs 5 Satz 1 AMG aufgrund der Prüfung der eingereichten Unterlagen und auf der Grundlage von<br />

Sachverständigengutachten zu erteilen. Nach § 29 Abs 1 AMG hat der Antragsteller einer Arzneimittelzulassung<br />

der zuständigen Bundesoberbehörde (BfArM) unverzüglich Anzeige zu erstatten, wenn sich ua Änderungen in<br />

den Angaben nach § 22 AMG ergeben; Änderungen dürfen erst vollzogen werden, wenn die zuständige<br />

Bundesoberbehörde zugestimmt hat (§ 29 Abs 2a Satz 1 AMG). Nach § 29 Abs 3 Satz 1 Nr 3 AMG ist bei einer<br />

Erweiterung der Anwendungsgebiete sogar eine neue Zulassung zu beantragen. Nur dann, wenn es sich um eine<br />

Änderung nach § 29 Abs 2a Satz 1 Nr 1 AMG handelt, bedarf es einer solchen Neuzulassung nicht; das ist zB der<br />

Fall, wenn es um bloße Angaben zur Dosierung, Art oder Dauer der Anwendung geht; ausgenommen davon - und<br />

neu zulassungspflichtig - sind dagegen Zufügungen einer Indikation, die einem anderen Therapiegebiet<br />

zuzuordnen sind. Gleich, ob man die Erweiterung des Anwendungsgebiets methylphenidathaltiger Arzneimittel<br />

auf Erwachsene nur als gegenüber dem BfArM anzeigepflichtig oder als neu zulassungspflichtig ansieht, belegen<br />

die dargestellten arzneimittelrechtlichen Regelungen jedenfalls, dass diese Änderung jedenfalls nicht ohne<br />

Weiteres von der ursprünglichen, hier beschränkt erteilten Zulassung mit umfasst ist, sondern zumindest einen<br />

Zustimmungsakt des BfArM erfordert. An einem solchen Akt fehlt es bis in die Gegenwart.<br />

So ist zB - was in Einklang mit den schon vom LSG getroffenen Feststellungen steht - über einen<br />

entsprechenden Antrag des Herstellers Medice bislang noch nicht abschließend entschieden worden. Dieses<br />

Unternehmen hatte für das methylphenidathaltige Mittel "Medikinet retard" im März 2007 die Erweiterung der<br />

Zulassung unter Beifügung des Ergebnisses einer klinischen Phase III-Studie auch für Erwachsene beantragt; da<br />

die Zulassungsbehörde zusätzliche Daten zu Dosierung und geschlechtsspezifischen Unterschieden beim<br />

Ansprechen auf Methylphenidat für erforderlich hielt, war beabsichtigt, im September 2008 eine weitere Studie<br />

einzuleiten, welche erst nach Vorliegen von Ergebnissen zu einem Antrag auf Erweiterung der Zulassung führen<br />

soll (so: Auskunft der Firma Medice vom 18.7.2008 unter www.adhszentrum.de/Erwachsene/MHP_fuer_Erwachsene_Zulassungsstand_18_07_2008.php,<br />

im Internet recherchiert am<br />

10.6.2009, aktuell: ww.adhs-Zentrum.de/Erwachsene/MPH_für_Erwachsene_Zulassungsstand_18_07_2008.php)<br />

. Eine solche auf Erwachsene bezogene Zulassung ist seither nicht erfolgt.<br />

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) Eine zulassungsüberschreitende Anwendung des Fertigarzneimittels "Concerta Retard" und<br />

wirkstoffgleicher Präparate auf Kosten der GKV (Off-Label-Use) scheidet im Falle des Klägers ebenfalls aus.<br />

(1) Bei der streitigen Anwendung der Mittel bei Erwachsenen handelt es sich um keinen durch<br />

Gesetzesrecht und untergesetzliche Regelungen gedeckten Off-Label-Use.<br />

Nach § 92 Abs 1 Satz 1, Satz 2 Nr 6 SGB V beschließt der GBA die zur Sicherung der ärztlichen<br />

Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche<br />

Versorgung der Versicherten mit Arzneimitteln. Die insoweit einschlägigen Arzneimittel-Richtlinien (AMR, aktuell<br />

in der ab 25.6.2009 geltenden Fassung des Beschlusses vom 19.3.2009, BAnz S 2185) enthielten seit 21.7.2006<br />

(Beschluss vom 18.4.2006, BAnz S 5122) in Abschnitt H. und Anlage 9 Einzelheiten über die<br />

"Verordnungsfähigkeit von zugelassenen Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten" (vgl<br />

inzwischen Anlage VI zum Abschnitt K.) . Dort werden die hier betroffenen Mittel jedoch nicht aufgeführt.<br />

Die Entscheidung über eine Aufnahme dieser Mittel zur Anwendung bei Erwachsenen-ADHS in die AMR<br />

ist bislang lediglich in Vorbereitung. Nach Abschnitt H. Nr 24 AMR ist die Verordnung von zugelassenen<br />

Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten neben der Zustimmung des pharmazeutischen<br />

Unternehmens davon abhängig, dass die beim BfArM gebildeten Expertengruppen nach § 35b Abs 3 Satz 1 SGB<br />

V eine positive Bewertung zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis über die Anwendung dieser Arzneimittel<br />

in den nicht zugelassenen Indikationen oder Indikationsbereichen als Empfehlung abgegeben haben und der<br />

GBA die Empfehlung in der AMR übernommen hat. Insoweit hatte der GBA dem BfArM im Jahr 2006 den<br />

Arbeitsauftrag zum Komplex "Methylphenidat bei ADHS im Erwachsenenalter" erteilt. Dieser Arbeitsauftrag wird<br />

indessen nach wie vor in der zuständigen Expertengruppe "Off-Label Fachbereich Neurologie/Psychiatrie"<br />

behandelt, weil wegen noch ausstehender Studiendaten eine abschließende Bearbeitung nicht möglich ist (so<br />

Auskunft des BfArM von November 2008, www.adhs.ch/forum/blog.php?b=72; Sachstandstabelle der BfArM-<br />

Expertengruppe Off-Label Fachbereich Neurologie/Psychiatrie, Stand 30.4.2009,<br />

www.bfarm.de/cln_028/nn_1199628/DE/ Arzneimittel/3_nachDerZulassung/offLabel/Neurologie-<br />

Psychiatrie/Bewertungen__Neuro.html , beides im Internet recherchiert am<br />

10.6.2009) .<br />

(2) Die nach der Rechtsprechung des BSG für einen Off-Label-Use zu Lasten der GKV erforderlichen<br />

Voraussetzungen sind ebenfalls nicht erfüllt.<br />

Der Senat hat in seinem Urteil vom 19.3.2002 (BSGE 89, 184 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 - Sandoglobulin)<br />

dafür die allgemeinen Voraussetzungen aufgezeigt. Ein Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es 1.<br />

um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig<br />

beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der<br />

Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ<br />

oder palliativ) erzielt werden kann (ebenso zB BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, jeweils RdNr 17 f -<br />

Ilomedin) . Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl<br />

BSGE 95, 132 RdNr 20 = SozR 4-2500 § 31 Nr 3 RdNr 27 mwN - Wobe-Mugos E; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 10<br />

RdNr 24 mwN - Neuropsychologische Therapie) . Dabei bedarf es eines positiven Wirksamkeitsnachweises nach<br />

den oben genannten und nachfolgend näher aufzuzeigenden Maßstäben. An der erforderlichen begründeten<br />

Aussicht auf einen Behandlungserfolg fehlt es hier.<br />

Auch wenn es sich - was das LSG offengelassen hat - bei dem beim Kläger bestehenden ADHS um eine<br />

die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Krankheit handeln sollte und es - was hier ebenso<br />

dahinstehen kann - möglicherweise keine zumutbaren Behandlungsmöglichkeiten (hier von der Beklagten<br />

angesprochen: Psychotherapie) gab, fehlt es jedenfalls an der für einen Off-Label-Use erforderlichen<br />

Erfolgsaussicht. Im Zeitpunkt der erfolgten Behandlungsmaßnahmen bestand aufgrund der vorliegenden<br />

konkreten Datenlage keine begründete Aussicht darauf, dass gerade mit dem begehrten Arzneimittel Concerta<br />

retard ein Behandlungserfolg erzielt werden konnte. Maßgeblich ist insoweit die Faktenlage zum Zeitpunkt der<br />

letzten mündlichen Verhandlung des LSG, welches sich in nicht zu beanstandender Weise im Wesentlichen auf<br />

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Ausführungen in den beigezogenen MDK-Gutachten vom 29.8.2007 und vom 11.2.2008 gestützt hat. Generelle,<br />

ergänzend vom Senat ermittelte Tatsachen bestätigen die dazu gewonnene Einschätzung.<br />

Von hinreichenden Erfolgsaussichten ist nach der Rechtsprechung des BSG zum Off-Label-Use nur dann<br />

auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das (konkrete) Arzneimittel für die<br />

betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die<br />

Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der<br />

Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit<br />

respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines<br />

Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des<br />

Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen<br />

und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem<br />

vorgenannten Sinne besteht (BSGE 89, 184, 192 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 S 36; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 6<br />

RdNr 12 f mwN - restless legs) . Hieran fehlt es.<br />

Die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Behandlungserfolg, die für eine<br />

zulassungsüberschreitende Pharmakotherapie auf Kosten der GKV nachgewiesen sein muss, entspricht<br />

derjenigen für die Zulassungsreife des Arzneimittels im betroffenen Indikationsbereich. Sie ist während und<br />

außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens regelmäßig gleich. Der Schutzbedarf der<br />

Patienten, der dem gesamten Arzneimittelrecht zugrunde liegt und - wie dargelegt - in das Leistungsrecht der<br />

GKV einstrahlt, unterscheidet sich in beiden Situationen nicht (vgl BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5,<br />

jeweils RdNr 24 - Ilomedin) .<br />

Vor diesem Hintergrund hat im Falle des Klägers der bereits unter c) aa) beschriebene Umstand Gewicht,<br />

dass das BfArM erst noch zusätzliche Daten zu Dosierung und geschlechtsspezifischen Unterschieden beim<br />

Ansprechen auf Methylphenidat für erforderlich hält, um über eine erweiterte, auch auf Erwachsene bezogene<br />

Zulassung entscheiden zu können. Da die weitere Studie, welche im September 2008 eingeleitet werden sollte,<br />

offenbar noch nicht abgeschlossen ist und ihre Ergebnisse noch nicht veröffentlicht worden sind, fehlte und fehlt<br />

es für die bislang erfolgte Behandlung des Klägers an den für einen Off-Label-Use notwendigen qualifizierten<br />

fachlichen Erkenntnissen. Dies steht in Einklang damit, dass auch ein positives Votum seitens der beim BfArM<br />

gebildeten Off-Label-Use-Expertengruppe (vgl oben ) noch nicht vorliegt. Demgemäß kann auch aus der von<br />

Klägerseite angeführten, 2007 abgeschlossenen, mit 359 Studienteilnehmern durchgeführten bisher größten<br />

Phase III-Studie über den Einsatz des methylphenidathaltigen Arzneimittels "Medikinet retard" im<br />

Erwachsenenalter (sog "EMMA-Studie") , die am 22.1.2009 in einem medizinischen Fachjournal publiziert worden<br />

ist, aktuell noch nichts hergeleitet werden. Der Hersteller Medice berichtet selbst davon, dass er auch mit dieser<br />

Studie die angestrebte Zulassung bislang noch nicht habe erlangen können und deshalb weiter hieran arbeite<br />

(www.medice.de/unternehmen/aktuelles/neues-zu-adhs-im-erwachsenenalter, im Internet recherchiert am<br />

10.6.2009; im Ergebnis übereinstimmend bereits LSG Hamburg, Beschluss vom 14.8.2008 - L 1 B 258/08 ER KR,<br />

Breithaupt 2009, 7; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.11.2008 - L 9 KR 110/06, juris; SG Düsseldorf, Urteil<br />

vom 5.3.2008 - S 2 KA 84/07, juris).<br />

(3) Der Fall des Klägers lässt schließlich auch keine erleichterten Voraussetzungen für einen Off-Label-<br />

Use zu, die über die bisherige BSG-Rechtsprechung hinausgehen.<br />

Dabei kann dahinstehen, ob angesichts der im Laufe der letzten Jahre vom Gesetzgeber geschaffenen<br />

Regelungen, mit denen er deutlich gemacht hat, unter welchen Bedingungen er eine Off-Label-Versorgung mit<br />

Arzneimitteln in der GKV für angezeigt hält, aktuell überhaupt noch Raum für eine richterrechtliche<br />

Rechtsfortbildung in diesem Bereich besteht, deren Ermöglichung bei Verkündung des Sandoglobulin-Urteils vom<br />

19.3.2002 (BSGE 89, 184 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8) noch wesentlich auf dem Fehlen solcher normativen<br />

Vorgaben beruhte.<br />

Zwar lässt sich im Ausgangspunkt daran denken, die in der Rechtsprechung zum Off-Label-Use<br />

entwickelten Grundsätze dann abgestuft modifizierend anzuwenden, wenn es darum geht, mit einem bislang nur<br />

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für die Behandlung speziell von Kindern zugelassenen Arzneimittel zulassungsüberschreitend auch Erwachsene<br />

zu behandeln, wenn bei Erwachsenen ein identisches Nutzen-/Gefahrenpotenzial besteht oder aber sogar ein<br />

geringeres Schutzbedürfnis. In der Vergangenheit resultierte das Bedürfnis für die (auch<br />

krankenversicherungsrechtliche) Ermöglichung des Off-Label-Use durch die Rechtsprechung oftmals aus der<br />

umgekehrten, als nicht hinnehmbar empfundenen Sachlage, dass ein Arzneimittel nur für die Behandlung von<br />

Erwachsenen zugelassen war, nicht aber für diejenige von Kindern (vgl zu diesem Ausgangspunkt und den aus<br />

einer Übertragung auf Kinder resultierenden Gefahren, jeweils mwN: BSGE 89, 184, 188, 189 = SozR 3-2500 §<br />

31 Nr 8 S 32, 33, 34 - Sandoglobulin; BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr 1, jeweils RdNr 26 f, 32 - Visudyne) .<br />

Auf diese Situation ist sowohl auf europarechtlicher Ebene ( EG-Verordnungen über Kinderarzneimittel ua, EGV<br />

1901/2006 vom 12.12.2006 und EGV 1902/2006 vom 20.12.2006, ABl EU L 378 S 1 und 20; dazu zB<br />

Müllens/Butzer/Seibert-Grafe/Zepp, DÄBl 2007, A-226) wie auch auf nationaler Ebene reagiert worden (vgl<br />

Kinder-Arzneimittel-Kommission nach § 25 Abs 7a AMG durch Gesetz vom 30.7.2004, BGBl I 2031) .<br />

Der vorliegende Fall gibt keinen Anlass, die Anforderungen an einen zulassungsüberschreitenden Einsatz<br />

von Kinderarzneimitteln für Erwachsene zu modifizieren. Eine solche Anpassung kommt etwa in Betracht, wenn<br />

der Versicherte in der Zeit unmittelbar vor Vollendung des 18. Lebensjahres mit einem nur für Kinder und<br />

Jugendliche zugelassenen Arzneimittel indikationsbezogen versorgt wurde und er nach Erreichen des 18.<br />

Lebensjahres an derselben Krankheit leidet, die auch nach einem solchen "Stichtag" auf andere Weise nicht<br />

angemessen behandelt werden kann. Unter diesem Blickwinkel könnte auch die Behandlung von ADHS zu<br />

würdigen sein, zB im Wege einer bereichsspezifischen Auslegung des Merkmals "Jugendlicher". Für ADHS ging<br />

man in Fachkreisen im deutschsprachigen Raum noch bis Ende der 1990er Jahre vielfach davon aus, dass es<br />

sich um eine Störung handele, die ausschließlich das Kinder- und Jugendalter betreffe (Prävalenz 4 bis 5 %) und<br />

mit dem Erwachsenenalter "ausheile". Demgegenüber haben inzwischen zahlreiche Studien verdeutlicht, dass<br />

ADHS häufig auch im Erwachsenenalter (Prävalenz ca 2 %) fortbesteht (zum Ganzen vgl zB<br />

Philipsen/Heßlinger/Tebartz van Elst, DÄBl 2008, A-311 ff) . Sollte das Risiko-Nutzen-Potenzial beim<br />

Fortgebrauch eines für Kinder zugelassenen und im Kindes- und Jugendlichenalter schon unmittelbar vor<br />

Erreichen des 18. Lebensjahrs angewandten Arzneimittels auch bei Überschreiten der Schwelle zur Volljährigkeit<br />

im Wesentlichen gleich geblieben sein, bedürfte es jedenfalls einer besonderen Rechtfertigung, die nahtlose<br />

Weiterversorgung des Betroffenen mit dem begehrten Mittel abzulehnen.<br />

Allerdings würde sich dieser Gesichtspunkt im zu entscheidenden Fall nicht zu Gunsten des Klägers<br />

auswirken. Denn nach den mit Revisionsgründen nicht angegriffenen und daher für den Senat bindenden<br />

Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) wurde er erstmals im Oktober 2004 mit methylphenidathaltigen<br />

Arzneimitteln versorgt. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits 19 Jahre alt. Bei ihm war mithin nicht zu besorgen,<br />

dass eine Arzneimittelversorgung, auf die er seit längerem eingestellt war, "von einem Tag auf den anderen"<br />

enden könnte, unbeschadet der Frage, ob Behandlungsalternativen im System der GKV zur Verfügung standen.<br />

Mit zu berücksichtigen bei einem Einsatz methylphenidathaltiger Arzneimittel erstmals im<br />

Erwachsenenalter - wie er beim Kläger im Raum stünde - ist, dass dieser Arzneimittelgebrauch hier durchaus<br />

zusätzliche Gefahren mit sich bringt. Arzneimittel mit dem Wirkstoff Methylphenidat gehören zu den<br />

Psychostimulanzien. Neben den aktuell auf europäischer Ebene hervorgehobenen Gefährdungen und<br />

unerwünschten Nebenwirkungen selbst bei Kindern (vgl Pressemitteilung der EMEA vom 22.1.2009 zu<br />

erheblichen kardio- und cerebovaskulären Risiken sowie Risiken auf psychiatrischem Gebiet, die allerdings noch<br />

kein Einschreiten rechtfertigten: www.emea.europa.eu/pdfs/human/referral/phenedate/2231509en.pdf,<br />

recherchiert am 10.6.2009) , ist in Veröffentlichungen von einem besonderen Suchtpotenzial der Mittel die Rede.<br />

Auch wenn in der Regel ein erhöhtes Abhängigkeitspotenzial der Mittel bei bestimmungsgemäßer oraler<br />

Einnahme der Mittel im therapeutischen Dosisbereich in Abrede gestellt wird, so sind doch Missbrauchsfälle bei<br />

intranasaler oder intravenöser Zufuhr bekannt geworden (zB Philipsen/Heßlinger/Tebartz van Elst, DÄBl 2008, A-<br />

311). Solche Missbrauchsrisiken sind bei der Dauertherapie psychisch in ihrer Gesundheit beeinträchtigter junger<br />

Erwachsener wie dem Kläger typischerweise höher einzuschätzen als bei einem ggf nur vorübergehenden bzw<br />

schon gefestigt kontrollierten Einsatz der Mittel im Kindesalter, der dann nach dem 18. Lebensjahr fortgesetzt<br />

werden soll.<br />

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cc) Eine Leistungspflicht der Beklagten scheidet auch unter weiteren rechtlichen Gesichtspunkten aus.<br />

(1) Für einen Seltenheitsfall, bei dem eine Ausnahme von dem auch für die Leistungspflicht nach dem<br />

SGB V maßgeblichen Erfordernis einer in Deutschland wirksamen arzneimittelrechtlichen Zulassung erwogen<br />

werden könnte (vgl dazu BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr 1, jeweils RdNr 21 ff - Visudyne; zuletzt: BSG,<br />

Urteil vom 5.5.2009 - B 1 KR 15/08 R - ICL, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen), ist angesichts der oben<br />

dargestellten Verbreitung der ADHS auch im Erwachsenenalter (ca 2 %) nichts ersichtlich.<br />

(2) Es fehlen gleichermaßen Hinweise auf eine verzögerte Bearbeitung eines Zulassungsantrags durch<br />

das BfArM oder die Expertengruppen nach § 35b Abs 3 Satz 1 SGB V, die allerdings lediglich Raum für die - dem<br />

Kläger nicht zum Erfolg verhelfende - Off-Label-Use-Rechtsprechung gäbe.<br />

(3) Schließlich sind im Falle des Klägers auch die Voraussetzungen für eine grundrechtsorientierte<br />

Auslegung der Regelungen des Leistungsrechts der GKV nicht erfüllt (zu den Voraussetzungen vgl zB im<br />

Anschluss an BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5: BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr 7, jeweils RdNr<br />

31 - D-Ribose; BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, jeweils RdNr 21 und 30 f mwN - Tomudex; BSGE 97,<br />

190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, jeweils RdNr 20 ff mwN - LITT; BSGE 100, 103 = SozR 4-2500 § 31 Nr 9, jeweils<br />

RdNr 32 - Lorenzos Öl; zuletzt: BSG, Urteil vom 5.5.2009 - B 1 KR 15/08 R - RdNr 9 mwN - ICL, zur<br />

Veröffentlichung in SozR vorgesehen; vgl zu weiteren Anwendungsfällen - auch im Verhältnis zu den<br />

Anforderungen an einen Off-Label-Use - zB: Kretschmer, MEDSACH 2009, 54 ff).<br />

Die verfassungskonforme Auslegung setzt ua voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig<br />

tödlich verlaufende (vgl BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, jeweils RdNr 21, 29 mwN - Tomudex) oder eine<br />

zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt (vgl BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr 7,<br />

jeweils RdNr 31 - D-Ribose). Um eine solche Erkrankung geht es bei dem Leiden des Klägers nicht. Das<br />

Krankheitsbild des ADHS im Erwachsenenalter zeichnet sich allgemein aus durch eine Aufmerksamkeitsstörung<br />

bei fehlender Stimulation, Hyperaktivität (zB "Gefühl innerer Unruhe"/"Nervosität"), Affektlabilität, desorganisiertes<br />

Verhalten, gestörte Affektkontrolle, Impulsivität und emotionale Überreagibilität (vgl Philipsen/Heßlinger/Tebartz<br />

van Elst, DÄBl 2008, A-311; Leitlinien auf der Basis eines Expertenkonsensus mit Unterstützung der Deutschen<br />

Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde , Der Nervenarzt 2003, 939 ). In<br />

ärztlichen Stellungnahmen wird beim Kläger entsprechend davon berichtet, er weise immer wieder<br />

Impulsdurchbrüche auf und zeige Begleitphänomene wie Alkoholkonsum, Drogenkonsum, Essstörungen mit<br />

nächtlichen Fressattacken, schulischen Schwierigkeiten und Depressionen. Mit diesen Auswirkungen seiner<br />

Krankheit wird nicht die Schwelle erreicht, welche allgemein für eine grundrechtskonforme erweiterte Auslegung<br />

des Leistungsrechts der GKV zu fordern ist. Das Kriterium einer Krankheit, die zumindest mit einer<br />

lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist,<br />

umschreibt nämlich eine strengere Voraussetzung, als sie mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden"<br />

Erkrankung für die Eröffnung des Off-Label-Use formuliert ist (vgl BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 8 RdNr 17 - Mnesis;<br />

BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 10 RdNr 34 - Neuropsychologische Therapie). Das BSG hat dementsprechend das<br />

Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit und eine Gleichstellung mit<br />

den in diesem Bereich zu verlangenden notstandsähnlichen Extremsituationen auch schon in ähnlichen Fällen mit<br />

durchaus gravierenden Beeinträchtigungen verneint (vgl die Übersicht in BSG, Urteil vom 5.5.2009 - B 1 KR 15/08<br />

R - ICL, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Auf dieser Linie ist auch das ADHS bei Erwachsenen<br />

einzustufen.<br />

(4) Nach alledem ist es für den krankenversicherungsrechtlichen Anspruch des Klägers ohne Belang, dass<br />

die Leitlinien der DGPPN (Der Nervenarzt 2003, 939, 941; vgl auch Philipsen/Heßlinger/Tebartz van Elst, DÄBl<br />

2008, A-311 bei Fußnote 16) eine Behandlung von Erwachsenen, die an ADHS leiden, mit dem Wirkstoff<br />

Methylphenidat als "Mittel der ersten Wahl" ansehen. Grundsätzlich bestimmen nämlich nicht Leitlinien der<br />

medizinischen Fachgesellschaften den Umfang der Leistungsansprüche der Versicherten der GKV. Das<br />

Leistungsrecht ist vielmehr insbesondere von den Vorgaben des § 2 Abs 1 Satz 1 und 3, § 12 SGB V geprägt,<br />

wonach Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen<br />

Erkenntnisse und dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsprechen müssen. Ebenso ist hier unerheblich, dass<br />

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methylphenidathaltige Arzneimittel in einigen Ländern - ua den USA - über eine Zulassung auch für ADHS bei<br />

Erwachsenen verfügen; ein Einzelimport auf Kosten der Beklagten nach § 73 Abs 3 AMG scheidet mangels der<br />

dafür erforderlichen qualifizierten Voraussetzungen aus.<br />

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 6.5.2009, B 6 KA 2/08 RVertragsarzt - unzulässige Verordnung von<br />

Sprechstundenbedarf - kein Vorliegen von Vertrauensschutz bei Verordnungsregressen -<br />

Kostenbeteiligung eines Hauptbeteiligten bei Rechtsstreit - Zuständigkeit der Gremien der<br />

Wirtschaftlichkeitsprüfung<br />

Leitsätze<br />

1. Ein Regress wegen unzulässiger Verordnung von Sprechstundenbedarf setzt kein Verschulden des<br />

Vertragsarztes voraus.<br />

2. Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum Vertrauensschutz gegenüber der nachträglichen<br />

Berichtigung fehlerhafter Honorarbescheide durch die KÄV sind auf die Festsetzung von Regressen wegen<br />

rechtswidriger Sprechstundenbedarfsverordnungen nicht ohne weiteres übertragbar.<br />

3. Ein Hauptbeteiligter, der selbst kein Rechtsmittel einlegt, muss sich im Anwendungsbereich des § 197a SGG<br />

auch dann nicht an den Kosten des Rechtsstreits beteiligen, wenn er in der Sache unterliegt. Tritt er dem<br />

erfolglosen Hauptantrag des die Revision führenden Beigeladenen bei, hat er keinen Anspruch auf Erstattung<br />

seiner außergerichtlichen Kosten.<br />

Tatbestand<br />

Umstritten ist ein Sprechstundenbedarfsregress (SSB-Regress) für die Quartale IV/1997 bis III/1998.<br />

Die zu 1. beigeladene Gemeinschaftspraxis für radiologische Diagnostik und Nuklearmedizin bot in den<br />

streitbefangenen Quartalen Leistungen der sog periradikulären Schmerztherapie an. Bei diesem Verfahren<br />

werden Schmerzmittel unter computertomographischer Kontrolle verabreicht. Dies erfolgt mit Hilfe sog "koaxialer<br />

Interventionssets", die von der Beigeladenen zu 1. als Sprechstundenbedarf (SSB) verordnet wurden. Auf Antrag<br />

der klagenden Ersatzkasse setzte der Prüfungsausschuss für die vier streitbefangenen Quartale SSB-Regresse in<br />

Höhe von insgesamt 144.301,03 Euro mit der Begründung fest, die koaxialen Interventionssets hätten nicht als<br />

SSB verordnet werden dürfen.<br />

Der beklagte Beschwerdeausschuss half den Widersprüchen der beigeladenen Gemeinschaftspraxis ab.<br />

Er teilte die Auffassung des Prüfungsausschusses, die koaxialen Interventionssets hätten nicht als SSB verordnet<br />

werden dürfen; den betroffenen Ärzten sei jedoch im Hinblick auf fehlerhafte Auskünfte der zu 2. beigeladenen<br />

Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) Vertrauensschutz zuzubilligen (Bescheid vom 15.8.2002).<br />

Das von der Klägerin angerufene Sozialgericht (SG) hat den Rechtsstreit zunächst im Hinblick auf das<br />

Revisionsverfahren B 6 KA 41/03 R zum Ruhen gebracht, nach Abschluss dieses Verfahrens durch Urteil des<br />

Bundessozialgerichts (BSG) vom 20.10.2004 wieder aufgenommen und die Klage abgewiesen. Zwar hätte die<br />

Beigeladene zu 1. die Interventionssets nicht als SSB verordnen dürfen, im Hinblick auf die gegenteiligen<br />

Auskünfte der zu 2. beigeladenen KÄV müsse den Ärzten aber Vertrauensschutz zugebilligt werden. Aus dem<br />

Umstand, dass das maßgebliche Schreiben der KÄV vom 4.3.1999 stamme, könne nicht geschlossen werden,<br />

dass dieses nicht auch die Rechtsauffassung der KÄV für den hier betroffenen Zeitraum 1997 und 1998<br />

wiedergegeben habe (Urteil vom 31.5.2006).<br />

Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) den angefochtenen Bescheid<br />

aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, die Widersprüche der Beigeladenen zu 1. gegen die<br />

Regressbescheide des Prüfungsausschusses zurückzuweisen. Das Berufungsgericht ist der Auffassung, der<br />

Beigeladenen zu 1. komme kein Vertrauensschutz zu. Die Stellungnahme der zu 2. beigeladenen KÄV stelle<br />

lediglich den Diskussionsbeitrag eines Verfahrensbeteiligten dar und sei im Übrigen für die von der<br />

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Gemeinschaftspraxis getätigten Verordnungen der Jahre 1997 und 1998 nicht ursächlich geworden. Allein aus<br />

dem Umstand, dass über die Verordnungsfähigkeit der koaxialen Interventionssets Meinungsverschiedenheiten<br />

bestanden hätten, könne nicht auf einen Vertrauensschutztatbestand zugunsten der beigeladenen<br />

Gemeinschaftspraxis geschlossen werden (Urteil vom 14.11.2007).<br />

Mit ihrer Revision rügt die Beigeladene zu 1. eine Verletzung des bundesrechtlichen Gebotes des<br />

Vertrauensschutzes. Sie ist der Auffassung, das BSG habe in den vergangenen Jahren den Schutz des<br />

Vertrauens von Vertragsärzten gegenüber rückwirkenden Abrechnungskorrekturen durch ihre KÄV ausgeweitet.<br />

Danach sei auch in der hier betroffenen Konstellation, dass Ärzte auf Angaben ihrer KÄV zur Zulässigkeit einer<br />

bestimmten Verordnungsweise vertraut hätten, die sich im Nachhinein als falsch herausgestellt habe,<br />

Vertrauensschutz anzuerkennen. In diesem Zusammenhang sei auch von Bedeutung, dass die Klägerin als im<br />

Bezirk der beigeladenen KÄV gesamtvertraglich zuständige Stelle für die Abwicklung des SSB die Verordnungen<br />

der koaxialen Interventionssets bis Ende 1998 entgegengenommen habe. Zwar könne allein aus dem Umstand,<br />

dass eine bestimmte Verordnungsweise in der Vergangenheit unbeanstandet geblieben sei, nicht abgeleitet<br />

werden, dass auch in Zukunft bei unverändertem Verordnungsverhalten SSB-Regresse generell ausgeschlossen<br />

seien. Im maßgeblichen Zeitraum 1997/1998 hätten jedoch im Zuständigkeitsbereich der zu 2. beigeladenen KÄV<br />

erhebliche Unsicherheiten hinsichtlich der Verordnung koaxialer Interventionssets bestanden. Die Äußerung der<br />

KÄV vom 4.3.1999 und deren Widerruf am 12.7.1999 ließen dies deutlich erkennen. Im Übrigen habe die KÄV<br />

schon mit Schreiben vom 24.11.1998 gegenüber dem Prüfungsausschuss ihre Ansicht vertreten, die von der<br />

beigeladenen Gemeinschaftspraxis praktizierte Verordnungsweise sei zulässig. Erkennbar unterschiedliche<br />

Rechtsauffassungen zu bestimmten Verordnungsweisen verpflichteten die Institutionen der vertragsärztlichen<br />

Versorgung, zum Schutz der betroffenen Ärzte klare Hinweise auf das zulässige Vorgehen zu geben. Andernfalls<br />

dürften Ärzte nicht nachträglich mit erheblichen Summen für eine Verordnungspraxis in Regress genommen<br />

werden, die zum Zeitpunkt der Ausstellung der Verordnungen nicht beanstandet worden sei.<br />

Die Beigeladene zu 1. beantragt,<br />

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14.11.2007 aufzuheben und die Berufung der<br />

Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 31.5.2006 zurückzuweisen.<br />

Der Beklagte schließt sich dem Antrag der Beigeladenen zu 1. an. Er verweist darauf, dass er schon vor<br />

Bekanntwerden des BSG-Urteils vom 20.10.2004 der Ansicht gewesen sei, die Verordnungsweise der<br />

Beigeladenen zu 1. sei fehlerhaft. Sein Bescheid werde aber von der Erwägung getragen, der Praxis komme<br />

wegen der Unklarheiten über die Verordnungsmöglichkeiten und der (unzutreffenden) Äußerungen der KÄV<br />

Vertrauensschutz zu.<br />

Die Klägerin beantragt,<br />

die Revision zurückzuweisen.<br />

Sie verteidigt das Urteil des LSG. Über die Unzulässigkeit der Verordnung koaxialer Interventionssets als<br />

SSB bestehe zwischen den Beteiligten im Hinblick auf die Entscheidung des BSG vom 20.10.2004 kein Streit<br />

mehr. Zu Recht habe das LSG weiterhin angenommen, die beigeladene Gemeinschaftspraxis könne sich nicht<br />

auf Vertrauensschutz berufen. Sie - die Klägerin - habe zu keinem Zeitpunkt gegenüber deren Ärzten erklärt, die<br />

von ihnen praktizierte Verordnungsweise sei zulässig. Die engen Voraussetzungen, unter denen das BSG<br />

nachträgliche Honorarkorrekturen im Hinblick auf schutzwürdiges Vertrauen der betroffenen Ärzte beanstandet<br />

habe, seien hier nicht erfüllt.<br />

Die Beigeladene zu 2. äußert sich nicht im Revisionsverfahren.<br />

Entscheidungsgründe<br />

Die Revision ist nicht begründet. Das Berufungsgericht hat zu Recht - sinngemäß, wie hier klarzustellen ist<br />

- das sozialgerichtliche Urteil vom 31.5.2006 sowie ausdrücklich den angefochtenen Bescheid des Beklagten vom<br />

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15.8.2002 aufgehoben. Der Beklagte ist verpflichtet, die Widersprüche der Beigeladenen zu 1. gegen die<br />

Regressbescheide des Prüfungsausschusses zurückzuweisen. Diese sind rechtmäßig.<br />

Rechtsgrundlage der streitigen Regresse sind die Vorschriften der im Zuständigkeitsbereich der zu 2.<br />

beigeladenen KÄV geltenden SSB-Vereinbarung, deren Inhalt das Berufungsgericht nur teilweise festgestellt hat.<br />

Maßgeblich ist insoweit die zum 1.7.1995 in Kraft getretene Fassung der SSB-Vereinbarung, die in Nr VI 1 auf die<br />

Vorschriften der seit dem 1.7.1993 im Bezirk der zu 2. beigeladenen KÄV geltenden Prüfvereinbarung verweist.<br />

Diese ordnet in § 15 die Zuständigkeit der Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung auch für die Prüfung der<br />

Verordnungsweise beim SSB an; das schließt nach § 15 Abs 4 der Prüfvereinbarung auch die Festsetzung von<br />

Regressen ein.<br />

Nach der Rechtsprechung des Senats ist es grundsätzlich zulässig, dass die Gesamtvertragspartner im<br />

Wege gesamtvertraglicher Vereinbarung in der Prüfvereinbarung oder in der SSB-Vereinbarung die Zuständigkeit<br />

für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit von SSB-Verordnungen und für die Verordnungsfähigkeit der jeweiligen<br />

Gegenstände und Substanzen auf die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung iS des § 106 SGB V übertragen<br />

(BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 6 RdNr 8) . Von dieser Befugnis haben die Gesamtvertragspartner im Bezirk der zu<br />

2. beigeladenen KÄV Gebrauch gemacht.<br />

Die für die "periradikuläre Schmerztherapie" von den Ärzten der Beigeladenen zu 1. eingesetzten<br />

koaxialen Interventionssets durften in den streitbefangenen Quartalen IV/1997 bis III/1998 nicht als SSB verordnet<br />

werden. SG und LSG haben übereinstimmend der maßgeblichen SSB-Vereinbarung entnommen, dass die Sets<br />

keine Einmal-Infusionsbestecke im Sinne der Nr IV 5 der SSB-Vereinbarung darstellen. Diese vom BSG<br />

grundsätzlich nicht überprüfbare Auslegung einer landesrechtlichen Regelung (vgl § 162 SGG) wird von den<br />

Beteiligten nicht in Frage gestellt. Im Übrigen sind die Sets "Einmalkanülen", deren Kosten nach den Allgemeinen<br />

Bestimmungen A I. Teil A Nr 2 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen in der ab<br />

dem 1.7.1997 geltenden Fassung bereits in den berechnungsfähigen Leistungen für die Schmerztherapie<br />

enthalten sind (vgl BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 6 RdNr 14 bis 18) . Die Beigeladene zu 1. hätte die Sets daher -<br />

ebenso wie andere zu den allgemeinen Praxiskosten rechnende Gegenstände - auf eigene Rechnung beschaffen<br />

müssen; mit der Vergütung der vertragsärztlichen Leistungen durch die Beigeladene zu 2. gelten die dafür<br />

aufgewandten Beträge als abgegolten. Die Krankenkassen haben diese Kosten pauschal mit den an die<br />

Beigeladene zu 2. entrichteten Gesamtvergütungen bezahlt. Der Weg, durch Verordnung der Sets als SSB eine<br />

(erneute) Zahlungsverpflichtung der Krankenkassen zusätzlich zur Abgeltung durch die Gesamtvergütungen zu<br />

erreichen, ist aus Rechtsgründen ausgeschlossen.<br />

16<br />

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Festsetzung eines SSB-Regresses liegen danach vor. Die<br />

zu 1. beigeladene Gemeinschaftspraxis hat die koaxialen Interventionssets zur Einbringung von Schmerzmitteln<br />

in den Körper der Patienten als SSB verordnet, obwohl eine derartige Verordnung ausgeschlossen gewesen ist.<br />

Allein das rechtfertigt die Festsetzung eines Regresses zu Gunsten der klagenden Krankenkasse, die für alle<br />

Krankenkassen im Bezirk der Beigeladenen zu 2. im streitbefangenen Zeitraum den SSB abgewickelt hat. Der<br />

Feststellung eines Verschuldens des betroffenen Arztes bedarf es nicht. Fehlerhafte oder unwirtschaftliche SSB-<br />

Verordnungen lösen eine Ersatzpflicht des die Verordnung ausstellenden Arztes unabhängig von einem etwaigen<br />

Verschulden aus (BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 7 RdNr 12) . Insoweit gelten für die Verordnung von SSB keine<br />

anderen Grundsätze als allgemein für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungs- und Verordnungsweise<br />

eines Vertragsarztes. Dazu hat der Senat in zwei Urteilen vom 5.11.2008 erneut dargelegt, dass die Festsetzung<br />

von Honorarkürzungen und Verordnungsregressen kein Verschulden des Vertragsarztes voraussetzt (ua B 6 KA<br />

63/07 R, BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 21 RdNr 28). Deshalb ist grundsätzlich für die Rechtmäßigkeit der<br />

Regressbescheide des Prüfungsausschusses ohne Bedeutung, ob die Mitglieder der zu 1. beigeladenen<br />

Gemeinschaftspraxis subjektiv der Auffassung gewesen sind, ihre Verordnungspraxis sei mit den maßgeblichen<br />

rechtlichen Vorschriften vereinbar.<br />

17<br />

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Es bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung, unter welchen Voraussetzungen im Einzelfall<br />

ausnahmsweise SSB-Regresse ausgeschlossen sind, weil die verordnenden Ärzte berechtigterweise auf<br />

Auskünfte, Mitteilungen oder Entscheidungen der Institutionen der vertragsärztlichen Versorgung vertraut haben,<br />

die ihre Verordnungspraxis bestätigten. Wenn für derartige Vertrauensschutzerwägungen im Zusammenhang mit<br />

fehlerhaften SSB-Verordnungen überhaupt Raum sein sollte, dann setzt das zumindest voraus, dass die für die<br />

Verordnung und Prüfung von SSB zuständigen Körperschaften oder Gremien explizit die von den betroffenen<br />

Ärzten praktizierte oder beabsichtigte Verordnungsweise gebilligt und die Ärzte in Kenntnis dieser Auskunft der<br />

zuständigen Behörden ihre (erst nachträglich als fehlerhaft erkannte) Verordnungsweise fortgesetzt bzw<br />

aufgenommen haben. Tatsächliche Umstände iS des § 163 SGG, die diese Voraussetzungen zu erfüllen geeignet<br />

wären, hat das LSG indessen nicht festgestellt.<br />

18<br />

Die Beigeladene zu 1. ist der Auffassung, gegenüber einem Regress wegen fehlerhafter SSB-<br />

Verordnungen müsse unter denselben Voraussetzungen Vertrauensschutz gewährt werden, wie das nach der<br />

Rechtsprechung des Senats bei nachträglichen Honorarberichtigungen durch die KÄV geboten ist. Auf diese<br />

Grundsätze (zusammengefasst zuletzt in BSG SozR 4-2500 § 106a Nr 1 RdNr 16) kann hier jedoch von<br />

vornherein nicht abgestellt werden. Die Rechtsprechung des Senats zum schutzwürdigen Vertrauen gegenüber<br />

rückwirkenden Honorarkorrekturen durch die KÄV ist untrennbar damit verbunden, dass die KÄV Quartal für<br />

Quartal ihren Mitgliedern Honorarbescheide erteilt, die als Verwaltungsakte grundsätzlich bestandskräftig werden.<br />

Der Senat steht auf dem Standpunkt, dass die Vorschriften über die rückwirkende Korrektur von<br />

Verwaltungsakten (§ 45 SGB X) durch § 106a Abs 1 SGB V bzw - in der Zeit vor dem 1.1.2004 - durch die<br />

Richtigstellungsvorschriften der Bundesmantelverträge verdrängt werden. Deshalb können Korrekturen<br />

fehlerhafter Honorarbescheide im Regelfall mehrere Jahre rückwirkend rechtmäßig vorgenommen werden,<br />

unabhängig davon, ob die Ärzte auf die Richtigkeit dieser Bescheide vertraut haben und vertrauen durften. Dieser<br />

sehr weitgehende Ausschluss jedweden Vertrauensschutzes gegenüber nachträglichen Honorarberichtigungen<br />

bedarf nach der Rechtsprechung des Senats allerdings in verschiedenen, vom LSG grundsätzlich zutreffend<br />

zusammengefassten Konstellationen der Einschränkung. Ausgangspunkt sowohl der Einschränkung von<br />

Vertrauensschutz als auch der Begrenzung dieser Einschränkungen ist der Honorarbescheid als Verwaltungsakt,<br />

der bis zu seiner Korrektur Grundlage der Honorierung vertragsärztlicher Leistungen ist.<br />

19<br />

Die Rechtsprechung des Senats zur Beachtung von Vertrauensschutzaspekten bei der nachträglichen<br />

Honorarberichtigung kann deshalb allenfalls auf solche Konstellationen übertragen werden, in denen eine einem<br />

Verwaltungsakt vergleichbare Äußerung der für die Leistungsbewilligung zuständigen Behörde vorliegt, die sich<br />

nachträglich als falsch erweist. Eine derartige, auf eine verbindliche Festlegung zielende behördliche Äußerung,<br />

auf die sich die Ärzte der zu 1. beigeladenen Praxis verlassen haben, liegt hier nicht vor und ist nach dem<br />

üblichen Verfahren der Verordnung von SSB und dessen Bezahlung auch nicht vorgesehen.<br />

20<br />

Zuständig für solche Vertrauensschutz begründenden Äußerungen wären zum hier maßgeblichen<br />

Zeitraum im Bezirk der zu 2. beigeladenen KÄV Nordrhein die Prüfgremien als Entscheidungsinstanz und/oder<br />

eventuell die Krankenkassen als Kostenträger. Die Vertragsärzte verordnen den SSB zu Lasten einer<br />

gesamtvertraglich bestimmten Krankenkasse. Diese ist grundsätzlich verpflichtet, die Verordnungen umzusetzen<br />

und den Herstellern bzw Händlern der verordneten Produkte die ihnen zustehende Vergütung zu zahlen (vgl BSG<br />

SozR 4-2500 § 106 Nr 6 RdNr 24) . Bestandskraftfähige Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit von<br />

Verordnungen oder den Umfang des zugelassenen Verordnungsvolumens ergehen im Voraus nicht und haben<br />

nach den maßgeblichen Vorschriften auch nicht zu ergehen. Insofern gilt nichts anderes als bei der Verordnung<br />

von Arzneimitteln, die grundsätzlich auch nicht durch bestandskräftige Bescheide vorab geprüft oder bewilligt<br />

werden (zu einer möglichen Ausnahme beim sog off-label-use vgl BSG, Beschluss vom 31.5.2006 - B 6 KA 53/05<br />

B -, MedR 2007, 557, 560). In beiden Konstellationen erfolgt die Prüfung der Rechtmäßigkeit bzw<br />

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Wirtschaftlichkeit der Verordnungen nachträglich. Innerhalb der gesetzlich oder gesamtvertraglich bestimmten<br />

Antrags- bzw Prüfungsfristen müssen Vertragsärzte damit rechnen, dass ihr Verordnungsverhalten - sowohl im<br />

Hinblick auf Arzneimittel für einzelne Patienten als auch bezogen auf den SSB, der definitionsgemäß nicht einem<br />

einzelnen Patienten zugeordnet werden kann - auf seine Rechtmäßigkeit überprüft wird. Zuständig sind insoweit<br />

im Bezirk der KÄV Nordrhein die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung, und finanziell betroffen sind die<br />

Krankenkassen, die die Kosten der auf einen bestimmten Patienten ausgestellten Verordnung von Arzneimitteln<br />

wie die Kosten der Verordnung von SSB tragen. Bevor sich die Krankenkassen als Kostenträger und ggf die<br />

Prüfgremien als für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer bestimmten Verordnungsweise zuständigen<br />

Gremien mit einer Verordnungsweise befasst und diese gebilligt oder beanstandet haben, kann sich<br />

schutzwürdiges Vertrauen der Ärzte auf deren Korrektheit von vornherein nicht entwickeln.<br />

21<br />

Soweit Vertragsärzte etwa im Hinblick auf besonders hohe Kosten bestimmter, unter Umständen als SSB<br />

zu verordnender Produkte, vorab Gewissheit über deren Verordnungsfähigkeit erlangen wollen, müssen sie auf<br />

verbindliche Erklärungen der Entscheidungs- bzw Kostenträger hinwirken. Das sind beim SSB wie bei<br />

Arzneimitteln die Prüfgremien bzw Krankenkassen, nicht aber die KÄV. Das relativiert von vornherein den<br />

rechtlichen Stellenwert der Schreiben eines Mitarbeiters der Bezirksstelle Duisburg der zu 2. beigeladenen KÄV<br />

vom 24.11.1998 an den Prüfungsausschuss und vom 4.3.1999 an die zu 1. beigeladene Gemeinschaftspraxis;<br />

auf diese beiden Schreiben hat das SG die Annahme von Vertrauensschutz gestützt. Abgesehen davon, dass das<br />

Schreiben vom 24.11.1998 nicht an die Ärzte der zu 1. beigeladenen Praxis gerichtet war und - nicht anders als<br />

das weitere Schreiben vom 4.3.1999, das der Mitarbeiter der KÄV schon am 12.7.1999 als "Versehen"<br />

bezeichnete - diesen Ärzten erst nach Ablauf des von den Regressen betroffenen Zeitraums zuging, kann einer<br />

Auskunft allein der KÄV keine abschließende Verbindlichkeit zukommen, soweit die Verordnungsfähigkeit von<br />

SSB betroffen ist. Anders als im Bereich der Abrechnung vertragsärztlicher Leistungen, die gegenüber der KÄV<br />

erfolgt, weiß der Vertragsarzt, dass für die Kosten seiner Verordnungen von vornherein nicht die KÄV, sondern<br />

unmittelbar die Krankenkassen leistungspflichtig und für Regressfestsetzungen die Prüfgremien zuständig sind.<br />

Deshalb kommt nur Auskünften der Krankenkassen und der Prüfgremien rechtserhebliche Bedeutung zu, was<br />

auch für die Verordnung von Arzneimitteln außerhalb der zugelassenen Indikationen ("off label use") anerkannt<br />

ist. Dazu hat der Senat bereits entschieden, dass Arzneikostenregresse nicht deshalb rechtswidrig sind, weil bei<br />

den betroffenen Ärzten Unklarheiten hinsichtlich der Rechtslage bestanden haben. Soweit Ärzte in Kenntnis von<br />

Zweifeln an der Verordnungsfähigkeit eines Arzneimittels bei einer bestimmten Indikation von dem Instrument<br />

einer vertragsärztlichen Verordnung Gebrauch machen, gehen sie das Risiko ein, dass nachträglich die fehlende<br />

Verordnungsfähigkeit festgestellt wird (BSG, Beschluss vom 31.5.2006, MedR 2007, 557, 560). Das wird auch in<br />

der Rechtsprechung der Instanzgerichte nicht anders gesehen (vgl zB LSG Berlin-Brandenburg vom 26.11.2008 -<br />

L 7 KA 13/05, juris RdNr 72).<br />

22<br />

KÄVen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen (KZÄVen) können nicht einmal im Zusammenhang mit<br />

der allein ihnen obliegenden Vergütung vertrags(zahn)-ärztlicher Leistungen verbindliche Interpretationen<br />

vorgeben, soweit dies die von den Bewertungsausschüssen erlassenen Bewertungsmaßstäbe betrifft. So hat der<br />

Senat ausgeführt, dass sog "Abrechnungshinweise" einer KZÄV, die einseitig von dieser veröffentlicht werden<br />

und nicht mit den Krankenkassen abgestimmt sind, einen Zahnarzt nicht davor schützen, dass eine Krankenkasse<br />

den in einem solchen Hinweis enthaltenen Standpunkt nicht teilt und deshalb auf eine Honorarberichtigung durch<br />

die KZÄV hinwirkt (BSG SozR 4-2500 § 106a Nr 1 RdNr 23).<br />

23<br />

Die Existenz einer verbindlichen Auskunft oder auch nur schriftlich niedergelegter Auffassungen der für die<br />

Abwicklung des SSB zuständigen Klägerin oder der Prüfgremien aus der Zeit der hier betroffenen Quartale<br />

IV/1997 bis III/1998 zu der Verordnungsfähigkeit der koaxialen Interventionssets hat die Beigeladene zu 1. hier<br />

von vornherein nicht behauptet. Dafür ist auch nichts ersichtlich.<br />

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24<br />

Vertrauensschutz kann die Beigeladene zu 1. hier schließlich auch nicht deshalb für sich in Anspruch<br />

nehmen, weil die Klägerin bzw die Prüfgremien die Verordnung der koaxialen Interventionssets als SSB in<br />

Kenntnis ihrer Fehlerhaftigkeit geduldet hätten. Nach der Rechtsprechung des Senats dürfen nachträgliche<br />

Richtigstellungen vertragsärztlicher Honorarabrechnungen aus Vertrauensschutzgründen nicht erfolgen, wenn die<br />

KÄV zB über einen längeren Zeitraum wissentlich eine systematisch fachfremde Tätigkeit eines Arztes geduldet<br />

hat (BSG SozR 4-2500 § 106a Nr 1 RdNr 16 iVm 24; BSGE 89, 90, 101 = SozR 3-2500 § 82 Nr 3 S 14). Selbst<br />

wenn diese Auffassung auf die Duldung von unzulässigen SSB-Verordnungen durch die Krankenkassen bzw die<br />

Prüfgremien übertragen werden könnte, was der Senat offen lässt (vgl dazu Clemens in<br />

Schlegel/Voelzke/Engelmann , Juris PraxisKommentar SGB V, 2008, § 106a RdNr 190 f), kann die<br />

Beigeladene zu 1. daraus für sich nichts herleiten. Für Vertrauensschutzerwägungen ist allenfalls Raum, wenn die<br />

zuständige Institution positive Kenntnis davon hatte, dass eine bestimmte, zumindest umstrittene<br />

Abrechnungsweise regelmäßig praktiziert wird, und der Arzt aus einer langjährigen unbeanstandeten Abrechnung<br />

den Schluss ziehen durfte, die Abrechnungsfähigkeit werde nicht in Frage gestellt (BSG SozR 3-2500 § 135 Nr 6<br />

S 35). Feststellungen in diese Richtung hat das LSG nicht getroffen. Es hat vielmehr ausdrücklich ausgeführt,<br />

weder die Klägerin noch der Beklagte hätten die Abrechnung der Interventionssets als SSB geduldet, obwohl sie<br />

der Auffassung gewesen seien, es handele sich gerade nicht um SSB. Die dem zugrunde liegenden tatsächlichen<br />

Feststellungen des LSG sind nach § 163 SGG für den Senat bindend, weil die Beigeladene zu 1. insoweit keine<br />

Verfahrensrügen erhoben hat. Die rechtliche Würdigung des LSG teilt der Senat, weil allein fehlende<br />

Beanstandungen von SSB-Verordnungen in der Vergangenheit kein schutzwürdiges Vertrauen auf ihre Hinnahme<br />

für die Zukunft begründen können.<br />

25<br />

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2, § 162 Abs 3<br />

Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die Kostenpflicht der Beigeladenen zu 1. als erfolgloser<br />

Rechtsmittelführerin beruht auf § 154 Abs 2 VwGO. Diese Regelung ist im Falle eines erfolglosen Rechtsmittels<br />

die allein maßgebliche Kostenvorschrift (daneben keine Anwendung des § 154 Abs 1 VwGO, vgl in diesem Sinne<br />

Olbertz in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Oktober 2008, § 154 RdNr 10 und 11).<br />

Dementsprechend ist in einem solchen Fall kein Raum für eine Kostenpflicht auch des Beklagten, der selbst kein<br />

Rechtsmittel eingelegt hat, unabhängig davon, ob sein Bescheid aufgehoben wird. In einer derartigen<br />

Konstellation erfolglosen Rechtsmittels ist der unterlegene Hauptbeteiligte (Beklagte), der keinen Antrag gestellt<br />

hat, vielmehr grundsätzlich sogar kostenerstattungsberechtigt (so Bundesverwaltungsgericht NJW<br />

1994, 3024, 3027, insoweit in BVerwGE 94, 269 nicht abgedruckt; besonders deutlich Rennert in Eyermann,<br />

VwGO, 12. Aufl 2006, § 154 RdNr 6). Eine Ausnahme gilt allerdings dann, wenn - wie hier - der Beklagte im<br />

weiteren Verlauf des Rechtsmittelverfahrens dem Hauptantrag eines anderen Beteiligten beigetreten ist und<br />

hiermit der Sache nach unterlegen ist; hierdurch entfällt - entsprechend dem Grundgedanken des § 154 Abs 1<br />

VwGO - seine Kostenerstattungsberechtigung (Ergänzung zu BVerwG, aaO). Der Ausschluss der<br />

Kostenerstattungsberechtigung gilt im vorliegenden Fall nicht nur für den Beklagten, sondern gemäß § 162 Abs 3<br />

VwGO auch für die Beigeladene zu 2., weil diese sich im Revisionsverfahren nicht beteiligt und vor allem keinen<br />

Antrag gestellt hat (§ 162 Abs 3 VwGO, vgl BSGE 96, 257 = SozR 4-1300 § 63 Nr 3, jeweils RdNr 16).<br />

Zitierung: BVerfG, 1 BvR 316/09 vom 19.3.2009, Absatz-Nr. (1 - 29),<br />

http://www.bverfg.de/entscheidungen/rk20090319_1bvr031609.html<br />

Frei für den nicht gewerblichen Gebrauch. Kommerzielle Nutzung nur mit Zustimmung des Gerichts.<br />

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT<br />

- 1 BvR 316/09 -<br />

Bundesadler<br />

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Im Namen des Volkes<br />

In dem Verfahren<br />

über<br />

die Verfassungsbeschwerde<br />

der Frau K. ...<br />

- Bevollmächtigter:<br />

Rechtsanwalt Dr. Stephan Schmanns,<br />

Elbchaussee 87, 22763 Hamburg -<br />

gegen a) den Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 12. Januar 2009 - L 4 KR<br />

332/08 ER RG -,<br />

b) den Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 1. Dezember 2008 - L 4 KR 305/08<br />

ER -,<br />

c) den Beschluss des Sozialgerichts Stade vom 31. Oktober 2008 - S 1 KR 172/08 ER -<br />

und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung<br />

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch<br />

die Richterin Hohmann-Dennhardt<br />

und die Richter Gaier,<br />

Kirchhof<br />

am 19. März 2009 einstimmig beschlossen:<br />

Der Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 1. Dezember 2008 verletzt die<br />

Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die<br />

Sache wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Die Beschlüsse des Landessozialgerichts<br />

Niedersachsen-Bremen vom 12. Januar 2009 und vom 19. Februar 2009 sind damit gegenstandslos.<br />

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.<br />

Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.<br />

Das Land Niedersachsen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das Verfahren über die<br />

Verfassungsbeschwerde und für das Verfahren betreffend den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung<br />

jeweils zur Hälfte zu erstatten.<br />

Gründe:<br />

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1<br />

Die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die<br />

Versorgung mit einer außervertraglichen Behandlungsmethode im Rahmen der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung.<br />

I.<br />

2<br />

Die 1968 geborene Beschwerdeführerin ist bei der AOK - Die Gesundheitskasse für Niedersachsen - gesetzlich<br />

krankenversichert. Sie ist verheiratet und Mutter eines sechs Jahre alten Kindes.<br />

3<br />

Im November 2006 wurde bei ihr ein bösartiger Hirntumor, ein sog. Glioblastom Grad IV, diagnostiziert, der<br />

unmittelbar danach operativ vollständig entfernt wurde. Anschließend erfolgte eine Radio-Chemotherapie mit dem<br />

Medikament Temodal, welche die Beschwerdeführerin im März 2007 abbrach. Nach der Diagnose eines<br />

Tumorrezidivs im April 2007 erfolgte im Mai 2007 eine erneute neurochirurgische Tumorentfernung.<br />

4<br />

Im Juli 2007 beantragte die Beschwerdeführerin bei ihrer Krankenkasse die Bewilligung einer<br />

Kombinationstherapie bestehend aus einer Elektro-Tiefenhyperthermie und einer Behandlung mit dendritischen<br />

Zellen durch den Facharzt für Radiologie und Strahlentherapie Dr. B. Die Kosten hierfür belaufen sich auf etwa<br />

14.350 ? bis rund 17.000 ? pro Quartal. Die Krankenkasse lehnte eine Kostenübernahme ab, da es sich um ein<br />

experimentelles Verfahren handele und Standardtherapien zur Verfügung stünden. Über die dagegen erhobene<br />

Klage der Beschwerdeführerin ist noch nicht entschieden.<br />

5<br />

Im Juli 2008 hat die Beschwerdeführerin beim Sozialgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen<br />

Anordnung gestellt und vorgetragen, die im Mai 2007 begonnene Kombinationsbehandlung werde von ihr gut<br />

vertragen und habe zu einer Stabilisierung des Gesundheitszustandes geführt. Auf die Fortführung dieser<br />

Therapie sei sie angewiesen, finanziell sei sie jedoch nicht mehr in der Lage, die Kosten der Behandlung zu<br />

tragen.<br />

6<br />

Das Sozialgericht hat den Antrag wegen des Fehlens eines Anordnungsanspruchs abgelehnt. Die<br />

Kombinationstherapie aus Elektro-Tiefenhyperthermie und einer Behandlung mit dendritischen Zellen entspreche<br />

nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse und sei daher von der vertragsärztlichen<br />

Versorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen. Zwar leide die Beschwerdeführerin<br />

an einer in der Regel tödlich verlaufenden Krankheit, jedoch sei nicht glaubhaft gemacht, dass eine dem<br />

medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung stehe. Aus den vorliegenden<br />

Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ergebe sich schlüssig, dass als weitere<br />

Therapiemöglichkeit die Chemotherapie unter Einsatz von Nitroso-Harnstoffen anstelle des unverträglichen<br />

Temodal infrage komme.<br />

7<br />

Die dagegen erhobene Beschwerde hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen mit Beschluss vom 1.<br />

Dezember 2008 zurückgewiesen. Es fehle an einem Anordnungsanspruch, weil die von der Beschwerdeführerin<br />

begehrte Leistung bereits teilweise erbracht und von ihr bezahlt worden sei. Die Voraussetzungen eines<br />

Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V lägen nicht vor, weil die Beschwerdeführerin den<br />

gesetzlich vorgesehenen Beschaffungsweg nicht eingehalten habe. Denn sie habe mit der Behandlung bei Dr. B.<br />

bereits im Mai 2007 begonnen, ohne vorher mit der Krankenkasse Kontakt aufzunehmen bzw. einen Antrag zu<br />

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stellen oder den Bescheid abzuwarten. Der gesetzlich vorgesehene Beschaffungsweg müsse aber eingehalten<br />

werden, anderenfalls scheide ein Kostenerstattungsanspruch von vornherein aus. Das gelte auch für diejenigen<br />

Kosten, die erst nach Antragstellung bzw. der Erteilung des Bescheides entstanden seien, da es sich bei der<br />

Kombinationstherapie um ein einheitliches Behandlungskonzept handele. Die gegen diese Entscheidung<br />

erhobene Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin hat das Landessozialgericht mit Beschluss vom 12. Januar<br />

2009 zurückgewiesen.<br />

8<br />

Mit der am 12. Februar 2009 erhobenen Verfassungsbeschwerde, die mit einem Antrag auf Erlass einer<br />

einstweiligen Anordnung verbunden ist, rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1, Art. 2 Abs.<br />

2 Satz 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und von Art. 103 Abs. 1<br />

GG. Eine gleichzeitig von der Beschwerdeführerin noch erhobene Gegenvorstellung hat das Landessozialgericht<br />

mit Beschluss vom 19. Februar 2009 zurückgewiesen.<br />

9<br />

Die Beschwerdeführerin trägt vor, das Sozialgericht habe den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29.<br />

November 2007 - 1 BvR 2496/07 - nicht gewürdigt, aus dem sich ergebe, dass die Anordnung einer<br />

Hyperthermiebehandlung im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes möglich sei. Sowohl die Hyperthermie als<br />

auch die dendritische Zell-Immuntherapie seien innovative Verfahren, die bereits Therapieerfolge aufweisen<br />

könnten und auch bei ihr einen beachtlichen Erfolg gezeigt hätten; so sei sie bis November 2008 rezidivfrei<br />

gewesen. Soweit der Medizinische Dienst der Krankenversicherung dekretiere, es stünden noch<br />

Standardtherapien zur Verfügung, könne dies angesichts der damit verbundenen Nebenwirkungen nicht<br />

ausschlaggebend sein. Das Landessozialgericht habe es versäumt, die Sach- und Rechtslage abschließend zu<br />

prüfen. Sie habe im Wege der einstweiligen Anordnung die zukünftige Versorgung mit der Kombinationstherapie<br />

im Wege der Sachleistung begehrt, nicht die Durchsetzung eines ausschließlich in die Vergangenheit gerichteten<br />

Kostenerstattungsanspruchs. Unzutreffend sei, dass sie die Behandlung bei Dr. B. bereits im Mai 2007 begonnen<br />

und damit den gebotenen Beschaffungsweg nicht eingehalten habe. Im Übrigen berücksichtige das<br />

Landessozialgericht hierbei die notstandsähnliche Situation bei Behandlungsbeginn nicht. Das<br />

Landessozialgericht habe seine Entscheidung stattdessen für die Beteiligten überraschend allein auf der Basis<br />

der zu § 13 Abs. 3 SGB V entwickelten Rechtsprechung getroffen. Damit habe das Landessozialgericht auch<br />

seine Pflicht versäumt, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, um die von ihr benannten Zeugen und<br />

Sachverständigen zur Wirksamkeit der Kombinationstherapie zu hören und ihr die Gelegenheit zur persönlichen<br />

Äußerung zu geben.<br />

10<br />

Das Land Niedersachsen und die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur<br />

Stellungnahme.<br />

II.<br />

11<br />

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, insbesondere innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG<br />

erhoben. Der Lauf der Monatsfrist beginnt mit der Bekanntgabe der nach der jeweiligen Verfahrensordnung<br />

letztinstanzlichen Entscheidung. Muss der Beschwerdeführer aus Gründen der Subsidiarität der<br />

Verfassungsbeschwerde über die Erschöpfung des Rechtswegs hinaus von einer Möglichkeit zur Beseitigung der<br />

von ihm gerügten Grundrechtsverletzung Gebrauch machen, dann ist erst die Entscheidung über diesen<br />

Rechtsbehelf für den Beginn der Monatsfrist maßgeblich. Das gilt allerdings nicht, wenn ein offensichtlich<br />

unzulässiger Rechtsbehelf eingelegt wird (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 25. November 2008 - 1<br />

BvR 848/07 -, juris).<br />

12<br />

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Vorliegend hat die Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Landessozialgerichts vom 1. Dezember 2008<br />

Anhörungsrüge gemäß § 178a SGG erhoben. Die Anhörungsrüge an das Fachgericht zählt ebenfalls zum<br />

Rechtsweg, von dessen Erschöpfung die Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde im<br />

Regelfall abhängig ist (vgl. BVerfG, a.a.O.). Dieser Rechtsbehelf war auch nicht offensichtlich unzulässig.<br />

13<br />

2. Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie sich gegen den Beschluss des Sozialgerichts wendet, nicht zur<br />

Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe im Sinne von § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die<br />

Verfassungsbeschwerde hat insoweit keine Aussicht auf Erfolg.<br />

14<br />

Der Beschluss des Sozialgerichts verletzt keine Grundrechte der Beschwerdeführerin. Das<br />

Bundesverfassungsgericht hat im Beschluss vom 6. Dezember 2005 (vgl. BVerfGE 115, 25 ff.) dargelegt, dass<br />

sich aus den Grundrechten ein Anspruch auf nicht allgemein anerkannte medizinische Behandlungsmaßnahmen<br />

ergeben kann, wenn bei einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung<br />

schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen und eine medizinisch begründete Erfolgsaussicht der<br />

erstrebten Behandlung besteht. Nach den Feststellungen des Sozialgerichts gibt es jedoch mit der<br />

Chemotherapie unter Einsatz von Nitroso-Harnstoffen noch eine verfügbare Standardtherapie.<br />

15<br />

Dagegen erhebt die Beschwerdeführerin keine verfassungsrechtlich erheblichen Einwände. Der Auffassung des<br />

Sozialgerichts stellt sie lediglich ihre eigene abweichende Auffassung über die Unzumutbarkeit einer<br />

Chemotherapie unter Vorlage einer entsprechenden Bescheinigung ihres behandelnden Arztes gegenüber. Sie<br />

legt jedoch nicht dar, dass das Sozialgericht auf der Grundlage der ihm vorliegenden medizinischen Befunde eine<br />

unvertretbare Sachverhaltsfeststellung getroffen hat. Das Sozialgericht hat näher ausgeführt, die<br />

Beschwerdeführerin habe nicht glaubhaft gemacht, dass die vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung<br />

bezeichneten Zytostatika (insbesondere Nitroso-Harnstoffe) nicht geeignet seien, das Fortschreiten der<br />

Erkrankung aufzuhalten und/oder wegen Unverträglichkeit nicht eingesetzt werden könnten; zudem erhebe auch<br />

die Kombinationstherapie von Dr. B. nicht den Anspruch, die Grunderkrankung zu heilen, sondern ziele lediglich<br />

auf eine deutliche Verzögerung des Krankheitsgeschehens. Das wird von der Beschwerdeführerin nicht<br />

substantiiert angegriffen. Allein mit der Behauptung, die Tatsachenfeststellung der Fachgerichte sei falsch, kann<br />

ein Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren jedoch keinen Erfolg haben; denn die Feststellung<br />

und Würdigung des Tatbestandes ist allein Sache der Gerichte (vgl. BVerfGE 22, 267 ; 83, 119 ).<br />

16<br />

Der Hinweis der Beschwerdeführerin auf den Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des<br />

Bundesverfassungsgerichts vom 29. November 2007 - 1 BvR 2496/07 -, juris, geht fehl. In dem dort zu<br />

entscheidenden Sachverhalt hatte das Landessozialgericht die Frage eines Anordnungsanspruchs hinsichtlich der<br />

begehrten außervertraglichen Therapie ausdrücklich offen gelassen und allein auf der Basis einer Ablehnung des<br />

Anordnungsgrundes entschieden, was sich im konkreten Fall als eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG darstellte.<br />

Hingegen folgt aus dieser Entscheidung nicht, wie die Beschwerdeführerin meint, eine grundsätzliche<br />

Anerkennung des Verfahrens der Hyperthermie durch das Bundesverfassungsgericht.<br />

17<br />

3. Hingegen nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, soweit sich<br />

die Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Landessozialgerichts vom 1. Dezember 2008 wendet. Die<br />

Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Die entscheidungserheblichen Fragen<br />

sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt und die Verfassungsbeschwerde ist<br />

offensichtlich begründet.<br />

18<br />

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a) Das Bundesverfassungsgericht hat bereits wiederholt entschieden, dass die Gerichte den Gleichheitssatz des<br />

Art. 3 Abs. 1 GG verletzen, wenn die Rechtsanwendung oder das Verfahren unter keinem rechtlichen<br />

Gesichtspunkt mehr vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden und damit<br />

willkürlichen Erwägungen beruhen (vgl. BVerfGE 83, 82 ; 86, 59 ). Dabei enthält die Feststellung von<br />

Willkür keinen subjektiven Schuldvorwurf, sondern ist objektiv zu verstehen (vgl. BVerfGE 83, 82 ). Es geht<br />

um die Korrektur schwerer Rechtsanwendungsfehler, etwa die Nichtberücksichtigung einer offensichtlich<br />

einschlägigen Norm oder die krasse Missdeutung einer Norm (vgl. BVerfGE 87, 273 ).<br />

19<br />

b) Das Landessozialgericht gibt den leistungsrechtlichen Vorschriften des Rechts der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung eine Auslegung, welche - auch unter Berücksichtigung grundrechtlicher Gewährleistungen -<br />

die Ansprüche der Beschwerdeführerin auf ärztliche Krankenbehandlung in unvertretbarer und die maßgeblichen<br />

Normen krass missdeutender Weise beschränkt.<br />

20<br />

aa) Art. 2 Abs. 1 GG schützt die Versicherten im Rahmen eines Pflichtversicherungssystems vor einer<br />

Unverhältnismäßigkeit von Beitrag und Leistung. Daraus lässt sich in der gesetzlichen Krankenversicherung zwar<br />

kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf bestimmte Leistungen der Krankenbehandlung ableiten. Jedoch sind<br />

gesetzliche oder auf Gesetz beruhende Leistungsausschlüsse und Leistungsbegrenzungen daraufhin zu prüfen,<br />

ob sie im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG gerechtfertigt sind. Gleiches gilt, wenn die gesetzlichen<br />

Leistungsvorschriften durch die zuständigen Fachgerichte eine für den Versicherten nachteilige Auslegung und<br />

Anwendung erfahren (vgl. BVerfGE 115, 25 ). Maßstab für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des<br />

Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung und seiner fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung<br />

im Einzelfall sind darüber hinaus auch die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs.<br />

2 Satz 1 GG. Zwar folgt aus diesen Grundrechten regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die<br />

Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere spezieller Gesundheitsleistungen. Die Gestaltung<br />

des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich jedoch an der objektiv-rechtlichen Pflicht des<br />

Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen.<br />

Insofern können diese Grundrechte in besonders gelagerten Fällen die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten<br />

Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten. Dies gilt insbesondere in<br />

Fällen der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung. Denn das Leben stellt<br />

einen Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung dar (vgl. BVerfGE 115, 25 m.w.N.).<br />

21<br />

bb) Vorliegend hat die Beschwerdeführerin mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die<br />

Verpflichtung der Krankenkasse begehrt, die Kosten für die Kombinationstherapie bei Dr. B. vorläufig bis zu einer<br />

Entscheidung in der Hauptsache zu übernehmen. Damit hat sie, soweit dieses Begehren in die Zukunft gerichtet<br />

war, keinen Kostenerstattungsanspruch, sondern einen Anspruch auf ärztliche Heilbehandlung nach § 27 Abs. 1<br />

Satz 1, § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB V im Wege der gesetzlich als Regelfall vorgesehenen Sachleistung (§ 2 Abs. 2<br />

SGB V) geltend gemacht. Denn aus ihrem Vortrag im fachgerichtlichen Verfahren ergibt sich, dass sie in der<br />

Vergangenheit die Behandlung bei Dr. B. selbst finanziert hatte, hierzu aufgrund ihrer Einkommensverhältnisse<br />

jedoch zukünftig nicht mehr in der Lage war. In solchen Fällen, in denen es um die zukünftige Versorgung mit<br />

einer außervertraglichen Behandlungsmethode geht, ist der Anspruch des Versicherten aber darauf gerichtet,<br />

dass er von dem Nichtvertragsarzt die notwendige Behandlung erhält und die Abrechnung unmittelbar zwischen<br />

der Krankenkasse und dem Arzt stattfindet (vgl. BSGE 88, 62 ).<br />

22<br />

cc) Diesen zukunftsbezogenen Anspruch hat das Landessozialgericht allein deswegen verneint, weil die<br />

Beschwerdeführerin den "gebotenen Beschaffungsweg" nicht eingehalten habe. Die Vorschrift des § 13 Abs. 3<br />

Satz 1 SGB V verlange in der Form eines zwingenden Verfahrenserfordernisses, dass eine außervertragliche<br />

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Therapie zunächst bei der Krankenkasse beantragt und deren Entscheidung abgewartet werde, anderenfalls ein<br />

Kostenerstattungsanspruch von Vornherein ausgeschlossen sei. Dabei ist den Ausführungen des<br />

Landessozialgerichts zu entnehmen, dass es mit dieser Begründung jeglichen Anspruch der Beschwerdeführerin<br />

- sowohl auf Erstattung bereits entstandener Kosten als auch auf zukünftige Behandlung durch Dr. B. mittels der<br />

Kombinationstherapie - ablehnt. Denn es geht von dem umfassend formulierten Begehren der<br />

Beschwerdeführerin aus und bemerkt dazu, auch diejenigen Kosten, die erst nach Antragstellung bzw.<br />

Bescheiderteilung anfielen, könnten wegen der Nichteinhaltung des gebotenen Beschaffungswegs nicht erstattet<br />

werden, da es sich bei der Kombinationstherapie um ein "einheitliches Behandlungskonzept" handele.<br />

23<br />

dd) Diese Rechtsanwendung, welche der Beschwerdeführerin die Versorgung mit der begehrten Behandlung bei<br />

Dr. B. im Wege der Sachleistung allein deshalb verweigert, weil sie es versäumt hat, vor Beginn der ersten<br />

Behandlung bei diesem Arzt eine Entscheidung ihrer Krankenkasse abzuwarten, ist im Rahmen des gesetzlichen<br />

Leistungssystems nicht mehr verständlich. Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung kennt keine<br />

Vorschrift, welche den auf die Zukunft bezogenen Sachleistungsanspruch des Versicherten auf ärztliche<br />

Behandlung ausschließt, weil für in der Vergangenheit liegende Behandlungen die Kostenübernahme nicht<br />

rechtzeitig beantragt worden war. Lediglich für den Sonderfall, dass der Versicherte die Erstattung ihm<br />

entstandener Kosten gemäß § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V begehrt, hat das Bundessozialgericht entschieden, ein<br />

solcher Kostenerstattungsanspruch könne nur geltend gemacht werden, wenn der Versicherte durch die<br />

Ablehnung einer begehrten Therapie durch die Krankenkasse veranlasst worden sei, sich die Behandlung auf<br />

eigene Kosten zu verschaffen. Werde die Behandlung ohne vorherige Einschaltung der Kasse begonnen, so<br />

scheide eine Erstattung entstandener Kosten aber auch für nachfolgende Leistungen aus, wenn sich die<br />

Ablehnung durch die Krankenkasse auf den weiteren Behandlungsverlauf nicht mehr auswirken könne, weil es<br />

sich um einen "einheitlichen Behandlungsvorgang" handele (vgl. BSG, SozR 3-2500 § 28 Nr. 6).<br />

24<br />

Diese Rechtsprechung, auf die sich das Landessozialgericht zur Begründung seiner Entscheidung bezieht, ist im<br />

Fall der Beschwerdeführerin aber offenkundig unanwendbar. Denn selbst soweit es um in der Vergangenheit<br />

begründete Kostenerstattungsansprüche - und nicht wie bei der Beschwerdeführerin um die zukünftige<br />

Sachleistung - geht, wird in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bei laufenden Leistungen oder sich<br />

über einen längeren Zeitraum erstreckenden Behandlungen die ablehnende Entscheidung der Krankenkasse im<br />

Allgemeinen als Zäsur angesehen und die Kostenerstattung nur für diejenigen Leistungen ausgeschlossen, die<br />

bis zum Zeitpunkt der Entscheidung auf eigene Rechnung beschafft worden sind; für spätere Leistungen wird der<br />

erforderliche Kausalzusammenhang hingegen bejaht (vgl. BSG, SozR 4-2500 § 13 Nr. 10; SozR 3-2500 § 13 Nr.<br />

22). Das betrifft gerade solche Fälle, in denen eine laufende Behandlung erfolgt, der Versicherte aber nicht<br />

vertraglich für eine bestimmte Behandlungsdauer an den Behandler gebunden ist (vgl. wiederum BSG, SozR 4-<br />

2500 § 13 Nr. 10). Hierauf weist das Bundessozialgericht in der vom Landessozialgericht zur Begründung seiner<br />

Rechtsauffassung zitierten Entscheidung auch ausdrücklich hin, was vom Landessozialgericht aber nicht erwähnt<br />

wird. Stattdessen dehnt das Landessozialgericht, ohne dies näher zu thematisieren, den vom Bundessozialgericht<br />

formulierten Sonderfall eines in der Vergangenheit begonnenen einheitlichen Behandlungsvorgangs auf den Fall<br />

eines einheitlichen Behandlungskonzepts aus.<br />

25<br />

Das Landessozialgericht fügt damit im Ergebnis in das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

einen dem Gesetz nicht zu entnehmenden und auch aus der in Bezug genommenen Rechtsprechung des<br />

Bundessozialgerichts nicht abzuleitenden anspruchsvernichtenden Tatbestand ein. Danach wären Versicherte,<br />

die es verabsäumen, vor Beginn der Behandlung mit einer außervertraglichen Behandlungsmethode eine<br />

entsprechende Bescheidung durch die Krankenkasse abzuwarten, für alle nachfolgenden Behandlungen mit<br />

dieser Methode von einer Leistungspflicht der Krankenkasse ausgeschlossen, selbst wenn sich in der Folge<br />

herausstellte, dass die gewählte Behandlung medizinisch erforderlich und eine Versorgung im vertragsärztlichen<br />

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Leistungssystem möglich ist. Das gilt, wie der vorliegende Fall zeigt, nach Ansicht des Landessozialgerichts<br />

selbst im Fall einer vorhersehbar tödlich verlaufenden Erkrankung. Dieses Ergebnis ist gerade vor dem<br />

Hintergrund der grundrechtlich geschützten Position der Versicherten auf Bereitstellung erforderlicher<br />

medizinischer Behandlungsmaßnahmen im System des krankenversicherungsrechtlichen Leistungsrechts nicht<br />

mehr nachvollziehbar.<br />

26<br />

c) Angesichts dessen kann es dahingestellt bleiben, ob die Entscheidung des Landessozialgerichts noch andere<br />

Grundrechte der Beschwerdeführerin verletzt, insbesondere ob eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör<br />

im Sinne von Art. 103 Abs. 1 GG vorliegt.<br />

27<br />

4. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte<br />

der Beschwerdeführerin angezeigt. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landessozialgericht bei einer<br />

inhaltlichen Prüfung der Voraussetzungen eines Krankenbehandlungsanspruchs der Beschwerdeführerin nach<br />

Maßgabe der im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 aufgestellten Grundsätze zu<br />

einer anderen Entscheidung als das Sozialgericht kommt.<br />

28<br />

5. Der Beschluss des Landessozialgerichts vom 1. Dezember 2008 ist aufzuheben und die Sache an das<br />

Landessozialgericht zurückzuverweisen (vgl. § 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Damit erledigt sich<br />

zugleich der Antrag der Beschwerdeführerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.<br />

29<br />

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Angesichts des<br />

Teilerfolgs der Beschwerdeführerin ist es angemessen, die hälftige Erstattung der notwendigen Auslagen sowohl<br />

für das Verfahren über die Verfassungsbeschwerde als auch über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen<br />

Anordnung anzuordnen.<br />

Hohmann-Dennhardt Gaier Kirchhof<br />

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Entscheidungen<br />

Copyright © 2010 BVerfG<br />

Zitierung: BVerfG, 1 BvR 3255/07 vom 25.2.2008, Absatz-Nr. (1 - 48),<br />

http://www.bverfg.de/entscheidungen/rk20080225_1bvr325507.html<br />

Frei für den nicht gewerblichen Gebrauch. Kommerzielle Nutzung nur mit Zustimmung des Gerichts.<br />

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT<br />

- 1 BvR 3255/07 -<br />

In dem Verfahren<br />

über<br />

die Verfassungsbeschwerde<br />

1. des Herrn D...,<br />

2. des Herrn J...<br />

- Bevollmächtigte:<br />

Rechtsanwälte CMS Hasche Sigle,<br />

Stadthausbrücke 1 - 3, 20355 Hamburg -<br />

1. unmittelbar gegen<br />

1. a) das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 18. Dezember 2007 - I-27 U 157/07 -,<br />

b) das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 14. August 2007 - 6 O 290/07 -,<br />

2. a) das Urteil des Sozialgerichts Detmoldvom 31. Oktober 2007 - S 5 KR 235/04 -,<br />

b) den Widerspruchsbescheid des Bundesversicherungsamts vom 2. November 2004 - I3 - 59592.20 -<br />

1787/04 u.a. -,<br />

c) den Verpflichtungsbescheid des Bundesversicherungsamts vom 25. August 2004 - I 3-59592.20-1787/04 -<br />

,<br />

2. mittelbar gegen<br />

§ 35a Abs. 6 Satz 2 SGB IV<br />

und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung<br />

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch<br />

den Präsidenten Papier<br />

und die Richter Hoffmann-Riem,<br />

Eichberger<br />

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gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl<br />

I S. 1473) am 25. Februar 2008 einstimmig beschlossen:<br />

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.<br />

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.<br />

Gründe:<br />

1<br />

Die Beschwerdeführer wenden sich gegen die drohende Veröffentlichung ihrer Vergütungen als<br />

Vorstandsmitglieder einer Krankenversicherung.<br />

I.<br />

2<br />

1. § 35a SGB IV regelt die Rechtsverhältnisse der Vorstände von Orts-, Betriebs- und Innungskrankenkassen<br />

sowie von Ersatzkassen. Mit Art. 5 Nr. 6 des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

(GKV<br />

Modernisierungsgesetz - GMG) vom 14. November 2003 wurde die Vorschrift des § 35a Abs. 6 SGB IV um<br />

folgenden Satz 2 ergänzt:<br />

3<br />

Die Höhe der jährlichen Vergütungen der einzelnen Vorstandsmitglieder einschließlich Nebenleistungen sowie die<br />

wesentlichen Versorgungsregelungen sind in einer Übersicht jährlich zum 1. März, erstmalig zum 1. März 2004 im<br />

Bundesanzeiger und gleichzeitig, begrenzt auf die jeweilige Krankenkasse und ihre Verbände, in der<br />

Mitgliederzeitschrift der betreffenden Krankenkasse zu veröffentlichen.<br />

4<br />

2. Die Beschwerdeführer sind Vorstände der Bertelsmann BKK, einer gesetzlichen Krankenversicherung. Sie<br />

halten die Regelung des § 35a Abs. 6 Satz 2 SGB IV für verfassungswidrig und wenden sich daher gegen die<br />

Veröffentlichung der Vorstandsvergütungen. Weder zum vorgesehenen Erstveröffentlichungstermin noch in der<br />

Zeit seither sind die Vergütungen der Beschwerdeführer daher veröffentlicht worden.<br />

5<br />

Einen vom Bundesversicherungsamt, das die Aufsicht über die gesetzlichen Krankenkassen führt, erlassenen<br />

Verpflichtungsbescheid über die Veröffentlichungspflicht fochten die Beschwerdeführer erfolglos beim<br />

Sozialgericht Detmold an. Ferner begehrten sie einstweiligen Rechtsschutz gegen die Veröffentlichung ihrer<br />

Vergütungen beim Landgericht Bielefeld, welches den Antrag mit Urteil vom 14. August 2007 zurückwies. Die<br />

hiergegen gerichtete Berufung zum Oberlandesgericht Hamm wies dieses mit Urteil vom 18. Dezember 2007<br />

zurück.<br />

6<br />

Die Gerichte stützen sich zur Begründung ihrer Entscheidungen maßgeblich auf das Urteil des<br />

Bundessozialgerichts vom 14. Februar 2007 - B 1 A 3/06 - (GesR 2007, 472-478).<br />

7<br />

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Dieses führt zur Sache aus, § 35a Abs. 6 Satz 2 SGB IV sei nicht wegen eines Verstoßes gegen das allgemeine<br />

Persönlichkeitsrecht der Vorstandsmitglieder als verfassungswidrig anzusehen. Zwar könne die<br />

Veröffentlichungspflicht den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung berühren. Dieser<br />

Eingriff sei jedoch gerechtfertigt. Entsprechend den Ausführungen in der Begründung zum Gesetzentwurf ziele<br />

die Vorschrift in legitimer Weise auf die Schaffung höherer Transparenz über Angebote, Leistungen, Kosten und<br />

Qualität im Gesundheitswesen und solle damit dem Informationsbedürfnis der Beitragszahler und der<br />

Öffentlichkeit Rechnung tragen. Im demokratischen Rechtsstaat stelle es geradezu den Regelfall dar, dass<br />

Bedienstete in öffentlicher Funktion die Kontrolle ihrer aus öffentlichen Abgaben finanzierten Bezüge durch die<br />

Öffentlichkeit hinnehmen müssten und deshalb auch deren Publizität zu dulden hätten.<br />

8<br />

Zur Erreichung des gesetzlichen Zwecks sei die Regelung auch geeignet, erforderlich und angemessen. Da es<br />

nicht um hochsensible Daten, sondern um berufsbezogene Angaben gehe, die von vornherein einen Drittbezug<br />

und einen Bezug zur Öffentlichkeit aufwiesen, handele es sich nicht um einen schwerwiegenden Eingriff. In ihrer<br />

herausgehobenen Funktion in der öffentlichen Verwaltung hätten die Beschwerdeführer Einschränkungen ihres<br />

Rechts auf informationelle Selbstbestimmung hinzunehmen.<br />

9<br />

3. Mit ihrer gegen die Entscheidungen der ordentlichen Gerichte, gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold<br />

und gegen die gesetzliche Regelung des § 35a Abs. 6 Satz 2 SGB IV gerichteten Verfassungsbeschwerde rügen<br />

die Beschwerdeführer eine Verletzung ihres Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m.<br />

Art. 1 Abs. 1 GG) sowie ihres Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG.<br />

10<br />

Der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sei unverhältnismäßig und daher nicht<br />

gerechtfertigt. Er diene bereits keinem legitimen Zweck. Die erstrebte Transparenz sei kein Selbstzweck, sondern<br />

bedürfe ihrerseits einer Rechtfertigung. Alle insoweit in Betracht kommenden Zielsetzungen seien im Bereich des<br />

Gesundheitswesens bereits dadurch erfüllt, dass die Krankenkassen zur Offenlegung der Gesamthöhe ihrer<br />

Verwaltungsausgaben verpflichtet seien. Die darüber hinausgehende Veröffentlichung der Vorstandsvergütungen<br />

könne lediglich noch dazu dienen, öffentlichen Druck auf deren Höhe auszuüben, um einen Beitrag zur<br />

Kostensenkung im Gesundheitswesen zu leisten. Angesichts der geringfügigen Auswirkungen der<br />

Vorstandsvergütungen auf die Beitragssätze der Krankenkassen sei dieses Ziel auf diesem Wege jedoch nicht zu<br />

erreichen. Die Veröffentlichung der Vorstandsvergütungen führe lediglich dazu, dass die Öffentlichkeit von der<br />

eigentlichen Problematik im Bereich der Kosten des Gesundheitswesens abgelenkt werde.<br />

11<br />

Selbst zur Herstellung zusätzlicher Transparenz im Gesundheitswesen sei die in Mitgliederzeitschriften und an<br />

schwer zugänglicher Stelle im Bundesanzeiger vorgesehene Veröffentlichung jedenfalls nicht geeignet.<br />

12<br />

Die Regelung des § 35a Abs. 6 Satz 2 SGB IV sei zur Erreichung des etwaigen Gesetzeszweckes auch nicht<br />

erforderlich. Für die Effizienz einer Krankenkasse seien die Verwaltungskosten insgesamt, nicht die<br />

Vorstandsbezüge entscheidend. Unangemessen hohe Vergütungen von Vorständen könnten bereits im Wege der<br />

Aufsicht durch das Bundesversicherungsamt ausgeschlossen werden. Im Übrigen habe das<br />

Bundesversicherungsamt festgestellt, dass die Bezüge der Krankenkassenvorstände weit überwiegend nicht<br />

überhöht, sondern angemessen seien.<br />

13<br />

Letztlich sei die Regelung auch nicht angemessen. Sie belaste die Vorstandsmitglieder in erheblichem Maße, weil<br />

sie ein Hindernis für die freie Aushandlung der Vorstandsbezüge darstelle. Der Fall der Vergütung anderer im<br />

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öffentlichen Dienst Beschäftigter sei insoweit nicht vergleichbar. Das Interesse an der angestrebten Transparenz<br />

wiege angesichts der Geringfügigkeit des damit verfolgbaren Zweckes nur gering und könne den Eingriff nicht<br />

rechtfertigen.<br />

14<br />

Dies gelte umso mehr, wenn man die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie<br />

des Europäischen Gerichtshofs in den Blick nehme, die bei der informationellen Selbstbestimmung einen<br />

wesentlich strengeren Maßstab anlegten als das Bundessozialgericht.<br />

15<br />

Die Beschwerdeführer beantragen darüber hinaus den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Das<br />

Bundesversicherungsamt beabsichtige, den Verpflichtungsbescheid in naher Zukunft zu vollstrecken, so dass der<br />

endgültige Verlust der von den Beschwerdeführern verteidigten Rechtsposition drohe.<br />

II.<br />

16<br />

Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde wirft<br />

keine Fragen von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung auf. Ebenso wenig ist ihre Annahme zur<br />

Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführer angezeigt. Es kann dahinstehen, ob die Verfassungsbeschwerde<br />

in vollem Umfang zulässig ist. Jedenfalls hat sie in der Sache keine Aussicht auf Erfolg.<br />

17<br />

1. Allerdings ermächtigt § 35a Abs. 6 Satz 2 SGB IV zu einem Eingriff in das Grundrecht auf informationelle<br />

Selbstbestimmung.<br />

18<br />

Das in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst<br />

auch die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen<br />

persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (vgl. BVerfGE 65, 1 ; 96, 171 ; 103, 21 ;<br />

115, 320 ). Es sichert seinen Trägern insbesondere Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung,<br />

Verwendung und Weitergabe der auf sie bezogenen, individualisierten oder individualisierbaren Daten (vgl.<br />

BVerfGE 65, 1 ; 84, 239 ; 115, 320 ). Auch die öffentliche Bekanntmachung personenbezogener<br />

Daten als Sonderform der Datenübermittlung ist vom Schutzbereich des Grundrechts erfasst (vgl. BVerfGE 78, 77<br />

).<br />

19<br />

Die Vergütungen der Vorstände von Krankenkassen sind personenbezogene Daten, die sich bei Veröffentlichung<br />

in der vorgesehenen Form auch einem individualisierbaren Grundrechtsträger zuordnen lassen. Die öffentliche<br />

Bekanntmachung der Vergütungen in der vorgesehenen Form bedeutet einen Eingriff in das Grundrecht, zu dem<br />

§ 35a Abs. 6 Satz 2 SGV IV die Krankenkassen ermächtigt und verpflichtet.<br />

20<br />

2. Der Eingriff ist durch § 35a Abs. 6 Satz 2 SGV IV gerechtfertigt. Die gegen diese Vorschrift erhobenen<br />

verfassungsrechtlichen Bedenken greifen nicht durch.<br />

21<br />

Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht schrankenlos gewährleistet. Der Einzelne muss<br />

vielmehr solche Beschränkungen seines Rechts hinnehmen, die durch überwiegendes Allgemeininteresse<br />

gerechtfertigt sind (vgl. BVerfGE 65, 1 ). Diese Beschränkungen bedürfen einer verfassungsmäßigen<br />

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gesetzlichen Grundlage, die insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen muss (vgl. BVerfGE<br />

65, 1 ; 115, 320 ). Dieser Grundsatz ist nicht verletzt.<br />

22<br />

a) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer verfolgt die Regelung einen legitimen Zweck.<br />

23<br />

Nach dem Gesetzentwurf vom 8. September 2003 (BTDrucks 15/1525) soll mit der Verpflichtung zur<br />

Veröffentlichung der Vorstandsvergütungen Transparenz geschaffen werden, um dem Informationsbedürfnis der<br />

Beitragszahler und der<br />

Öffentlichkeit an dem Einsatz öffentlicher Mittel, die auf gesetzlicher Grundlage erhoben werden, Rechnung zu<br />

tragen.<br />

24<br />

Die Schaffung einer solchen Transparenz ist ein legitimer Zweck der Gesetzgebung. In einer demokratischen<br />

Gesellschaft tragen solche Informationen zum öffentlichen Meinungsbildungsprozess bei. Mit entsprechenden<br />

Regelungen zur Gewährleistung verbesserter Informationen trägt der Bundesgesetzgeber in jüngerer Zeit<br />

vermehrt dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit Rechnung, so etwa durch das Informationsfreiheitsgesetz<br />

vom 5. September 2005 und das Vorstandsvergütungs-Offenlegungsgesetz vom 3. August 2005. Dies steht auch<br />

in Übereinstimmung mit internationalen Entwicklungen (vgl. zusammenfassend<br />

Kugelmann, DÖV 2005, S. 851 ff.).<br />

25<br />

Ob, wie von den Beschwerdeführern vermutet, der Gesetzgeber mit seiner Regelung noch andere Zwecke, etwa<br />

die Senkung der Kosten des Gesundheitswesens, verfolgte, kann dahinstehen. Dafür, dass er entgegen seinen<br />

eigenen Ausführungen in der Gesetzesbegründung ausschließlich andere oder gar illegitime Zwecke anstrebte,<br />

ist nichts ersichtlich.<br />

26<br />

b) Die Regelung ist zur Erreichung des vom Gesetzgeber verfolgten Zwecks auch geeignet und erforderlich.<br />

27<br />

Ein Gesetz ist zur Zweckerreichung geeignet, wenn mit seiner Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert werden kann<br />

(vgl. BVerfGE 67, 157 ; 100, 313 ; 115, 320 ). Die Information über die Vorstandsgehälter<br />

kann den Gesetzeszweck der Herstellung von Transparenz im Gesundheitswesen fördern. Die Eignung entfällt<br />

nicht deshalb, weil die vorgesehenen Orte der Veröffentlichung nicht in ausreichendem Maße zugänglich wären.<br />

Vielmehr liegt es für den Interessierten nahe, aufgrund gesetzlicher Anordnung bekannt zu machende<br />

Informationen in amtlichen Mitteilungsblättern wie dem Bundesanzeiger zu suchen oder sie in Publikationen der<br />

Einrichtung zu vermuten, die zur Veröffentlichung verpflichtet ist. Auch wenn möglicherweise nur wenige<br />

Versicherte selbst den Bundesanzeiger oder die Mitgliederzeitschriften von Krankenkassen im Hinblick auf die<br />

Vorstandsvergütungen auswerten werden, so ist doch für den Gesetzeszweck entscheidend, dass die<br />

Informationen überhaupt öffentlich zugänglich sind. Insbesondere für die Medien ist ein als Quelle zitierfähiges<br />

amtliches Organ eine geeignete Grundlage für die Informationsgewinnung. Es ist von der publizistischen Aufgabe<br />

der Medien umfasst, Informationen, die sich der Einzelne auch bei Bestehen eines gewissen Interesses<br />

angesichts des damit verbundenen Aufwandes in der Regel nicht verschaffen würde, zusammenzutragen und<br />

über entsprechende Sachverhalte zu berichten.<br />

28<br />

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Zur Zweckerreichung ist die angegriffene Regelung auch erforderlich. Die vom Gesetzgeber gewollte Art der<br />

Transparenz der Vorstandsbezüge kann nur durch deren Veröffentlichung hergestellt werden.<br />

29<br />

c) Die angegriffene Regelung wahrt auch die Grenzen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.<br />

30<br />

Die Schwere des Eingriffs darf nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen<br />

(vgl. BVerfGE 90, 145 ; 115, 320 ).<br />

31<br />

aa) Für die Beschwerdeführer ist das allgemeine Bekanntwerden von Informationen über ihre Vergütungen ein<br />

Eingriff von nicht unerheblichem Gewicht.<br />

32<br />

Personenbezogene Daten über die Vergütung im ausgeübten Beruf des Grundrechtsträgers ermöglichen<br />

Rückschlüsse über dessen wirtschaftliche Verhältnisse im privaten Bereich. Indem diese Daten veröffentlicht und<br />

damit allgemein bekannt werden, wird jedermann in die Lage versetzt, in diese Verhältnisse, wenngleich nur in<br />

einem begrenzten Maße, Einblick zu nehmen. Die Veröffentlichung personenbezogener Daten stellt im Vergleich<br />

zu anderen Eingriffsmöglichkeiten, etwa der bloßen Erhebung, verwaltungsinternen Speicherung und Weitergabe<br />

an bestimmte Dritte, eine besonders weitgehende Form des Eingriffs in das Recht auf informationelle<br />

Selbstbestimmung dar. Gewicht gewinnt dieser Eingriff zusätzlich, wenn die hier zu veröffentlichenden<br />

Informationen, wie die Beschwerdeführer unter Beifügung von Belegen anführen, Gegenstand einer<br />

umfangreichen, teilweise unsachlich geführten öffentlichen Diskussion zu werden drohen. Damit besteht<br />

zumindest die Gefahr, dass allein aufgrund des Bekanntwerdens der hier verfahrensgegenständlichen Angaben<br />

persönliche Verhältnisse der Beschwerdeführer öffentlich in einer Weise erörtert werden, die ihnen aufgrund von<br />

Umständen, die sie selbst nicht beeinflussen können, in Bezug auf ihr öffentliches Ansehen und ihr öffentliches<br />

Handeln nicht zum Vorteil gereicht.<br />

33<br />

Bei der Gewichtung des Eingriffs ist andererseits zu berücksichtigen, dass die Informationen nicht die engere<br />

Privatsphäre der Beschwerdeführer, sondern ihren beruflichen Bereich betreffen. Veröffentlicht werden nicht die<br />

für die persönliche Lebensgestaltung entscheidenden Einkünfte der Beschwerdeführer, zu denen auch Zuflüsse<br />

aus anderen Quellen zählen können, sondern lediglich die von Seiten der Krankenkasse gezahlten Vergütungen<br />

und Versorgungsleistungen. Rückschlüsse auf Einkommen oder gar Vermögen der Beschwerdeführer sind daher<br />

nicht umfassend möglich.<br />

34<br />

Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Beschwerdeführer aufgrund ihrer Funktion beim Träger einer<br />

gesetzlichen, insbesondere durch Beiträge der Versicherten finanzierten Krankenkasse unter besonderer<br />

Beobachtung der Öffentlichkeit stehen. So wie es für den öffentlichen Dienst möglich ist, die Bezüge der<br />

Funktionsträger aus öffentlich zugänglichen Quellen weitgehend zutreffend zu ermitteln, wird durch die<br />

Neuregelung in § 35a Abs. 6 Satz 2 SGB IV Ähnliches jedenfalls für Funktionsträger bei gesetzlichen<br />

Krankenkassen ermöglicht.<br />

35<br />

Die besonderen Bedingungen, denen die Beschwerdeführer nach ihrem Vorbringen etwa bei der Aushandlung<br />

ihrer Bezüge unterliegen, fallen allenfalls unwesentlich ins Gewicht. Zwar mag das Bekanntwerden der<br />

Vergütungen bei etwaigen Vertragsverhandlungen mit anderen Krankenkassen die Verhandlungslage verändern.<br />

Das Vorbringen der Beschwerdeführer lässt jedoch nicht erkennen, dass diese Veränderung sich<br />

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naheliegenderweise zu ihrem Nachteil auswirken würde. Zwar befürchten sie einerseits eine Schwächung ihrer<br />

Verhandlungsposition, gleichzeitig erwarten sie aber, dass die gesetzliche Regelung des § 35a Abs. 6 Satz 2<br />

SGB IV keinen Beitrag zur Kostensenkung im Gesundheitswesen liefern könne, weil sie in der Tendenz eher zu<br />

einem Ansteigen der Vorstandsgehälter führen werde.<br />

36<br />

bb) Auf der anderen Seite dient die angegriffene Regelung einem öffentlichen Belang von erheblichem Gewicht.<br />

Sie soll dem Informationsbedürfnis der Beitragszahler und der Öffentlichkeit Rechnung tragen und gleichzeitig die<br />

Möglichkeit für einen Vergleich schaffen.<br />

37<br />

(1) Dabei kann entsprechend den auch von den Fachgerichten übernommenen Ausführungen der<br />

Beschwerdeführer davon ausgegangen werden, dass die Vorstandsvergütungen, gemessen am Gesamthaushalt<br />

der Krankenkasse, nur einen geringfügigen Anteil ausmachen, der die Schwelle der Beitragsrelevanz<br />

grundsätzlich nicht erreicht. Auch unterhalb dieser Schwelle können Angaben über die Vorstandsvergütungen<br />

Rückschlüsse auf Finanzgebaren und gegebenenfalls Einsparpotentiale der Krankenkasse ermöglichen, die für<br />

den Vergleich der Kassen untereinander von Interesse sein können. Dabei bestehen Möglichkeiten, die jeweils zu<br />

veröffentlichenden Vorstandsvergütungen nicht gesondert zu betrachten, sondern ihre Entwicklung, etwa seit<br />

Beginn der Veröffentlichungspflicht im Jahr 2004, heranzuziehen und sie in Zusammenhang mit anderen, der<br />

Öffentlichkeit ebenfalls zugänglichen Informationen zu bewerten.<br />

38<br />

(2) Darüber hinaus soll die Veröffentlichung der Vorstandsbezüge für die Allgemeinheit die Transparenz im<br />

Umgang mit öffentlichen Mitteln – hier: im Gesundheitswesen – erhöhen.<br />

39<br />

Die Vergütungen leitender Funktionsträger sind, sowohl im Bereich öffentlicher Verwaltung als auch im Bereich<br />

der Privatwirtschaft, seit einiger Zeit Gegenstand einer breiten öffentlichen Diskussion. Zu ihr liefern schon jetzt<br />

auch die Vergütungen von Krankenkassenvorständen, soweit bereits veröffentlicht, einen Beitrag. In diesem<br />

Zusammenhang werden Fragen der Angemessenheit von Gegenleistungen und damit der Gerechtigkeit erörtert,<br />

insbesondere werden Vorstandsbezüge und ihre Entwicklung ins Verhältnis gesetzt zu den Bezügen anderer<br />

Beschäftigter oder – im Falle der Sozialversicherungen – auch den von den Versicherten zu leistenden Beiträgen.<br />

40<br />

Der Vergütung von Führungspersonal wird erhebliche praktische Bedeutung beigemessen, auch etwa für die<br />

Unternehmenspolitik und die Motivation der betroffenen Personen bei ihrem unternehmerischen Handeln.<br />

Informationen darüber können Bedeutung für Anlageentscheidungen, etwa von Aktionären, haben (vgl. etwa<br />

Baums, ZIP 2004, S. 1877 ) und sie können öffentliche Diskussionen über die Angemessenheit der<br />

Vergütungen ermöglichen. Um Derartiges zu ermöglichen, hat der Gesetzgeber im Jahre 2005 durch das<br />

Vorstandsvergütungs-Offenlegungsgesetz die Transparenz erhöht (s. hierzu Baums, ZIP 2004, S. 1877 ff.;<br />

Hennke, BB 2007, S. 1267 ff.). Werden auch Vergütungen des Führungspersonals im öffentlichen Bereich, hier<br />

speziell die der Krankenkassenvorstände, offen gelegt, kann sich dies nicht nur auf die allgemeine öffentliche<br />

Diskussion über deren Angemessenheit auswirken, sondern auch den Beitragszahlern aufschlussreiche<br />

Informationen vermitteln.<br />

41<br />

Soweit die Beschwerdeführer anführen, es sei zu befürchten, dass die Presse über die zu veröffentlichenden<br />

Bezüge unseriös berichten werde und eine verzerrte Darstellung der Verhältnisse von den eigentlichen<br />

Problemen des Gesundheitswesens ablenken könnte, steht dies der angegriffenen gesetzgeberischen<br />

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Entscheidung nicht entgegen. Konkrete Verletzungen ihrer Rechte bei der Verwertung der Informationen im<br />

Einzelfall können sie mit den gegebenen Rechtsschutzmöglichkeiten abwehren.<br />

42<br />

cc) Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber im Rahmen seines<br />

Einschätzungsspielraums bei der Abwägung dieser gegenläufigen Interessen dem Transparenzinteresse und<br />

damit der Möglichkeit zur Kenntnisnahme der Vorstandsbezüge von öffentlichen Funktionsträgern den Vorzug vor<br />

deren Interesse an Geheimhaltung gegeben hat.<br />

43<br />

d) Nach dem Gesagten ist auch das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 12 GG nicht verletzt. Die vom<br />

Gesetzgeber verfolgten Interessen rechtfertigen eine Beschränkung der Berufsausübungsfreiheit.<br />

44<br />

e) Keiner Entscheidung bedarf, wie weit die Beschwerdeführer im vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />

geltend machen können, die Fachgerichte hätten ihre Rechte aus der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />

oder die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unzureichend berücksichtigt (vgl.<br />

dazu BVerfGE 111, 307 ). Denn es ist nicht erkennbar, dass die angegriffene Regelung insoweit zu<br />

beanstanden sein könnte.<br />

45<br />

Eingriffe in das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK sind zulässig, wenn dies in einer<br />

demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Das ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für<br />

Menschenrechte der Fall, wenn ein zwingendes gesellschaftliches Bedürfnis besteht und die Maßnahme in einem<br />

angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten berechtigten Zweckt steht (vgl. EGMR, Urteil vom 24. November<br />

1986, Gillow/Vereinigtes Königreich – Appl. Nr. 9063/80). Dabei verfügen die Behörden über ein Ermessen,<br />

dessen Umfang nicht nur von der Zielsetzung, sondern auch vom Wesen des Eingriffs abhängig ist (vgl. EGMR,<br />

Urteil vom 26. März 1987, Leander/Schweden – Appl. Nr. 9248/81). Gerade im Umgang mit Daten zum<br />

Arbeitseinkommen ist nicht ersichtlich, dass der Gerichtshof insoweit einen besonders strengen Maßstab anlegen<br />

würde (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 21. Januar 1999, Fressoz and Roire/Frankreich - Appl. Nr. 29183/95, dort<br />

insb. Rn. 26, 48 ff., im Zusammenhang mit einer Regelung über die weitgehend öffentliche Einsichtnahme in<br />

Steuerlisten).<br />

46<br />

Der vom Österreichischen Verfassungsgerichtshof anhand von Art. 8 EMRK entschiedene Fall (s. Entscheidung<br />

vom 28. November 2003 – KR 1/00-33) lässt sich dem vorliegenden schon deshalb nicht vergleichen, weil die<br />

Veröffentlichungspflicht dort allein an die Höhe des Gehalts, nicht aber an die besondere Funktion des<br />

Betroffenen anknüpfte.<br />

47<br />

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.<br />

48<br />

Papier Hoffmann-Riem Eichberger<br />

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Entscheidungen<br />

Copyright © 2010 BVerfG<br />

Zitierung: BVerfG, 2 BvR 613/06 vom 13.2.2008, Absatz-Nr. (1 - 21),<br />

http://www.bverfg.de/entscheidungen/rk20080213_2bvr061306.html<br />

Frei für den nicht gewerblichen Gebrauch. Kommerzielle Nutzung nur mit Zustimmung des Gerichts.<br />

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT<br />

- 2 BvR 613/06 -<br />

In dem Verfahren<br />

über<br />

die Verfassungsbeschwerde<br />

des Herrn S...,<br />

- Bevollmächtigte:<br />

Rechtsanwälte Schroeder-Printzen & Kaufmann,<br />

Kurfürstenstraße 31, 14467 Potsdam -<br />

gegen a) das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Dezember 2005 - BVerwG 2 C 35.04 -,<br />

b) den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 20. Januar 2004 - 1 UE 3822/00 -,<br />

c) das Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 29. Dezember 1999 - 1 E 2210/94 (1) -,<br />

d) den Widerspruchsbescheid des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 28. August 1996 -<br />

Za 3 - 01480 - 7 -,<br />

e) den Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 11. Juni 1996 - P 1820 - Sch 85 - Z I 34 -,<br />

f) den Widerspruchsbescheid des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 28. März 1996 - Za<br />

3 - 01480 - 7 -,<br />

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g) den Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 6. Februar 1996 - P 1820 - Sch 85 - Z I 34 -,<br />

h) den Widerspruchsbescheid des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 23. Januar 1996 -<br />

Za 3 - 01480 - 7 -,<br />

i) den Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 17. Januar 1996 - P 1820 - Sch 85 - Z I 34 -,<br />

j) den Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 12. Januar 1996 - P 1820 - Sch 85 - Z I 34 -,<br />

k) den Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 5. Januar 1996 - P 1820 - Sch 85 - Z I 34 -,<br />

l) den Widerspruchsbescheid des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 28. November<br />

1995 - Za 3 -01480 - 7 -,<br />

m) den Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 10. August 1995 - P 1820 - Sch 85 - Z I 34 -,<br />

n) den Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 3. August 1995 - P 1820 - Sch 85 - Z I 34 -,<br />

o) den Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 22. März 1995 - P 1820 - Sch 85 - Z I 34 -,<br />

p) den Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 17. Januar 1995 - P 1820 - Sch 85 - Z I 34 -,<br />

q) den Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 10. Oktober 1994 - P 1820 - Sch 85 - Z I 34<br />

-,<br />

r) den Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 4. Oktober 1994 - P 1820 - Sch 85 - Z I 34 -,<br />

s) den Widerspruchsbescheid des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 29. März 1994 - Za<br />

3 - 01480 -,<br />

t) den Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 22. März 1994 - P 1820 - Sch 85 - Z I 34 -,<br />

u) den Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 2. Dezember 1993 - P 1820 - Sch 85 - Z I<br />

34 -,<br />

v) den Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 30. Juni 1993 - P 1820 - Sch 85 - Z I 34 -,<br />

w) den Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 25. Mai 1993 - P 1820 - Sch 85 - Z I 34 -<br />

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch<br />

den Vizepräsidenten Hassemer,<br />

die Richter Di Fabio<br />

und Landau<br />

gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl<br />

I S. 1473) am 13. Februar 2008 einstimmig beschlossen:<br />

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.<br />

Gründe:<br />

1<br />

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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob die Regelungen des § 5 Abs. 4 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe b), Nr. 2<br />

und Nr. 9 der Beihilfevorschriften des Bundes (BhV), wonach bestimmte krankheitsbedingte Aufwendungen<br />

gesetzlich krankenversicherter Beihilfeberechtigter von der Beihilfe ausgeschlossen sind, mit Verfassungsrecht -<br />

insbesondere mit Art. 33 Abs. 5 und Art. 3 Abs. 1 GG - vereinbar sind.<br />

I.<br />

2<br />

1. Der Beschwerdeführer ist Vorsitzender Richter a. D. Er ist freiwillig in der Hamburg-Münchener Ersatzkasse<br />

krankenversichert. Seine Ehefrau, die zuvor als Familienangehörige mitversichert war, ist seit dem 23. September<br />

1991 in der Krankenversicherung der Rentner pflichtversichert. Die Hamburg-Münchener Ersatzkasse gewährt ihr<br />

„im Rahmen der Besitzstandswahrung― einen Anspruch auf Erstattung der Kostenanteile für<br />

privatärztliche/zahnärztliche Behandlung und Arznei-, Verbands- und Heilmittel sowie für Zahnersatz.<br />

3<br />

Der Beschwerdeführer stellte mehrere Anträge, mit denen er Beihilfen für privatärztliche Behandlungen sowie für<br />

Arzneimittel begehrte, die seine Ehefrau in den Jahren 1992 bis 1996 in Anspruch genommen hatte. Diese<br />

Anträge wurden unter anderem unter Berufung auf § 5 Abs. 4 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe b) und § 5 Abs. 4 Nr. 2 BhV<br />

abgelehnt. Des Weiteren stellte der Beschwerdeführer Anträge auf Beihilfe zu eigenen krankheitsbedingten<br />

Aufwendungen, die auf der Grundlage der Vorschriften des § 5 Abs. 4 Nr. 2 und 9 BhV abgelehnt wurden.<br />

Insbesondere lehnte der Dienstherr es ab, bei der Bemessung der Beihilfe für den Beschwerdeführer selbst die<br />

von der Hamburg-Münchener Ersatzkasse vorgenommenen Abschläge für Verwaltungskosten und fehlende<br />

Wirtschaftlichkeitsprüfungen in Höhe von 15 % zu berücksichtigen. Nach erfolglosen Widerspruchsverfahren<br />

erhob der Beschwerdeführer Klage, die vor den Verwaltungsgerichten ohne Erfolg blieb. Die Revision des<br />

Beschwerdeführers wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 15. Dezember 2005 zurück.<br />

4<br />

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer Verstöße gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit<br />

dem Sozialstaatsprinzip, Art. 3 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 5 GG. Die angegriffenen behördlichen und gerichtlichen<br />

Entscheidungen verletzten ihn in seinen Rechten aus Art. 33 Abs. 5 GG. Seine Ehefrau, die ein Leben lang<br />

freiwillig Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung bezahlt habe, sei aufgrund des Erreichens der<br />

Altersgrenze zur Pflichtversicherten geworden und habe unter Berufung auf § 13 Abs. 2 SGB V in zulässiger<br />

Weise die Kostenerstattung gewählt. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts führe dies zu einem<br />

vollständigen Verlust der insoweit bestehenden Beihilfeansprüche. Das Bundesverwaltungsgericht verkenne<br />

hierdurch das vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Prinzip der Vorsorgefreiheit, dem zufolge der Beamte in<br />

der Wahl seiner Krankenvorsorge frei sei. Denn das Bundesverwaltungsgericht treffe hiermit eine wirtschaftliche<br />

Entscheidung über die beihilfekonforme Wahl des Bereichs, der in die Vorsorgefreiheit falle. Denn der in der<br />

gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Beihilfeberechtigte werde hierdurch schlechter gestellt als der<br />

Privatversicherte.<br />

5<br />

Zur Rechtfertigung dieses Eingriffs in das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 33 Abs. 5 GG könnten die<br />

Strukturunterschiede zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung nicht herangezogen werden. Denn<br />

wenn es - nach dem Prinzip der Vorsorgefreiheit - rechtlich irrelevant sei, wie ein Beihilfeberechtigter seine<br />

Eigenvorsorgeentscheidung treffe, dann könnten behauptete strukturelle Unterschiede zwischen gesetzlicher und<br />

privater Krankenversicherung keine Rolle spielen. Zudem verkenne das Bundesverwaltungsgericht die Reichweite<br />

von Art. 3 Abs. 1 GG. Das Bundesverwaltungsgericht komme zu dem Ergebnis, ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1<br />

GG liege nicht vor, weil das System der gesetzlichen Krankenversicherung und das System der privaten<br />

Krankenversicherung derart wesensunterschiedlich seien, dass die Beiden unterschiedlich behandelt werden<br />

dürften. Die Unterschiedlichkeit der beiden Systeme sei im vorliegenden Zusammenhang indes kein taugliches<br />

Unterscheidungskriterium. Denn damit werde die Eigenvorsorgeentscheidung des Beihilfeberechtigten, die dieser<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 330


nach autonomen Gesichtspunkten zu treffen habe, in unzulässiger Weise präjudiziert. Schließlich führe die mit der<br />

Verfassungsbeschwerde angegriffene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu einem Verstoß gegen<br />

Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip. Die allgemeine Handlungsfreiheit werde durch die<br />

Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vollständig beschränkt. Einem Beihilfeberechtigten stehe nicht<br />

mehr die Möglichkeit offen, seine private Vorsorge innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu suchen. Er<br />

sei aufgrund der in den Beihilfevorschriften getroffenen Regelungen gezwungen, sich in die private<br />

Krankenversicherung zu begeben, wenn er nicht der Ansprüche auf Beihilfe verlustig gehen wolle. Hierbei sei zu<br />

berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem System der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung eine maßgebende Bedeutung innerhalb des grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzips<br />

zukomme. In diesem Zusammenhang müsse unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit auch Beachtung<br />

finden, dass der gesetzlichen Krankenversicherung solidarisch erhebliche Beiträge zuflössen und außerdem die<br />

Beihilfe wegen der höheren Kostenerstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung weitaus mehr entlastet<br />

werde, als wenn eine beihilfekonforme Versicherung in der privaten Krankenversicherung gegeben sei. Dies<br />

dadurch zu bestrafen, dass Kosten, die im Bereich der Eigenvorsorge anfielen, überhaupt nicht erstattet würden,<br />

sei nicht nur unverhältnismäßig, sondern geradezu widersinnig, weil durch eine solche Handhabung die Beamten<br />

mehr oder minder zwangsweise in die private Krankenversicherung abgedrängt würden, um dort der Beihilfe<br />

Mehrkosten zu verursachen.<br />

II.<br />

6<br />

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2<br />

BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche<br />

Bedeutung zu noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt.<br />

Sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 ; 96, 245 ).<br />

7<br />

Sie ist jedenfalls unbegründet.<br />

8<br />

Die angegriffenen behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer nicht in<br />

seinen verfassungsmäßigen Rechten.<br />

9<br />

1. Die Regelungen des § 5 Abs. 4 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe b) der Beihilfevorschriften des Bundes (BhV) vom 19.<br />

April 1985 (GMBl S. 290) in der hier anwendbaren Fassung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Änderung<br />

der Beihilfevorschriften vom 19. September 1989 (GMBl S. 542) und vom 10. Dezember 1991 (GMBl S. 1051)<br />

und des § 5 Abs. 4 Nr. 2 und Nr. 9 BhV in der hier anwendbaren Fassung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift<br />

zur Änderung der Beihilfevorschriften vom 9. Juni 1993 (GMBl S. 370), auf denen die mit der<br />

Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen beruhen, verstoßen nicht gegen Art. 33 Abs. 5 GG.<br />

10<br />

a) Das gegenwärtige System der Beihilfegewährung gehört nicht zu den hergebrachten Grundsätzen des<br />

Berufsbeamtentums. Dementsprechend besteht auch keine spezielle verfassungsrechtliche Verpflichtung, den<br />

Beamten und Versorgungsempfängern für Krankheitsfälle und Ähnliches Unterstützung gerade in Form von<br />

Beihilfen zu gewähren (vgl. BVerfGE 58, 68 ; 79, 223 ; 83, 89 ; 106, 225 ). Eine solche<br />

Pflicht kann auch nicht aus dem vom Gesetz- und Verordnungsgeber zu beachtenden hergebrachten Grundsatz<br />

des Berufsbeamtentums hergeleitet werden, wonach der Dienstherr die Beamten und ihre Familien<br />

amtsangemessen zu alimentieren hat. Der beamtenrechtliche Alimentationsgrundsatz wäre erst dann verletzt,<br />

wenn die zur Abwendung von krankheitsbedingten Belastungen erforderlichen Krankenversicherungsprämien<br />

einen solchen Umfang erreichten, dass der angemessene Lebensunterhalt der Beamten und<br />

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Versorgungsempfänger nicht mehr gewährleistet wäre. Bei einer solchen Sachlage wäre verfassungsrechtlich<br />

nicht eine Anpassung der Beihilfesätze, sondern eine entsprechende Korrektur der Besoldungs- und<br />

Versorgungsgesetze, die das Alimentationsprinzip konkretisieren, geboten (vgl. BVerfGE 58, 68 ; 83, 89<br />

).<br />

11<br />

b) Der Dienstherr muss indes aufgrund seiner Fürsorgepflicht Vorkehrungen dafür treffen, dass der<br />

amtsangemessene Lebensunterhalt des Beamten bei Eintritt besonderer finanzieller Belastungen durch<br />

Krankheits-, Geburts- oder Todesfälle nicht gefährdet wird. Ob er dieser Pflicht über eine entsprechende<br />

Bemessung der Dienstbezüge, über Sachleistungen, Zuschüsse oder in sonst geeigneter Weise Genüge tut,<br />

bleibt von Verfassungs wegen seiner Entscheidung überlassen. Entscheidet sich der Dienstherr, seiner<br />

Fürsorgepflicht durch die Eigenvorsorge des Beamten ergänzende Beihilfen nachzukommen, so muss er<br />

sicherstellen, dass der Beamte nicht mit erheblichen Aufwendungen belastet bleibt. Der Dienstherr darf somit die<br />

Beihilfe - da er sie als eine die Eigenvorsorge ergänzende Leistung konzipiert hat - nicht ohne Rücksicht auf die<br />

vorhandenen Versicherungsmöglichkeiten ausgestalten. Eine in Ergänzung der zumutbaren Eigenvorsorge<br />

lückenlose Erstattung jeglicher Aufwendungen verlangt die Fürsorgepflicht indes nicht (vgl. BVerfGE 83, 89 ).<br />

12<br />

c) Hiervon ausgehend begegnen die den angegriffenen Entscheidungen zu Grunde liegenden beihilferechtlichen<br />

Vorschriften keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.<br />

13<br />

aa) Die Vorschrift des § 5 Abs. 4 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe b) BhV verstößt nicht gegen Art. 33 Abs. 5 GG. Nach<br />

dieser Regelung sind bei Personen, denen ein Zuschuss, Arbeitgeberanteil und dergleichen zum<br />

Krankenversicherungsbeitrag gewährt wird oder bei denen sich der Beitrag nach der Hälfte des allgemeinen<br />

Beitragssatzes bemisst oder die einen Anspruch auf beitragsfreie Krankenfürsorge haben, Aufwendungen - mit<br />

Ausnahme der Aufwendungen für Wahlleistungen im Krankenhaus - nicht beihilfefähig, die darauf beruhen, dass<br />

der Versicherte die beim Behandler mögliche Sach- und Dienstleistung nicht als solche in Anspruch genommen<br />

hat. Die Vorschrift schließt nur solche Aufwendungen von der Beihilfe aus, die darauf beruhen, dass ein in der<br />

gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversicherter Beihilfeberechtigter die bei dem jeweiligen Behandler<br />

möglichen Sach- und Dienstleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht als solche in Anspruch<br />

genommen hat. Die durch § 5 Abs. 4 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe b) BhV begründete Erstattungslücke knüpft also an<br />

eine autonome Entscheidung des Beihilfeberechtigten an und hätte von diesem durch die Inanspruchnahme der<br />

von der gesetzlichen Krankenversicherung angebotenen Leistungen leicht vermieden werden können. Die<br />

Fürsorgepflicht gebietet in solchen Fällen ein Eingreifen des Dienstherrn nicht. Es ist auch nicht erkennbar, dass<br />

der Ehefrau des Beschwerdeführers nach der Kostenerstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung eine<br />

den Wesenskern berührende, erhebliche Kostenbelastung verblieben ist.<br />

14<br />

bb) Auch die Vorschrift des § 5 Abs. 4 Nr. 2 BhV ist mit den oben genannten, aus Art. 33 Abs. 5 GG hergeleiteten<br />

Maßstäben vereinbar. Gemäß § 5 Abs. 4 Nr. 2 BhV sind gesetzlich vorgesehene Zuzahlungen und Kostenanteile<br />

sowie Aufwendungen für von der Krankenversorgung ausgeschlossene Arznei-, Hilfs- und Heilmittel nicht<br />

beihilfefähig. Ein gesetzlich krankenversicherter Beihilfeberechtigter kann also Eigenleistungen, die er im Rahmen<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung zu erbringen hat, und Aufwendungen für aus dem Leistungsprogramm der<br />

gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossene Arznei-, Hilfs- und Heilmittel auch im Rahmen der Beihilfe<br />

nicht geltend machen. Dies ist im Hinblick auf die Fürsorgepflicht des Dienstherrn unbedenklich. Der gesetzlich<br />

krankenversicherte Beihilfeberechtigte wird hierdurch nicht mit erheblichen, ihm nicht zumutbaren Aufwendungen<br />

belastet. Ihm verbleibt lediglich ein Aufwand, der auch allen anderen Mitgliedern der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung zugemutet wird.<br />

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15<br />

cc) Auch die Vorschrift des § 5 Abs. 4 Nr. 9 BhV begegnet im Hinblick auf Art. 33 Abs. 5 GG keinen<br />

verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie nimmt die Abschläge für Verwaltungskosten und fehlende<br />

Wirtschaftlichkeitsprüfungen, die die gesetzlichen Krankenkassen bei der Kostenerstattung nach § 13 Abs. 2 SGB<br />

V vornehmen, von der Beihilfe aus. Hierdurch wird der betroffene Beihilfeberechtigte nicht in unzumutbarer Weise<br />

belastet. Vielmehr wird ihm lediglich zugemutet, diejenigen Kosten zu tragen, die auch jeder andere gesetzlich<br />

Krankenversicherte, der nach § 13 Abs. 2 SGB V für eine Kostenerstattung optiert hat, zu tragen hat. Im Übrigen<br />

kann ein gesetzlich krankenversicherter Beihilfeberechtigter die von § 13 Abs. 2 SGB V und § 5 Abs. 4 Nr. 9 BhV<br />

ausgehende wirtschaftliche Belastung einfach vermeiden, indem er seine Entscheidung für die Kostenerstattung<br />

revidiert und nach dem Regelmodell der gesetzlichen Krankenversicherung unmittelbar Sach- und<br />

Dienstleistungen in Anspruch nimmt.<br />

16<br />

d) § 5 Abs. 4 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe b), Nr. 2 und Nr. 9 BhV verletzen auch nicht das Prinzip der Vorsorgefreiheit.<br />

Der beamtenrechtliche Grundsatz der Vorsorgefreiheit besagt, dass der Beamte in der Wahl seiner<br />

Krankenvorsorge frei ist, also in eigener Verantwortung darüber entscheidet, in welchem Umfang, bei welchem<br />

Versicherungsunternehmen, zu welchen Versicherungsbedingungen und mit welcher eigenen<br />

Beitragsverpflichtung er Vorsorge treffen (vgl. BVerwGE 28, 174 ) oder ob er anstelle einer Versicherung<br />

Rücklagen für den Krankheitsfall bilden will (vgl. BVerwGE 20, 44 ). Ob dieses Prinzip zu den hergebrachten<br />

Grundsätzen des Berufsbeamtentums nach Art. 33 Abs. 5 GG gehört, hat das Bundesverfassungsgericht bisher<br />

offen gelassen (vgl. BVerfGE 79, 223 ; 83, 89 ). Auch vorliegend bedarf diese Frage keiner<br />

Entscheidung. Denn der Schutzbereich der Vorsorgefreiheit ist durch die Regelungen des § 5 Abs. 4 Nr. 1 Satz 3<br />

Buchstabe b), Nr. 2 und Nr. 9 BhV nicht betroffen. Die Vorschriften lassen die Entscheidungsfreiheit der Beamten<br />

bei der Wahl der Krankenvorsorge rechtlich unberührt. Sie bilden lediglich - mit zahllosen anderen Vorschriften -<br />

den rechtlichen Rahmen für die autonome Entscheidung des Beamten über die von ihm als angemessen<br />

betrachtete Versicherungsart und -höhe. Dass die Vorschriften dazu beitragen, für viele Beihilfeberechtigte eine<br />

beihilfekonforme private Krankenversicherung gegenüber einer gesetzlichen Krankenvollversicherung<br />

wirtschaftlich günstiger erscheinen zu lassen, ist im Hinblick auf das Prinzip der Vorsorgefreiheit unbeachtlich. Der<br />

Dienstherr ist nicht verpflichtet, die Beihilfevorschriften so an den verschiedenen Krankenversicherungssystemen<br />

auszurichten, dass die Entscheidung eines Beihilfeberechtigten für die eine oder die andere Versicherungsart in<br />

jeder Hinsicht wirtschaftlich neutral ist. Angesichts der gravierenden Strukturunterschiede zwischen der<br />

gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung dürfte dies im Übrigen auch nur schwer möglich sein (vgl.<br />

BVerfGE 83, 89 ).<br />

17<br />

2. Die Regelungen des § 5 Abs. 4 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe b), Nr. 2 und Nr. 9 BhV verstoßen auch nicht gegen Art.<br />

3 Abs. 1 GG.<br />

18<br />

a) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und<br />

wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 1, 14 ; 98, 365 ; stRspr). Aus dem<br />

allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen<br />

unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an<br />

Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen (vgl. BVerfGE 88, 5 ; 88, 87 ; 101, 54 ; 107, 27 ).<br />

Bei der Regelung des Beihilferechts steht dem Normgeber ein verhältnismäßig weiter Gestaltungsspielraum zu<br />

(vgl. BVerfGE 58, 68 ). Der Gleichheitssatz ist nicht schon dann verletzt, wenn der Normgeber nicht die<br />

gerechteste, zweckmäßigste oder vernünftigste Lösung gewählt hat. Die Gerichte können vielmehr nur die<br />

Überschreitung äußerster Grenzen beanstanden, jenseits derer sich gesetzliche Vorschriften bei der Abgrenzung<br />

von Lebenssachverhalten als evident sachwidrig erweisen, sofern nicht von der Verfassung selbst getroffene<br />

Wertentscheidungen entgegenstehen (vgl. BVerfGE 65, 141 ; 103, 310 ; 110, 353 ).<br />

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19<br />

b) Hiervon ausgehend begegnen die Vorschriften des § 5 Abs. 4 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe b), Nr. 2 und Nr. 9 BhV<br />

auch im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Soweit sich aus den Regelungen<br />

eine Benachteiligung von gesetzlich krankenversicherten gegenüber privatversicherten Beihilfeberechtigten<br />

ergeben kann, ist diese Ungleichbehandlung durch die grundlegenden Systemunterschiede zwischen der<br />

gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung gerechtfertigt. Die diesbezüglichen Ausführungen des<br />

Bundesverwaltungsgerichts in der angegriffenen Entscheidung sind aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu<br />

beanstanden.<br />

20<br />

3. Die Vorschriften des § 5 Abs. 4 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe b), Nr. 2 und Nr. 9 BhV verstoßen auch nicht gegen Art.<br />

2 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip. Ungeachtet der Frage, inwieweit aus dem Sozialstaatsprinzip<br />

konkrete Ansprüche abgeleitet werden können, stellt jedenfalls für den Bereich des Beamtenrechts die Garantie<br />

der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums eine spezielle Konkretisierung der Sozialstaatsklausel<br />

dar. Die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums - insbesondere das Alimentationsprinzip - sichern,<br />

dass die Besoldung und Versorgung der Beamten den Mindestanforderungen genügen, die sich aus dem<br />

Sozialstaatsprinzip der Verfassung ergeben (vgl. BVerfGE 17, 337 ; 58, 68 ).<br />

21<br />

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.<br />

Hassemer Di Fabio Landau<br />

BUNDESGERICHTSHOF<br />

BESCHLUSS<br />

1 StR 576/07<br />

vom<br />

20. Dezember 2007<br />

in der Strafsache<br />

gegen<br />

wegen Körperverletzung mit Todesfolge u. a. - 2 -<br />

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. Dezember 2007 be-schlossen:<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landge-richts Ellwangen vom 18. Juli 2007 wird als<br />

unbegründet ver-worfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisi-onsrechtfertigung keinen<br />

Rechtsfehler zum Nachteil des An-geklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Der Beschwerdeführer hat die<br />

Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen<br />

zu tragen.<br />

Ergänzend zu den Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift vom 15. November 2007<br />

merkt der Senat hinsichtlich des gegen die Verurteilung nach §§ 223, 227 StGB gerichteten Revisionsvorbringens<br />

an:<br />

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Der Generalbundesanwalt hat bereits zutreffend darauf hingewiesen, dass der ärztliche Heileingriff des<br />

Angeklagten jedenfalls dann eine Körperver-letzungshandlung darstellt, wenn es an einer wirksamen Einwilligung<br />

des Pati-enten bzw. bei minderjährigen Patienten von deren Eltern fehlt. Liegt eine Ein-willigung vor, ist diese nur<br />

dann wirksam erteilt, sofern der Patient vor dem Ein-griff in der gebotenen Weise über den Eingriff, seinen<br />

Verlauf, seine Er-folgsaussichten, Risiken und mögliche Behandlungsalternativen aufgeklärt worden ist (vgl.<br />

BGHSt 16, 309; BGHR StGB § 223 Abs. 1 Heileingriff 4 m.w.N.; Ehlers/Broglie, Arzthaftungsrecht 3. Aufl. Rdn.<br />

871). Nach den eindeutigen - 3 -<br />

Feststellungen des Urteils war dies sowohl im Fall N. als auch im Fall H. nicht der Fall. Der Angeklagte wusste,<br />

dass die von ihm regelmäßig und auch in den vorliegenden Fällen praktizierte Wiederver-wendung<br />

angebrochener Flaschen mit dem Narkosemittel Propofol den Warn-hinweisen des Herstellers widersprach, nach<br />

der einschlägigen Fachliteratur sogar zum Tode des Patienten führen konnte, und daher in keiner Weise<br />

kunstgerecht, sondern vielmehr sogar mit einer Gefahr für Leib und Leben der Patienten verbunden war.<br />

Gleichwohl setzte er sich über die anerkannten Re-geln der Heilkunst, die ihm eine Wiederverwendung<br />

angebrochener Propo-folflaschen untersagte, wissentlich hinweg. Damit wusste er auch, dass seine Narkosen<br />

von den jeweils erteilten Einwilligungen nicht gedeckt und damit vor-sätzliche Körperverletzungshandlungen<br />

waren.<br />

Soweit die Revision in diesem Zusammenhang weiter rügt, dass dem Angeklagten allenfalls bewusste<br />

Fahrlässigkeit hinsichtlich des Todes der drei Jahre alten H. vorgeworfen werden könne, keinesfalls aber Absicht<br />

oder direkter Vorsatz, wird offenbar verkannt, dass bei § 227 StGB die Todesfolge gemäß § 18 StGB wenigstens<br />

fahrlässig verursacht sein muss, was angesichts der vorbezeichneten Feststellungen des Landgerichts keinem<br />

Zwei-fel unterliegt. Soweit nämlich der Angeklagte insoweit mit zumindest bedingtem Vorsatz gehandelt hätte,<br />

wäre ein Tötungsdelikt nach § 212 StGB gegeben gewesen (vgl. auch Fischer, StGB 55. Aufl. § 227 Rdn. 7). - 4 -<br />

Der Senat kann im Übrigen offen lassen, ob der Angeklagte sich nicht auch einer gefährlichen Körperverletzung<br />

nach § 224 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB strafbar gemacht hat; denn eine insoweit unterbliebene Verurteilung beschwert<br />

ihn nicht.<br />

Nack Boetticher Hebenstreit<br />

Elf Graf<br />

BUNDESGERICHTSHOF<br />

IM NAMEN DES VOLKES<br />

URTEIL<br />

VI ZR 69/07 Verkündet am:<br />

27. Mai 2008<br />

Holmes,<br />

Justizangestellte<br />

als Urkundsbeamtin<br />

der Geschäftsstelle<br />

in dem Rechtsstreit<br />

Nachschlagewerk: ja<br />

BGHZ: ja<br />

BGHR: ja<br />

LugÜ Art. 5 Nr. 3<br />

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Verschreibt ein Arzt in der Schweiz einem in Deutschland wohnhaften Patienten Me-dikamente, die am Wohnort<br />

des Patienten zu schweren Nebenwirkungen führen, ü-ber die der Arzt den Patienten nicht aufgeklärt hat, so<br />

ergibt sich die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für eine auf deliktische Ansprüche gestützte<br />

Klage aus Art. 5 Nr. 3 LugÜ, weil der Erfolgsort in Deutschland liegt. Denn eine ärztli-che Heilbehandlung, die -<br />

mangels ausreichender Aufklärung - ohne wirksame Ein-willigung des Patienten erfolgt, führt nur dann zur<br />

Haftung des Arztes, wenn sie einen Gesundheitsschaden des Patienten zur Folge hat.<br />

BGH, Urteil vom 27. Mai 2008 - VI ZR 69/07 - OLG Karlsruhe<br />

LG Waldshut-Tiengen - 2 -<br />

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 27. Mai 2008 durch die<br />

Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Wellner, die Richterin Diederichsen und die Richter Stöhr und Zoll<br />

für Recht erkannt:<br />

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des 13. Zivilsenats in Freiburg i. Br. des Oberlandesgerichts<br />

Karlsruhe vom 9. Februar 2007 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Tatbestand:<br />

1<br />

Die Parteien streiten über die internationale Zuständigkeit deutscher Ge-richte für eine Arzthaftungsklage.<br />

2<br />

Der in Deutschland wohnhafte Kläger begab sich am 27. Juli 2004 in ein Kantonsspital in der Schweiz. Der<br />

beklagte Arzt diagnostizierte eine chronische Hepatitiserkrankung und empfahl eine Therapie mit zwei<br />

Medikamenten. Diese sollte sich der Kläger für sechs Monate bei wöchentlichen Kontrollen seines Hausarztes<br />

selbst verabreichen, davon eines durch Injektion mit einer Spritze, was im Rahmen einer Einweisung am 30. Juli<br />

2004 auch einmalig im Kantons-spital geschah. Ende November 2004 brach der Kläger die Therapie ab. - 3 -<br />

3<br />

Er behauptet, die Einnahme der Medikamente habe zu schweren Ne-benwirkungen geführt, über die er vom<br />

Beklagten nicht aufgeklärt worden sei, und verlangt deshalb - gestützt auf § 823 BGB - Schmerzensgeld und<br />

Scha-densersatz.<br />

4<br />

Das Landgericht hat in einem Zwischenurteil seine internationale Zu-ständigkeit bejaht. Die Berufung des<br />

Beklagten blieb ohne Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 543 Abs. 2 Nr. 1<br />

ZPO) zugelassenen Revision macht er weiterhin die Unzuständigkeit deutscher Ge-richte geltend.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

I.<br />

5<br />

Das Berufungsgericht (OLGR Karlsruhe 2007, 453) meint, die internatio-nale Zuständigkeit deutscher Gerichte<br />

ergebe sich aus Art. 5 Nr. 3 des Luganer Übereinkommens. Der Erfolgsort liege in Deutschland, weil dort in das<br />

ge-schützte Rechtsgut, nämlich Gesundheit und körperliche Unversehrtheit, einge-griffen worden sei, denn die<br />

Medikamenteneinnahme sei planmäßig über einen längeren Zeitraum am Wohnsitz des Klägers erfolgt. Die Klage<br />

knüpfe nicht an einen Vertrag an, da die schädigende Einnahme der Medikamente ohne Aufklä-rung eine<br />

Körperverletzung darstelle. Art. 5 Nr. 3 sei auch dann anwendbar, wenn deliktische Ansprüche mit vertraglichen<br />

konkurrierten, und werde nicht von Art. 5 Nr. 1 verdrängt. - 4 -<br />

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II.<br />

6<br />

Die Revision hat keinen Erfolg. Die deutschen Gerichte sind international zuständig gemäß Art. 5 Nr. 3 des<br />

Übereinkommens über die gerichtliche Zu-ständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil-<br />

und Handelssachen, geschlossen in Lugano am 16. September 1988 (BGBl 1994 II 2658 ff., 3772; künftig: LugÜ),<br />

weil mit dem Rechtsstreit Ansprüche aus uner-laubter Handlung geltend gemacht werden.<br />

7<br />

Das LugÜ ist in der Bundesrepublik Deutschland als dem Wohnsitzstaat des Klägers am 1. März 1995 und in der<br />

Schweiz als dem Wohnsitzstaat des Beklagten am 1. Januar 1992 in Kraft getreten (BGBl 1995 II 221). Es findet<br />

im Streitfall gemäß Art. 54 b Abs. 2 a, 1. Fall LugÜ Anwendung.<br />

8<br />

Nach Art. 2 Abs. 1 LugÜ können Personen, die ihren Wohnsitz im Ho-heitsgebiet eines Vertragsstaates haben,<br />

grundsätzlich nur vor den Gerichten dieses Staates verklagt werden. Die Gerichte eines anderen Vertragsstaates<br />

sind gemäß Art. 3 LugÜ international zuständig, soweit das Übereinkommen Ausnahmen regelt. Eine solche stellt<br />

Art. 5 Nr. 3 LugÜ dar, der bestimmt, dass eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines<br />

Vertragsstaats hat, in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden kann, wenn eine unerlaubte Handlung oder<br />

eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen<br />

Handlung den Gegenstand des Ver-fahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis<br />

eingetreten ist.<br />

9<br />

1. Diese Vorschrift ist in der für den Streitfall maßgebenden Fassung des LugÜ von den deutschen Gerichten<br />

auszulegen. Eine Auslegungszuständigkeit - 5 -<br />

des Europäischen Gerichtshofs besteht nicht (EuGH, Gutachten vom 7. Februar 2006 - C-1/03 - Slg. 2006 I,<br />

1145, Rn. 19). Dies stellt die Revision auch nicht in Abrede.<br />

10<br />

2. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass Gegenstand des Verfahrens eine unerlaubte Handlung<br />

im Sinne von Art. 5 Nr. 3 LugÜ ist.<br />

11<br />

a) Dies ergibt sich zwar nicht schon daraus, dass der Kläger seinen An-spruch auf § 823 BGB stützt. Vielmehr<br />

sind die im LugÜ verwendeten Begriffe, die nach innerstaatlichem Recht der Vertragsstaaten eine<br />

unterschiedliche Be-deutung haben können, grundsätzlich autonom auszulegen (vgl. EuGH, Urteil vom 3. Juli<br />

1997 - Rs. C-269/95 - Slg. 1997 I, 3767, Rn. 12 - Benincasa). Das gilt nach der Rechtsprechung des EuGH zum<br />

nahezu wortgleichen Art. 5 Nr. 3 EuGVÜ auch für den Begriff "unerlaubte Handlung", der sich nicht als bloße<br />

Verweisung auf das innerstaatliche Recht verstehen lässt. Indessen bezieht sich hiernach der Begriff der<br />

unerlaubten Handlung auf alle Klagen, mit denen eine Schadenshaftung des Beklagten geltend gemacht wird und<br />

die nicht an einen "Vertrag" im Sinne von Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ anknüpfen, wobei der Begriff "Vertrag" ebenfalls<br />

autonom zu verstehen ist und eine freiwillig gegenüber einer anderen Person eingegangene Verpflichtung meint<br />

(EuGH, Urteile vom 17. September 2002 - Rs. C-334/00 - Slg. 2002 I, 7357, Rn. 19 ff. - Tacconi; vom 20. Januar<br />

2005 - Rs. C-27/02 - Slg. 2005 I, 481, Rn. 29 - Engler). Zustän-digkeitsbegründende Tatsachen muss<br />

grundsätzlich der Kläger beibringen und jedenfalls schlüssig behaupten (EuGH, Urteil vom 3. Juli 1997 - Rs. C-<br />

269/95 - aaO, Rn. 29 f.).<br />

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12<br />

b) Das ist im Streitfall geschehen. Der Kläger macht eine Schadenshaf-tung geltend, denn er verlangt<br />

Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen eines Körperschadens, den er durch die ärztliche Behandlung des<br />

Beklagten - 6 -<br />

erlitten habe, weil die von diesem verordneten Medikamente zu starken Ne-benwirkungen und gesundheitlichen<br />

Beeinträchtigungen geführt hätten. Seine Klage knüpft schon deshalb nicht an einen Vertrag an, weil er nicht<br />

vorträgt, ob er einen Vertrag abgeschlossen hat und gegebenenfalls mit wem. Seine Klage knüpft vielmehr an<br />

eine unerlaubte Handlung an, weil er dem Beklagten eine Körperverletzung vorwirft (vgl. Lohse, Das Verhältnis<br />

von Vertrag und Delikt, S. 214). Dabei moniert er eine unzureichende ärztliche Aufklärung, also den Verstoß<br />

gegen eine Pflicht, die eine ärztliche Berufspflicht darstellt und entge-gen der Auffassung der Revision nicht<br />

"immer auf vertraglicher Grundlage" be-steht (vgl. Senatsurteile BGHZ 162, 320, 323 f.; 172, 1 ff. = VersR 2007,<br />

995, 998; vom 10. Juli 1954 - VI ZR 45/54 - NJW 1956, 1106, 1107 und vom 17. Ap-ril 2007 - VI ZR 108/06 -<br />

VersR 2007, 999 f.).<br />

13<br />

c) Die Revision erkennt selbst, dass sich die Klage nicht auf Vertrag stützt, meint aber, allein die bestehende<br />

Möglichkeit einer Anspruchskonkurrenz begründe den Vorrang des Vertragsgerichtsstandes, auch wenn die<br />

Klage aus-schließlich auf Delikt gestützt werde. Diese Auffassung findet indes in der Rechtsprechung des<br />

Europäischen Gerichtshofs keine Stütze (vgl. EuGH, Urtei-le vom 27. September 1988, Rs. 189/87 - Slg. 1988,<br />

5565, Rn. 19 f. Kalfelis; vom 27. Oktober 1998, Rs. C-51/97 - Slg. 1998 I, 6511 ff. - Reunion; vom 17. September<br />

2002, Rs. C-334/00 - aaO - Tacconi und vom 20. Januar 2005, Rs. C-27/02 - Slg. 2005 I, 481 - Engler). Soweit<br />

die Revision aus den Schluss-anträgen des Generalanwalts in der Rechtssache Kalfelis (Rs. 189/87 - Slg. 1988,<br />

5565, 5573; zustimmend Lohse, aaO, S. 25 ff.; ähnlich OLG München WM 1989, 602, 606) Gegenteiliges folgern<br />

will, kann dem nicht gefolgt werden. Der Europäische Gerichtshof hat nicht in diesem Sinn entschieden, sondern<br />

den Deliktsgerichtsstand auch dann für gegeben erachtet, wenn konkurrierende vertragliche Ansprüche geltend<br />

gemacht werden. Das muss erst recht gelten, wenn die Klage - wie im Streitfall - ausschließlich auf deliktische<br />

Ansprüche ge-- 7 -<br />

stützt ist (vgl. auch BGH, Urteil vom 7. Dezember 2004 - IX ZR 366/03 - NJW-RR 2005, 581, 584 m.w.N.).<br />

14<br />

Die Revision sieht auch selbst, dass der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache Kalfelis von der Möglichkeit<br />

einer Zuständigkeitsspaltung für An-sprüche vertraglicher und außervertraglicher Art ausgegangen ist. Soweit sie<br />

gleichwohl meint, dass hierdurch im Falle der Anspruchsgrundlagenkonkurrenz nur eine Annexkompetenz für<br />

vertragliche Ansprüche im Gerichtsstand des Art. 5 Nr. 3 LugÜ verneint, aber nicht ausdrücklich zur Frage<br />

Stellung genom-men werde, ob Art. 5 Nr. 3 von Art. 5 Nr. 1 LugÜ verdrängt werde, kann dem nicht gefolgt<br />

werden.<br />

15<br />

3. "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist" im Sinne von Art. 5 Nr. 3 LugÜ ist vorliegend der<br />

Wohnort des Klägers.<br />

16<br />

a) Insoweit besteht eine Wahlmöglichkeit zwischen dem Handlungs- und dem Erfolgsort (vgl. EuGH, Urteil vom<br />

10. Juni 2004 - Rs. C-168/02 - Slg. 2004 I, 6009, Rn. 16 - Kronhofer), doch kommt im Streitfall nur der Erfolgsort<br />

in Be-tracht. Erfolgsort ist derjenige Ort, an dem die Verletzung des primär geschütz-ten Rechtsguts eintritt.<br />

Allerdings erfasst er nicht jeden Ort, an dem die nachtei-ligen Folgen eines Umstands spürbar werden, der bereits<br />

einen - tatsächlich an einem anderen Ort entstandenen - Schaden verursacht hat.<br />

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17<br />

b) Bei einer Medikamententherapie, die in der Schweiz verordnet und über die dort angeblich fehlerhaft aufgeklärt<br />

wurde, liegt der Erfolgsort in Deutschland, wenn das Medikament - wie zwischen Arzt und Patient bespro-chen -<br />

dort eingenommen wurde und die Nebenwirkungen dort auftraten (vgl. Uhl, Internationale Zuständigkeit gemäß<br />

Art. 5 Nr. 3 des Brüsseler und Luga-no-Übereinkommens, S. 217 ff.; Sänger, Der Internist 1998, M 221, M 222; -<br />

8 -<br />

Schlosser, RIW 1988, 987, 989; ähnlich für Diagnosefehler Bäune, Zeitschrift für Orthopädie 2005, 12 ff.).<br />

18<br />

Der Auffassung der Revision, bei Verletzung der ärztlichen Aufklärungs-pflicht sei Erfolgsort nicht der Ort, an dem<br />

die Gesundheitsschäden eingetreten sind, sondern der Ort, an dem der Patient sich befand, als die<br />

Aufklärungspflicht verletzt wurde, überzeugt nicht. Die Revision will sich darauf stützen, dass die<br />

"Primärverletzung" in einem Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht bzw. die Entscheidungsfreiheit des Patienten<br />

zu sehen sei. Dabei verkennt sie jedoch, dass Art. 5 Nr. 3 LugÜ als Erfolgsort denjenigen Ort ansieht, an dem der<br />

Scha-den (erstmals) eingetreten ist. Insoweit räumt auch die Revision ein, dass ein die Haftung auslösender<br />

Schaden bei einer Verletzung der ärztlichen Aufklä-rungspflicht erst dann eintritt, wenn die Behandlung zu einer<br />

Beeinträchtigung der Gesundheit führt. Diese Betrachtungsweise entspricht sowohl Wortlaut und Sinn des Art. 5<br />

Nr. 3 LugÜ als auch der ständigen Rechtsprechung des erken-nenden Senats (vgl. nur die Senatsurteile BGHZ<br />

162, 320, 323 f.; 172, 1 ff., aaO; vom 17. April 2007 - VI ZR 108/06 - aaO, jeweils m.w.N.).<br />

19<br />

Der gelegentlich vertretenen Auffassung, wonach eine ärztliche Heilbe-handlung ohne rechtfertigende<br />

Einwilligung in erster Linie eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts darstelle und deshalb auch ohne einen vom<br />

Arzt verur-sachten Gesundheitsschaden zu einer Haftung führe (vgl. OLG Jena, VersR 1998, 586, 588 m.w.N.;<br />

zur Problematik vgl. MünchKomm-BGB/Wagner, 4. Aufl., § 823 Rn. 662, 748, m.w.N.), vermag der erkennende<br />

Senat nicht zu folgen. Diese Auffassung, die eine Haftung bereits aus der bloßen Verletzung der<br />

Aufklärungspflicht herleitet, auch wenn kein Gesundheitsschaden eintritt, würde zu einer uferlosen Haftung der<br />

Ärzte führen, die auch bei der gebotenen Berücksichtigung der Interessen der Patienten nicht vertretbar wäre. - 9<br />

-<br />

20<br />

Vielmehr ist eine ärztliche Heilbehandlung ohne wirksame Einwilligung des Patienten - die eine ausreichende<br />

Aufklärung voraussetzt - zwar rechtswid-rig (vgl. Senatsurteil vom 17. April 2007 - VI ZR 108/06 - aaO, m.w.N.),<br />

doch führt sie zur Haftung des Arztes nur, wenn sie einen Gesundheitsschaden des Patienten zur Folge hat.<br />

Maßgeblich für den Erfolgsort ist deshalb, an welchem Ort der Gesundheitsschaden eintritt.<br />

III.<br />

21<br />

Die Revision muss danach mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zu-rückgewiesen werden.<br />

Müller Wellner Diederichsen<br />

Stöhr Zoll<br />

Vorinstanzen:<br />

LG Waldshut-Tiengen, Entscheidung vom 10.07.2006 - 1 O 36/06 -<br />

OLG Karlsruhe in Freiburg, Entscheidung vom 09.02.2007 - 13 U 132/06 –<br />

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BUNDESGERICHTSHOF<br />

BESCHLUSS<br />

XII ZR 177/03<br />

vom<br />

8. Juni 2005<br />

in dem Rechtsstreit<br />

Nachschlagewerk: ja<br />

BGHZ: ja<br />

BGHR: ja<br />

BGB §§ 1004 Abs. 1 Satz 2, 1896, 1901, 1904; ZPO § 91 a<br />

a) Verlangt der Betreuer in Übereinstimmung mit dem behandelnden Arzt, daß<br />

die künstliche Ernährung des betreuten einwilligungsunfähigen Patienten<br />

eingestellt wird, so kann das Pflegeheim diesem Verlangen jedenfalls nicht<br />

den Heimvertrag entgegensetzen. Auch die Gewissensfreiheit des Pflegepersonals<br />

rechtfertigt für sich genommen die Fortsetzung der künstlichen Ernährung<br />

in einem solchen Fall nicht (im Anschluß an BGHZ 154, 205).<br />

b) Hat sich der Rechtsstreit durch den Tod des Patienten erledigt, rechtfertigt<br />

der Umstand, daß die strafrechtlichen Grenzen einer Sterbehilfe im weiteren<br />

Sinn ("Hilfe zum Sterben") bislang nicht hinreichend geklärt erscheinen, eine<br />

gegenseitige Kostenaufhebung nach § 91 a ZPO.<br />

BGH, Beschluß vom 8. Juni 2005 - XII ZR 177/03 - OLG München<br />

LG Traunstein<br />

- 2 -<br />

Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. Juni 2005 durch die<br />

Vorsitzende Richterin Dr. Hahne und die Richter Sprick, Weber-Monecke,<br />

Prof. Dr. Wagenitz und Dose<br />

beschlossen:<br />

Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.<br />

Gründe:<br />

I.<br />

Der ursprüngliche Kläger (im folgenden: der Kläger) hatte, vertreten<br />

durch seinen Vater als Betreuer, von der Beklagten verlangt, seine künstliche<br />

Ernährung einzustellen, um ihn sterben zu lassen.<br />

Der Kläger litt seit einem Suizidversuch am 19. Juli 1998 an einem apallischen<br />

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Syndrom im Sinne eines Wachkomas. Er befand sich seit dem 10. September<br />

1998 aufgrund eines von seinem Betreuer für ihn abgeschlossenen<br />

Heimvertrags im Pflegeheim A. der Beklagten. Dort wurde er von dem niedergelassenen<br />

Arzt Dr. S. behandelt und vom Pflegepersonal der Beklagten mittels<br />

einer - bereits vor der Aufnahme in das Heim eingebrachten - PEG-Sonde<br />

künstlich ernährt.<br />

Am 14. Dezember 2001 ordnete Dr. S. im Einvernehmen mit dem Betreuer<br />

an, die künstliche Ernährung einzustellen und die Zuführung von Flüssigkeit<br />

über die Magensonde zu reduzieren. Über die Magensonde seien nur noch<br />

500 ml kalorienfreie Flüssigkeit pro Tag zuzuführen, denen im einzelnen be-<br />

3 -<br />

zeichnete Medikamente beizufügen seien. Dem Kläger solle ein Vernebler vor<br />

den Mund gebracht werden. Es sollten eine intensive Mundpflege durchgeführt<br />

und ein Schmerzpflaster aufgeklebt werden.<br />

Die Beklagte lehnte die Durchführung dieser Anordnung, bei deren Befolgung<br />

der Kläger binnen (maximal) acht bis zehn Tagen an einer Nierenvergiftung<br />

sterben würde, u.a. mit der Begründung ab, ihre Pflegekräfte weigerten<br />

sich, der ärztlichen Anordnung nachzukommen.<br />

Mit seiner Klage hatte der Kläger von der Beklagten begehrt, seine<br />

künstliche Ernährung in jeglicher Form zu unterlassen; außerdem hatte er von<br />

der Beklagten verlangt, die Anordnung des Dr. S. sowie sämtliche weiteren, ihn<br />

betreffenden palliativmedizinischen Anordnungen des verantwortlich behandelnden<br />

Arztes, insbesondere zur Durstverhinderung und im Rahmen der<br />

Schmerztherapie, durchzuführen. Landgericht und Oberlandesgericht wiesen<br />

die Klage ab (Urteile veröffentlicht in NJW-RR 2003, 221 und NJW 2003, 1744).<br />

Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgte der Kläger sein erstinstanzliches<br />

Begehren weiter.<br />

Der Kläger ist am 26. März 2004 verstorben. Die Parteien haben den<br />

Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt und wechselseitig Kostenanträge<br />

gestellt.<br />

II.<br />

Gemäß § 91 a ZPO hat der Senat nur noch über die Kosten des Rechtsstreits<br />

zu befinden. Diese Entscheidung hat zwar den bisherigen Sach- und<br />

- 4 -<br />

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Streitstand zu berücksichtigen. Sie erfolgt aber zugleich auch nach billigem Ermessen.<br />

Der Senat kann sich deshalb auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten<br />

der Klage beschränken und darauf verzichten, alle für den Ausgang<br />

des Rechtsstreits bedeutsamen Rechtsfragen zu überprüfen (BGHZ 67,<br />

343, 345; BVerfG NJW 1993, 1060, 1061; Zöller/Vollkommer ZPO 25. Aufl.<br />

§ 91 a Rdn. 24). Nach dem Ergebnis dieser summarischen Prüfung waren die<br />

Kosten des Rechtsstreits gegeneinander aufzuheben.<br />

1. Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts war das Unterlassungsbegehren<br />

des Klägers nicht schon deshalb unbegründet, weil der mit der<br />

Beklagten geschlossene Heimvertrag einem solchen Verlangen entgegenstand<br />

oder weil die Beklagte sich auf "ein aus ihren verfassungsmäßigen Rechten<br />

abzuleitendes Verweigerungsrecht" berufen konnte.<br />

a) Die mit Hilfe einer Magensonde durchgeführte künstliche Ernährung<br />

ist ein Eingriff in die körperliche Integrität, der deshalb der Einwilligung des Patienten<br />

bedarf (vgl. Senatsbeschluß BGHZ 154, 205 = FamRZ 2003, 748, 750).<br />

Eine gegen den erklärten Willen des Patienten durchgeführte künstliche Ernährung<br />

ist folglich eine rechtswidrige Handlung, deren Unterlassung der Patient<br />

analog § 1004 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 823 Abs. 1 BGB verlangen<br />

kann. Dies gilt auch dann, wenn die begehrte Unterlassung - wie hier - zum Tode<br />

des Patienten führen würde. Das Recht des Patienten zur Bestimmung über<br />

seinen Körper macht Zwangsbehandlungen, auch wenn sie lebenserhaltend<br />

wirken, unzulässig (Senatsbeschluß aaO 751).<br />

b) Die künstliche Ernährung des Klägers widersprach dem vom Betreuer<br />

als wirklicher oder mutmaßlicher Wille des Klägers geäußerten Willen.<br />

aa) Der Vater des Klägers war in den Aufgabenkreisen, für die er zum<br />

Betreuer des Klägers bestellt worden war, dessen gesetzlicher Vertreter<br />

- 5 -<br />

(§ 1902 BGB). Zu den ihm übertragenen Aufgabenkreisen, die u.a. die "Sorge<br />

für die Gesundheit und die Vertretung gegenüber Dritten" umfaßten, gehörte<br />

auch die Entscheidung, ob und inwieweit in die körperliche Integrität des Klägers<br />

eingegriffen werden darf. Der Betreuer hat dem Willen des Klägers in eigener<br />

rechtlicher Verantwortung und nach Maßgabe des § 1901 BGB Geltung<br />

zu verschaffen (Senatsbeschluß aaO 750). Seine Anordnung, die weitere künstliche<br />

Ernährung des Klägers zu unterlassen, war deshalb gegenüber der Beklagten<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 342


und ihrem Pflegepersonal bindend. Eine eigene Prüfungskompetenz, ob<br />

und inwieweit die getroffene Entscheidung der von § 1901 Abs. 2 bis 4 BGB<br />

normierten Pflichtenbindung gerecht wird, stand der Beklagten nicht zu; sie ist<br />

insoweit - wie jeder andere Dritte auch - auf die Möglichkeit beschränkt, beim<br />

Vormundschaftsgericht eine Überprüfung des Betreuerhandelns mit dem Ziel<br />

aufsichtsrechtlicher Maßnahmen nach § 1908 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit<br />

§ 1837 Abs. 1 bis 3, § 1836 BGB anzuregen.<br />

bb) Die Weigerung des Betreuers, in eine weitere künstliche Ernährung<br />

des Klägers durch die Beklagte einzuwilligen, bedurfte im vorliegenden Fall<br />

auch keiner vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung.<br />

Wie der Senat (aaO 754) dargelegt hat, ist das Vormundschaftsgericht<br />

nur dann zu einer Entscheidung berufen, wenn der einen einwilligungsunfähigen<br />

Patienten behandelnde Arzt eine lebenserhaltende oder -verlängernde<br />

Maßnahme für medizinisch geboten oder vertretbar erachtet und sie deshalb<br />

"anbietet" und der Betreuer sich diesem Angebot verweigert. Ein solcher, die<br />

Kontrollzuständigkeit des Vormundschaftsgerichts auslösender Konflikt bestand<br />

hier nicht. Der Betreuer und der behandelnde Arzt hatten sich übereinstimmend<br />

gegen eine weitere künstliche Ernährung des Klägers entschieden. Das Beharren<br />

der Beklagten, die künstliche Ernährung entgegen der ärztlichen Anordnung<br />

- 6 -<br />

fortzusetzen, begründete keine dem Widerstreit von ärztlicher Empfehlung und<br />

Betreueranordnung vergleichbare Konfliktsituation.<br />

c) Der mit dem Kläger geschlossene Heimvertrag berechtigt die Beklagten<br />

nicht, die künstliche Ernährung des Klägers gegen seinen - durch seinen<br />

Betreuer verbindlich geäußerten - Willen fortzusetzen. Das vom Betreuer wahrgenommene<br />

Recht des Klägers zur Bestimmung über den eigenen Körper ist<br />

einem antizipierten Verzicht nicht zugänglich (Kohte AcP 185 (1985) 105,<br />

137 f.; Deutsch/Spickhoff Medizinrecht 5. Aufl. Rdn. 197; Uhlenbruck/Kern in<br />

Laufs/Uhlenbruck Handbuch des Arztrechts 3. Aufl. § 71 Rdn. 1, § 81 Rdn. 7).<br />

Eine einmal erteilte Einwilligung in einen Eingriff in die körperliche Integrität<br />

kann bis zu dessen Vornahme jederzeit widerrufen werden (BGH Urteil vom<br />

18. März 1980 - VI ZR 115/78 - NJW 1980, 1903; MünchKomm/Wagner BGB<br />

4. Aufl. § 823 Rdn. 673); ebenso kann der Fortsetzung einer Dauerbehandlung<br />

jederzeit widersprochen werden. Selbst wenn, wie das Oberlandesgericht<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 343


meint, die Parteien mit dem Heimvertrag das Recht des Klägers auf Selbstbestimmung<br />

einschränken oder doch die Grenzen dieses Rechts bindend festlegen<br />

wollten, konnten sie eine solche Einschränkung oder Bindung jedenfalls<br />

rechtswirksam nicht vereinbaren. Der Widerruf einer mit dem Abschluß des<br />

Heimvertrags erteilten Einwilligung des Klägers in seine künstliche Ernährung<br />

wurde durch den Heimvertrag folglich nicht gehindert. Ohne Belang ist auch, ob<br />

sich die Beklagte in dem Heimvertrag zu einer auch die künstliche Ernährung<br />

des Klägers umfassenden Versorgung verpflichtet hatte. Denn eine solche Leistungspflicht<br />

begründete jedenfalls keine Rechtspflicht des Klägers, die von der<br />

Beklagten geschuldete Leistung anzunehmen; erst recht schuf sie keine Befugnis<br />

der Beklagten, die Annahme dieser Leistung gegen den Willen des Klägers<br />

zu erzwingen.<br />

- 7 -<br />

d) Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts stand der Beklagten<br />

gegenüber dem Unterlassungsbegehren des Klägers auch kein Verweigerungsrecht<br />

zu, das sich aus den in Art. 1, 2 und 4 GG verbürgten Rechten der Beklagten<br />

oder ihrer Pflegekräfte ableiten ließe. Zwar sind die Pflegekräfte der<br />

Beklagten auch in ihrer beruflichen Tätigkeit Träger der Menschenwürde (Art. 1<br />

Abs. 1 GG). Das bedeutet jedoch nicht, daß damit auch ihre ethischen oder<br />

medizinischen Vorstellungen vom Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG umfaßt<br />

sind oder mit dem verlangten Unterlassen in diesen Schutzbereich eingegriffen<br />

würde (vgl. Hufen in einer nicht veröffentlichten gutachtlichen Stellungnahme zu<br />

der angefochtenen Entscheidung; zum Maßstab für einen Eingriff in die Menschenwürde<br />

vgl. etwa BVerfGE 30, 1, 26). Ein Verstoß gegen Art. 2 GG ist nicht<br />

ersichtlich; insbesondere fand das Selbstbestimmungsrecht der Pflegekräfte am<br />

entgegenstehenden Willen des Klägers bzw. des für ihn handelnden Betreuers<br />

- also an den "Rechten anderer" (Art. 2 Abs. 1 GG) - ihre Grenze. Die Frage, ob<br />

das Verlangen des Klägers die Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) des Pflegepersonals<br />

berührte, kann letztlich dahinstehen. Soweit das Strafrecht die<br />

künstliche Ernährung eines willensunfähigen Patienten gebietet (vgl. dazu unter<br />

2.), bedarf es eines Rückgriffs auf Art. 4 Abs. 1 GG nicht; niemand darf zu<br />

unerlaubten Handlungen gezwungen werden. Im übrigen verleiht die Gewissensfreiheit<br />

dem Pflegepersonal aber kein Recht, sich durch aktives Handeln<br />

über das Selbstbestimmungsrecht des durch seinen Betreuer vertretenen Klägers<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 344


hinwegzusetzen und seinerseits in dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit<br />

einzugreifen (Hufen NJW 2001, 849, 853). Darin liegt auch der Unterschied<br />

zur Normsituation des § 12 Abs. 1 Schwangerschaftskonfliktgesetz, auf<br />

den sich das Oberlandesgericht zu Unrecht beruft: Danach ist zwar niemand<br />

verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken. Die Vorschrift<br />

berechtigt aber auch niemanden, durch positives Tun in die Rechte Dritter einzugreifen,<br />

um Abtreibungen zu verhindern.<br />

- 8 -<br />

2. Das Oberlandesgericht hat - von seinem Standpunkt aus folgerichtig -<br />

nicht geprüft, ob möglicherweise strafrechtliche Verbote die Beklagte bzw. deren<br />

Organe oder Personal hinderten, dem Unterlassungsverlangen des Klägers<br />

nachzukommen. Die strafrechtlichen Grenzen einer Sterbehilfe im weiteren<br />

Sinn ("Hilfe zum Sterben", vgl. im einzelnen BGHSt 40, 257), auf die das klägerische<br />

Verlangen zielt, erscheinen dem Senat bislang nicht hinreichend geklärt<br />

(zum Meinungsstand etwa: Zwischenbericht der Enquete-Kommission des<br />

Deutschen Bundestags, Ethik und Recht der modernen Medizin. Patientenverfügungen,<br />

BT-Drucks. 15/3700 S. 37 ff., 45). Sie sind jedoch für die Entscheidung<br />

des vorliegenden Falles von Bedeutung; denn die Beklagte kann nicht<br />

zivilrechtlich zu einem Verhalten verurteilt werden, mit dem die Organe und Beschäftigten<br />

der Beklagten Gefahr laufen, sich zu den Geboten des Strafrechts in<br />

Widerspruch zu setzen. Das vorliegende Verfahren bietet - im Hinblick auf die<br />

hier allein zu treffende Kostenentscheidung - keinen geeigneten Rahmen, die<br />

Frage nach diesen Grenzen abschließend zu beantworten. Der Ausgang des<br />

vorliegenden Rechtsstreits war danach letztlich ungewiß. Dem trägt die beiderseitige<br />

Kostenlast Rechnung.<br />

Hahne Sprick Weber-Monecke<br />

Wagenitz Dose<br />

BUNDESGERICHTSHOF<br />

BESCHLUSS<br />

XII ZR 177/03<br />

vom<br />

8. Juni 2005<br />

in dem Rechtsstreit<br />

Nachschlagewerk: ja<br />

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BGHZ: ja<br />

BGHR: ja<br />

BGB §§ 1004 Abs. 1 Satz 2, 1896, 1901, 1904; ZPO § 91 a<br />

a) Verlangt der Betreuer in Übereinstimmung mit dem behandelnden Arzt, daß<br />

die künstliche Ernährung des betreuten einwilligungsunfähigen Patienten<br />

eingestellt wird, so kann das Pflegeheim diesem Verlangen jedenfalls nicht<br />

den Heimvertrag entgegensetzen. Auch die Gewissensfreiheit des Pflegepersonals<br />

rechtfertigt für sich genommen die Fortsetzung der künstlichen Ernährung<br />

in einem solchen Fall nicht (im Anschluß an BGHZ 154, 205).<br />

b) Hat sich der Rechtsstreit durch den Tod des Patienten erledigt, rechtfertigt<br />

der Umstand, daß die strafrechtlichen Grenzen einer Sterbehilfe im weiteren<br />

Sinn ("Hilfe zum Sterben") bislang nicht hinreichend geklärt erscheinen, eine<br />

gegenseitige Kostenaufhebung nach § 91 a ZPO.<br />

BGH, Beschluß vom 8. Juni 2005 - XII ZR 177/03 - OLG München<br />

LG Traunstein<br />

- 2 -<br />

Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. Juni 2005 durch die<br />

Vorsitzende Richterin Dr. Hahne und die Richter Sprick, Weber-Monecke,<br />

Prof. Dr. Wagenitz und Dose<br />

beschlossen:<br />

Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.<br />

Gründe:<br />

I.<br />

Der ursprüngliche Kläger (im folgenden: der Kläger) hatte, vertreten<br />

durch seinen Vater als Betreuer, von der Beklagten verlangt, seine künstliche<br />

Ernährung einzustellen, um ihn sterben zu lassen.<br />

Der Kläger litt seit einem Suizidversuch am 19. Juli 1998 an einem apallischen<br />

Syndrom im Sinne eines Wachkomas. Er befand sich seit dem 10. September<br />

1998 aufgrund eines von seinem Betreuer für ihn abgeschlossenen<br />

Heimvertrags im Pflegeheim A. der Beklagten. Dort wurde er von dem niedergelassenen<br />

Arzt Dr. S. behandelt und vom Pflegepersonal der Beklagten mittels<br />

einer - bereits vor der Aufnahme in das Heim eingebrachten - PEG-Sonde<br />

künstlich ernährt.<br />

Am 14. Dezember 2001 ordnete Dr. S. im Einvernehmen mit dem Betreuer<br />

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an, die künstliche Ernährung einzustellen und die Zuführung von Flüssigkeit<br />

über die Magensonde zu reduzieren. Über die Magensonde seien nur noch<br />

500 ml kalorienfreie Flüssigkeit pro Tag zuzuführen, denen im einzelnen be-<br />

3 -<br />

zeichnete Medikamente beizufügen seien. Dem Kläger solle ein Vernebler vor<br />

den Mund gebracht werden. Es sollten eine intensive Mundpflege durchgeführt<br />

und ein Schmerzpflaster aufgeklebt werden.<br />

Die Beklagte lehnte die Durchführung dieser Anordnung, bei deren Befolgung<br />

der Kläger binnen (maximal) acht bis zehn Tagen an einer Nierenvergiftung<br />

sterben würde, u.a. mit der Begründung ab, ihre Pflegekräfte weigerten<br />

sich, der ärztlichen Anordnung nachzukommen.<br />

Mit seiner Klage hatte der Kläger von der Beklagten begehrt, seine<br />

künstliche Ernährung in jeglicher Form zu unterlassen; außerdem hatte er von<br />

der Beklagten verlangt, die Anordnung des Dr. S. sowie sämtliche weiteren, ihn<br />

betreffenden palliativmedizinischen Anordnungen des verantwortlich behandelnden<br />

Arztes, insbesondere zur Durstverhinderung und im Rahmen der<br />

Schmerztherapie, durchzuführen. Landgericht und Oberlandesgericht wiesen<br />

die Klage ab (Urteile veröffentlicht in NJW-RR 2003, 221 und NJW 2003, 1744).<br />

Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgte der Kläger sein erstinstanzliches<br />

Begehren weiter.<br />

Der Kläger ist am 26. März 2004 verstorben. Die Parteien haben den<br />

Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt und wechselseitig Kostenanträge<br />

gestellt.<br />

II.<br />

Gemäß § 91 a ZPO hat der Senat nur noch über die Kosten des Rechtsstreits<br />

zu befinden. Diese Entscheidung hat zwar den bisherigen Sach- und<br />

- 4 -<br />

Streitstand zu berücksichtigen. Sie erfolgt aber zugleich auch nach billigem Ermessen.<br />

Der Senat kann sich deshalb auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten<br />

der Klage beschränken und darauf verzichten, alle für den Ausgang<br />

des Rechtsstreits bedeutsamen Rechtsfragen zu überprüfen (BGHZ 67,<br />

343, 345; BVerfG NJW 1993, 1060, 1061; Zöller/Vollkommer ZPO 25. Aufl.<br />

§ 91 a Rdn. 24). Nach dem Ergebnis dieser summarischen Prüfung waren die<br />

Kosten des Rechtsstreits gegeneinander aufzuheben.<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 347


1. Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts war das Unterlassungsbegehren<br />

des Klägers nicht schon deshalb unbegründet, weil der mit der<br />

Beklagten geschlossene Heimvertrag einem solchen Verlangen entgegenstand<br />

oder weil die Beklagte sich auf "ein aus ihren verfassungsmäßigen Rechten<br />

abzuleitendes Verweigerungsrecht" berufen konnte.<br />

a) Die mit Hilfe einer Magensonde durchgeführte künstliche Ernährung<br />

ist ein Eingriff in die körperliche Integrität, der deshalb der Einwilligung des Patienten<br />

bedarf (vgl. Senatsbeschluß BGHZ 154, 205 = FamRZ 2003, 748, 750).<br />

Eine gegen den erklärten Willen des Patienten durchgeführte künstliche Ernährung<br />

ist folglich eine rechtswidrige Handlung, deren Unterlassung der Patient<br />

analog § 1004 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 823 Abs. 1 BGB verlangen<br />

kann. Dies gilt auch dann, wenn die begehrte Unterlassung - wie hier - zum Tode<br />

des Patienten führen würde. Das Recht des Patienten zur Bestimmung über<br />

seinen Körper macht Zwangsbehandlungen, auch wenn sie lebenserhaltend<br />

wirken, unzulässig (Senatsbeschluß aaO 751).<br />

b) Die künstliche Ernährung des Klägers widersprach dem vom Betreuer<br />

als wirklicher oder mutmaßlicher Wille des Klägers geäußerten Willen.<br />

aa) Der Vater des Klägers war in den Aufgabenkreisen, für die er zum<br />

Betreuer des Klägers bestellt worden war, dessen gesetzlicher Vertreter<br />

- 5 -<br />

(§ 1902 BGB). Zu den ihm übertragenen Aufgabenkreisen, die u.a. die "Sorge<br />

für die Gesundheit und die Vertretung gegenüber Dritten" umfaßten, gehörte<br />

auch die Entscheidung, ob und inwieweit in die körperliche Integrität des Klägers<br />

eingegriffen werden darf. Der Betreuer hat dem Willen des Klägers in eigener<br />

rechtlicher Verantwortung und nach Maßgabe des § 1901 BGB Geltung<br />

zu verschaffen (Senatsbeschluß aaO 750). Seine Anordnung, die weitere künstliche<br />

Ernährung des Klägers zu unterlassen, war deshalb gegenüber der Beklagten<br />

und ihrem Pflegepersonal bindend. Eine eigene Prüfungskompetenz, ob<br />

und inwieweit die getroffene Entscheidung der von § 1901 Abs. 2 bis 4 BGB<br />

normierten Pflichtenbindung gerecht wird, stand der Beklagten nicht zu; sie ist<br />

insoweit - wie jeder andere Dritte auch - auf die Möglichkeit beschränkt, beim<br />

Vormundschaftsgericht eine Überprüfung des Betreuerhandelns mit dem Ziel<br />

aufsichtsrechtlicher Maßnahmen nach § 1908 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit<br />

§ 1837 Abs. 1 bis 3, § 1836 BGB anzuregen.<br />

Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, <strong>Witten</strong>, medizinische-Gutachten@email.de, ohne Gewähr, Seite 348


) Die Weigerung des Betreuers, in eine weitere künstliche Ernährung<br />

des Klägers durch die Beklagte einzuwilligen, bedurfte im vorliegenden Fall<br />

auch keiner vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung.<br />

Wie der Senat (aaO 754) dargelegt hat, ist das Vormundschaftsgericht<br />

nur dann zu einer Entscheidung berufen, wenn der einen einwilligungsunfähigen<br />

Patienten behandelnde Arzt eine lebenserhaltende oder -verlängernde<br />

Maßnahme für medizinisch geboten oder vertretbar erachtet und sie deshalb<br />

"anbietet" und der Betreuer sich diesem Angebot verweigert. Ein solcher, die<br />

Kontrollzuständigkeit des Vormundschaftsgerichts auslösender Konflikt bestand<br />

hier nicht. Der Betreuer und der behandelnde Arzt hatten sich übereinstimmend<br />

gegen eine weitere künstliche Ernährung des Klägers entschieden. Das Beharren<br />

der Beklagten, die künstliche Ernährung entgegen der ärztlichen Anordnung<br />

- 6 -<br />

fortzusetzen, begründete keine dem Widerstreit von ärztlicher Empfehlung und<br />

Betreueranordnung vergleichbare Konfliktsituation.<br />

c) Der mit dem Kläger geschlossene Heimvertrag berechtigt die Beklagten<br />

nicht, die künstliche Ernährung des Klägers gegen seinen - durch seinen<br />

Betreuer verbindlich geäußerten - Willen fortzusetzen. Das vom Betreuer wahrgenommene<br />

Recht des Klägers zur Bestimmung über den eigenen Körper ist<br />

einem antizipierten Verzicht nicht zugänglich (Kohte AcP 185 (1985) 105,<br />

137 f.; Deutsch/Spickhoff Medizinrecht 5. Aufl. Rdn. 197; Uhlenbruck/Kern in<br />

Laufs/Uhlenbruck Handbuch des Arztrechts 3. Aufl. § 71 Rdn. 1, § 81 Rdn. 7).<br />

Eine einmal erteilte Einwilligung in einen Eingriff in die körperliche Integrität<br />

kann bis zu dessen Vornahme jederzeit widerrufen werden (BGH Urteil vom<br />

18. März 1980 - VI ZR 115/78 - NJW 1980, 1903; MünchKomm/Wagner BGB<br />

4. Aufl. § 823 Rdn. 673); ebenso kann der Fortsetzung einer Dauerbehandlung<br />

jederzeit widersprochen werden. Selbst wenn, wie das Oberlandesgericht<br />

meint, die Parteien mit dem Heimvertrag das Recht des Klägers auf Selbstbestimmung<br />

einschränken oder doch die Grenzen dieses Rechts bindend festlegen<br />

wollten, konnten sie eine solche Einschränkung oder Bindung jedenfalls<br />

rechtswirksam nicht vereinbaren. Der Widerruf einer mit dem Abschluß des<br />

Heimvertrags erteilten Einwilligung des Klägers in seine künstliche Ernährung<br />

wurde durch den Heimvertrag folglich nicht gehindert. Ohne Belang ist auch, ob<br />

sich die Beklagte in dem Heimvertrag zu einer auch die künstliche Ernährung<br />

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des Klägers umfassenden Versorgung verpflichtet hatte. Denn eine solche Leistungspflicht<br />

begründete jedenfalls keine Rechtspflicht des Klägers, die von der<br />

Beklagten geschuldete Leistung anzunehmen; erst recht schuf sie keine Befugnis<br />

der Beklagten, die Annahme dieser Leistung gegen den Willen des Klägers<br />

zu erzwingen.<br />

- 7 -<br />

d) Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts stand der Beklagten<br />

gegenüber dem Unterlassungsbegehren des Klägers auch kein Verweigerungsrecht<br />

zu, das sich aus den in Art. 1, 2 und 4 GG verbürgten Rechten der Beklagten<br />

oder ihrer Pflegekräfte ableiten ließe. Zwar sind die Pflegekräfte der<br />

Beklagten auch in ihrer beruflichen Tätigkeit Träger der Menschenwürde (Art. 1<br />

Abs. 1 GG). Das bedeutet jedoch nicht, daß damit auch ihre ethischen oder<br />

medizinischen Vorstellungen vom Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG umfaßt<br />

sind oder mit dem verlangten Unterlassen in diesen Schutzbereich eingegriffen<br />

würde (vgl. Hufen in einer nicht veröffentlichten gutachtlichen Stellungnahme zu<br />

der angefochtenen Entscheidung; zum Maßstab für einen Eingriff in die Menschenwürde<br />

vgl. etwa BVerfGE 30, 1, 26). Ein Verstoß gegen Art. 2 GG ist nicht<br />

ersichtlich; insbesondere fand das Selbstbestimmungsrecht der Pflegekräfte am<br />

entgegenstehenden Willen des Klägers bzw. des für ihn handelnden Betreuers<br />

- also an den "Rechten anderer" (Art. 2 Abs. 1 GG) - ihre Grenze. Die Frage, ob<br />

das Verlangen des Klägers die Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) des Pflegepersonals<br />

berührte, kann letztlich dahinstehen. Soweit das Strafrecht die<br />

künstliche Ernährung eines willensunfähigen Patienten gebietet (vgl. dazu unter<br />

2.), bedarf es eines Rückgriffs auf Art. 4 Abs. 1 GG nicht; niemand darf zu<br />

unerlaubten Handlungen gezwungen werden. Im übrigen verleiht die Gewissensfreiheit<br />

dem Pflegepersonal aber kein Recht, sich durch aktives Handeln<br />

über das Selbstbestimmungsrecht des durch seinen Betreuer vertretenen Klägers<br />

hinwegzusetzen und seinerseits in dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit<br />

einzugreifen (Hufen NJW 2001, 849, 853). Darin liegt auch der Unterschied<br />

zur Normsituation des § 12 Abs. 1 Schwangerschaftskonfliktgesetz, auf<br />

den sich das Oberlandesgericht zu Unrecht beruft: Danach ist zwar niemand<br />

verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken. Die Vorschrift<br />

berechtigt aber auch niemanden, durch positives Tun in die Rechte Dritter einzugreifen,<br />

um Abtreibungen zu verhindern.<br />

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- 8 -<br />

2. Das Oberlandesgericht hat - von seinem Standpunkt aus folgerichtig -<br />

nicht geprüft, ob möglicherweise strafrechtliche Verbote die Beklagte bzw. deren<br />

Organe oder Personal hinderten, dem Unterlassungsverlangen des Klägers<br />

nachzukommen. Die strafrechtlichen Grenzen einer Sterbehilfe im weiteren<br />

Sinn ("Hilfe zum Sterben", vgl. im einzelnen BGHSt 40, 257), auf die das klägerische<br />

Verlangen zielt, erscheinen dem Senat bislang nicht hinreichend geklärt<br />

(zum Meinungsstand etwa: Zwischenbericht der Enquete-Kommission des<br />

Deutschen Bundestags, Ethik und Recht der modernen Medizin. Patientenverfügungen,<br />

BT-Drucks. 15/3700 S. 37 ff., 45). Sie sind jedoch für die Entscheidung<br />

des vorliegenden Falles von Bedeutung; denn die Beklagte kann nicht<br />

zivilrechtlich zu einem Verhalten verurteilt werden, mit dem die Organe und Beschäftigten<br />

der Beklagten Gefahr laufen, sich zu den Geboten des Strafrechts in<br />

Widerspruch zu setzen. Das vorliegende Verfahren bietet - im Hinblick auf die<br />

hier allein zu treffende Kostenentscheidung - keinen geeigneten Rahmen, die<br />

Frage nach diesen Grenzen abschließend zu beantworten. Der Ausgang des<br />

vorliegenden Rechtsstreits war danach letztlich ungewiß. Dem trägt die beiderseitige<br />

Kostenlast Rechnung.<br />

Hahne Sprick Weber-Monecke<br />

Wagenitz Dose<br />

Nachschlagewerk: nein<br />

BGHSt : nein<br />

Veröffentlichung: ja<br />

StGB § 222<br />

Wer infolge einer Täuschung durch das Opfer vorsatzlos<br />

aktive Sterbehilfe leistet, nimmt nicht an einer<br />

tatbestandslosen Selbstgefährdung teil.<br />

BGH, Urteil vom 20. Mai 2003 - 5 StR 66/03<br />

LG Hamburg -<br />

5 StR 66/03<br />

BUNDESGERICHTSHOF<br />

IM NAMEN DES VOLKES<br />

URTEIL<br />

vom 20. Mai 2003<br />

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in der Strafsache<br />

gegen<br />

wegen Totschlags<br />

- 3 -<br />

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom<br />

20. Mai 2003, an der teilgenommen haben:<br />

Vorsitzende Richterin Harms,<br />

Richter Häger,<br />

Richterin Dr. Gerhardt,<br />

Richter Dr. Brause,<br />

Richter Schaal<br />

als beisitzende Richter,<br />

Bundesanwalt<br />

als Vertreter der Bundesanwaltschaft,<br />

Rechtsanwalt<br />

als Verteidiger,<br />

Justizangestellte<br />

als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,<br />

- 4 -<br />

für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des<br />

Landgerichts Hamburg vom 10. Oktober 2002 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben.<br />

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,<br />

auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer<br />

des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

– Von Rechts wegen –<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf freigesprochen,<br />

einen Schwerstbehinderten getötet zu haben, den er als Zivildienstleistender<br />

betreut hatte. Die dagegen mit der Sachrüge geführte Revision der<br />

Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg.<br />

I.<br />

Die Jugendkammer hat festgestellt:<br />

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Der 20 Jahre alte Angeklagte übernahm als Zivildienstleistender am<br />

13. Februar 2001 ohne besondere Vorbereitung für die Dauer von zwei Wochen<br />

in der Z in Hamburg die Tagesbetreuung (10.00 bis<br />

16.30 Uhr) des 28 Jahre alten S . Dieser litt an stark ausgeprägter<br />

progressiver Muskeldystrophie vom Typus Duchenne und vermochte<br />

neben einzelnen Fingern – diese aber ohne Kraft – nur noch Mund und Zun-<br />

5 -<br />

ge zu bewegen. Seine Arme und Beine waren in Beugestellung fixiert. Deformationen<br />

des Brustkorbes und der Wirbelsäule und eine starke Reduzierung<br />

der Atemmuskulatur ließen nur noch eine Atmungskapazität von zehn<br />

Prozent eines Gesunden zu. Der Ausstoß von Kohlendioxyd wurde durch ein<br />

zeitweise an die Nase angeschlossenes Beatmungsgerät gefördert.<br />

S verfügte über einen herausragenden Intellekt. Er konnte<br />

seine Vorstellungen genau artikulieren und dank seiner guten Menschenkenntnis<br />

einschätzen, an welche der Pflegekräfte er sich zu wenden hatte,<br />

um auch ausgefallene Wünsche zu verwirklichen. Schon im Dezember 1999<br />

hatte er in einem elektronischen Brief einer ihm nahe stehenden Pflegehilfe<br />

eine Selbsttötungsphantasie mitgeteilt. Er hatte geschildert, dadurch sexuell<br />

erregt zu werden, daß er in zwei miteinander verklebten Müllsäcken verpackt<br />

mit zugeklebtem Mund in einen Behälter geworfen würde, um sodann<br />

– mit weiteren Müllsäcken bedeckt – anschließend durch die Müllabfuhr in<br />

die Verbrennungsanlage gebracht und dort verbrannt zu werden.<br />

Er griff im Februar 2001 diese Gedanken auf und wollte sie mit Hilfe<br />

des Angeklagten verwirklichen. Zunächst hatte er diesen gebeten, ihm statt<br />

einer Hose eine Plastiktüte über den Unterleib bis zur Hüfte zu ziehen.<br />

Nachdem er dem Angeklagten erläutert hatte, gern Plastik auf der Haut zu<br />

spüren, kam der Angeklagte diesem Verlangen nach. Am 22. Februar 2001<br />

gegen 12.15 Uhr äußerte S den Wunsch, ihn in Müllsäcke verpackt in<br />

einen Müllcontainer zu legen. Auf Nachfragen des Angeklagten versicherte<br />

er, dies schon öfter gemacht zu haben, und daß seine Bergung aus dem<br />

Container am Nachmittag sicher sei. Der Angeklagte erfüllte in dem Bestreben,<br />

dem ihm anvertrauten Schwerstbehinderten so gut wie möglich zu helfen,<br />

alle bestimmt vorgebrachten Anweisungen, ohne sie kritisch zu hinterfragen.<br />

Er packte S nackt in zwei Müllsäcke, schnitt eine Öffnung für<br />

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den Kopf in den oberen Müllsack und verklebte beide Säcke. Bis auf eine<br />

kleine Öffnung verschloß er ferner – auf besonderen Wunsch S – dessen<br />

Mund mit Klebeband und legte ihn bei Außentemperaturen um den Gefrierpunkt<br />

in einen teilweise gefüllten Container. Weisungsgemäß stellte der<br />

- 6 -<br />

Angeklagte den Rollstuhl in den Abstellraum, räumte die Wohnung auf und<br />

verließ die Pflegeeinrichtung durch einen Seiteneingang. Diese Maßnahmen<br />

hatte S angeordnet, um eine gegenüber anderen Pflegekräften wahrheitswidrig<br />

mitgeteilte Abwesenheit zu belegen. Eine deshalb erst am Abend<br />

erfolgte Suche nach ihm blieb ergebnislos. Am nächsten Morgen wurde sein<br />

Leichnam im Container entdeckt. Der Tod war durch Ersticken, möglicherweise<br />

in Kombination mit Unterkühlung eingetreten. Entweder hatte der obere<br />

Müllsack die Atemwege verlegt oder die ohnehin nur flache Atmung war<br />

durch einen auf den Brustkorb gelangten weiteren Müllsack unmöglich geworden.<br />

II.<br />

In der rechtlichen Würdigung führt die Jugendkammer aus:<br />

Das zu Tode führende Geschehen sei wegen der gemeinschaftlichen<br />

Tatherrschaft des Angeklagten und des Opfers nicht mehr als Beteiligung an<br />

einer Selbstgefährdung, sondern als einverständliche Fremdgefährdung zu<br />

werten. Die Gefährdung sei ausschließlich von dem Angeklagten, wenn auch<br />

auf alleinige Veranlassung des Geschädigten, ausgegangen, der sich dieser<br />

im Ergebnis lediglich ausgesetzt habe. Allerdings ergebe eine wertende Betrachtung<br />

aller Umstände, daß die einverständliche Fremdgefährdung entsprechend<br />

der Auffassung von Roxin (NStZ 1984, 411, 412) „unter allen relevanten<br />

Aspekten― einer Selbstgefährdung gleichstehe. Dafür spreche die<br />

umfassende und sorgsame Planung des Geschehens durch das Opfer, die<br />

besondere, von Überforderung, Naivität, Vertrauensseligkeit und unzureichender<br />

Vorbereitung geprägte Situation des Angeklagten und dessen vorherrschendes<br />

Bestreben, alle Wünsche des Schwerstbehinderten zu erfüllen.<br />

Der Angeklagte sei letztendlich dazu benutzt worden, den Selbsttötungsplan<br />

zu verwirklichen, ohne darüber informiert gewesen zu sein. Damit sei die Zurechnung<br />

des Handelns des Angeklagten zum objektiven Tatbestand ausgeschlossen.<br />

- 7 -<br />

III.<br />

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Der Freispruch hält der sachlichrechtlichen Prüfung nicht stand. Die<br />

Feststellungen des Landgerichts tragen nicht dessen Wertung, der Angeklagte<br />

habe im Ergebnis an einer straflosen Selbstgefährdung teilgenommen.<br />

1. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist als Folge des<br />

Grundsatzes der Selbstverantwortung des sich selbst eigenverantwortlich<br />

gefährdenden Tatopfers anerkannt, daß gewollte und verwirklichte Selbstgefährdungen<br />

nicht dem Tatbestand eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts<br />

unterfallen, wenn das mit der Gefährlichkeit bewußt eingegangene<br />

Risiko sich realisiert. Wer lediglich eine solche Selbstgefährdung<br />

veranlaßt, ermöglicht oder fördert, macht sich nicht wegen eines vorsätzlichen<br />

oder fahrlässigen Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts strafbar<br />

(BGHSt 32, 262, 263 f.; BGH NStZ 1985, 25, 26 und 319, 320; 1986, 266,<br />

267; 1987, 406; BGH NJW 2000, 2286; BGHSt 46, 279, 288). Diese Rechtsprechung<br />

gründet in erster Linie auf Sachverhalte, denen gemein ist,<br />

daß die den Verletzungs- oder Tötungserfolg verursachende schädigende<br />

Handlung – die Einnahme von Betäubungsmitteln (BGHSt 32, 262 f.;<br />

BGH NStZ 1985, 319; BGH NJW 2000, 2286; BGHSt 46, 279, 283),<br />

Stechapfeltee (BGH NStZ 1985, 25) oder Alkohol (BGH NStZ 1986, 266;<br />

1987, 406) – durch das Opfer selbst erfolgt und erfährt dann eine Ausnahme,<br />

wenn der sich Beteiligende etwa kraft überlegenen Sachwissens das Risiko<br />

besser erfaßt als der sich selbst Gefährdende (BGHSt 32, 262, 265;<br />

BGH NStZ 1985, 25 f.; 1986, 266; 1987, 406; BGH NJW 2000, 2286;<br />

vgl. auch BayObLG JZ 1997, 521). Maßgebendes Kriterium zur Abgrenzung<br />

strafloser Selbstgefährdung ist in diesen Fällen somit – wie auch bei<br />

der Anwendung des § 216 StGB anerkannt (vgl. BGHSt 19, 135, 139 f.;<br />

BGH, Beschl. vom 25. November 1986 – 1 StR 613/86 insoweit nicht in<br />

NStZ 1987, 365 f. abgedruckt; Eser in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl.<br />

§ 216 Rdn. 11) – der Sache nach die Trennungslinie zwischen Täterschaft<br />

und Teilnahme (vgl. Jähnke in LK 11. Aufl. Vor § 211 Rdn. 22; ders. aaO<br />

- 8 -<br />

§ 216 Rdn. 11; ders. aaO § 222 Rdn. 21 sub Selbstgefährdung; Tröndle/<br />

Fischer, StGB 51. Aufl. Vor §§ 211 bis 216 Rdn. 10; Neumann in<br />

NK-StGB 12. Lfg. Vor § 211 Rdn. 45). Deren Grundsätze werden von<br />

der Rechtsprechung auch herangezogen, soweit eine ausschließlich<br />

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von dem Beteiligten ausgehende Gefährdung, wie sie etwa bei einer<br />

durch Täuschung bewogenen Vornahme der Tötungshandlung (vgl.<br />

BGHSt 32, 38, 41 f.) oder beim Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten mit<br />

einem gesunden Menschen entsteht, zu beurteilen ist (vgl. BGHSt 36, 1,<br />

17 f.; BayObLG NStZ 1990, 81 f.).<br />

2. Diese Grundsätze sind auch bei dem hier vorliegenden Fall eines<br />

vom Angeklagten verursachten Tötungserfolges bei eigenverantwortlicher<br />

Planung und Durchführung nach den Wünschen des sich selbst Gefährdenden<br />

zugrundezulegen. Danach ist in wertender Betrachtung zu entscheiden,<br />

ob der Angeklagte im Vollzug des Gesamtplans des zum Tode führenden<br />

Geschehens über die Gefährdungsherrschaft verfügte oder als Werkzeug<br />

des Suizidenten handelte (vgl. BGHSt 19, 135, 140; Jähnke aaO § 216<br />

Rdn. 11; Roxin NStZ 1987, 345, 347; Neumann aaO Rdn. 51). Letzteres wäre<br />

angesichts der eigenhändigen Ausführung der Gefährdungshandlungen<br />

durch den Angeklagten nur anzunehmen, falls der Lebensmüde den Angeklagten<br />

über das zum Tode führende Geschehen getäuscht und ihn mit Hilfe<br />

des hervorgerufenen Irrtums zumWerkzeug gegen sich selbst gemacht hätte<br />

(vgl. BGHSt 32, 38, 41 zur spiegelbildlichen Situation einer Täuschung des<br />

sich selbst Tötenden; vgl. auch OLG Nürnberg NJW 2003, 454 f.).<br />

So liegt es hier aber nicht. Der Angeklagte wurde über die konkreten<br />

Umstände der von ihm allein verursachten extremen Gefährdung nicht getäuscht.<br />

Zwar hatte der Suizident erklärt, er habe solches Tun schon öfter<br />

veranlaßt. Diese Äußerung begründete aber keinen Irrtum des Angeklagten<br />

hinsichtlich der konkreten Tatumstände. Der Angeklagte hat seine Gefährdungshandlungen<br />

bewußt vorgenommen und dabei in extremer Weise im<br />

Widerspruch zu jedem medizinischen Alltagswissen gehandelt, indem er die<br />

- 9 -<br />

wesentlich reduzierten Atmungsmöglichkeiten weiter verringerte und das<br />

spätere Opfer lediglich mit Plastik eingekleidet gefährlicher Kälte preisgab.<br />

Auch die Vorspiegelung des Lebensmüden, von einem (unbekannten) Dritten<br />

am Nachmittag gerettet zu werden, begründet keinen die Tatherrschaft des<br />

Angeklagten in Frage stellenden Irrtum. Die darin enthaltene Aussicht, es<br />

werde alles gut gehen, beseitigt nicht das Bewußtsein von den über Stunden<br />

wirksam werdenden Gefährdungen, zu denen der fehlende Einsatz des Beatmungsgeräts<br />

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und die naheliegende Gefahr einer weiteren Verringerung der<br />

Atmungskapazität durch einen auf die Brust des Lebensmüden auftreffenden<br />

Müllsack zu zählen waren, auch vor dem Hintergrund eines bewußt herbeigeführten<br />

verringerten Entdeckungsrisikos.<br />

3. Allerdings werden im rechtswissenschaftlichen Schrifttum mit<br />

den Lehren der Risikoübernahme (vgl. Roxin, Strafrecht AT Bd. 1 3. Aufl.<br />

S. 343 f.), der Anerkennung einer „quasi mittäterschaftlichen Herrschaft― (vgl.<br />

Neumann in NK-StGB 12. Lfg. Vor § 211 Rdn. 56; Lenckner in Schönke/<br />

Schröder,<br />

StGB 26. Aufl. Vorbemerkung §§ 32 ff. Rdn. 52a und 107 m. w. N. aus der<br />

Literatur; BayObLG NStZ 1990, 81, 82; vgl. auch Tröndle/Fischer, StGB<br />

51. Aufl. § 222 Rdn. 3) und des Vorrangs des Willens zur Selbstgefährdung<br />

(vgl. Otto in FS für Tröndle S. 157, 171, 175) Auffassungen vertreten, die in<br />

einem weiteren Umfang zu einer straflosen Mitwirkung an einem Selbsttötungsgeschehen<br />

führen. Indes bestehen hier schon Bedenken, begrifflich<br />

noch eine Selbsttötung anzunehmen, falls die Tatherrschaft nicht uneingeschränkt<br />

beim Suizidenten verbleibt. Einer Anerkennung strafloser aktiver<br />

Sterbehilfe stünde zudem der sich aus der Werteordnung des Grundgesetzes<br />

ergebende vorrangige Schutz menschlichen Lebens entgegen<br />

(vgl. BGHSt 46, 279, 285 f.), der auch die sich aus § 216 StGB ergebende<br />

Einwilligungssperre legitimiert (vgl. BGHSt aaO S. 286). Änderungen des<br />

Rechtsgüterschutzes bleiben vor diesem Hintergrund allenfalls dem Gesetzgeber<br />

vorbehalten.<br />

- 10 -<br />

Der Senat verkennt nicht, daß die bestehende Rechtslage es einem<br />

vollständig bewegungsunfähigen, aber bewußtseinsklaren moribunden<br />

Schwerstbehinderten – wie hier – weitgehend verwehrt, ohne strafrechtliche<br />

Verstrickung Dritter aus dem Leben zu scheiden, und für ihn dadurch das<br />

Lebensrecht zur schwer erträglichen Lebenspflicht werden kann. Dieser<br />

Umstand kann aber nicht ein auch in Art. 1 Abs. 1 GG angelegtes Recht<br />

auf ein Sterben unter menschenwürdigen Bedingungen begründen<br />

(vgl. BGHSt aaO, 285; BGHSt 42, 301, 305). Die dafür erforderlichen Voraussetzungen<br />

einer indirekten Sterbehilfe (vgl. BGHSt 42 aaO; Tröndle/<br />

Fischer, StGB 51. Aufl. Vor §§ 211 bis 216 Rdn. 18) sind vorliegend nicht<br />

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gegeben. Ein verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch auf aktive<br />

Sterbehilfe, der eine Straflosigkeit des die Tötung Ausführenden zur Folge<br />

haben könnte, ist dagegen nicht anerkannt (vgl. BVerfGE 76, 248, 252;<br />

Tröndle/Fischer aaO Rdn. 17 m. w. N.).<br />

IV.<br />

Der Freispruch kann danach keinen Bestand haben. Sollte der neue<br />

Tatrichter zu den gleichen Feststellungen gelangen, werden diese in erster<br />

Linie hinsichtlich einer fahrlässigen Todesverursachung gemäß § 222 StGB<br />

zu würdigen sein (vgl. BGHSt 36, 1, 9 f.; BGH NStZ 2002, 315, 316 f.). Bei<br />

etwaiger Feststellung eines Körperverletzungs- oder Aussetzungsvorsatzes<br />

kämen die Vorschriften der §§ 221, 223 ff. StGB in Betracht. Die besondere,<br />

von Überforderung, Naivität, Vertrauensseligkeit und unzureichender Vorbereitung<br />

geprägte Tatsituation des Angeklagten wird der neue Tatrichter bei<br />

- 11 -<br />

der Beurteilung der Gleichstellung des heranwachsenden Angeklagten mit<br />

einem Jugendlichen nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG im Hinblick darauf zu würdigen<br />

haben, ob in dem Angeklagten noch in größerem Umfang Entwicklungskräfte<br />

wirksam waren (vgl. BGHSt 36, 37, 40).<br />

Harms Häger Gerhardt<br />

Brause Schaal<br />

BUNDESGERICHTSHOF<br />

BESCHLUSS<br />

XII ZB 2/03<br />

vom<br />

17. März 2003<br />

in der Betreuungssache<br />

Nachschlagewerk: ja<br />

BGHZ: ja<br />

BGB §§ 1896, 1901, 1904<br />

a) Ist ein Patient einwilligungsunfähig und hat sein Grundleiden einen irreversiblen<br />

tödlichen Verlauf angenommen, so müssen lebenserhaltende oder -verlängernde<br />

Maßnahmen unterbleiben, wenn dies seinem zuvor - etwa in Form einer sog. Patientenverfügung<br />

- geäußerten Willen entspricht. Dies folgt aus der Würde des Menschen,<br />

die es gebietet, sein in einwilligungsfähigem Zustand ausgeübtes Selbstbestimmungsrecht<br />

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auch dann noch zu respektieren, wenn er zu eigenverantwortlichem Entscheiden<br />

nicht mehr in der Lage ist. Nur wenn ein solcher erklärter Wille des Patienten nicht<br />

festgestellt werden kann, beurteilt sich die Zulässigkeit solcher Maßnahmen nach dem<br />

mutmaßlichen Willen des Patienten, der dann individuell - also aus dessen Lebensentscheidungen,<br />

Wertvorstellungen und Überzeugungen - zu ermitteln ist.<br />

b) Ist für einen Patienten ein Betreuer bestellt, so hat dieser dem Patientenwillen gegenüber<br />

Arzt und Pflegepersonal in eigener rechtlicher Verantwortung und nach Maßgabe<br />

des § 1901 BGB Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Seine Einwilligung in eine<br />

ärztlicherseits angebotene lebenserhaltende oder –verlängernde Behandlung kann der<br />

Betreuer jedoch nur mit Zustimmung des Vormundschaftsgerichts wirksam verweigern.<br />

Für eine Einwilligung des Betreuers und eine Zustimmung des Vormundschaftsgerichts<br />

ist kein Raum, wenn ärztlicherseits eine solche Behandlung oder Weiterbehandlung<br />

nicht angeboten wird - sei es daß sie von vornherein medizinisch nicht indiziert, nicht<br />

mehr sinnvoll oder aus sonstigen Gründen nicht möglich ist. Die Entscheidungszuständigkeit<br />

des Vormundschaftsgerichts ergibt sich nicht aus einer analogen Anwendung<br />

des § 1904 BGB, sondern aus einem unabweisbaren Bedürfnis des Betreuungsrechts.<br />

c) Zu den Voraussetzungen richterlicher Rechtsfortbildung.<br />

BGH, Beschluß vom 17. März 2003 - XII ZB 2/03 - OLG Schleswig<br />

AG Lübeck<br />

- 2 -<br />

Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 17. März 2003 durch die<br />

Vorsitzende Richterin Dr. Hahne und die Richter Sprick, Weber-Monecke,<br />

Prof. Dr. Wagenitz und Dr. Ahlt<br />

beschlossen:<br />

Auf die weitere Beschwerde des Betreuers werden die Beschlüsse<br />

des Amtsgerichts Lübeck vom 30. Mai 2002 und des Landgerichts<br />

Lübeck vom 25. Juni 2002 aufgehoben.<br />

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung an<br />

das Amtsgericht zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

I.<br />

Der Betroffene erlitt am 29. November 2000 infolge eines Myocardinfarktes<br />

einen hypoxischen Gehirnschaden im Sinne eines apallischen Syndroms.<br />

Seither wird er über eine PEG-Sonde ernährt; eine Kontaktaufnahme<br />

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mit ihm ist nicht möglich.<br />

Auf Anregung der Klinik, in welcher der Betroffene behandelt wurde, bestellte<br />

das Amtsgericht mit Beschluß vom 18. Januar 2001 den Sohn des Betroffenen<br />

- den Beteiligten - u.a. für die Aufgabenkreise "Sorge für die Gesundheit<br />

des Betroffenen, ... Vertretung gegenüber Behörden ... und Einrichtungen<br />

- 3 -<br />

(z.B. Heimen) ..." zum Betreuer; die Betreuung wurde mit Beschluß vom<br />

18. Dezember 2001 verlängert.<br />

Am 8. April 2002 hat der Beteiligte beim Amtsgericht "die Einstellung der<br />

Ernährung über die PEG-Sonde" für seinen Vater beantragt, da eine Besserung<br />

des Zustandes seines Vaters nicht zu erwarten sei und die Einstellung dem früher<br />

geäußerten Wunsch seines Vaters entspreche. Der Beteiligte verweist hierzu<br />

auf eine maschinenschriftliche und vom Betroffenen handschriftlich unter<br />

Angabe von Ort und Datum unterzeichnete Verfügung mit folgendemWortlaut:<br />

"Verfügung<br />

Für den Fall, daß ich zu einer Entscheidung nicht mehr fähig bin,<br />

verfüge ich:<br />

Im Fall meiner irreversiblen Bewußtlosigkeit, schwerster Dauerschäden<br />

meines Gehirns oder des dauernden Ausfalls lebenswichtiger Funktionen<br />

meines Körpers oder im Endstadium einer zum Tode führenden Krankheit,<br />

wenn die Behandlung nur noch dazu führen würde, den Vorgang<br />

des Sterbens zu verlängern, will ich:<br />

- keine Intensivbehandlung,<br />

- Einstellung der Ernährung,<br />

- nur angst- oder schmerzlindernde Maßnahmen, wenn nötig,<br />

- keine künstliche Beatmung,<br />

- keine Bluttransfusionen,<br />

- keine Organtransplantation,<br />

- keinen Anschluß an eine Herz-Lungen-Maschine.<br />

Meine Vertrauenspersonen sind ... (es folgen die Namen und Adressen<br />

der Ehefrau sowie des Sohnes und der Tochter).<br />

Diese Verfügung wurde bei klarem Verstand und in voller Kenntnis der<br />

Rechtslage unterzeichnet.<br />

Lübeck, den 27. November 1998, H. S. "<br />

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Die Ehefrau und die Tochter des Betroffenen haben erklärt, mit dem Antrag<br />

des Beteiligten einverstanden zu sein und ihn voll zu unterstützen.<br />

- 4 -<br />

Das Amtsgericht hat den Antrag abgelehnt, da er keine Rechtsgrundlage<br />

habe. Die hiergegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen.<br />

Die weitere Beschwerde des Beteiligten möchte das Schleswig-Holsteinische<br />

Oberlandesgericht zurückweisen. Es sieht sich daran durch die Beschlüsse<br />

des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 15. Juli 1998 - 20 W 224/98 - FamRZ<br />

1998, 1137 und vom 20. November 2001 - 20 W 419/01 - FamRZ 2002, 575<br />

sowie des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 29. Oktober 2001 - 19 Wx 21/01 -<br />

FamRZ 2002, 488 gehindert. In diesen Entscheidungen haben die Oberlandesgerichte<br />

ausgesprochen, daß die Einwilligung des Betreuers eines selbst nicht<br />

mehr entscheidungsfähigen, irreversibel hirngeschädigten Betroffenen in den<br />

Abbruch der Ernährung mittels einer PEG-Magensonde anlog § 1904 BGB der<br />

vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung bedarf.<br />

Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht ist demgegenüber der<br />

Ansicht, daß die Einwilligung des Betreuers in einem solchen Fall nicht genehmigungsbedürftig<br />

sei; es hat deshalb die Sache gemäß § 28 Abs. 2 FGG dem<br />

Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt.<br />

II.<br />

Die Vorlage ist zulässig. Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich, daß das<br />

vorlegende Oberlandesgericht zu einer anderen als der von ihm beabsichtigten<br />

Entscheidung gelangen würde, wenn es sich der abweichenden Ansicht der<br />

Oberlandesgerichte Frankfurt und Karlsruhe anschlösse, und daß es nach seiner<br />

Ansicht für die zu treffende Entscheidung auf die streitige Rechtsfrage an-<br />

5 -<br />

kommt. An diese Ansicht ist der Senat - soweit die Zulässigkeit der Vorlage in<br />

Frage steht - gebunden (Senatsbeschluß BGHZ 121, 305, 308).<br />

Das vorlegende Gericht geht - insoweit in Übereinstimmung mit den<br />

Oberlandesgerichten Frankfurt und Karlsruhe - davon aus, daß für den Behandlungsabbruch<br />

bei nicht einwillligungsfähigen Patienten die Bestellung eines<br />

Betreuers und dessen Einwilligung erforderlich ist. Die Einwilligung in den Behandlungsabbruch<br />

sei nicht höchstpersönlich; denn ohne Betreuer ließe sich<br />

das dem nicht einwilligungsfähigen Betroffenen zustehende Selbstbestimmungsrecht<br />

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nach Art. 2 Abs. 1 GG in Bezug auf die aktuelle Beendigung der<br />

Behandlung rechtlich nicht verwirklichen. Die Einwilligung unterfalle auch dem<br />

Aufgabenkreis "Gesundheitsfürsorge", der alle im Bereich der medizinischen<br />

Behandlung anstehenden Entscheidungen umfasse, und zwar auch dann, wenn<br />

eine Wiederherstellung der Gesundheit nicht mehr zu erreichen sei.<br />

Für eine vormundschaftsgerichtliche Genehmigung dieser Einwilligung<br />

fehle es - entgegen der Auffassung der Oberlandesgerichte Frankfurt und Karlsruhe<br />

- allerdings an einer rechtlichen Grundlage:<br />

Eine Analogie zu § 1904 BGB scheitere, da eine "planwidrige Unvollständigkeit"<br />

des Gesetzes nicht vorliege. Es sei davon auszugehen, daß der<br />

Gesetzgeber mit dem Betreuungsgesetz das gesamte Betreuungsrecht geregelt<br />

habe. Dabei habe er, wie sich aus den Materialien ergebe, auch den Fall des<br />

zum Tode führenden Abbruchs einer lebenserhaltenden Maßnahme bei einem<br />

einwilligungsunfähigen Betreuten bedacht. Gleichwohl habe er davon abgesehen,<br />

diesen Fall in den "Kanon" der ausnahmsweise einer vormundschaftsgerichtlichen<br />

Genehmigung bedürftigen Maßnahmen aufzunehmen.<br />

Jedenfalls sei § 1904 Abs. 1 BGB nicht geeignet, eine Gesetzeslücke zu<br />

begründen oder zu schließen; denn die dort geregelten Tatbestände seien<br />

- 6 -<br />

wertungsmäßig dem hier zu behandelnden Fall des Behandlungsabbruchs nicht<br />

gleich. So gehe es bei der nach § 1904 Abs. 1 BGB genehmigungsbedürftigen<br />

Einwilligung des Betreuers um ärztliche Maßnahmen, die unter Abwägung der<br />

Risiken darauf gerichtet seien, die Gesundheit des Betroffenen wiederherzustellen;<br />

die Genehmigung der Einwilligung zu einem Behandlungsabbruch würde<br />

dagegen auf die Lebensbeendigung des Betroffenen abzielen. Beide Ziele<br />

stünden nicht in einem Verhältnis von "weniger" und "mehr"; vielmehr habe die<br />

absichtliche Lebensbeendigung eine andere Qualität, die auch einer besonderen<br />

rechtlichen Würdigung und Behandlung bedürfe. Außerdem regele § 1904<br />

Abs. 1 BGB die Genehmigung der Einwilligung in ein ärztliches Tun, während<br />

bei der Genehmigung der Einwilligung in den Behandlungsabbruch ein ärztliches<br />

Unterlassen im Vordergrund stehe. Genau genommen gehe es hier nicht<br />

um eine Einwilligung des Betreuers in eine medizinische Maßnahme, sondern<br />

um den Widerruf oder die Verweigerung einer solchen Einwilligung; diese seien<br />

aber nach § 1904 BGB gerade genehmigungsfrei.<br />

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Selbst wenn aber eine Gesetzeslücke anzunehmen wäre, so wäre eine<br />

Ergänzung durch Gerichte ausgeschlossen, weil die staatliche Mitwirkung bei<br />

einem auf Lebensbeendigung eines Menschen gerichteten Verhalten so wesentlich<br />

sei, daß sie einer Regelung durch den Gesetzgeber bedürfte. Dies<br />

gelte insbesondere für die Frage, ob ein Sachverständigengutachten einzuholen<br />

sei und ob, wie es der Bundesgerichtshof formuliert habe, dann, wenn sich<br />

bei der Prüfung Umstände für die Feststellung des individuellen mutmaßlichen<br />

Willens des Betreuten nicht finden ließen, auf "Kriterien zurückgegriffen werden"<br />

müsse, die "allgemeinen Wertvorstellungen" entsprächen. Solche "Kriterien"<br />

dürften geeignet sein, die Meinung zu fördern, im Vormundschaftsrichter<br />

"den Richter über Leben und Tod" zu sehen oder "den Schritt in eine andere<br />

Republik" befürchten zu lassen. Ferner machte ein möglicherweise religiös oder<br />

- 7 -<br />

sonst ethisch beeinflußtes "Kriterium" die Entscheidung des gesetzlichen - und<br />

damit unentrinnbaren - Richters unberechenbar.<br />

III.<br />

Da die Voraussetzungen für eine Vorlage nach § 28 Abs. 2 FGG erfüllt<br />

sind, hat der beschließende Senat gemäß § 28 Abs. 3 FGG anstelle des<br />

Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts über die weitere Beschwerde zu<br />

entscheiden.<br />

1. Die weitere Beschwerde ist nach § 27 Abs. 1 FGG statthaft; der Beteiligte<br />

ist gemäß § 20 Abs. 1 FGG auch beschwerdeberechtigt.<br />

2. Das Rechtsmittel ist auch begründet. Der Beteiligte hat beantragt, die<br />

künstliche Ernährung des Betroffenen einzustellen. Damit möchte er erreichen,<br />

daß das Vormundschaftsgericht seiner Entscheidung, nicht länger in die künstliche<br />

Ernährung des Betroffenen einzuwilligen, zustimmt. Die Vorinstanzen haben<br />

es zu Unrecht abgelehnt, in der Sache tätig zu werden.<br />

a) Die gegen eine weitere künstliche Ernährung des Betroffenen gerichtete<br />

Entscheidung des Beteiligten ist nicht schon deshalb einer Zustimmung des<br />

Vormundschaftsgerichts entzogen, weil sie sich rechtlich als ein Unterlassen<br />

darstellt.<br />

Die Beibehaltung einer Magensonde und die mit ihrer Hilfe ermöglichte<br />

künstliche Ernährung sind fortdauernde Eingriffe in die körperliche Integrität des<br />

Patienten (Hufen NJW 2001, 849, 853 m.w.N.). Solche Eingriffe bedürfen<br />

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- ebenso wie das ursprüngliche Legen der Sonde - grundsätzlich der Einwilli-<br />

8 -<br />

gung des Patienten. Ist der Patient im Zeitpunkt der Maßnahme nicht einwilligungsfähig,<br />

so gilt: Eine frühere Willensbekundung, mit welcher der Patient seine<br />

Einwilligung in Maßnahmen der in Frage stehenden Art für eine Situation,<br />

wie sie jetzt eingetreten ist, erklärt oder verweigert hat, wirkt, falls der Patient<br />

sie nicht widerrufen hat, fort (V. Lipp in May et al. Passive Sterbehilfe 2002, 37,<br />

43 und Fn. 37 m.w.N.; Taupitz Verhandlungen des 63. DJT 2000 Gutachten<br />

A 41); die inzwischen eingetretene Einwilligungsunfähigkeit ändert nach dem<br />

Rechtsgedanken des § 130 Abs. 2 BGB an der fortdauernden Maßgeblichkeit<br />

des früher erklärten Willens nichts. Ist eine solche frühere Willensbekundung<br />

nicht bekannt, beurteilt sich die Zulässigkeit der Maßnahme, falls unaufschiebbar,<br />

nach dem mutmaßlichen Willen des Patienten, bis für diesen ein Betreuer<br />

bestellt ist (MünchKomm/Schwab BGB 4. Aufl. § 1904, 38).<br />

Ist - wie hier - für den einwilligungsunfähigen Patienten ein Betreuer bestellt<br />

und erreichbar, vermag der mutmaßliche Patientenwille allein einen Eingriff<br />

in die persönliche Integrität des Patienten nicht länger zu rechtfertigen<br />

(Taupitz aaO A 71). Mit der Bestellung des Betreuers ist die rechtliche Handlungsfähigkeit<br />

des Betroffenen wiederhergestellt; Arzt und Pflegepersonal können<br />

deshalb nicht mehr unmittelbar auf den Willen des einwilligungsunfähigen<br />

Patienten "durchgreifen" (Taupitz aaO A 70 f.). Eine Willensbekundung, mit<br />

welcher der Betroffene seine Einwilligung in die in Frage stehenden Maßnahmen<br />

und für die jetzt eingetretene Situation erklärt oder verweigert hat, wirkt<br />

weiterhin - als Ausfluß seines Selbstbestimmungsrechts - fort. Als gesetzlicher<br />

Vertreter hat der Betreuer die exklusive Aufgabe, dem Willen des Betroffenen<br />

gegenüber Arzt und Pflegepersonal in eigener rechtlicher Verantwortung und<br />

nach Maßgabe des § 1901 BGB Ausdruck und Geltung zu verschaffen.<br />

Daraus ergibt sich für den vorliegenden Fall: Die Beibehaltung der Sonde<br />

und die Fortführung der über sie ermöglichten künstlichen Ernährung bedürfen,<br />

- 9 -<br />

da eine Einwilligung des Betroffenen nicht vorliegt, der Einwilligung des Beteiligten.<br />

Mit dem Verlangen, diese Behandlung nicht fortzusetzen, hat der Beteiligte<br />

die erforderliche Einwilligung verweigert. Ob der Beteiligte früher zumindest<br />

konkludent in die Behandlung eingewilligt hat und sich das Verlangen nach<br />

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Abbruch der Behandlung deshalb (auch) als Widerruf dieser Einwilligung darstellt,<br />

mag dahinstehen. Bereits das Unterlassen der erforderlichen Einwilligungserklärung<br />

kann - für sich genommen - auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüft<br />

werden; es ist damit einer vormundschaftsgerichtlichen Entscheidung nicht<br />

schon per se entzogen.<br />

Soweit in der Literatur nur der Widerruf einer einmal erteilten Einwilligung,<br />

nicht aber die erstmalige Verweigerung der Einwilligung (Fröschle JZ<br />

2000, 72, 80: "nullum") als "an sich" genehmigungsfähig angesehen wird, vermag<br />

der Senat dem nicht zu folgen. Denn das Unterlassen des Betreuers, in<br />

eine lebensverlängernde oder -erhaltende Behandlung einzuwilligen, kann nicht<br />

anders beurteilt werden als das Unterlassen, in die Weiterbehandlung einzuwilligen.<br />

Zwar liegt im zweiten Fall unter Umständen auch ein aktives Handeln<br />

- nämlich der Widerruf einer zuvor erteilten Einwilligung - vor. Die Abgrenzung<br />

ist jedoch - etwa im Hinblick auf die Frage, ob eine Einwilligung vom Betreuer<br />

konkludent erteilt worden ist oder ob eine einmal erteilte Einwilligung die in Frage<br />

stehenden Maßnahmen für die jetzt eingetretene Situation noch abdeckt -<br />

fließend; sie rechtfertigt jedenfalls keine rechtliche Differenzierung. Wollte man<br />

nur den Widerruf einem vormundschaftsgerichtlichen Kontrollvorbehalt unterstellen,<br />

bestünde im übrigen die Gefahr, daß von lebenserhaltenden Maßnahmen<br />

nur noch zögerlich Gebrauch gemacht wird, um deren späteren - an die<br />

vormundschaftsgerichtliche Kontrolle gebundenen - Abbruch zu vermeiden; der<br />

mit dem Kontrollvorbehalt (auch) verfolgte Lebensschutz würde in sein Gegenteil<br />

verkehrt.<br />

- 10 -<br />

Auch kann ein Kontrollerfordernis nach Auffassung des Senats sinnvoll<br />

nicht davon abhängig gemacht werden, ob der Betreuer die Erteilung der Einwilligung<br />

in eine medizinische Behandlung nur schlechthin unterlassen oder ob<br />

er seine Einwilligung verweigert und damit aktiv gehandelt hat (so aber wohl<br />

- jedenfalls für die analoge Anwendbarkeit des § 1904 BGB - Taupitz aaO A 87<br />

und Lipp aaO 51). Da für eine die körperliche Integrität verletzende medizinische<br />

Behandlung oder Weiterbehandlung eine Einwilligung notwendig ist, ist<br />

deren Verweigerung nichts anderes als eine Bekräftigung des Unterlassens, die<br />

Einwilligung zu erteilen. Hinge die vormundschaftsgerichtliche Kontrolle von<br />

einer solchen Bekräftigung ab, wäre das Erfordernis dieser Kontrolle beliebig<br />

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manipulierbar.<br />

b) Ein Tätigwerden des Vormundschaftsgerichts wird, wie das vorlegende<br />

Oberlandesgericht zutreffend ausführt, auch nicht dadurch ausgeschlossen,<br />

daß eine Entscheidung gegen die Fortführung der künstlichen Ernährung des<br />

Betroffenen höchstpersönlicher Natur ist.<br />

In der Rechtsprechung und Literatur wird zwar zum Teil die Auffassung<br />

vertreten, daß dem Betreuer die Entscheidung gegen eine lebensverlängernde<br />

oder -erhaltende Behandlung des Betroffenen, weil höchstpersönlich, nicht zustehe<br />

und deshalb auch einer Überprüfung durch das den Betreuer kontrollierende<br />

Vormundschaftsgericht entzogen sei (vgl. etwa LG München I FamRZ<br />

1999, 742; Landgericht Augsburg FamRZ 2000, 320, 321; Lilie in Wienke/Lippert,<br />

Der Wille des Menschen zwischen Leben und Sterben 2001, 75, 83, Seitz<br />

ZRP 1998, 417, 420; Soergel/Zimmermann BGB 13. Aufl. § 1904 Rdn. 42).<br />

Diese Ansicht würde es jedoch, recht verstanden, nicht hindern, das Verlangen<br />

des Beteiligten nach Abbruch der künstlichen Ernährung einer vormundschaftsgerichtlichen<br />

Überprüfung zu unterwerfen. Da der Beteiligte sein Verlangen auf<br />

den erklärten und fortgeltenden Willen des Betroffenen stützt, trifft er insoweit<br />

- 11 -<br />

keine eigene Entscheidung; er setzt vielmehr nur eine im voraus getroffene<br />

höchstpersönliche Entscheidung des Betroffenen um. Die richtige Umsetzung<br />

des Willens des Betroffenen und die damit einhergehende Unterlassung einer<br />

eigenen, den Willen des Betroffenen ersetzenden Einwilligung des Beteiligten in<br />

die Weiterbehandlung des Betroffenen ist - wie dargelegt - aber ein tauglicher<br />

Gegenstand einer vormundschaftsgerichtlichen Überprüfung.<br />

Auch generell läßt sich aus der Höchstpersönlichkeit einer Entscheidung<br />

kein zwingendes Argument gegen die Entscheidungszuständigkeit eines Betreuers<br />

und die Überprüfung seiner Entscheidung durch das Vormundschaftsgericht<br />

herleiten; denn einem Betreuer werden vom Gesetz - etwa bei der Sterilisation<br />

(§ 1905 BGB) - durchaus höchstpersönliche Entscheidungskompetenzen<br />

übertragen. Zudem ergäbe sich, wenn man die Entscheidung gegen eine<br />

lebensverlängernde oder -erhaltende Maßnahme oder die Durchsetzung einer<br />

solchen Entscheidung generell von der Aufgabenzuweisung an den Betreuer<br />

ausnähme, eine mißliche Wahl: Entweder würde damit ein striktes Gebot zur<br />

Durchführung lebensverlängernder oder -erhaltender medizinischer Maßnahmen<br />

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statuiert - also auch gegen einen vom Betroffenen früher geäußerten Willen.<br />

Oder die Entscheidung über die Frage der Behandlung oder Weiterbehandlung<br />

bliebe dem Arzt und/oder den nahen Angehörigen überlassen - dies<br />

allenfalls mit der Auflage, den wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Patienten<br />

zu ermitteln. An die Stelle der Willensbestimmung durch den Betreuer als<br />

den gesetzlichen Vertreter träte die Willensbestimmung durch den Arzt oder die<br />

Angehörigen, die sich aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht<br />

mehr legitimieren würde, unter Umständen mit Eigeninteressen kollidieren<br />

könnte und im System des geltenden Rechts einer vormundschaftsgerichtlichen<br />

Kontrolle von vornherein nicht zugänglich wäre (vgl. zum Ganzen Taupitz aaO<br />

A 89; Fröschle aaO 74).<br />

- 12 -<br />

Eine andere Frage ist, ob das Vormundschaftsgericht dem Beteiligten mit<br />

der Übertragung des Aufgabenkreises "Sorge für die Gesundheit des Betroffenen"<br />

auch die Entscheidung über lebenserhaltende Maßnahmen der hier in<br />

Frage stehenden Art übertragen hat. Da sowohl das Amtsgericht wie auch das<br />

Beschwerdegericht die Bestellung des Beteiligten nicht einschränkend ausgelegt<br />

haben, kann auch für das Verfahren der weiteren Beschwerde von einer<br />

umfassenden Zuständigkeit des Beteiligten für die medizinischen Belange des<br />

Betroffenen ausgegangen werden. Dies gilt um so mehr, als bei einer einschränkenden<br />

Auslegung des Aufgabenkreises die lebenserhaltenden Maßnahmen<br />

nicht fortgeführt, sondern von den behandelnden Ärzten im Hinblick auf<br />

ihre Vereinbarkeit mit dem vom Betroffenen früher erklärten und als maßgebend<br />

fortdauernden Willen überprüft und, falls der Aufgabenkreis des Beteiligten<br />

nicht erweitert oder ein weiterer Betreuer bestellt würde, gegebenenfalls<br />

eingestellt werden müßten.<br />

c) Gegen eine Entscheidung des Vormundschaftsgerichts läßt sich auch<br />

nicht anführen, daß es an Kriterien fehle, anhand derer das Verlangen des Beteiligten,<br />

die künstliche Ernährung des Betroffenen einzustellen, rechtlich überprüft<br />

werden könne, daß die Entscheidung des Beteiligten mithin nicht justiziabel<br />

sei.<br />

aa) Die Frage, unter welchen medizinischen Voraussetzungen die<br />

Rechtsordnung gestattet, lebensverlängernde Maßnahmen zu unterlassen oder<br />

nicht fortzuführen, hat der Bundesgerichtshof in einer Strafsache dahin entschieden,<br />

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daß das Grundleiden des Kranken nach ärztlicher Überzeugung unumkehrbar<br />

(irreversibel) sein und einen tödlichen Verlauf angenommen haben<br />

müsse (Urteil vom 13. September 1994 - 1 StR 357/94 - NJW 1995, 204). Werde<br />

in einem solchen Fall der Tod in kurzer Zeit eintreten, so rechtfertige die<br />

unmittelbare Todesnähe es, von einer Hilfe für den Sterbenden und "Hilfe beim<br />

- 13 -<br />

Sterben", kurz von Sterbehilfe zu sprechen und dem Arzt den Abbruch lebensverlängernder<br />

Maßnahmen zu erlauben. In Fällen, in denen das Grundleiden<br />

zwar einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen habe, das Merkmal der<br />

unmittelbaren Todesnähe aber nicht gegeben sei und der Sterbevorgang somit<br />

noch nicht eingesetzt habe, liege eine Sterbehilfe im eigentlichen Sinne nicht<br />

vor. Auch wenn der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen (auch im damals<br />

entschiedenen Fall: einer künstlichen Ernährung über eine Magensonde) unter<br />

solchen Umständen zum Teil bereits als Sterbehilfe im weiteren Sinne oder als<br />

"Hilfe zum Sterben" bezeichnet werde und bei entsprechendem Patientenwillen<br />

als Ausdruck der allgemeinen Entscheidungsfreiheit und des Rechts auf körperliche<br />

Unversehrtheit grundsätzlich anzuerkennen sei, seien doch an die Annahme<br />

des mutmaßlichen Willens erhöhte Anforderungen insbesondere im<br />

Vergleich zur eigentlichen Sterbehilfe zu stellen.<br />

Diese objektive Eingrenzung zulässiger Sterbehilfe ist auch für das Zivilrecht<br />

verbindlich; denn die Zivilrechtsordnung kann nicht erlauben, was das<br />

Strafrecht verbietet. Aus ihr folgt, daß für das Verlangen des Betreuers, eine<br />

medizinische Behandlung einzustellen, kein Raum ist, wenn das Grundleiden<br />

des Betroffenen noch keinen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen hat<br />

und durch die Maßnahme das Leben des Betroffenen verlängert oder erhalten<br />

wird. Richtig ist zwar, daß der Arzt das Selbstbestimmungsrecht des einwilligungsfähigen<br />

Patienten zu achten hat und deshalb keine - auch keine lebenserhaltenden<br />

- Maßnahmen gegen dessen Willen vornehmen darf (vgl. etwa<br />

Taupitz aaO A 19 ff.). Die Entscheidungsmacht des Betreuers ist jedoch mit der<br />

aus dem Selbstbestimmungsrecht folgenden Entscheidungsmacht des einwilligungsfähigen<br />

Patienten nicht deckungsgleich, sondern als gesetzliche Vertretungsmacht<br />

an rechtliche Vorgaben gebunden; nur soweit sie sich im Rahmen<br />

dieser Bindung hält, kann sie sich gegenüber der Verpflichtung des Arztes, das<br />

Leben des Patienten zu erhalten, durchsetzen. Das bedeutet: Die medizini-<br />

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14 -<br />

schen Voraussetzungen, unter denen das Recht eine vom gesetzlichen Vertreter<br />

konsentierte Sterbehilfe (auch im weiteren Sinne) gestattet, binden den Arzt<br />

ebenso wie den gesetzlichen Vertreter. Liegen sie nicht vor, ist die Sterbehilfe<br />

rechtswidrig; sie wird nicht dadurch rechtmäßig, daß der gesetzliche Vertreter in<br />

sie – und sei es auch mit Billigung des Vormundschaftsgerichts – einwilligt.<br />

Deshalb ist die Verweigerung der Einwilligung hier insoweit ebenso irrelevant<br />

wie eine etwaige Billigung dieser Verweigerung durch das Vormundschaftsgericht.<br />

Daraus läßt sich indes nicht herleiten, daß das Verlangen des Beteiligten,<br />

die künstliche Ernährung des Betroffenen einzustellen, jedenfalls insoweit<br />

einer vormundschaftsgerichtlichen Überprüfung entzogen sei, als die medizinischen<br />

Voraussetzungen, unter denen ein solches Verlangen rechtlich überhaupt<br />

erst zulässig wäre, in Frage stünden. Ein vormundschaftsgerichtliches<br />

Verfahren böte vielmehr - im Gegenteil - die Möglichkeit, verantwortlich zu prüfen,<br />

ob der rechtliche Rahmen für das Verlangen des Beteiligten überhaupt eröffnet<br />

ist. Dies wäre immer dann zu verneinen, wenn eine letzte Sicherheit, daß<br />

die Krankheit des Betroffenen einen irreversiblen und tödlichen Verlauf angenommen<br />

habe, nicht zu gewinnen wäre.<br />

bb) Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 13. September 1994<br />

(aaO 204 f.) das Unterlassen oder den Abbruch lebensverlängernder oder lebenserhaltender<br />

Maßnahmen - bei Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen<br />

- allerdings nur dann als rechtmäßig erachtet, wenn das Unterlassen oder<br />

der Abbruch der Maßnahmen dem - im entschiedenen Fall: mutmaßlichen -<br />

Willen des Patienten entspricht. Diese Ausrichtung auf den Willen des Betroffenen<br />

korrespondiert mit den Vorgaben, die auch § 1901 BGB für das Betreuerhandeln<br />

normiert. Maßgebend sind nach § 1901 Abs. 3 Satz 1, 2 BGB die<br />

- auch früher geäußerten (§ 1901 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 1 BGB) - Wünsche des<br />

- 15 -<br />

Betroffenen, sofern sie sich feststellen lassen, nicht durch entgegenstehende<br />

Bekundungen widerrufen sind (§ 1901 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BGB) und dem<br />

Wohl des Betreuten nicht zuwiderlaufen (§ 1901 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 BGB).<br />

Das Wohl des Betreuten ist dabei nicht nur objektiv, sondern - im Grundsatz<br />

sogar vorrangig (MünchKomm/Schwab aaO § 1901 Rdn. 14) - subjektiv zu verstehen;<br />

denn "zum Wohl des Betreuten gehört auch die Möglichkeit, ... sein Leben<br />

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nach seinen eigenen Vorstellungen und Wünschen zu gestalten" (§ 1901<br />

Abs. 2 Satz 2 BGB). Nichts anderes gilt, wenn sich - auf die vorliegende Situation<br />

bezogene - Wünsche des Betroffenen nicht feststellen lassen: Dann hat sich<br />

der Betreuer nach § 1901 Abs. 2 Satz 1 BGB am "Wohl des Betreuten" zu orientieren,<br />

dies aber nach § 1901 Abs. 2 Satz 2 BGB aus der Sicht des Betreuten<br />

- d.h. nach dessen Lebensentscheidungen, Wertvorstellungen und Überzeugungen<br />

- zu bestimmen (vgl. zum Ganzen G. Fischer, FS Deutsch 1999, 545,<br />

548 ff., 555; Fröschle aaO 76; einschränkend Taupitz aaO 41 "objektive Interessenabwägung<br />

mit subjektivem Korrekturvorbehalt"; in diese Richtung auch<br />

Lipp aaO 48 f.); man kann insoweit von einem (individuell-) mutmaßlichen Willen<br />

des Betroffenen sprechen (kritisch zu dieser Rechtsfigur Höfling JuS 2000,<br />

111, 116). Allerdings kommt die Berücksichtigung eines solchen (individuell-)<br />

mutmaßlichen Willens nur hilfsweise in Betracht, wenn und soweit nämlich eine<br />

im einwilligungsfähigem Zustand getroffene "antizipative" Willensbekundung<br />

des Betroffenen - mag sie sich als Einwilligung in oder als Veto gegen eine bestimmte<br />

medizinische Behandlung darstellen - nicht zu ermitteln ist. Liegt eine<br />

solche Willensäußerung, etwa - wie hier - in Form einer sogenannten "Patientenverfügung",<br />

vor, bindet sie als Ausdruck des fortwirkenden Selbstbestimmungsrechts,<br />

aber auch der Selbstverantwortung des Betroffenen den Betreuer;<br />

denn schon die Würde des Betroffenen (Art. 1 Abs. 1 GG) verlangt, daß eine<br />

von ihm eigenverantwortlich getroffene Entscheidung auch dann noch respektiert<br />

wird, wenn er die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Entscheiden inzwi-<br />

16 -<br />

schen verloren hat. Die Willensbekundung des Betroffenen für oder gegen bestimmte<br />

medizinische Maßnahmen darf deshalb vom Betreuer nicht durch einen<br />

"Rückgriff auf den mutmaßlichen Willen" des Betroffenen "korrigiert" werden, es<br />

sei denn, daß der Betroffene sich von seiner früheren Verfügung mit erkennbaremWiderrufswillen<br />

distanziert oder die Sachlage sich nachträglich so erheblich<br />

geändert hat, daß die frühere selbstverantwortlich getroffene Entscheidung die<br />

aktuelle Sachlage nicht umfaßt (Taupitz aaO A 41: Die in eigenverantwortlichem<br />

Zustand getroffene Entscheidung dürfe nicht "unter spekulativer Berufung<br />

darauf unterlaufen werden ..., daß der Patient vielleicht in der konkreten Situation<br />

doch etwas anderes gewollt hätte"; vgl. auch aaO A 106 ff.).<br />

Auch wenn der Beteiligte somit strikt an den wirklichen und (nur) hilfsweise<br />

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an den mutmaßlichen Willen des Betroffenen gebunden ist, so spricht<br />

dies ebenfalls nicht gegen die Möglichkeit, das Verlangen des Beteiligten, die<br />

künstliche Ernährung des Betroffenen einzustellen, einer vormundschaftsgerichtlichen<br />

Kontrolle zu unterziehen. Ein vormundschaftsgerichtliches Verfahren<br />

böte nicht nur den Rahmen für eine Prüfung, ob der Beteiligte den Willen des<br />

Betroffenen mit der Vorlage der von diesem getroffenen Verfügung erschöpfend<br />

ermittelt hat oder ob die Umstände des Einzelfalles weitere Erkundungen geboten<br />

erscheinen lassen. Sie eröffnete auch die Möglichkeit, für alle Beteiligten<br />

verbindlich festzustellen, daß die vom Beteiligten gewünschte Einstellung der<br />

Behandlung in der nunmehr vorliegenden Situation dem in der Verfügung zum<br />

Ausdruck gelangten Willen des Betroffenen entspricht (vgl. etwa G. Fischer in<br />

Medicus et al. Schadensrecht, Arztrecht ... 2001, 37, 50).<br />

cc) Keiner Entscheidung bedarf die Frage, ob und unter welchen Gegebenheiten<br />

ein Betreuer seine Einwilligung in eine lebensverlängernde oder<br />

-erhaltende Weiterbehandlung des Betroffenen verweigern darf, wenn zwar die<br />

medizinischen Voraussetzungen für eine zulässige Hilfe beim oder auch zum<br />

- 17 -<br />

Sterben vorliegen, Wünsche des Betroffenen aber nicht geäußert oder nicht<br />

ersichtlich sind und sich auch bei der gebotenen sorgfältigen Prüfung konkrete<br />

Umstände für die Feststellung des individuellen mutmaßlichen Willens des Betroffenen<br />

nicht finden lassen. In einem solchen Fall soll nach der zitierten Entscheidung<br />

des Bundesgerichtshofs (aaO 205) auf Kriterien zurückgegriffen<br />

werden, die allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen. Diese Auffassung ist<br />

auf - zum Teil sehr engagierte - Kritik (vgl. etwa Dörner ZRP 1996, 93, 95 f.;<br />

Laufs NJW 1998, 3399, 3400) gestoßen, die sich das vorlegende Oberlandesgericht<br />

zu eigen macht und deren sachliche Berechtigung hier nicht im einzelnen<br />

zu erörtern ist. Die Diskussion um die Zulässigkeit und die Grenzen der<br />

Hilfe im oder auch zum Sterben wird gerade durch das Fehlen verbindlicher<br />

oder doch allgemeiner Wertmaßstäbe geprägt (Taupitz aaO A 38, allerdings mit<br />

dem Versuch einer "objektiven" Interessenabwägung aaO 41 ff., 46 ff.; Knittel<br />

Betreuungsgesetz § 1904 BGB Anm. 9 f.). Auch die Verfassung bietet keine<br />

sichere Handhabe, die im Widerstreit der Schutzgüter von Leben und Menschenwürde<br />

eine dem jeweiligen Einzelfall gerecht werdende, rechtlich verläßliche<br />

und vom subjektiven Vorverständnis des Beurteilers unabhängige Orientierung<br />

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ermöglicht (vgl. etwa Hufen aaO 850). Soweit vor diesem Hintergrund für<br />

ein von keinem nachgewiesenen (wirklichen oder mutmaßlichen) Willen des<br />

Betroffenen getragenes Verlangen des Betreuers nach Abbruch lebenserhaltender<br />

Maßnahmen überhaupt Raum bleibt (verneinend OLG Düsseldorf<br />

FamRZ 2000, 1556, 1557; OLG Karlsruhe aaO 492; OLG Frankfurt FamRZ<br />

1998 aaO 1138 und 2002 aaO 577), böte sich als Richtschnur möglicherweise<br />

ein Verständnis des Wohls des Betroffenen an, das einerseits eine ärztlich für<br />

sinnvoll erachtete lebenserhaltende Behandlung gebietet, andererseits aber<br />

nicht jede medizinisch-technisch mögliche Maßnahme verlangt. Ein solches,<br />

einem objektiv zu mutmaßenden Willen des Betroffenen angenähertes Verständnis<br />

(in diese Richtung Lipp aaO 48 f.; vgl. aus medizinethischer Sicht auch<br />

- 18 -<br />

Schöne-Seifert Verhandlungen des 63. DJT 2000 Referat K 41, 48 mit der Forderung,<br />

"Behandlungsstandards" - unter Offenlegung ihrer notwendigen ethischen<br />

Prämissen - zu entwickeln) böte jedenfalls einen zumindest objektivierbaren<br />

Maßstab, der - außerhalb der Spannbreite einer immer möglichen Divergenz<br />

in der ärztlichen Indikation - für die Betreuerentscheidung auch in diesem<br />

vom Willen des Betroffenen nicht determinierten Grenzbereich menschlichen<br />

Lebens eine vormundschaftsgerichtliche Nachprüfung eröffnet.<br />

d) Das Oberlandesgericht hat allerdings mit Recht angenommen, daß<br />

§ 1904 BGB für eine vormundschaftsgerichtliche Überprüfung des Verlangens<br />

des Beteiligten, die künstliche Ernährung des Betroffenen einzustellen, keine<br />

Rechtsgrundlage hergibt. Auch eine analoge Anwendung dieser Einzelvorschrift<br />

kann, worauf das Oberlandesgericht zutreffend hinweist, für sich genommen<br />

eine solche Aufgabenzuweisung an das Vormundschaftsgericht schwerlich begründen.<br />

So läßt sich bereits bezweifeln, ob die Vorschriften des Betreuungsrechts,<br />

in denen einzelne Handlungen des Betreuers einem Genehmigungsvorbehalt<br />

unterstellt werden, ein geschlossenes gedankliches System darstellen,<br />

das es erlaubt, andere, von der legislativen Problemselektion nicht aufgegriffene<br />

Konfliktsituationen als eine "planwidrige" Unvollständigkeit (vgl. Larenz/Canaris<br />

Methodenlehre der Rechtswissenschaft 3. Aufl., 196 f.: "Gesetzeslücke im<br />

engeren Sinn") zu verstehen. Jedenfalls ist § 1904 BGB für sich genommen<br />

nicht geeignet, im Wege analoger Anwendung Entscheidungen des Betreuers<br />

gegen eine lebensverlängernde oder -erhaltende medizinische Behandlung<br />

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dem Erfordernis einer vormundschaftsgerichtlichen Prüfung zu unterziehen.<br />

Zum einen fehlt insoweit bereits die Gleichheit der Problemlage: Der Schutz<br />

eines heilungsfähigen Patienten vor dem Einsatz riskanter medizinischer Mittel<br />

ist etwas völlig anderes als die medizinische Versorgung eines tödlich und un-<br />

19 -<br />

heilbar erkrankten Menschen (Schwab FS Henrich 2000 511, 524; ders.<br />

MünchKomm aaO § 1904 Rdn. 38). § 1904 BGB will - anders ausgedrückt -<br />

dem Betroffenen Leben und Gesundheit erhalten, der geforderte Behandlungsabbruch<br />

will sein Leben gerade beenden. Beide Ziele stehen sich nicht im Verhältnis<br />

von "maius" und "minus" gegenüber; sie sind miteinander inkomparabel<br />

und deshalb einem "erst recht"-Schluß nicht zugänglich (LG München aaO).<br />

Auch eine Gesamtanalogie (Rechtsanalogie) zu den §§ 1904 bis 1907 BGB<br />

kommt nicht in Betracht. Zum einen läßt sich diesen schon tatbestandlich ganz<br />

unterschiedlichen Genehmigungsvorbehalten kein "allgemeiner Grundsatz"<br />

unterlegen, dessen folgerichtige Entfaltung auch Antworten auf die Frage nach<br />

der Zulässigkeit des Abbruchs einer lebenserhaltenden Behandlung bereithält.<br />

Zum anderen läßt sich diese Frage mit der in diesen Genehmigungsvorbehalten<br />

vorgesehenen Rechtsfolge auch nicht erschöpfend beantworten: Lehnt das<br />

Vormundschaftsgericht es ab, eine nach den §§ 1904 bis 1907 BGB genehmigungspflichtige<br />

Erklärung oder Maßnahme des Betreuers zu genehmigen, so ist<br />

die Erklärung unwirksam und die Maßnahme unterbleibt. Verweigert der Betreuer<br />

die notwendige Einwilligung in die lebensverlängernde oder -erhaltende<br />

Behandlung des Betreuten, so wird diese Behandlung damit allein noch nicht<br />

zulässig. Das Vormundschaftsgericht müßte, falls es nicht einen anderen Betreuer<br />

bestellt, die Einwilligung des Betreuers in die Behandlung ersetzen (vgl.<br />

Steffen NJW 1996, 1581; Engers/Wagenitz FamRZ 1988, 1256, 1257). Eine<br />

solche willensersetzende Entscheidungsmacht des Vormundschaftsgerichts ist<br />

dem geltenden Recht strukturell nicht fremd, aber auf eng begrenzte Tatbestände<br />

beschränkt (vgl. § 1810 Satz 1 Halbs. 2, § 1837 Abs. 4 i.V. mit § 1666<br />

Abs. 3 BGB, arg. e contr. § 1908 i Abs. 1 BGB; vgl. Staudinger/Engler BGB<br />

13. Bearb., § 1837 Rdn. 2, 47; MünchKomm/Wagenitz BGB 4. Aufl. § 1837<br />

Rdn. 4 ff., 35). Die §§ 1904 bis 1907 BGB bieten für sie keine Grundlage.<br />

- 20 -<br />

e) Die fehlende Möglichkeit einer analogen Heranziehung der §§ 1904<br />

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is 1907 BGB schließt freilich die Befugnis des Senats nicht aus, für die verweigerte<br />

Einwilligung des Betreuers in eine lebensverlängernde oder -erhaltende<br />

Behandlung oder Weiterbehandlung eines nicht einwilligungsfähigen Betroffenen<br />

im Wege einer Fortbildung des Betreuungsrechts eine vormundschaftsgerichtliche<br />

Prüfungszuständigkeit zu eröffnen. Die Fortbildung des<br />

Rechts ist eine Pflicht der obersten Gerichtshöfe des Bundes und wird ständig<br />

geübt (grundlegend BVerfGE 34, 296, 287 ff.; BGHZ 3, 308, 315; zu den Voraussetzungen<br />

im einzelnen Larenz Methodenlehre 6. Aufl., 366 ff., insbes.<br />

413 ff.; Larenz/Canaris aaO 187 ff., insbes. 232 ff.). Sie ergibt sich vorliegend<br />

aus einer Gesamtschau des Betreuungsrechts und dem unabweisbaren Bedürfnis,<br />

mit den Instrumenten dieses Rechts auch auf Fragen im Grenzbereich<br />

menschlichen Lebens und Sterbens für alle Beteiligten rechtlich verantwortbare<br />

Antworten zu finden.<br />

aa) Der Vorrang des Gesetzes hindert eine solche Rechtsfortbildung<br />

nicht (dazu allgemein etwa BVerfGE 96, 56, 62). Zwar ist richtig, daß der Gesetzgeber<br />

des Betreuungsgesetzes - wie sich aus dessen Materialien ergibt -<br />

dem Wunsch eines nicht einwilligungsfähigen Betreuten auch insoweit Beachtung<br />

zuerkennen wollte, als "dieser darauf gerichtet ist, in der letzten Lebensphase<br />

nicht sämtliche denkbaren lebens-, aber auch schmerzverlängernden<br />

medizinischen Möglichkeiten einzusetzen" (BT-Drucks. 11/4528 S. 128). Richtig<br />

ist auch, daß der Gesetzgeber ein Verhalten des Betreuers, das auf Durchsetzung<br />

eines solchen Wunsches gerichtet ist, keinem Genehmigungsvorbehalt<br />

unterworfen hat. Daraus läßt sich jedoch nicht auf ein "beredtes Schweigen"<br />

des Gesetzes schließen, das es verbieten könnte, im Wege der Rechtsfortbildung<br />

die unterlassene Einwilligung des Betreuers in lebensverlängernde oder<br />

-erhaltende Maßnahmen einer vormundschaftsgerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen.<br />

Zum einen lassen die in den §§ 1904 bis 1907 BGB aufgegriffenen<br />

- 21 -<br />

Konfliktsituationen kein geschlossenes Konzept erkennen, das einer rechtsfortbildenden<br />

Erweiterung nicht zugänglich wäre; zum andern ist - wie ausgeführt -<br />

der in diesen Vorschriften normierte Genehmigungsvorbehalt schon strukturell<br />

nicht geeignet, die Frage nach der Zulässigkeit des Abbruchs einer lebenserhaltenden<br />

Behandlung einer erschöpfenden Regelung zuzuführen; aus der<br />

Nichterstreckung der im Gesetz vorgesehenen Genehmigungserfordernisse auf<br />

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diese Frage läßt sich deshalb nicht schließen, der Gesetzgeber habe diese<br />

Frage generell einer vormundschaftsgerichtlichen Überprüfung entziehen wollen.<br />

Auch die weitere Entwicklung des Betreuungsrechts rechtfertigt einen solchen<br />

Schluß nicht. Das Betreuungsrechtsänderungsgesetz vom 25. Juni 1998<br />

(BGBl. I 1580) verhält sich zur Frage eines Genehmigungserfordernisses nicht;<br />

das war nach der vorrangig auf eine Neuordnung des Rechts der Betreuervergütung<br />

gerichteten Zielsetzung dieses Gesetzes allerdings auch nicht anders zu<br />

erwarten (Knieper NJW 1998, 2720, 2721). Auch für die Folgezeit läßt sich das<br />

Schweigen des Gesetzgebers nicht als eine legislative Entscheidung gegen<br />

eine vormundschaftsgerichtliche Prüfungszuständigkeit für das Verlangen des<br />

Betreuers nach Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen deuten. Die Bundesregierung<br />

sah, wie auch ihre Antwort auf die Anfrage des Abgeordneten Hüppe<br />

belegt, keinen unmittelbaren Handlungsbedarf: Danach wirft die Entscheidung<br />

des Oberlandesgerichts "nicht nur tiefgreifende juristisch-ethische Fragen, sondern<br />

auch vielfältige forensisch-praktische Fragen auf, die einer gründlichen<br />

Aufarbeitung bedürfen, bevor die Frage nach der Notwendigkeit einer gesetzgeberischen<br />

Maßnahme ... beantwortet werden kann" (BT-Drucks. 13/11345<br />

Frage Nr. 14 S. 11). Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist berufen, hierzu<br />

ihren Beitrag zu leisten und damit zugleich mögliche Wege für die vielfach geforderte<br />

(vgl. etwa Vormundschaftsgerichtstag e.V. BTPrax 1998, 161, 162;<br />

Taupitz aaO A 92; Scheffen ZRP 2000, 313, 316 f.; Hufen aaO 857) und auch<br />

- 22 -<br />

nach Auffassung des Senats wünschenswerte gesetzliche Regelung aufzuzeigen.<br />

bb) Der Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG steht einer solchen<br />

Rechtsfortbildung nicht entgegen (so aber wohl Vormundschaftsgerichtstag<br />

e.V. BTPrax 98, 161, 162; Jürgens BTPrax 98, 159, 160; Alberts NJW 1999,<br />

835, 836). Denn durch die Prüfungszuständigkeit des Vormundschaftsgerichts<br />

wird nicht in die Rechte des Betroffenen auf Leben und körperliche Unversehrtheit<br />

eingegriffen, der Vormundschaftsrichter - entgegen einer gelegentlich gebrauchten<br />

plakativen Formulierung - also nicht zum "Herrn über Leben und<br />

Tod" ernannt (so aber AG Hanau BTPrax 1997, 82, 83; Deichmann MDR 1995,<br />

983, 984; mit Recht kritisch Verrel JR 1999, 5, 6). Vielmehr werden - im Gegenteil<br />

- die Grundrechte des Betroffenen geschützt, indem die Entscheidung<br />

des Betreuers, nicht in eine lebensverlängernde oder -erhaltende Behandlung<br />

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oder Weiterbehandlung des Betroffenen einzuwilligen, einer gerichtlichen Kontrolle<br />

unterzogen und dabei auf ihre Übereinstimmung mit dem Willen des Betroffenen<br />

- als Ausfluß seiner fortwirkenden Selbstbestimmung und Selbstverantwortung<br />

- überprüft wird (OLG Karlsruhe aaO 490).<br />

cc) Eine imWege der Fortbildung des Betreuungsrechts zu begründende<br />

Prüfungszuständigkeit des Vormundschaftsgerichts findet ihre natürliche Grenze<br />

dort, wo der Regelungsbereich des Betreuungsrechts, dessen Handhabung<br />

den Vormundschaftsgerichten anvertraut ist, endet. Das Betreuungsrecht regelt,<br />

soweit medizinische Maßnahmen für den Betroffenen in Frage stehen, zwar<br />

nicht nur das Verhältnis des Betreuers zum Betroffenen; es schreibt auch vor,<br />

inwieweit der Betreuer die dem Betroffenen zustehenden Rechte gegenüber<br />

Ärzten oder Pflegekräften wahrnehmen kann. Der Umfang dieser Rechte selbst<br />

ist jedoch nicht Gegenstand des Betreuungsrechts und deshalb von vornherein<br />

einer isolierten vormundschaftsgerichtlichen Überprüfung entzogen.<br />

- 23 -<br />

Daraus ergibt sich, daß auch die Frage, welche lebensverlängernden<br />

oder -erhaltenden Maßnahmen der Betroffene beanspruchen und der Betreuer<br />

folglich als sein gesetzlicher Vertreter für ihn einfordern kann, nicht vom Betreuungsrecht<br />

zu beantworten ist. Auch dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen<br />

läßt sich eine Antwort nicht entnehmen; denn dieses Recht läßt sich<br />

nur als Abwehrrecht gegen, nicht aber als Anspruch auf eine bestimmte Behandlung<br />

begreifen (Taupitz aaO A 23; Verrel JZ 1996, 224, 226; einschränkend<br />

Lilie FS Steffen 1995, 273, 276). Im Grundsatz gesichert erscheint, daß<br />

der Arzt - gestützt auf sein Grundrecht der Berufsfreiheit und seine allgemeine<br />

Handlungsfreiheit - jedenfalls solche Maßnahmen verweigern kann, für die keine<br />

medizinische Indikation besteht (Taupitz aaO 23 f. m.w.N.). Die medizinische<br />

Indikation, verstanden als das fachliche Urteil über den Wert oder Unwert einer<br />

medizinischen Behandlungsmethode in ihrer Anwendung auf den konkreten Fall<br />

(Opderbecke MedR 1985, 23, 25), begrenzt insoweit den Inhalt des ärztlichen<br />

Heilauftrags (Taupitz aaO 23 ff.; vgl. auch Lilie in Wienke/Lippert aaO 80). Diese<br />

- im Schnittfeld naturwissenschaftlicher und medizinethischer Überlegungen<br />

nicht immer scharfe - Begrenzung (vgl. etwa die Umschreibung in den Grundsätzen<br />

der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung NJW 1998,<br />

3406; w.N. bei Taupitz aaO Fn. 4) ist dem Betreuungsrecht vorgegeben; denn<br />

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die rechtliche Betreuungsbedürftigkeit eines Patienten verändert den Rahmen,<br />

in dem er ärztliche Behandlung beanspruchen kann, nicht (Taupitz aaO 40; Lipp<br />

aaO 53; Opderbecke/Weißauer MedR 1998, 395, 397). Die Frage, ob eine lebensverlängernde<br />

oder -erhaltende Behandlung medizinisch indiziert ist und<br />

ihre Durchführung deshalb vom ärztlichen Heilauftrag geboten wird, kann deshalb<br />

für das Betreuungsrecht nur als Vorfrage - d.h. im Zusammenhang mit der<br />

dem Vormundschaftsgericht obliegenden Beurteilung eines Verhaltens des Betreuers<br />

bei der Wahrnehmung von Patienteninteressen des Betroffenen - Bedeutung<br />

erlangen. Für sich genommen - also losgelöst von der Prüfung eines<br />

- 24 -<br />

derartigen Betreuerverhaltens - kann diese Frage nicht zum Gegenstand eines<br />

vormundschaftsgerichtlichen Verfahrens erhoben werden.<br />

dd) Für das Betreuungsrecht kann der Inhalt des ärztlichen Heilauftrags<br />

und das aus ihm resultierende Behandlungsangebot danach allerdings mittelbar<br />

relevant werden, und zwar in zweifacher Hinsicht:<br />

Für eine Einwilligung des Betreuers in eine lebensverlängernde oder<br />

-erhaltende Behandlung ist von vornherein kein Raum, wenn ärztlicherseits eine<br />

solche Behandlung nicht angeboten wird - sei es, daß sie nach Auffassung der<br />

behandelnden Ärzte von vornherein nicht indiziert, sinnlos geworden oder aus<br />

sonstigen Gründen nicht möglich ist (Lipp aaO 52 f.). Das Unterlassen (erst<br />

recht die Weigerung) des Betreuers, in eine lebensverlängernde oder -erhaltende<br />

Behandlung einzuwilligen, ist - wie einleitend dargelegt - zwar tauglicher Gegenstand<br />

einer vormundschaftsgerichtlichen Kontrolle, setzt aber notwendig ein<br />

entsprechendes ärztliches Behandlungsangebot voraus. Fehlt es an einem solchen<br />

Angebot, kommt eine vormundschaftsgerichtliche Prüfung allenfalls insoweit<br />

in Betracht, als die Pflicht des Betreuers in Frage steht, in Wahrnehmung<br />

der Interessen des Betroffenen die Erfüllung des ärztlichen Heilauftrags durch<br />

die Einforderung bestimmter lebensverlängernder oder -erhaltender Behandlungen<br />

durchzusetzen. Die Frage, welche Möglichkeiten dem Vormundschaftsgericht<br />

hier zur Verfügung stehen, den Betreuer zur Erfüllung dieser Pflicht anzuhalten,<br />

beantwortet sich aus der Aufsichtspflicht des Vormundschaftsgerichts<br />

(§ 1908 i i.V. mit § 1837, § 1908 b BGB). Sie bedarf hier keiner vertiefenden<br />

Erörterung; denn ein solcher Fall liegt hier ersichtlich nicht vor.<br />

Nur soweit ärztlicherseits eine lebensverlängernde oder -erhaltende Behandlung<br />

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angeboten wird, ist eine Einwilligung des Betreuers als des gesetzlichen<br />

Vertreters des einwilligungsunfähigen Patienten überhaupt erforderlich.<br />

- 25 -<br />

Ein Unterlassen (erst recht eine Verweigerung) der Einwilligung in die angebotene<br />

Behandlung wird - nach der im Wege der Rechtsfortbildung gewonnenen<br />

Auffassung des Senats - jedoch nur mit Zustimmung des Vormundschaftsgerichts<br />

wirksam. Eine lebensverlängernde oder -erhaltende Behandlung des einwilligungsunfähigen<br />

Patienten ist bei medizinischer Indikation deshalb auch ohne<br />

die Einwilligung des Betreuers zunächst - bis zu einer Entscheidung des<br />

Vormundschaftsgerichts - durchzuführen oder fortzusetzen. Das Vormundschaftsgericht<br />

hat das Verhalten des Betreuers anhand der oben aufgeführten<br />

Kriterien auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen; es trifft also keine eigene<br />

Entscheidung gegen lebensverlängernde oder -erhaltende Maßnahmen (vgl.<br />

Taupitz aaO A 85 und Fn. 410 mit rechtsvergleichenden Hinweisen; Lipp aaO<br />

52). Das Vormundschaftsgericht muß der Entscheidung des Betreuers gegen<br />

eine solche Behandlung zustimmen, wenn feststeht, daß die Krankheit des Betroffenen<br />

einen irreversiblen tödlichen Verlauf genommen hat und die ärztlicherseits<br />

angebotene Behandlung dem früher erklärten und fortgeltenden Willen<br />

des Betroffenen, hilfsweise dessen (individuell-)mutmaßlichen Willen widerspricht.<br />

Die Frage, ob das Vormundschaftsgericht der Entscheidung des Betreuers<br />

gegen eine solche Behandlung auch dann zustimmen darf, wenn sich<br />

ein entsprechender wirklicher oder mutmaßlicher Wille trotz erschöpfender<br />

Nachforschungen des Betreuers nicht feststellen läßt, wird namentlich dann<br />

praktisch, wenn das Vormundschaftsgericht zu einer Beurteilung der medizinischen<br />

Indikation gelangt, die von der - diese Indikation bejahenden - Bewertung<br />

des behandelnden Arztes abweicht; diese Frage kann, wie ausgeführt, hier offenbleiben.<br />

Stimmt das Vormundschaftsgericht der eine Behandlung oder<br />

Weiterbehandlung ablehnenden Entscheidung des Betreuers zu, ist dessen<br />

Einwilligung nicht länger entbehrlich und die Nichterteilung dieser Einwilligung<br />

wirksam. Verweigert das Vormundschaftsgericht dagegen seine Zustimmung,<br />

so gilt damit zugleich die Einwilligung des Betreuers in die angebotene Be-<br />

26 -<br />

handlung oder Weiterbehandlung des Betroffenen als ersetzt. Das vormundschaftsgerichtliche<br />

Verfahren ist dem Richter vorbehalten (ebenso § 14 Abs. 1<br />

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Nr. 4 RpflG). § 69 d Abs. 1, 2 FGG findet eine entsprechende, den Besonderheiten<br />

des Regelungsgegenstandes Rechnung tragende Anwendung. So hat<br />

sich der Vormundschaftsrichter vom Zustand des Betroffenen einen persönlichen<br />

Eindruck zu verschaffen (vgl. § 69 d Abs. 1 Satz 2 FGG). Auch wird er auf<br />

die Einholung eines zusätzlichen, von einem anderen als dem behandelnden<br />

Arzt erstellten Sachverständigengutachtens (vgl. § 69 d Abs. 2 FGG) im Regelfall<br />

nicht verzichten können, wenn die medizinischen Voraussetzungen für<br />

die Forderung des Betreuers, die Behandlung einzustellen, nicht durch eine<br />

neuere, den Anforderungen an ein Sachverständigengutachten genügende<br />

ärztliche Stellungnahme belegt sind (vgl. dazu näher OLG Karlsruhe aaO 492)<br />

oder wenn er - in Abweichung von der Beurteilung des behandelnden Arztes -<br />

die medizinische Indikation der ärztlicherseits angebotenen Behandlung verneinen<br />

will.<br />

Mit diesem Zustimmungserfordernis wird dem Schutz des Betroffenen in<br />

seinen Grundrechten auf Leben, Selbstbestimmung und Menschenwürde in<br />

ausgewogener Weise Rechnung getragen (Taupitz aaO A 84; Lipp aaO 52, Saliger<br />

JuS 1999, 16, 20). Zugleich zielt dieses Erfordernis auf Schutz und Fürsorge<br />

für den Betreuer: Indem das Betreuungsrecht dem Betreuer unter Umständen<br />

eine Entscheidung gegen eine lebensverlängernde oder -erhaltende<br />

Behandlung des Betroffenen abverlangt, bürdet es ihm eine Last auf, die allein<br />

zu tragen dem Betreuer nicht zugemutet werden kann (LG Duisburg NJW 1999,<br />

2744). Da das Recht vom Einzelnen nichts Unzumutbares verlangen kann, erscheint<br />

es dem Senat zwingend geboten, den Betreuer durch das vormundschaftsgerichtliche<br />

Prüfungsverfahren zu entlasten. Dieses Verfahren bietet<br />

einen justizförmigen Rahmen, innerhalb dessen die rechtlichen - auch strafrechtlichen<br />

- Grenzen des Betreuerhandelns geklärt und der wirkliche oder<br />

- 27 -<br />

mutmaßliche Wille des Betroffenen - im Rahmen des Möglichen umfassend -<br />

ermittelt werden kann (OLG Karlsruhe aaO 490; Knittel aaO). Das Prüfungsverfahren<br />

vermittelt der Entscheidung des Betreuers damit eine Legitimität, die<br />

geeignet ist, den Betreuer subjektiv zu entlasten sowie seine Entscheidung objektiv<br />

anderen Beteiligten zu vermitteln (Taupitz aaO 82 f.) und die ihn zudem<br />

vor dem Risiko einer abweichenden strafrechtlichen ex-post-Beurteilung schützt<br />

OLG Karlsruhe aaO; Fröschle aaO 79, Saliger aaO 21). Die Beschränkung des<br />

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Prüfungsvorbehalts auf Fälle, in denen eine lebensverlängernde oder -erhaltende<br />

Behandlung des Betroffenen medizinisch indiziert ist oder jedenfalls ärztlicherseits<br />

angeboten wird, der Betreuer aber in die angebotene Behandlung<br />

nicht einwilligt, stellt schließlich sicher, daß die Vormundschaftsgerichte nur in<br />

Konfliktlagen angerufen werden können; damit wird vermieden, daß die Vormundschaftsgerichte<br />

generell zur Kontrolle über ärztliches Verhalten am Ende<br />

des Lebens berufen und dadurch mit einer Aufgabe bedacht werden, die ihnen<br />

nach ihrer Funktion im Rechtssystem nicht zukommt, nicht ohne weiteres auf<br />

Fälle der Betreuung einwilligungsunfähiger Patienten beschränkt werden könnte<br />

und wohl auch sonst ihre Möglichkeiten weit überfordern würde.<br />

IV.<br />

Der Senat sieht sich an seiner Auffassung durch das Urteil des Bundesgerichtshofs<br />

vom 13. September 1994 (aaO) nicht gehindert.<br />

In dieser Entscheidung hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die<br />

Einstellung der künstlichen Ernährung der Patientin, die seit Jahren infolge einer<br />

irreversiblen Hirnschädigung zu einer eigenen Entscheidung nicht mehr in<br />

- 28 -<br />

der Lage war, für die deshalb deren Sohn zum Pfleger mit dem Aufgabenkreis<br />

"Zuführung zu ärztlicher Behandlung" bestellt worden war und deren Grundleiden<br />

einen tödlichen Verlauf angenommen hatte, für rechtswidrig erachtet, weil<br />

für die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung der Patientin hinreichend sichere<br />

Anhaltspunkte gefehlt hätten und die Zustimmung des Pflegers zur Einstellung<br />

der künstlichen Ernährung schon mangels einer Genehmigung des<br />

Vormundschaftsgerichts unwirksam gewesen sei. § 1904 BGB sei nach seinem<br />

Sinn und Zweck in Fällen der Sterbehilfe jedenfalls dann - erst recht - entsprechend<br />

anzuwenden, wenn eine ärztliche Maßnahme in der Beendigung einer<br />

bisher durchgeführten lebenserhaltenden Behandlung bestehe und der Sterbevorgang<br />

noch nicht unmittelbar eingesetzt habe. Wenn schon bestimmte Heileingriffe<br />

wegen ihrer Gefährlichkeit der alleinigen Entscheidungsbefugnis des<br />

Betreuers entzogen seien, dann müsse dies um so mehr für Maßnahmen gelten,<br />

die eine ärztliche Behandlung beenden sollten und mit Sicherheit binnen<br />

kurzem zum Tode des Kranken führten.<br />

Diese - von der dargelegten Rechtsmeinung des erkennenden Senats<br />

unterschiedliche - Sicht des § 1904 BGB begründet indes keine Abweichung im<br />

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Sinne des § 132 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 GVG, die zu einer Anfrage an den<br />

1. Strafsenat Anlaß geben und, falls dieser an seiner Auffassung festhielte, eine<br />

Vorlage an die Vereinigten Großen Senate erfordern würde; denn der Unterschied<br />

zwischen beiden Auffassungen ist für die Entscheidung des vorliegenden<br />

Falles nicht erheblich. § 132 GVG räumt den Vereinigten Großen Senaten<br />

die Befugnis zur Beantwortung streitiger oder grundsätzlich bedeutsamer<br />

Rechtsfragen nur ein, soweit deren Beantwortung für die Entscheidung des<br />

konkreten Falles nach Auffassung des vorlegenden Senats erforderlich wird.<br />

Diese Beschränkung ergibt sich mittelbar aus § 138 Abs. 1 Satz 3 GVG, der die<br />

Bindungswirkung der Entscheidung auf die vorgelegte Sache bezieht. Sie entspricht<br />

im übrigen auch dem Verständnis, das der Bundesgerichtshof dem Be-<br />

29 -<br />

griff der Entscheidungserheblichkeit für die Zulässigkeit der Vorlagen anderer<br />

Gerichte - etwa, wie im vorliegenden Fall, nach § 28 Abs. 2 FGG - beimißt; danach<br />

muß sich, wie anfangs ausgeführt, aus dem Vorlagebeschluß ergeben,<br />

daß es vom Standpunkt des vorlegenden Gerichts aus auf die Vorlagefrage<br />

ankommt, das vorlegende Gericht also bei Befolgung der abweichenden Ansicht<br />

zu einem anderen Ergebnis gelangen würde (Senatsbeschluß BGHZ 121,<br />

305, 308; ebenso BGHZ 82, 34, 36 f.; 112, 127, 129; 117, 217, 221). Für eine<br />

Vorlage nach § 132 Abs. 2 GVG kann - wovon auch die Vereinigten Großen<br />

Senate ausgehen (BGHZ 126, 63, 71 f. unter Bezugnahme auf BGHZ 88, 353,<br />

357; 112, 127, 129; 117, 217, 221) - nichts anderes gelten. Daher ist es unstatthaft,<br />

den Vereinigten Großen Senaten Fragen vorzulegen, deren Beantwortung<br />

lediglich die Begründung einer Entscheidung, nicht jedoch deren Ergebnis<br />

beeinflußt (BGH NJW 2000, 1185 f.; Kissel GVG 3. Aufl. § 132 Rdn. 20<br />

i.V. mit § 121 Rdn. 21; zustimmend Zöller/Gummer ZPO 23. Aufl. § 132 GVG;<br />

Albers in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann ZPO 61. Aufl. § 132 GVG<br />

Rdn. 7). So liegen die Dinge hier. Auch wenn man der Auffassung des 1. Strafsenats<br />

des Bundesgerichtshofs folgte und aus § 1904 BGB herleitete, daß in<br />

Fällen der Sterbehilfe (im weiteren Sinne) die Zustimmung des Betreuers zur<br />

Einstellung der künstlichen Ernährung die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts<br />

erforderte, müßte das Vormundschaftsgericht auf den Antrag des Beteiligten<br />

hin tätig werden und prüfen, ob die Voraussetzungen vorliegen, unter<br />

denen der Beteiligte seine Einwilligung in die Beibehaltung der Magensonde<br />

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und die Fortdauer der künstlichen Ernährung des Betroffenen unterlassen darf.<br />

Für das in § 132 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 GVG vorgeschriebene Verfahren ist mithin<br />

im vorliegenden Fall kein Raum.<br />

- 30 -<br />

V.<br />

Die Entscheidungen von Amts- und Landgericht können danach nicht<br />

bestehen bleiben. Der Senat vermag in der Sache nicht abschließend zu entscheiden.<br />

Vormundschafts- und Beschwerdegericht haben eine gerichtliche<br />

Prüfungszuständigkeit verneint und folgerichtig keine Feststellungen zu den<br />

objektiven und subjektiven Voraussetzungen getroffen, die den Beteiligten berechtigen<br />

könnten, seine Einwilligung in eine Fortführung der bisherigen Behandlung<br />

des Betroffenen nicht zu erteilen. Die Sache war daher an das Amtsgericht<br />

zurückzuverweisen, damit es die notwendigen Feststellungen nachholen<br />

und auf dieser Grundlage die ihm zuerkannte Prüfungsaufgabe wahrnehmen<br />

kann.<br />

Hahne Sprick Weber-Monecke<br />

Wagenitz Ahlt<br />

Nachschlagewerk: ja<br />

BGHSt : ja<br />

Veröffentlichung : ja<br />

StGB §§ 34, 35, 59<br />

BtMG 1981 § 30 Abs. 1 Nr. 3<br />

1. Die Einfuhr und die Überlassung eines Betäubungsmittels sind nicht dadurch<br />

gerechtfertigt oder entschuldigt, daß der Täter einem unheilbar<br />

schwerstkranken Betäubungsmittelempfänger, dem er nicht persönlich<br />

nahesteht, zu einem freien Suizid verhelfen will.<br />

2. Das Überlassen eines Betäubungsmittels zum freien Suizid an einen<br />

unheilbar Schwerstkranken, der kein Betäubungsmittelkonsument ist,<br />

erfüllt nicht den Tatbestand der Betäubungsmittelüberlassung mit leichtfertiger<br />

Todesverursachung gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG.<br />

3. Im besonderen Einzelfall kann sich das Ermessen des Tatrichters derart<br />

verengen, daß allein eine Verwarnung mit Strafvorbehalt in Betracht<br />

kommt, so daß das Revisionsgericht auf diese Sanktion erkennen kann.<br />

Eine rechtskräftig verhängte Geldstrafe kann gemäß § 55 StGB in eine<br />

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Verwarnung mit Strafvorbehalt einbezogen werden.<br />

BGH, Urt. v. 7. Februar 2001 - 5 StR 474/00<br />

LG Berlin -<br />

BUNDESGERICHTSHOF<br />

IM NAMEN DES VOLKES<br />

5 StR 474/00<br />

URTEIL<br />

vom 7. Februar 2001<br />

in der Strafsache<br />

gegen<br />

wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln u. a.<br />

- 2 -<br />

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Hauptverhandlung<br />

vom 6. und 7. Februar 2001, an der teilgenommen haben:<br />

Vorsitzende Richterin Harms,<br />

Richter Häger,<br />

Richter Basdorf,<br />

Richter Dr. Raum,<br />

Richter Dr. Brause<br />

als beisitzende Richter,<br />

Richterin am Landgericht<br />

als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,<br />

Rechtsanwalt<br />

als Verteidiger,<br />

Justizangestellte<br />

als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,<br />

- 3 -<br />

am 7. Februar 2001 für Recht erkannt:<br />

Auf die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft<br />

wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 21. Dezember<br />

1999 im Rechtsfolgenausspruch dahin geändert, daß<br />

der Angeklagte unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus<br />

dem Strafbefehl des Amtsgerichts Nürnberg vom 15. Oktober<br />

1998, dessen Gesamtstrafenausspruch entfällt, und unter<br />

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Einbeziehung der Verwarnung mit Strafvorbehalt aus dem<br />

Urteil des Amtsgerichts Freudenstadt vom 27. Oktober 1998<br />

verwarnt wird und die Verurteilung zu einer Gesamtgeldstrafe<br />

von 70 Tagessätzen zu je 120,- DM vorbehalten bleibt.<br />

Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.<br />

Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Jedoch wird die Gebühr um die Hälfte ermäßigt. Die<br />

Staatskasse trägt die dem Angeklagten durch sein Rechtsmittel<br />

entstandenen notwendigen Auslagen und die hierdurch<br />

entstandenen gerichtlichen Auslagen je zur Hälfte.<br />

Die Staatskasse hat die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft<br />

und die dem Angeklagten dadurch entstandenen<br />

notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

– Von Rechts wegen –<br />

- 4 -<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubter Einfuhr von<br />

Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubtem Überlassen von Betäubungsmitteln<br />

zum unmittelbaren Verbrauch unter Einbeziehung der Sanktionen<br />

aus zwei früheren Verurteilungen, nämlich zweier Einzelgeldstrafen und<br />

einer Verwarnung mit Strafvorbehalt, zu einer Gesamtgeldstrafe von 70 Tagessätzen<br />

zu je 120,- DM verurteilt. Die früheren Verurteilungen betrafen<br />

Taten, die der vorliegenden Tat ähnlich waren. Jeweils allein auf die Sachrüge<br />

gestützt, begehrt der Angeklagte mit seiner Revision einen Freispruch,<br />

während die Staatsanwaltschaft mit ihrem vom Generalbundesanwalt vertretenen<br />

Rechtsmittel einen Schuldspruch auch wegen Überlassens von Betäubungsmitteln<br />

mit leichtfertiger Todesverursachung nach § 30 Abs. 1<br />

Nr. 3 BtMG erstrebt. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.<br />

Sie führt zugunsten des Angeklagten (§ 301 StPO) wie dessen eigene Revision<br />

zu einer Änderung des Rechtsfolgenausspruchs, nämlich zum Ausspruch<br />

einer Verwarnung mit Strafvorbehalt. Im übrigen bleibt auch die Revision<br />

des Angeklagten ohne Erfolg.<br />

Der jetzt 83jährige Angeklagte, Schweizer Staatsbürger, ist Theologe<br />

und Psychologe. Er war bis zum Jahre 1986 als evangelischer Gemeindepfarrer<br />

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normalerweise bei einer Dosierung von bis zu 100 mg als Schlafmittel, im<br />

übrigen zur Behandlung von Angst- oder Erregungszuständen zum Einsatz<br />

kommt. In hoher Dosierung führt dieses Mittel jedoch zu einem sicheren, vom<br />

Einnehmenden allerdings schon nicht mehr wahrgenommen Tod. Namentlich<br />

tritt im Falle einer Überdosierung zunächst – vergleichbar einer Narkose –<br />

eine Ausschaltung des Bewußtseins und erst danach eine tödliche Atemlähmung<br />

ein, wobei im Regelfall 3 g des Mittels die für einen Erwachsenen tödliche<br />

Dosis darstellen. Die minimale letale Dosis beträgt etwa 1 g. Danach<br />

stuft der Angeklagte das Mittel als „geradezu ideal geeignet― zur Herbeiführung<br />

eines „sanften― Todes ein, insbesondere im Vergleich zum Zyankali,<br />

- 6 -<br />

welches beim Einnehmenden zwar ebenfalls schnell zum Tode führt, aber<br />

zuvor noch bei Bewußtsein des Sterbenden schwere krampfartige Schmerzen<br />

auslöst.<br />

Die verstorbene Frau Dr. T , die lange Zeit als Ärztin tätig gewesen<br />

war, litt an Multipler Sklerose. Nach progredientem Verlauf der Krankheit<br />

von 1982 bis 1998 war Frau Dr. T schließlich weitestgehend<br />

bewegungsunfähig. Sie verbrachte die Tage in ihrem Haus in Berlin größtenteils<br />

in Rückenlage. Sie war wegen einer Sehschwäche auf eine Leselupe<br />

angewiesen, die sie infolge ihrer nachlassenden Kräfte nur über einen sehr<br />

kurzen Zeitraum halten konnte, so daß ihr die Lektüre längerer Texte nicht<br />

mehr möglich war. Ein im Jahr 1997 unternommener Selbsttötungsversuch<br />

scheiterte am Einschreiten ihres Ehemannes. In monatelangen Diskussionen<br />

überzeugte Frau Dr. T ihren Ehemann, daß er sie „gehen lassen―<br />

müsse. Sie wandte sich an die Vereinigung „E ― mit dem<br />

Wunsch nach einer „Sterbebegleitung― und übersandte dem Angeklagten ein<br />

ärztliches Gutachten, in dem der Verlauf ihrer Krankheit beschrieben und<br />

deren Unheilbarkeit bestätigt war. Bei einem Besuch verschaffte sich der Angeklagte<br />

im persönlichen Gespräch mit der Verstorbenen und ihrem Ehemann<br />

die Überzeugung, daß diese im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte war<br />

und ihr Todeswunsch ernsthaft und nicht Folge eines auch nur entfernt erkennbaren<br />

äußeren Drängens war. Nach alledem faßte der Angeklagte den<br />

Entschluß, die gewünschte „Sterbebegleitung― zu gewähren, nämlich in der<br />

Schweiz 10 g Natrium-Pentobarbital zu beschaffen, diese in die Bundesrepublik<br />

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Deutschland einzuführen und hier der Verstorbenen zur entsprechenden<br />

Verfügung zu stellen. Dabei ging er davon aus, daß aufgrund der hohen<br />

Dosis und der schnellen Anflutung des Mittels schon ab dem Eintritt einer<br />

Bewußtlosigkeit für die Verstorbene keine Rettungsmöglichkeit mehr bestehen<br />

werde. Er nahm an, daß sein Verhalten nach deutschem Recht nicht<br />

strafbar sei. Dabei ging er von der Straflosigkeit der Teilnahme an einer<br />

Selbsttötung aus. Er wußte nicht, daß Pentobarbital dem deutschen Betäubungsmittelrecht<br />

unterliegt. Entsprechende Erkundigungen unternahm er<br />

- 7 -<br />

nicht. In die Schweiz zurückgekehrt, übergab der Angeklagte einem „Vertrauensarzt―<br />

der „E ― das von der Verstorbenen überlassene<br />

Gutachten zur Prüfung, ob eine im Sinn der Statuten der Vereinigung hoffnungslose<br />

Krankheit vorliege. Darauf stellte dieser das erforderliche Rezept<br />

aus, mit dem der Angeklagte in einer Schweizer Apotheke 10 g Natrium-<br />

Pentobarbital in Pulverform erwarb. Am 20. April 1998 reiste der Angeklagte<br />

mit dem genannten Betäubungsmittel aus der Schweiz in die Bundesrepublik<br />

Deutschland ein. Im Haus der Familie T versicherte der Angeklagte<br />

sich im Beisein ihres Ehemannes davon, daß Frau Dr. T in vollem<br />

Besitz ihrer geistigen Kräfte war und ihr Todeswunsch nach wie vor bestand.<br />

Sie füllte eine formularmäßig vorbereitete „Freitoderklärung― aus. In Abwesenheit<br />

des Ehemannes löste der Angeklagte die 10 g Natrium-Pentobarbital<br />

in einem Glas Wasser auf und reichte dies der Frau Dr. T zur sofort<br />

erfolgten Einnahme. Infolge der schnell eintretenden Wirkung des Mittels<br />

wurde Frau Dr. T nach drei Minuten bewußtlos. Bereits zu diesem<br />

Zeitpunkt wären alsdann eingeleitete Rettungsversuche, namentlich ein Auspumpen<br />

des Magens, erfolglos verlaufen, da wegen der schnellen Anflutung<br />

bereits ein tödliche Konzentration des Mittels im Blut der Verstorbenen erreicht<br />

war, wovon auch der Angeklagte ausging. Der Tod trat binnen der<br />

nächsten halben Stunde ein.<br />

I.<br />

Die sachlichrechtliche Überprüfung des angefochtenen Urteils deckt<br />

betreffend den Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten<br />

auf.<br />

1. Der Angeklagte hat Betäubungsmittel (gemäß Anlage III zu § 1<br />

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Abs.1 BtMG) nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG eingeführt und nach<br />

Nr. 6 lit. b aaO zum unmittelbaren Verbrauch überlassen. Ein Fall der ärztlichen<br />

Verabreichung oder Überlassung nach § 13 Abs. 1 Satz 1 BtMG liegt<br />

nicht vor.<br />

- 8 -<br />

2. Demgegenüber ergibt sich – entgegen der Ansicht der Revision des<br />

Angeklagten – weder aus dem Prinzip der Menschenwürde (Art. 1<br />

Abs. 1 GG) noch aus dem Gesichtspunkt der Straflosigkeit der Hilfe zur<br />

Selbsttötung oder aus der jüngsten Rechtsentwicklung des Problemkreises<br />

„Sterbehilfe und Sterbebegleitung― eine Einschränkung des Anwendungsbereichs<br />

des Betäubungsmittelgesetzes; auch eine Rechtfertigung oder Entschuldigung<br />

allgemeiner Art kann so hier nicht begründet werden.<br />

a) Allerdings ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs<br />

und der einhelligen Lehre die – theoretisch gegebene – Teilnahme<br />

an der Selbsttötung eines vollverantwortlich Handelnden mangels einer<br />

Haupttat straflos (Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. vor § 211 Rdn. 10 m.N. der<br />

Rspr. und des Schrifttums). Ein solcher Fall liegt hier vor. Frau Dr. T<br />

nahm sich, wie die vom Landgericht umfassend festgestellten Einzelheiten<br />

ergeben, in voller Selbstverantwortlichkeit das Leben. Der Angeklagte half ihr<br />

hierbei. Die Straflosigkeit seines Verhaltens unter dem vorstehend genannten<br />

Aspekt beschränkt sich jedoch auf eben diesen und erstreckt sich nicht<br />

etwa auf das vom Angeklagten begangene Betäubungsmitteldelikt, mit dem<br />

andere Rechtsgüter gefährdet wurden. Der Verordnungsgeber hat mit der<br />

Entscheidung, Pentobarbital in die Liste der Betäubungsmittel gemäß § 1<br />

Abs. 1 BtMG aufzunehmen, dem Gesichtspunkt Rechnung getragen, daß ein<br />

Umgang mit diesem Betäubungsmittel für die Volksgesundheit grundsätzlich<br />

gefährlich ist.<br />

b) Zudem ist in der rechtswissenschaftlichen und rechtspolitischen<br />

Diskussion des Problemkreises „Sterbehilfe und Sterbebegleitung― in jüngster<br />

Zeit eine Entwicklung in zweierlei Richtungen zu verzeichnen. Zum einen<br />

wird dem Gesichtspunkt der Patientenautonomie ständig zunehmende Bedeutung<br />

beigemessen (vgl. Taupitz, Gutachten für den 63. Deutschen Juristentag<br />

2000; Otto, Gutachten für den 56. Deutschen Juristentag 1986; jeweils<br />

m.N., und die Sitzungsberichte der jeweiligen Tagungen des Deutschen<br />

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- 9 -<br />

Juristentages). Zum anderen ist die sog. „indirekte Sterbehilfe― nach der<br />

Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 42, 301, 305; vgl. auch<br />

BGHSt 37, 376; 40, 257) und einem nahezu einhelligen Grundkonsens im<br />

Schrifttum zulässig (Kutzer NStZ 1994, 110, 114 f. m.N.). Dabei wird unter<br />

indirekter Sterbehilfe verstanden, daß die ärztlich gebotene schmerzlindernde<br />

Medikation beim tödlich Kranken nicht dadurch unzulässig wird, daß sie<br />

als unbeabsichtigte, aber unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen<br />

kann. Soweit eine solche Medikation den Tatbestand eines Tötungsdeliktes<br />

durch bedingt vorsätzliche Verursachung eines früheren Todes<br />

verwirklicht, ist das Handeln des Arztes nach § 34 StGB gerechtfertigt, sofern<br />

es nicht – ausnahmsweise – dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des<br />

Patienten widerspricht (Kutzer aaO; vgl. auch die demnächst veröffentlichte<br />

Podiumsdiskussion „Sterbehilfe – Sterbebegleitung― anläßlich der 50. Wiederkehr<br />

der Errichtung des Bundesgerichtshofs am 4. Mai 2000).<br />

c) Weder aus diesen Rechtsgesichtspunkten noch aus sonstigen allgemeinen<br />

Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründen kann die Straflosigkeit<br />

des Umgangs des Angeklagten mit dem Betäubungsmittel hergeleitet<br />

werden. Der Angeklagte handelte weder als Arzt noch als Angehöriger der<br />

Verstorbenen oder als sonst persönlich Betroffener, auf dessen Gewissensentscheidung<br />

es ankommen könnte. Er agierte vielmehr als persönlich Unbeteiligter<br />

im Rahmen einer moralpolitisch getragenen Bewegung, deren<br />

Ziele anerkennenswert sein mögen. Sein Handeln war nicht primär vom<br />

Zweck der Schmerzlinderung (unter Inkaufnahme eines früheren Todeseintritts)<br />

getragen. Vielmehr zielte seine Aktivität direkt auf den Tod.<br />

Zur Beantwortung der Frage, ob solches Verhalten unter den Gesichtspunkten<br />

des § 34 StGB gerechtfertigt oder unter den Aspekten des<br />

§ 35 StGB entschuldigt sein kann, ist von den Grundentscheidungen der<br />

Rechtsordnung auszugehen. Das Leben eines Menschen steht in der Werteordnung<br />

des Grundgesetzes – ohne eine zulässige Relativierung – an oberster<br />

Stelle der zu schützenden Rechtsgüter. Die Rechtsordnung wertet eine<br />

- 10 -<br />

Selbsttötung deshalb – von äußersten Ausnahmefällen abgesehen – als<br />

rechtswidrig (BGHSt 6, 147, 153), stellt die Selbsttötung und die Teilnahme<br />

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hieran lediglich straflos.<br />

Dieser grundsätzliche Vorrang des Lebensschutzes ist zu beachten,<br />

wenn wie hier in eine Abwägung ein auch in Art. 1 Abs. 1 GG angelegtes<br />

Recht des Einzelnen auf ein Sterben unter „menschenwürdigen― Bedingungen<br />

einzustellen ist. Dabei muß auch die Grundentscheidung berücksichtigt<br />

werden, die aus der Vorschrift des § 216 StGB spricht, wonach die Tötung<br />

auf Verlangen des Getöteten lediglich eine Strafmilderung gegenüber dem<br />

Totschlag auslöst. Dies zeigt an, daß die Rechtsordnung die Mitwirkung eines<br />

anderen am Freitod eines Menschen grundsätzlich mißbilligt.<br />

Es kann dahingestellt bleiben, ob Besonderheiten namentlich etwa für<br />

das Handeln naher Angehöriger eines Sterbewilligen gelten können. Für Außenstehende<br />

wie hier den Angeklagten, der im Rahmen einer Organisation<br />

ohne persönliches Näheverhältnis handelte, kann eine Abwägung der genannten<br />

Art grundsätzlich nicht zur Straflosigkeit des Umgangs mit Betäubungsmitteln<br />

führen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem moralpolitischen<br />

Engagement des Angeklagten.<br />

3. Das Landgericht hat angenommen, daß dem Angeklagten die Verbotenheit<br />

seines Tuns unter dem Gesichtspunkt des deutschen Betäubungsmittelrechts<br />

nicht bekannt war, daß der Angeklagte diesen Verbotsirrtum<br />

jedoch hätte vermeiden können; es hat demzufolge die Vorschrift des<br />

§ 17 Satz 1 StGB für nicht anwendbar erachtet. Auch dies birgt keinen<br />

Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten.<br />

a) Das Pentobarbital ist seit dem Jahr 1981 in der Bundesrepublik<br />

Deutschland als Betäubungsmittel in Anlage III zu § 1 Abs. 1 BtMG erfaßt.<br />

Die Einzelheiten unterlagen mehreren Änderungen: Mit dem Gesetz zur<br />

Neuordnung des Betäubungsmittelrechts vom 28. Juli 1981 (BGBl I 681, 700)<br />

- 11 -<br />

wurde das Pentobarbital in die Anlage III B aufgenommen. Ausgenommen<br />

blieben Zubereitungen, die ohne ein anderes Betäubungsmittel (außer<br />

Codein) „je abgeteilte Form bis 110 mg Pentobarbital enthalten―; damit waren<br />

namentlich Tabletten mit geringer Dosierung gemeint; von dieser Ausnahme<br />

waren jedoch die betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften über die Einfuhr<br />

(und andere Handlungsformen) wiederum ausgenommen. Durch die Vierte<br />

Betäubungsmittelrechts-Änderungsverordnung vom 23. Dezember 1992<br />

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(BGBl I 2483, 2485) erhielt die Position Pentobarbital in der Anlage III B folgende<br />

Fassung: „ausgenommen in Zubereitungen, die ohne― ein weiteres<br />

Betäubungsmittel „je abgeteilte Form bis zu 100 mg Pentobarbital, berechnet<br />

als Säure, enthalten―; die Ausnahme von der Ausnahme betreffend die Einfuhr<br />

entfiel also. Aufgrund der Zehnten BetäubungsmittelrechtsÄnderungsverordnung<br />

vom 20. Januar 1998 (BGBl I 74, 79), in Kraft seit dem<br />

1. Februar 1998, ist das Pentobarbital ohne jede Einschränkung in der nunmehr<br />

nicht mehr untergliederten Anlage III enthalten. Damit ist insbesondere<br />

die Ausnahme für Zubereitungen mit bis zu 100 mg Pentobarbital je abgeteilter<br />

Form entfallen.<br />

b) Auch in der Schweiz unterfällt das Pentobarbital dem Betäubungsmittelrecht.<br />

Das Mittel ist im „Verzeichnis aller Betäubungsmittel― (Anhang a<br />

zu Art. 1 Abs. 1 bis 3 Betäubungsmittelgesetz), allerdings auch im „Verzeichnis<br />

der von der Kontrolle teilweise ausgenommenen Betäubungsmittel― (Anhang<br />

b aaO) enthalten (Verordnung des Bundesamtes für Gesundheit über<br />

die Betäubungsmittel und psychotropen Stoffe vom 12. Dezember 1996).<br />

c) Die Einfuhr und die Überlassung zum unmittelbaren Verbrauch von<br />

Pentobarbital in der hier vorliegenden Dosis von 10 g sind mithin seit dem<br />

Jahr 1981 in der Bundesrepublik Deutschland strafbar. Die oben genannten<br />

differenzierten Regelungen betreffend abgeteilte Formen mit geringer Dosierung<br />

des Mittels kannte der Angeklagte nicht. Jedes Argument seiner Revision<br />

aus dieser Rechtsentwicklung muß daher im Rahmen der Prüfung der<br />

Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums versagen. Das verwendete Mittel unter-<br />

12 -<br />

fällt auch dem Betäubungsmittelrecht der Schweiz. Es kommt folgendes hinzu:<br />

Wie der Angeklagte wußte, kam es aufgrund der etwas „liberaleren― Regelung<br />

des Umgangs mit Pentobarbital in der Schweiz, scil. wegen „strengerer―<br />

Rechtslage außerhalb der Schweiz, zu einem „Sterbetourismus― von<br />

Ausländern in die Schweiz. In Deutschland wurde der Angeklagte in etwa<br />

50 Fällen in gleicher Weise „geradezu routiniert― tätig (UA S. 9 f., 22). Er ging<br />

dabei mit einem in der jeweiligen Dosierung tödlichen Stoff um. Nach alledem<br />

hat das Landgericht rechtsfehlerfrei eine Rechtserkundigungspflicht des<br />

Angeklagten angenommen und den Verbotsirrtum des Angeklagten als vermeidbar<br />

erachtet.<br />

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II.<br />

Das angefochtene Urteil ist nicht mit einem sachlichrechtlichen Fehler<br />

zugunsten des Angeklagten behaftet.<br />

1. Insbesondere bleibt die einzige ausdrückliche Beanstandung der<br />

Staatsanwaltschaft, der Angeklagte sei zu Unrecht nicht auch wegen Überlassung<br />

von Betäubungsmitteln mit leichtfertiger Todesverursachung nach<br />

§ 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG verurteilt worden, ohne Erfolg. Das Landgericht hat<br />

aus dem „Prinzip der Eigenverantwortlichkeit― eine „teleologische Reduktion<br />

des Tatbestandes― hergeleitet und deshalb die genannte Vorschrift für nicht<br />

anwendbar erachtet. Diese Beurteilung ist zutreffend.<br />

a) Allerdings hat der Angeklagte der Frau Dr. T das Betäubungsmittel<br />

zum unmittelbaren Verbrauch überlassen und dadurch eine Ursache<br />

für deren Tod gesetzt. Der Kausalzusammenhang wurde nicht dadurch<br />

unterbrochen, daß die Empfängerin des Betäubungsmittels sich dieses<br />

Mittel selbst verabreichte (BGH NStZ 1983, 72; BGH, Urteil vom 3. Juni 1980<br />

– 1 StR 20/80 –, bei Holtz MDR 1980, 985). Ihr Tod war auch vom Vorsatz<br />

des Angeklagten umfaßt. Jedenfalls in anderen Regelungszusammenhängen<br />

findet der Gedanke Verwendung, daß Vorsatz die Fahrlässigkeit und die<br />

- 13 -<br />

Leichtfertigkeit als mindere Verschuldensformen einschließt (vgl. BGHSt 39,<br />

100; Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 18 Rdn. 5).<br />

b) Indes gelten für den hier vorliegenden Fall des Freitodes des Betäubungsmittelempfängers<br />

besondere Regeln.<br />

aa) Es greift der Grundsatz der Selbstverantwortung des sich selbst<br />

eigenverantwortlich gefährdenden Tatopfers ein. Danach ist von folgendem<br />

auszugehen:<br />

(1) Die eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung<br />

unterfällt grundsätzlich nicht den Tatbeständen eines Körperverletzungs-<br />

oder Tötungsdelikts, wenn das mit der Gefährdung vom Opfer bewußt<br />

eingegangene Risiko sich realisiert. Wer lediglich eine solche Gefährdung<br />

veranlaßt, ermöglicht oder fördert, macht sich danach nicht wegen eines<br />

Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts strafbar (st. Rspr. des Bundesgerichtshofs<br />

seit BGHSt 32, 262; siehe auch BGHSt 37, 179; 39, 322, 324;<br />

BGH NStZ 1985, 319 – insowiet in BGHSt 33, 66 nicht abgedruckt – m. Anm.<br />

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Roxin; BGH NStZ; 1987, 406; 1992, 489; BGH NJW 2000, 2286). Dabei hat<br />

der Bundesgerichtshof darauf abgestellt, daß derjenige, der sich an einem<br />

Akt der eigenverantwortlich gewollten und bewirkten Selbstgefährdung beteiligt,<br />

an einem Geschehen teilnimmt, welches – soweit es um die Strafbarkeit<br />

wegen Tötung oder Körperverletzung geht – kein tatbestandsmäßiger und<br />

damit kein strafbarer Vorgang ist (BGHSt 32, 262, 265). Das Gesetz bedroht<br />

nur die Tötung oder Verletzung eines anderen mit Strafe. Die Strafbarkeit<br />

des sich Beteiligenden wegen Körperverletzung oder Tötung beginnt erst<br />

dort, wo dieser kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfaßt als<br />

der sich selbst Gefährdende.<br />

(2) Allerdings kann dieser Grundsatz nicht ohne weiteres auf das Betäubungsmittelrecht<br />

übertragen werden (BGHSt 37, 179). Das durch die betäubungsmittelrechtlichen<br />

Strafvorschriften geschützte Rechtsgut ist nicht nur<br />

- 14 -<br />

die Gesundheit des Einzelnen, sondern auch die Volksgesundheit. Dieses<br />

universale Rechtsgut steht dem Einzelnen nicht zur Disposition (Franke/<br />

Wienroeder, BtMG 2. Aufl. § 30 Rdn. 35; Weber, BtMG § 30 Rdn. 125 f.).<br />

bb) Das Merkmal der Leichtfertigkeit im Sinne des § 30 Abs. 1<br />

Nr. 3 BtMG wird durch den Bundesgerichtshof dahin interpretiert, daß leichtfertig<br />

handelt, wer die Möglichkeit eines tödlichen Verlaufs des Geschehens<br />

„aus besonderem Leichtsinn oder aus besonderer Gleichgültigkeit― außer<br />

acht läßt (BGHSt 33, 66, 67). Solches ist bei der hiesigen besonderen Fallgestaltung,<br />

in der die Empfängerin des Betäubungsmittels in jeder Hinsicht<br />

selbstverantwortlich handelte, nicht gegeben (vgl. BGH NJW 2000, 2286).<br />

Insoweit erfaßt der Vorwurf der Leichtfertigkeit – ausnahmsweise – nicht „erst<br />

recht― auch vorsätzliches Handeln.<br />

cc) Auch die Entstehungsgeschichte der vorgenannten Vorschrift<br />

spricht für eine restriktive Interpretation der Art, daß das Überlassen eines<br />

Betäubungsmittels zum Zweck des in jeder Hinsicht freien Suizids des Empfängers<br />

den Qualifikationstatbestand nicht erfüllt. Hintergrund und auslösender<br />

Umstand für die Schaffung der Verbrechensvorschrift war „die rasch ansteigende<br />

Zahl von Todesfällen als Folge von Rauschgiftmißbrauch―<br />

(BT-Drucks. 8/3551 S. 37). Damit waren die Todesfälle von Betäubungsmittelabhängigen<br />

und gelegentlichen Betäubungsmittelkonsumenten gemeint.<br />

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Als besonders strafwürdig wurde die Tatsache gewertet, daß die Todesverursachung<br />

auf ein Handeln zurückgeht, das in Kenntnis der großen Gefährlichkeit<br />

des Tuns „unter Hintanstellung aller Bedenken― erfolgt (Endriß/Malek,<br />

Betäubungsmittelstrafrecht 2. Aufl. Rdn. 464; Hügel/Junge, Deutsches Betäubungsmittelrecht<br />

7. Aufl. § 30 Rdn. 4.1). An einen demgegenüber ganz<br />

und gar untypischen Fall wie den vorliegenden hat der Gesetzgeber ebenso<br />

wenig gedacht, wie dies danach die Kommentatoren getan haben.<br />

dd) Zudem spiegelt der Strafrahmen des § 30 Abs. 1 BtMG von zwei<br />

bis 15 Jahren Freiheitsstrafe – selbst eingedenk des Ausnahmestrafrahmens<br />

- 15 -<br />

von drei Monaten bis fünf Jahren Freiheitsstrafe für minder schwere Fälle<br />

(§ 30 Abs. 2 BtMG) – eine vom Gesetzgeber ins Auge gefaßte Unrechtsdimension,<br />

hinter der Fälle der vorliegenden Art von vornherein weit zurückbleiben.<br />

Auch dies indiziert eine restriktive Auslegung der Vorschrift im vorstehenden<br />

Sinn.<br />

2. Schließlich birgt das Urteil auch sonst keinen sachlichrechtlichen<br />

Fehler zugunsten des Angeklagten.<br />

Insbesondere folgt im Ergebnis keine strafrechtliche Haftung des Angeklagten<br />

aus Tötungsdelikten – begangen durch Unterlassen – daraus, daß<br />

er als Lieferant des tödlichen Betäubungsmittels unter dem Gesichtspunkt<br />

seines vorausgegangenen rechtswidrigen gefährdenden Tuns grundsätzlich<br />

Lebensgarant sein konnte (vgl. Jähnke in LK 11. Aufl. § 222 Rdn. 11 sub<br />

Betäubungsmittel und Rdn. 21 sub Selbstgefährdung m.N.; Hügel/Junge,<br />

aaO § 30 Rdn. 4.4). Eine Verantwortlichkeit des Angeklagten unter diesem<br />

Gesichtspunkt würde jedenfalls voraussetzen, daß in dem Zeitpunkt, als<br />

Frau Dr. T durch den Eintritt ihrer Bewußtlosigkeit die Kontrolle über<br />

das Geschehen verlor, noch eine Möglichkeit zur Rettung ihres Lebens bestand<br />

(vgl. BGH NStZ 1984, 452 m. Anm. Fünfsinn StV 1985, 57; BGH<br />

NStZ 1985, 319, 320; BGH NStZ 1987, 406). Hierzu hat das Landgericht<br />

festgestellt, daß in dem Zeitpunkt, als Frau Dr. T bewußtlos wurde,<br />

etwaige Rettungsversuche – wegen der bereits eingetretenen gravierenden<br />

Wirkung des Mittels – gescheitert wären. Davon ging nach den Feststellungen<br />

auch der Angeklagte aus, so daß selbst ein versuchtes (Unterlassungs-)<br />

Tötungsdelikt ausscheidet. Schließlich kommt danach auch eine unterlassene<br />

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Hilfeleistung nach § 323c StGB nicht in Betracht (vgl. BGH NStZ 1983,<br />

117, 118).<br />

- 16 -<br />

III.<br />

Der Strafausspruch hat keinen Bestand. Es ist allein eine Verwarnung<br />

mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB auszusprechen.<br />

Allerdings hat die genannte Vorschrift Ausnahmecharakter (Gribbohm<br />

in LK 11. Aufl. § 59 Rdn. 1; Lackner/Kühl, StGB 23. Aufl. § 59 Rdn. 1; Stree<br />

in Schönke/Schröder, StGB 25. Aufl. § 59 Rdn. 1). Zudem ist durch die Verwendung<br />

des Wortes „kann― auf der Rechtsfolgenseite der Ermessenscharakter<br />

der Regelung in besonderer Weise hervorgehoben (vgl. Gribbohm<br />

aaO Rdn. 17 f.). Indes kann sich aufgrund der Besonderheiten des<br />

Einzelfalles das Ermessen des Tatgerichts derart verengen, daß allein eine<br />

Verwarnung mit Strafvorbehalt in Betracht kommen kann. In einem solchen<br />

Fall kann auch das Revisionsgericht auf die besondere Sanktion nach § 59<br />

StGB erkennen (OLG Celle StV 1988, 109; Horn in SK – StGB 27. Lfg. § 59<br />

Rdn. 14; ähnlich Lackner/Kühl aaO Rdn. 10; Stree aaO Rdn. 16; a.A. Gribbohm<br />

aaO Rdn. 18; zweifelnd Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 59 Rdn. 2).<br />

So liegt es hier. Der Angeklagte ging mit dem Betäubungsmittel in altruistischer<br />

Weise unter relativ geringer Gefährdung Unbeteiligter in der Absicht<br />

um, der in schwerster Weise unheilbar kranken Empfängerin zu einem in jeder<br />

Hinsicht freien Suizid zu verhelfen, was seinem humanen Engagement<br />

entsprang.<br />

Der Senat verwarnt deshalb wegen der hier abzuurteilenden Tat den<br />

Angeklagten und behält die Verurteilung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen<br />

zu je 120,- DM (nämlich der vom Landgericht verhängten Einzelgeldstrafe)<br />

vor. Ferner erkennt der Senat unter Einbeziehung der im hiesigen<br />

Urteilstenor genannten Sanktionen auf eine Verwarnung als Gesamtsanktion,<br />

wobei die Verurteilung zu einer Gesamtgeldstrafe von 70 Tagessätzen zu je<br />

120,- DM (also in gleicher Höhe wie vom Tatrichter unbedingt verhängt) vorbehalten<br />

bleibt.<br />

- 17 -<br />

Im Gesetz (namentlich in § 59c StGB) ist die Frage nicht eindeutig geregelt,<br />

ob eine bei einer Verwarnung vorbehaltene Geldstrafe mit einer zuvor<br />

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unbedingt verhängten Geldstrafe im Wege der Verwarnung als Gesamtsanktion<br />

zusammengeführt werden kann (so Horn aaO § 59c Rdn. 4) oder ob solches<br />

etwa ausgeschlossen ist (so Gribbohm aaO § 59c Rdn. 5; Tröndle/<br />

Fischer aaO § 59c Rdn. 1). Der Senat behandelt die Frage wegen der<br />

Parallelität zur entsprechenden Regelung bei der Freiheitsstrafe in § 58<br />

Abs. 1 StGB trotz des besonderen Charakters der Verwarnung mit Strafvorbehalt<br />

im erstgenannten Sinn.<br />

Die nach § 268a StPO zu treffende Entscheidung über die Dauer der<br />

Bewährungszeit bleibt dem Landgericht vorbehalten.<br />

Harms Häger Basdorf<br />

Raum Brause<br />

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