Das ist doch deine Geschichte - ZENIT Verlag
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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />
Sigbert E. Kluwe<br />
<strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong><br />
<strong>Geschichte</strong><br />
Psychotherapien mit Kindern<br />
und Jugendlichen<br />
mit einem Vorwort von<br />
Horst Petri<br />
Verwendung ausschließlich zu privaten Zwecken gestattet<br />
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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />
Dies <strong>ist</strong> ein Text aus der Online-<br />
Bibliothek des <strong>ZENIT</strong> <strong>Verlag</strong>s<br />
Die Verwendung der Daten bzw. Texte aus der Online-<br />
Bibliothek des <strong>ZENIT</strong> <strong>Verlag</strong>s <strong>ist</strong> ausschließlich zum<br />
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Vereine oder caritative Organisationen handelt; es gilt<br />
auch dann, wenn die Weitergabe unentgeltlich erfolgt.<br />
Der Autor<br />
www.zenit-verlag.de<br />
Sigbert E. Kluwe: geboren 1941 in der Mark Brandenburg.<br />
Schulbesuch in Westfalen. Ausbildung zum TV-Kameramann.<br />
Arbeit beim ZDF. Studium und Promotion in München. Hörfunk-<br />
und Buchautor. Lebt mit seiner Familie in München.<br />
Schreibt vorwiegend für Kinder und Jugendliche. Veröffentlichungen<br />
in diesem Bereich: Reise nach Jerusalem (1987),<br />
Glücksvogel (1990; „Preis der Leseratten“), Der Narr-König<br />
(1992; „Buch des Monats“), Milan und Rea (1995), Die<br />
Baumhaus-Detektive (1999), Der Berg. Ein Bilderbuch<br />
(2000).<br />
© <strong>ZENIT</strong> <strong>Verlag</strong>, München – Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />
Inhalt<br />
Vorbemerkung und Danksagung ......................... 6<br />
Vorwort von Horst Petri.......................................... 8<br />
I. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong>................... 11<br />
Alexandra, 10 Jahre: Adoption<br />
II. Der Fuchs frisst Gemüse ............................. 21<br />
Michael, 4 1/2 Jahre: Geschw<strong>ist</strong>er<br />
III. Beim Baum <strong>ist</strong> das wie bei den<br />
Menschen – die Wurzeln sind die Füße,<br />
damit steht der Baum auf der Erde ............ 42<br />
Andreas, 5 Jahre: Heldentum<br />
IV. Immer lieb sein macht ärgerlich ................. 58<br />
Milena, 6 Jahre: Haut und Atem<br />
V. Ich habe die weiße Tür gesehen,<br />
und alles wurde schwarz ............................. 75<br />
Klaus, 13 Jahre: Trennung<br />
VI. Ich mag meinen Freund, und der<br />
<strong>ist</strong> ein Stück von mir .................................... 94<br />
Nora, 16 Jahre: Abtreibung<br />
VII. Ich bin eigentlich drei Personen .............. 114<br />
Daniel, 15 Jahre: Identität<br />
VIII. Mich selber hat es gar nicht gegeben.<br />
Nur die anderen .......................................... 127<br />
Tanja, 7 / 17 Jahre: Tod<br />
IX. Ja, ich habe Grund zur Traurigkeit ........... 142<br />
Lukas, 9 1/2 / 17 Jahre: Vatersuche<br />
Verwendung ausschließlich zu privaten Zwecken gestattet<br />
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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />
Vorbemerkung und Danksagung<br />
Warum machen Kinder und Jugendliche eine analytische<br />
Psychotherapie?<br />
Welche Schwierigkeiten oder Probleme haben diese Kinder<br />
und Jugendlichen?<br />
Was geschieht in solchen Therapien?<br />
Um Antworten auf diese und ähnliche Fragen zu erhalten,<br />
bin ich in psychotherapeutische Praxen für Kinder und Jugendliche<br />
gegangen und habe mir von einzelnen Therapien<br />
erzählen lassen, die für dieses Projekt von Interesse schienen.<br />
Alle Therapien wurden von Krankenkassen finanziert.<br />
Meine Arbeit als Autor habe ich darin gesehen, die aufgezeichneten<br />
Gespräche sinnvoll zusammenzufassen und ihnen<br />
eine geeignete Form und einheitliche Sprache zu geben.<br />
Die einzelnen Berichte wurden anonymisiert und die<br />
Namen geändert.<br />
Mein besonderes Interesse galt den Therapiegeschichten<br />
der Kinder und Jugendlichen, ihren in den Psychotherapien<br />
erarbeiteten Lebensgeschichten.<br />
Um einen möglichst authentischen Eindruck zu vermitteln,<br />
habe ich die Ich-Form der berichtenden Psychotherapeutinnen<br />
und des Psychotherapeuten beibehalten.<br />
Meine Absicht war es nicht, ein Fachbuch zu schreiben,<br />
sondern mit der Art der Darstellung ein breiteres Publikum<br />
ansprechen zu können. Fachbegriffe wurden nur verwendet,<br />
soweit sie für das Verständnis der therapeutischen Arbeit<br />
wichtig waren. Zum Beispiel der Begriff der Gegenübertragung<br />
im ersten Kapitel.<br />
Für das Zustandekommen dieses Buches gilt an erster Stelle<br />
mein Dank den Kindern / Jugendlichen und den Eltern<br />
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für ihre Zustimmung, die Therapiebeschreibungen veröffentlichen<br />
zu dürfen.<br />
Des weiteren bin ich den Therapeutinnen und dem Therapeuten<br />
zu Dank verpflichtet, die so bereitwillig Auskunft<br />
gaben und ohne deren Mitarbeit das Buch nicht zustande<br />
gekommen wäre.<br />
Namentlich geht dieser Dank an:<br />
Anton Albrecht, Miebet de Brauw, Almut Cleff, Frigga<br />
Kuske, Maria Macek-Schmidt, Angela Münch-Loy, Chr<strong>ist</strong>ine<br />
Singer, Elisabeth O. Theisen und Sibylle Trumpp von<br />
Eicken.<br />
Ganz besonders danke ich Horst Petri für sein Vorwort.<br />
S. E. Kluwe<br />
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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />
I. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong><br />
Alexandra, 10 Jahre: Adoption<br />
Alexandra war ein Adoptivkind.<br />
Ihre leibliche Mutter, eine Ausländerin, lebte seit einigen<br />
Jahren in Deutschland. Sie hatte eine kurze Beziehung zu<br />
einem Asiaten und wurde von ihm schwanger. Als sie das<br />
Baby nach der Geburt das erste Mal sah und die asiatischen<br />
Züge feststellte, entschloss sie sich sofort, es zur Adoption<br />
freizugeben. Adoptiveltern wurden gesucht und schnell gefunden.<br />
Wenige Tage nach der Geburt kam das Kind zu den<br />
neuen Eltern.<br />
*<br />
Die Adoptiveltern hatten sich um eine Therapie für Alexandra<br />
bemüht, weil sie in der Schule – entgegen ihrer Intelligenz<br />
– schlechte Le<strong>ist</strong>ungen erbrachte.<br />
Ihr Selbstbewusstsein war schwach entwickelt, sie traute<br />
sich wenig zu. Sie hatte kaum Freundinnen. Allein unterwegs<br />
zu sein, machte ihr große Angst. Die Mutter musste<br />
sie überall hinfahren, auch in die Therapie. Wenn die Mutter<br />
nach dem Ende der Stunden nicht gleich vor dem Haus<br />
stand, geriet Alexandra in Panik und fürchtete, es sei etwas<br />
Schlimmes geschehen.<br />
Alexandra war bei Therapiebeginn zehn Jahre alt.<br />
Sie war normal groß für ihr Alter und sehr ordentlich gekleidet.<br />
Auffällig an ihr waren ihre pechschwarzen Haare<br />
und die Brille mit den dicken Gläsern. Sie wirkte unauffällig,<br />
äußerst schüchtern und ängstlich. Ihre Bewegungen<br />
waren linkisch und unsicher. Ihre Stimme war leise, und auf<br />
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Fragen antwortete sie anfangs fast nicht. Sie war je<strong>doch</strong> bemüht,<br />
freundlich und brav zu sein.<br />
Ich hatte den Impuls, ihr helfen zu müssen, damit sie ihre<br />
Schüchternheit verlöre.<br />
Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich sie kennen<br />
gelernt habe, ob ich ein erstes Gespräch mit der Familie hatte<br />
oder nur mit den Eltern und dann mit ihr. Bei anderen<br />
Therapiekindern kann ich mich me<strong>ist</strong>ens erinnern, auch nach<br />
Jahren noch. Mein Nicht-erinnern-Können <strong>ist</strong> ein deutlicher<br />
Hinweis auf Alexandras Erscheinungsbild zu Beginn der<br />
Therapie.<br />
Erinnern kann ich mich aber an den Moment, als sie sich in<br />
der ersten Stunde ganz brav an den Tisch in meinem Spielzimmer<br />
setzte, und ich ihr sagte, sie könne sich aussuchen,<br />
was sie machen wolle. Ihre Antwort kam leise: sie wolle malen.<br />
Papier und Stifte liegen für jeden leicht erreichbar im<br />
Spielzimmer im Regal, aber ich brachte ihr die Sachen, weil<br />
ich merkte, dass sie zu verschüchtert war, sich zu bedienen.<br />
Die Anspannung wäre vermutlich für sie – und für mich –<br />
zu groß geworden, hätte sie sich die Malutensilien selbst<br />
holen müssen.<br />
Sie zögerte und bedauerte dann, dass Gabi nicht da sei,<br />
ihre Banknachbarin in der Klasse. Gabi wisse nämlich<br />
immer, was sie malen wolle.<br />
Ich griff ihren Gedanken auf und sagte, ohne Gabi müsse<br />
sie nun selber überlegen, was sie machen wolle.<br />
Da saß sie nun vor ihrem leeren Blatt und musste sich<br />
irgendwie entscheiden – ein starker Moment gleich zu Beginn<br />
der Therapie.<br />
Sie entschied sich überraschend schnell und malte ein hohes<br />
Gebirge, über das ein Glücksdrache flog – der Glücks-<br />
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drache aus Michael Endes Unendliche <strong>Geschichte</strong>. Am Fuß<br />
des Gebirges war ein kleines Dorf. Soweit dieses erste Bild.<br />
In den folgenden Therapiestunden setzte sie sich immer<br />
an den Tisch, um zu malen; Papier und Stifte holte sie sich<br />
bald selbst. Ein Bild, das sie malte, erschien mir besonders<br />
wichtig: Es stellte eine südlich anmutende Szene mit einem<br />
Elefanten dar, der aus einem Teich viel Wasser trinkt und<br />
dann eine Fontäne in die Gegend spritzt.<br />
Ich fragte Alexandra, ob sie etwas zu dem Bild erzählen<br />
wolle, aber sie äußerte sich kaum. Zwischen uns breitete sich<br />
Sprachlosigkeit aus. Sie malte, und ich saß daneben und<br />
schaute zu.<br />
Da es mich beschäftigte, wie sie mich empfand, ob als aufmerksam<br />
oder kontrollierend, holte ich mir in einer Stunde<br />
– vielleicht in der 6. oder 7. Therapiestunde – ein Stück<br />
Knetmasse und begann eine Kugel zu formen.<br />
Sie schaute sehr neugierig und fragte: Was machst du da?<br />
Ich wusste noch nicht, was ich mit der runden Form vorhatte,<br />
und sie fragte: Wird das eine Schildkröte?<br />
An eine Schildkröte hatte ich bei der Kugel überhaupt<br />
nicht gedacht. Ich griff Alexandras Einfall aber auf und sagte:<br />
Ach ja! <strong>Das</strong> könnte sein.<br />
Ich formte dann eine Schildkröte aus der Kugel.<br />
Sie holte sich auch Knetmasse und machte eine viel schönere<br />
Schildkröte. Meine war unscheinbar, unauffällig, Körper,<br />
Beine und Kopf einfach braun. Der Körper ihrer Schildkröte<br />
war auch aus brauner Masse, aber sie legte ihm ein<br />
schönes Kleid – einen Panzer – an, aus verschiedenfarbigen<br />
Knetstreifen. Ein Sonntagskleid, wie sie es nannte.–<br />
Von da an waren die Schildkröten das Thema der Therapie.<br />
Alexandra formte noch eine zweite Schildkröte für sich.<br />
Nun waren es drei. Zwei Schildkröten-Mädchen bei ihr und<br />
ein Schildkröten-Mädchen bei mir. So legte sie es fest.<br />
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Mit diesen drei Schildkröten begann ein Spiel, ein konstantes<br />
Rollenspiel, das sie inszenierte und von Stunde zu<br />
Stunde weiter entwickelte.<br />
Jede Stunde wurde eröffnet mit Alexandras Worten: Wieder<br />
mit den Schildkröten spielen.<br />
Über den Therapiezeitraum von zweieinhalb Jahren spielten<br />
wir die Lebensgeschichte von drei Schildkröten. <strong>Das</strong><br />
mag für Außenstehende langweilig erscheinen, war es je<strong>doch</strong><br />
nie.<br />
Die drei Schildkröten-Mädchen wohnten nicht bei ihren<br />
Eltern. Alexandras zwei waren Königstöchter, und meines<br />
war aus dem Volk. Wir waren also keine Geschw<strong>ist</strong>er.<br />
*<br />
Alexandra entdeckte die Schuhkartons bei mir. Jedem Kind<br />
stelle ich in der ersten Stunde einen Schuhkarton bereit, in<br />
dem es seine in der Therapie fabrizierten Sachen aufheben<br />
kann. Alexandras Schuhkarton wurde zur Wohnung der<br />
Königstöchter. Meine Schildkröte sollte eine eigene Wohnung<br />
bekommen, folglich benötigten wir einen zweiten Schuhkarton.<br />
Wir hatten nun Stunden damit zu tun, diese Schildkrötenhäuser<br />
einzurichten. Türen und Fenster wurden hereingeschnitten,<br />
die Fenster mit Vorhängen versehen und Bilder<br />
für die Wände gemalt. Kleine Schachteln stellten Betten<br />
dar und Tische. Manchmal im Spiel fragte ich – als Schildkröte<br />
– ihre Schildkröten: Wisst ihr eigentlich, was mit meinen<br />
Eltern <strong>ist</strong>?<br />
Dann sagte sie: Ach, die haben keine Zeit für dich!<br />
Ich fragte: Was <strong>ist</strong> denn mit euren Eltern?<br />
Sie sagte: Die wohnen im Schloss. Die besuchen mich<br />
manchmal.<br />
Es war klar, wir Schildkröten-Mädchen – meines aus dem<br />
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Volk und ihre Prinzessinnen – waren von den Eltern verlassene<br />
Kinder. Wir hatten ein gleiches Schicksal.<br />
Natürlich habe ich im Spiel als Therapeutin manchmal gedacht:<br />
Was <strong>ist</strong> bloß mit den Schildkröten-Eltern? Warum<br />
kommen die uns nicht besuchen?<br />
Und dann habe ich als Schildkröten-Mädchen gefragt:<br />
Warum kommen <strong>deine</strong> Königseltern nicht? Und warum<br />
besuchen mich meine nicht?<br />
Sie dachte sich dann einen Besuch ihrer Schildkröten-<br />
Eltern aus. Ein Kuchen wurde gebacken, die Eltern kamen<br />
und sie schwiegen miteinander. Alexandra blieb aber dabei,<br />
dass die Eltern meiner Schildkröte nicht kämen.<br />
So haben wir weitergespielt. Ich bekam Alexandras Gefühle<br />
zu spüren, ihre Verlassenheitsgefühle als Adoptivkind.<br />
Ich war dann selbst dieses kleine, verlassene Schildkröten-<br />
Mädchen. Eine solche Gefühls-Übertragung <strong>ist</strong> ein wichtiges<br />
Werkzeug in der therapeutischen Beziehung. Wir nennen<br />
sie Gegenübertragung.<br />
In der Gegenübertragung bin ich als Therapeutin gleichsam<br />
ein lebendiger Spiegel der unbewussten Gefühle meines<br />
Gegenüber. Genauer gesagt, ein Spiegel, der Gefühle<br />
aufnimmt, sie verarbeitet und wiedergibt, in der Deutung<br />
oder im Rollenspiel oder beidem.<br />
Es war manchmal frappierend, wie traurig und verzweifelt<br />
ich in diesen Stunden wurde. In einer Stunde überfiel<br />
mich eine so tiefe Traurigkeit, dass es mir schwerfiel, nicht<br />
loszuweinen. Hin und wieder wurde ich auch wütend und<br />
sagte es im Rollenspiel. Diese Gefühle von Trauer, Verzweiflung<br />
und Wut waren an ihr nicht sichtbar. Alexandra saß<br />
nicht da und weinte. Im Gegenteil, ihre Schildkröten-Mädchen<br />
hatten offensichtlich ein herrliches Leben und viel<br />
Spaß. Sie waren damit beschäftigt, Kleider zu basteln, Essen<br />
einzukaufen, Lasagne zuzubereiten, Marmelade zu kochen,<br />
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Semmeln zu backen – alles aus Knetmasse. Sie waren weiter<br />
damit beschäftigt, ihr Haus einzurichten, ihre Häuser.<br />
Denn bald gab es schon vier Schuhkartons als eingerichtete<br />
Schildkrötenhäuser. Die Häuser wurden immer größer. Und<br />
irgendwann in einer Stunde kam die Idee auf, ein Zelt zu<br />
bauen. Mit drei Betten, also auch eins für mich. Trotzdem<br />
waren wir Drei keine Einheit. Mein Schildkröten-Mädchen<br />
blieb separat, am Rande, letztlich ausgeschlossen. Deshalb<br />
war ich immer mal wieder wütend, traurig und verzweifelt.<br />
Ich spürte dieses Ausgeschlossen-Sein so sehr. Ihr Ausgeschlossen-Sein.<br />
<strong>Das</strong> <strong>ist</strong> der Kern ihrer Lebensgeschichte: Gleich nach ihrer<br />
Geburt ausgeschlossen, weggegeben worden zu sein! Weil<br />
sie so aussah, wie sie aussah!<br />
Um diesen Kern ging es in der Therapie. Mein Schildkröten-Mädchen<br />
bekam das Ausgeschlossen-Sein zu spüren.<br />
Und dadurch, dass mein Schildkröten-Mädchen den<br />
Schmerz und die Verzweiflung über das Ausgeschlossen-<br />
Sein überlebte und ausdrückte, konnte Alexandra diese<br />
Gefühle langsam, langsam in sich aufnehmen.<br />
Museum<br />
Die Phase der auch äußerlich wahrnehmbaren Veränderung<br />
begann damit, dass die drei Schildkröten eines Tages beschlossen,<br />
ins Museum zu gehen.<br />
In dem Museum gab es Papier, Fingerfarben, Filzstifte,<br />
Buntstifte und noch vieles mehr. Wir Schildkröten besuchten<br />
das Museum, um selber zu malen, nicht um uns Bilder<br />
von Künstlern anzuschauen.<br />
Wir hockten nun auf dem Fußboden, hatten viel Platz und<br />
malten.<br />
Alexandra malte einen Bauernhof und erklärte den Schild-<br />
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kröten, wie der aussehe, wo das Wohnhaus stehe, in welchen<br />
Ställen die verschiedenen Tiere untergebracht seien<br />
usw. Alexandra erzählte selbst und nicht als Schildkröten-<br />
Mädchen. Sie erzählte von dem Bauernhof, auf dem sie und<br />
ihre Familie Urlaub gemacht hatten. Damit kam zum ersten<br />
Mal ihre Lebensrealität in die Therapie: ein konkreter Bauernhof.<br />
Ich überlegte, was ich malen sollte, und fing an, ein Menschenbaby<br />
zu zeichnen. Mit einem rosa Filzstift. Als ich das<br />
Bild ansah, war ich erschrocken und dachte, ich müsste es<br />
sofort zerreißen; ein solches Baby könnte ich Alexandra<br />
nicht zumuten: so schrecklich dünn und unsäglich armselig,<br />
so einsam und verloren.<br />
Ich zerriss das Bild nicht, sondern schrieb Versuch 1<br />
darunter. Dann malte ich ein zweites Baby, das zwar etwas<br />
ansprechender ausschaute, aber immer noch diese Einsamkeit<br />
ausstrahlte. <strong>Das</strong> war Versuch 2.<br />
Alexandra sah sich meine Baby-Bilder an und malte dann<br />
einen Mann und eine Frau. Sie sagte, die beiden seien in<br />
einem Park und gingen spazieren. Mit dieser Mitteilung<br />
schloss diese Stunde.<br />
In der nächsten Stunde waren wir wieder im Museum und<br />
malten. Ich dachte, mein einsames Baby bedürfe dringend<br />
einer Ergänzung; also malte ich ein weiteres Bild, einen<br />
Mann und eine Frau, die an einer Wiege stehen. Alexandra<br />
war mit ihrem Bild beschäftigt und schien nicht auf mich zu<br />
achten. Aber plötzlich zeigte sie auf meine beiden Baby-<br />
Bilder und das Wiegen-Bild und sagte zu mir – offenbar<br />
war ich wieder die Schildkröte:<br />
<strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong>. Erst warst du ganz allein,<br />
dann sind Eltern gekommen.<br />
Dies war ein erregender Moment für mich. Sie hatte mir<br />
einen klaren Hinweis über ihr Leben gegeben.<br />
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Ich malte weiter: wie das Baby aus der Wiege aufsteht,<br />
krabbeln und laufen lernt – immer mit den Eltern in der<br />
Nähe. Mit jedem Bild ein Schritt in der Entwicklung weiter,<br />
bis ein Mädchen wie Alexandra entstanden war.<br />
Ich nummerierte die Bilder: erstes Babybild – 1, zweites<br />
Babybild – 2, Wiegenbild – 3 ... Dabei unterbrach sie mich<br />
und sagte: <strong>Das</strong> stimmt aber nicht. <strong>Das</strong> erste Bild <strong>ist</strong> das<br />
Liebespaar.<br />
Mit dem Liebespaar meinte sie den Mann und die Frau,<br />
die im Park spazieren gehen. <strong>Das</strong> Bild, das sie in der Stunde<br />
zuvor gemalt hatte.<br />
Wir strichen die Nummern durch und nummerierten neu:<br />
das Liebespaar bekam die Nummer 1.<br />
Ihr Eingreifen beeindruckte mich sehr. Sie verbesserte die<br />
Abfolge meiner Bilder, stellte sie richtig. Denn vor jedem<br />
Baby gibt es ein Liebespaar. <strong>Das</strong> hatte sie gezeichnet und<br />
damit gezeigt, dass sie Bescheid wusste über ihre <strong>Geschichte</strong>:<br />
das Liebespaar; das verlassene Baby, die neuen Eltern an<br />
der Wiege, das Größerwerden.<br />
Mir war klar, dass sie den Zusammenhang begriffen hatte,<br />
indem sie meiner Schildkröte die <strong>Geschichte</strong> zuschrieb;<br />
meiner Schildkröte deshalb, weil es für sie auf diese Weise<br />
leichter auszudrücken war.<br />
Den Satz <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> meine eigene <strong>Geschichte</strong> sagte sie während<br />
der ganzen Therapie nie. Aber mit der bildlichen Nachstellung<br />
ihrer eigenen Lebensgeschichte war klar, dass sie<br />
begriffen hatte.<br />
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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />
Die Schildkröte als Symbol<br />
Die Schildkröte als Spielfigur war wirklich treffend gewählt<br />
und bestätigt einmal mehr, dass Kinder ihr Problem – wenn<br />
auch sprachlich nicht immer oder selten – im Spiel benennen<br />
können. Es kommt nur darauf an, es richtig zu verstehen<br />
und zu deuten.<br />
Im Bild der Schildkröte symbolisierte sich Schutz – das<br />
geschützte Innere hinter dem Panzer – und Zeit – das<br />
gemächliche Voranschreiten.<br />
Es zeigte sich, dass Alexandra Schutz und Zeit brauchte<br />
und sich beides nahm. Im Spiel mit den Schildkröten.<br />
Eine Auswirkung der Therapie war in ihrer äußeren Lebensrealität<br />
in der ersten Zeit kaum zu bemerken. <strong>Das</strong> erfuhr<br />
ich von den Eltern. Und ob die Therapie erfolgreich<br />
sein könnte, war noch nicht abzusehen.<br />
Die Schildkröte im Museum<br />
Mit dem Museum schaffte sich Alexandra einen sicheren<br />
Außenraum.<br />
Im Museum kann man etwas ausstellen, etwas von sich<br />
herzeigen. Hier kann etwas Inneres öffentlich werden, für<br />
andere sichtbar. Es bleibt nicht länger verschlossen. Alexandra<br />
begann sich zu öffnen, wagte sich vor ein Publikum:<br />
Schaut her! Hier bin ich! Und das <strong>ist</strong> meine <strong>Geschichte</strong>!<br />
Als Alexandra die Therapie begann, waren ihre schulischen<br />
Le<strong>ist</strong>ungen nicht gut. Sie konnte dem Unterricht zwar folgen,<br />
verstand, was gelehrt wurde, konnte aber nach außen<br />
nicht zeigen, dass sie es verstanden hatte. Zwischen der Aufnahme<br />
des Wissensstoffes und seiner Wiedergabe lag eine<br />
Störung.<br />
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Im Museumsspiel wurde dann deutlich, was Alexandra bewegte.<br />
Sie konnte vermitteln, was sie in der Schule erlebte, und<br />
konnte von alltäglichen Situationen aus ihrem Außenraum<br />
berichten. Wir malten Szenen, die Alexandra von der Schule<br />
oder vom Heimweg erinnerte. Immer war es meine Schildkröte,<br />
die in angstmachende Situationen geriet, zu der Alexandra<br />
sich Lösungsmöglichkeiten ausdachte, die sie mich<br />
malen ließ. Zum Beispiel wurde meine Schildkröte von Mitschülerinnen<br />
geärgert, und Alexandra riet mir, wie jene sich<br />
wehren könne.<br />
Einmal ging Alexandra mit ihrer Schulklasse ins Theater,<br />
schrieb einen Aufsatz darüber und brachte ihn mit. In dem<br />
Theaterstück ging es um ein Mädchen, das in einer Höhle<br />
eingeschlossen war und von einer Frau dort festgehalten<br />
wurde.<br />
<strong>Das</strong> Mädchen konnte sich nicht befreien.<br />
Während ich ein Bild von dem Mädchen im Gefängnis<br />
malte, schrieb Alexandra eine Zusammenfassung des Theaterstücks.<br />
Die Situation als Gefangene war eine passende<br />
Metapher für den Therapieabschnitt Museum; in dem es für<br />
Alexandra darum ging, sich zu befreien.<br />
Im Museum wurde ihre Lebensgeschichte nach außen verlagert,<br />
in Bildern sichtbar. Ihr Liebespaar-Bild signalisierte,<br />
dass sie positive Gefühle mit ihrem Ursprung verband.<br />
Ihr Satz: <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong>! steht gleichsam<br />
als Titel unter den Bildern ihrer Lebensgeschichte.<br />
Es <strong>ist</strong> ein treffendes Bild, das sich Alexandra mit dem Museum<br />
schaffte. Ein Ort, in dem es im allgemeinen ruhig zugeht;<br />
in dem man sich öffnen kann für die ausgestellten Bilder,<br />
sie auf sich wirken lassen kann, in dem man sich<br />
besinnen kann. Ein geschützter Ort.<br />
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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />
Auch die therapeutische Praxis <strong>ist</strong> ein geschützter Ort, in<br />
dem Zeit <strong>ist</strong>, nachzudenken und sich zu öffnen. Mit Hilfe<br />
der therapeutischen Begleitung.<br />
Als Alexandra in der Therapie das Museum für sich entdeckte<br />
und nutzte, veränderte sich auch ihre äußere Realität,<br />
wie ich von den Eltern erfuhr. Sie ging nun gern in die<br />
Schule und schrieb bessere Noten. Sie bekam eine neue Lehrerin<br />
und mochte sie. Sie konnte besser äußern und deutlich<br />
machen, was sie verstanden und noch nicht verstanden<br />
hatte. Lernen beruht auch auf dieser Fähigkeit.<br />
Alexandra wurde mutiger und traute sich mehr. Es fiel ihr<br />
leichter, Kontakte zu knüpfen. Sie fand nun eine Freundin.<br />
*<br />
Am Ende der Therapie war sie als eigene Person wahrnehmbarer.<br />
Sie war ein hübsches, frisches und fröhliches<br />
Mädchen. Und sie zeigte mir stolz ihre neue Brille, eine, die<br />
sie sich selbst ausgesucht hatte.<br />
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