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Das ist doch deine Geschichte - ZENIT Verlag

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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />

Sigbert E. Kluwe<br />

<strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong><br />

<strong>Geschichte</strong><br />

Psychotherapien mit Kindern<br />

und Jugendlichen<br />

mit einem Vorwort von<br />

Horst Petri<br />

Verwendung ausschließlich zu privaten Zwecken gestattet<br />

1


2<br />

Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />

Dies <strong>ist</strong> ein Text aus der Online-<br />

Bibliothek des <strong>ZENIT</strong> <strong>Verlag</strong>s<br />

Die Verwendung der Daten bzw. Texte aus der Online-<br />

Bibliothek des <strong>ZENIT</strong> <strong>Verlag</strong>s <strong>ist</strong> ausschließlich zum<br />

privaten Gebrauch gestattet. Die Daten bzw. Texte dürfen<br />

nur unverändert weitergegeben bzw. verwendet werden;<br />

die Hinweise auf ihre Herkunft und auf das Copyright<br />

dürfen nicht entfernt werden. Sie dürfen in keiner<br />

Form, auch nicht in Teilen, öffentlich dargeboten oder<br />

verbreitet werden.<br />

Alle Rechte bleiben beim <strong>Verlag</strong> bzw. beim Urheber.<br />

Eine Verwendung durch Firmen, Vereine oder Organisationen<br />

<strong>ist</strong> unter keinen Umständen gestattet!<br />

Dies gilt auch dann, wenn es sich um gemeinnützige<br />

Vereine oder caritative Organisationen handelt; es gilt<br />

auch dann, wenn die Weitergabe unentgeltlich erfolgt.<br />

Der Autor<br />

www.zenit-verlag.de<br />

Sigbert E. Kluwe: geboren 1941 in der Mark Brandenburg.<br />

Schulbesuch in Westfalen. Ausbildung zum TV-Kameramann.<br />

Arbeit beim ZDF. Studium und Promotion in München. Hörfunk-<br />

und Buchautor. Lebt mit seiner Familie in München.<br />

Schreibt vorwiegend für Kinder und Jugendliche. Veröffentlichungen<br />

in diesem Bereich: Reise nach Jerusalem (1987),<br />

Glücksvogel (1990; „Preis der Leseratten“), Der Narr-König<br />

(1992; „Buch des Monats“), Milan und Rea (1995), Die<br />

Baumhaus-Detektive (1999), Der Berg. Ein Bilderbuch<br />

(2000).<br />

© <strong>ZENIT</strong> <strong>Verlag</strong>, München – Alle Rechte vorbehalten


Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />

Inhalt<br />

Vorbemerkung und Danksagung ......................... 6<br />

Vorwort von Horst Petri.......................................... 8<br />

I. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong>................... 11<br />

Alexandra, 10 Jahre: Adoption<br />

II. Der Fuchs frisst Gemüse ............................. 21<br />

Michael, 4 1/2 Jahre: Geschw<strong>ist</strong>er<br />

III. Beim Baum <strong>ist</strong> das wie bei den<br />

Menschen – die Wurzeln sind die Füße,<br />

damit steht der Baum auf der Erde ............ 42<br />

Andreas, 5 Jahre: Heldentum<br />

IV. Immer lieb sein macht ärgerlich ................. 58<br />

Milena, 6 Jahre: Haut und Atem<br />

V. Ich habe die weiße Tür gesehen,<br />

und alles wurde schwarz ............................. 75<br />

Klaus, 13 Jahre: Trennung<br />

VI. Ich mag meinen Freund, und der<br />

<strong>ist</strong> ein Stück von mir .................................... 94<br />

Nora, 16 Jahre: Abtreibung<br />

VII. Ich bin eigentlich drei Personen .............. 114<br />

Daniel, 15 Jahre: Identität<br />

VIII. Mich selber hat es gar nicht gegeben.<br />

Nur die anderen .......................................... 127<br />

Tanja, 7 / 17 Jahre: Tod<br />

IX. Ja, ich habe Grund zur Traurigkeit ........... 142<br />

Lukas, 9 1/2 / 17 Jahre: Vatersuche<br />

Verwendung ausschließlich zu privaten Zwecken gestattet<br />

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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />

Vorbemerkung und Danksagung<br />

Warum machen Kinder und Jugendliche eine analytische<br />

Psychotherapie?<br />

Welche Schwierigkeiten oder Probleme haben diese Kinder<br />

und Jugendlichen?<br />

Was geschieht in solchen Therapien?<br />

Um Antworten auf diese und ähnliche Fragen zu erhalten,<br />

bin ich in psychotherapeutische Praxen für Kinder und Jugendliche<br />

gegangen und habe mir von einzelnen Therapien<br />

erzählen lassen, die für dieses Projekt von Interesse schienen.<br />

Alle Therapien wurden von Krankenkassen finanziert.<br />

Meine Arbeit als Autor habe ich darin gesehen, die aufgezeichneten<br />

Gespräche sinnvoll zusammenzufassen und ihnen<br />

eine geeignete Form und einheitliche Sprache zu geben.<br />

Die einzelnen Berichte wurden anonymisiert und die<br />

Namen geändert.<br />

Mein besonderes Interesse galt den Therapiegeschichten<br />

der Kinder und Jugendlichen, ihren in den Psychotherapien<br />

erarbeiteten Lebensgeschichten.<br />

Um einen möglichst authentischen Eindruck zu vermitteln,<br />

habe ich die Ich-Form der berichtenden Psychotherapeutinnen<br />

und des Psychotherapeuten beibehalten.<br />

Meine Absicht war es nicht, ein Fachbuch zu schreiben,<br />

sondern mit der Art der Darstellung ein breiteres Publikum<br />

ansprechen zu können. Fachbegriffe wurden nur verwendet,<br />

soweit sie für das Verständnis der therapeutischen Arbeit<br />

wichtig waren. Zum Beispiel der Begriff der Gegenübertragung<br />

im ersten Kapitel.<br />

Für das Zustandekommen dieses Buches gilt an erster Stelle<br />

mein Dank den Kindern / Jugendlichen und den Eltern<br />

© <strong>ZENIT</strong> <strong>Verlag</strong>, München – Alle Rechte vorbehalten


Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />

für ihre Zustimmung, die Therapiebeschreibungen veröffentlichen<br />

zu dürfen.<br />

Des weiteren bin ich den Therapeutinnen und dem Therapeuten<br />

zu Dank verpflichtet, die so bereitwillig Auskunft<br />

gaben und ohne deren Mitarbeit das Buch nicht zustande<br />

gekommen wäre.<br />

Namentlich geht dieser Dank an:<br />

Anton Albrecht, Miebet de Brauw, Almut Cleff, Frigga<br />

Kuske, Maria Macek-Schmidt, Angela Münch-Loy, Chr<strong>ist</strong>ine<br />

Singer, Elisabeth O. Theisen und Sibylle Trumpp von<br />

Eicken.<br />

Ganz besonders danke ich Horst Petri für sein Vorwort.<br />

S. E. Kluwe<br />

Verwendung ausschließlich zu privaten Zwecken gestattet<br />

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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />

I. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong><br />

Alexandra, 10 Jahre: Adoption<br />

Alexandra war ein Adoptivkind.<br />

Ihre leibliche Mutter, eine Ausländerin, lebte seit einigen<br />

Jahren in Deutschland. Sie hatte eine kurze Beziehung zu<br />

einem Asiaten und wurde von ihm schwanger. Als sie das<br />

Baby nach der Geburt das erste Mal sah und die asiatischen<br />

Züge feststellte, entschloss sie sich sofort, es zur Adoption<br />

freizugeben. Adoptiveltern wurden gesucht und schnell gefunden.<br />

Wenige Tage nach der Geburt kam das Kind zu den<br />

neuen Eltern.<br />

*<br />

Die Adoptiveltern hatten sich um eine Therapie für Alexandra<br />

bemüht, weil sie in der Schule – entgegen ihrer Intelligenz<br />

– schlechte Le<strong>ist</strong>ungen erbrachte.<br />

Ihr Selbstbewusstsein war schwach entwickelt, sie traute<br />

sich wenig zu. Sie hatte kaum Freundinnen. Allein unterwegs<br />

zu sein, machte ihr große Angst. Die Mutter musste<br />

sie überall hinfahren, auch in die Therapie. Wenn die Mutter<br />

nach dem Ende der Stunden nicht gleich vor dem Haus<br />

stand, geriet Alexandra in Panik und fürchtete, es sei etwas<br />

Schlimmes geschehen.<br />

Alexandra war bei Therapiebeginn zehn Jahre alt.<br />

Sie war normal groß für ihr Alter und sehr ordentlich gekleidet.<br />

Auffällig an ihr waren ihre pechschwarzen Haare<br />

und die Brille mit den dicken Gläsern. Sie wirkte unauffällig,<br />

äußerst schüchtern und ängstlich. Ihre Bewegungen<br />

waren linkisch und unsicher. Ihre Stimme war leise, und auf<br />

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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />

Fragen antwortete sie anfangs fast nicht. Sie war je<strong>doch</strong> bemüht,<br />

freundlich und brav zu sein.<br />

Ich hatte den Impuls, ihr helfen zu müssen, damit sie ihre<br />

Schüchternheit verlöre.<br />

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich sie kennen<br />

gelernt habe, ob ich ein erstes Gespräch mit der Familie hatte<br />

oder nur mit den Eltern und dann mit ihr. Bei anderen<br />

Therapiekindern kann ich mich me<strong>ist</strong>ens erinnern, auch nach<br />

Jahren noch. Mein Nicht-erinnern-Können <strong>ist</strong> ein deutlicher<br />

Hinweis auf Alexandras Erscheinungsbild zu Beginn der<br />

Therapie.<br />

Erinnern kann ich mich aber an den Moment, als sie sich in<br />

der ersten Stunde ganz brav an den Tisch in meinem Spielzimmer<br />

setzte, und ich ihr sagte, sie könne sich aussuchen,<br />

was sie machen wolle. Ihre Antwort kam leise: sie wolle malen.<br />

Papier und Stifte liegen für jeden leicht erreichbar im<br />

Spielzimmer im Regal, aber ich brachte ihr die Sachen, weil<br />

ich merkte, dass sie zu verschüchtert war, sich zu bedienen.<br />

Die Anspannung wäre vermutlich für sie – und für mich –<br />

zu groß geworden, hätte sie sich die Malutensilien selbst<br />

holen müssen.<br />

Sie zögerte und bedauerte dann, dass Gabi nicht da sei,<br />

ihre Banknachbarin in der Klasse. Gabi wisse nämlich<br />

immer, was sie malen wolle.<br />

Ich griff ihren Gedanken auf und sagte, ohne Gabi müsse<br />

sie nun selber überlegen, was sie machen wolle.<br />

Da saß sie nun vor ihrem leeren Blatt und musste sich<br />

irgendwie entscheiden – ein starker Moment gleich zu Beginn<br />

der Therapie.<br />

Sie entschied sich überraschend schnell und malte ein hohes<br />

Gebirge, über das ein Glücksdrache flog – der Glücks-<br />

Verwendung ausschließlich zu privaten Zwecken gestattet<br />

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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />

drache aus Michael Endes Unendliche <strong>Geschichte</strong>. Am Fuß<br />

des Gebirges war ein kleines Dorf. Soweit dieses erste Bild.<br />

In den folgenden Therapiestunden setzte sie sich immer<br />

an den Tisch, um zu malen; Papier und Stifte holte sie sich<br />

bald selbst. Ein Bild, das sie malte, erschien mir besonders<br />

wichtig: Es stellte eine südlich anmutende Szene mit einem<br />

Elefanten dar, der aus einem Teich viel Wasser trinkt und<br />

dann eine Fontäne in die Gegend spritzt.<br />

Ich fragte Alexandra, ob sie etwas zu dem Bild erzählen<br />

wolle, aber sie äußerte sich kaum. Zwischen uns breitete sich<br />

Sprachlosigkeit aus. Sie malte, und ich saß daneben und<br />

schaute zu.<br />

Da es mich beschäftigte, wie sie mich empfand, ob als aufmerksam<br />

oder kontrollierend, holte ich mir in einer Stunde<br />

– vielleicht in der 6. oder 7. Therapiestunde – ein Stück<br />

Knetmasse und begann eine Kugel zu formen.<br />

Sie schaute sehr neugierig und fragte: Was machst du da?<br />

Ich wusste noch nicht, was ich mit der runden Form vorhatte,<br />

und sie fragte: Wird das eine Schildkröte?<br />

An eine Schildkröte hatte ich bei der Kugel überhaupt<br />

nicht gedacht. Ich griff Alexandras Einfall aber auf und sagte:<br />

Ach ja! <strong>Das</strong> könnte sein.<br />

Ich formte dann eine Schildkröte aus der Kugel.<br />

Sie holte sich auch Knetmasse und machte eine viel schönere<br />

Schildkröte. Meine war unscheinbar, unauffällig, Körper,<br />

Beine und Kopf einfach braun. Der Körper ihrer Schildkröte<br />

war auch aus brauner Masse, aber sie legte ihm ein<br />

schönes Kleid – einen Panzer – an, aus verschiedenfarbigen<br />

Knetstreifen. Ein Sonntagskleid, wie sie es nannte.–<br />

Von da an waren die Schildkröten das Thema der Therapie.<br />

Alexandra formte noch eine zweite Schildkröte für sich.<br />

Nun waren es drei. Zwei Schildkröten-Mädchen bei ihr und<br />

ein Schildkröten-Mädchen bei mir. So legte sie es fest.<br />

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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />

Mit diesen drei Schildkröten begann ein Spiel, ein konstantes<br />

Rollenspiel, das sie inszenierte und von Stunde zu<br />

Stunde weiter entwickelte.<br />

Jede Stunde wurde eröffnet mit Alexandras Worten: Wieder<br />

mit den Schildkröten spielen.<br />

Über den Therapiezeitraum von zweieinhalb Jahren spielten<br />

wir die Lebensgeschichte von drei Schildkröten. <strong>Das</strong><br />

mag für Außenstehende langweilig erscheinen, war es je<strong>doch</strong><br />

nie.<br />

Die drei Schildkröten-Mädchen wohnten nicht bei ihren<br />

Eltern. Alexandras zwei waren Königstöchter, und meines<br />

war aus dem Volk. Wir waren also keine Geschw<strong>ist</strong>er.<br />

*<br />

Alexandra entdeckte die Schuhkartons bei mir. Jedem Kind<br />

stelle ich in der ersten Stunde einen Schuhkarton bereit, in<br />

dem es seine in der Therapie fabrizierten Sachen aufheben<br />

kann. Alexandras Schuhkarton wurde zur Wohnung der<br />

Königstöchter. Meine Schildkröte sollte eine eigene Wohnung<br />

bekommen, folglich benötigten wir einen zweiten Schuhkarton.<br />

Wir hatten nun Stunden damit zu tun, diese Schildkrötenhäuser<br />

einzurichten. Türen und Fenster wurden hereingeschnitten,<br />

die Fenster mit Vorhängen versehen und Bilder<br />

für die Wände gemalt. Kleine Schachteln stellten Betten<br />

dar und Tische. Manchmal im Spiel fragte ich – als Schildkröte<br />

– ihre Schildkröten: Wisst ihr eigentlich, was mit meinen<br />

Eltern <strong>ist</strong>?<br />

Dann sagte sie: Ach, die haben keine Zeit für dich!<br />

Ich fragte: Was <strong>ist</strong> denn mit euren Eltern?<br />

Sie sagte: Die wohnen im Schloss. Die besuchen mich<br />

manchmal.<br />

Es war klar, wir Schildkröten-Mädchen – meines aus dem<br />

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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />

Volk und ihre Prinzessinnen – waren von den Eltern verlassene<br />

Kinder. Wir hatten ein gleiches Schicksal.<br />

Natürlich habe ich im Spiel als Therapeutin manchmal gedacht:<br />

Was <strong>ist</strong> bloß mit den Schildkröten-Eltern? Warum<br />

kommen die uns nicht besuchen?<br />

Und dann habe ich als Schildkröten-Mädchen gefragt:<br />

Warum kommen <strong>deine</strong> Königseltern nicht? Und warum<br />

besuchen mich meine nicht?<br />

Sie dachte sich dann einen Besuch ihrer Schildkröten-<br />

Eltern aus. Ein Kuchen wurde gebacken, die Eltern kamen<br />

und sie schwiegen miteinander. Alexandra blieb aber dabei,<br />

dass die Eltern meiner Schildkröte nicht kämen.<br />

So haben wir weitergespielt. Ich bekam Alexandras Gefühle<br />

zu spüren, ihre Verlassenheitsgefühle als Adoptivkind.<br />

Ich war dann selbst dieses kleine, verlassene Schildkröten-<br />

Mädchen. Eine solche Gefühls-Übertragung <strong>ist</strong> ein wichtiges<br />

Werkzeug in der therapeutischen Beziehung. Wir nennen<br />

sie Gegenübertragung.<br />

In der Gegenübertragung bin ich als Therapeutin gleichsam<br />

ein lebendiger Spiegel der unbewussten Gefühle meines<br />

Gegenüber. Genauer gesagt, ein Spiegel, der Gefühle<br />

aufnimmt, sie verarbeitet und wiedergibt, in der Deutung<br />

oder im Rollenspiel oder beidem.<br />

Es war manchmal frappierend, wie traurig und verzweifelt<br />

ich in diesen Stunden wurde. In einer Stunde überfiel<br />

mich eine so tiefe Traurigkeit, dass es mir schwerfiel, nicht<br />

loszuweinen. Hin und wieder wurde ich auch wütend und<br />

sagte es im Rollenspiel. Diese Gefühle von Trauer, Verzweiflung<br />

und Wut waren an ihr nicht sichtbar. Alexandra saß<br />

nicht da und weinte. Im Gegenteil, ihre Schildkröten-Mädchen<br />

hatten offensichtlich ein herrliches Leben und viel<br />

Spaß. Sie waren damit beschäftigt, Kleider zu basteln, Essen<br />

einzukaufen, Lasagne zuzubereiten, Marmelade zu kochen,<br />

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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />

Semmeln zu backen – alles aus Knetmasse. Sie waren weiter<br />

damit beschäftigt, ihr Haus einzurichten, ihre Häuser.<br />

Denn bald gab es schon vier Schuhkartons als eingerichtete<br />

Schildkrötenhäuser. Die Häuser wurden immer größer. Und<br />

irgendwann in einer Stunde kam die Idee auf, ein Zelt zu<br />

bauen. Mit drei Betten, also auch eins für mich. Trotzdem<br />

waren wir Drei keine Einheit. Mein Schildkröten-Mädchen<br />

blieb separat, am Rande, letztlich ausgeschlossen. Deshalb<br />

war ich immer mal wieder wütend, traurig und verzweifelt.<br />

Ich spürte dieses Ausgeschlossen-Sein so sehr. Ihr Ausgeschlossen-Sein.<br />

<strong>Das</strong> <strong>ist</strong> der Kern ihrer Lebensgeschichte: Gleich nach ihrer<br />

Geburt ausgeschlossen, weggegeben worden zu sein! Weil<br />

sie so aussah, wie sie aussah!<br />

Um diesen Kern ging es in der Therapie. Mein Schildkröten-Mädchen<br />

bekam das Ausgeschlossen-Sein zu spüren.<br />

Und dadurch, dass mein Schildkröten-Mädchen den<br />

Schmerz und die Verzweiflung über das Ausgeschlossen-<br />

Sein überlebte und ausdrückte, konnte Alexandra diese<br />

Gefühle langsam, langsam in sich aufnehmen.<br />

Museum<br />

Die Phase der auch äußerlich wahrnehmbaren Veränderung<br />

begann damit, dass die drei Schildkröten eines Tages beschlossen,<br />

ins Museum zu gehen.<br />

In dem Museum gab es Papier, Fingerfarben, Filzstifte,<br />

Buntstifte und noch vieles mehr. Wir Schildkröten besuchten<br />

das Museum, um selber zu malen, nicht um uns Bilder<br />

von Künstlern anzuschauen.<br />

Wir hockten nun auf dem Fußboden, hatten viel Platz und<br />

malten.<br />

Alexandra malte einen Bauernhof und erklärte den Schild-<br />

Verwendung ausschließlich zu privaten Zwecken gestattet<br />

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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />

kröten, wie der aussehe, wo das Wohnhaus stehe, in welchen<br />

Ställen die verschiedenen Tiere untergebracht seien<br />

usw. Alexandra erzählte selbst und nicht als Schildkröten-<br />

Mädchen. Sie erzählte von dem Bauernhof, auf dem sie und<br />

ihre Familie Urlaub gemacht hatten. Damit kam zum ersten<br />

Mal ihre Lebensrealität in die Therapie: ein konkreter Bauernhof.<br />

Ich überlegte, was ich malen sollte, und fing an, ein Menschenbaby<br />

zu zeichnen. Mit einem rosa Filzstift. Als ich das<br />

Bild ansah, war ich erschrocken und dachte, ich müsste es<br />

sofort zerreißen; ein solches Baby könnte ich Alexandra<br />

nicht zumuten: so schrecklich dünn und unsäglich armselig,<br />

so einsam und verloren.<br />

Ich zerriss das Bild nicht, sondern schrieb Versuch 1<br />

darunter. Dann malte ich ein zweites Baby, das zwar etwas<br />

ansprechender ausschaute, aber immer noch diese Einsamkeit<br />

ausstrahlte. <strong>Das</strong> war Versuch 2.<br />

Alexandra sah sich meine Baby-Bilder an und malte dann<br />

einen Mann und eine Frau. Sie sagte, die beiden seien in<br />

einem Park und gingen spazieren. Mit dieser Mitteilung<br />

schloss diese Stunde.<br />

In der nächsten Stunde waren wir wieder im Museum und<br />

malten. Ich dachte, mein einsames Baby bedürfe dringend<br />

einer Ergänzung; also malte ich ein weiteres Bild, einen<br />

Mann und eine Frau, die an einer Wiege stehen. Alexandra<br />

war mit ihrem Bild beschäftigt und schien nicht auf mich zu<br />

achten. Aber plötzlich zeigte sie auf meine beiden Baby-<br />

Bilder und das Wiegen-Bild und sagte zu mir – offenbar<br />

war ich wieder die Schildkröte:<br />

<strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong>. Erst warst du ganz allein,<br />

dann sind Eltern gekommen.<br />

Dies war ein erregender Moment für mich. Sie hatte mir<br />

einen klaren Hinweis über ihr Leben gegeben.<br />

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Ich malte weiter: wie das Baby aus der Wiege aufsteht,<br />

krabbeln und laufen lernt – immer mit den Eltern in der<br />

Nähe. Mit jedem Bild ein Schritt in der Entwicklung weiter,<br />

bis ein Mädchen wie Alexandra entstanden war.<br />

Ich nummerierte die Bilder: erstes Babybild – 1, zweites<br />

Babybild – 2, Wiegenbild – 3 ... Dabei unterbrach sie mich<br />

und sagte: <strong>Das</strong> stimmt aber nicht. <strong>Das</strong> erste Bild <strong>ist</strong> das<br />

Liebespaar.<br />

Mit dem Liebespaar meinte sie den Mann und die Frau,<br />

die im Park spazieren gehen. <strong>Das</strong> Bild, das sie in der Stunde<br />

zuvor gemalt hatte.<br />

Wir strichen die Nummern durch und nummerierten neu:<br />

das Liebespaar bekam die Nummer 1.<br />

Ihr Eingreifen beeindruckte mich sehr. Sie verbesserte die<br />

Abfolge meiner Bilder, stellte sie richtig. Denn vor jedem<br />

Baby gibt es ein Liebespaar. <strong>Das</strong> hatte sie gezeichnet und<br />

damit gezeigt, dass sie Bescheid wusste über ihre <strong>Geschichte</strong>:<br />

das Liebespaar; das verlassene Baby, die neuen Eltern an<br />

der Wiege, das Größerwerden.<br />

Mir war klar, dass sie den Zusammenhang begriffen hatte,<br />

indem sie meiner Schildkröte die <strong>Geschichte</strong> zuschrieb;<br />

meiner Schildkröte deshalb, weil es für sie auf diese Weise<br />

leichter auszudrücken war.<br />

Den Satz <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> meine eigene <strong>Geschichte</strong> sagte sie während<br />

der ganzen Therapie nie. Aber mit der bildlichen Nachstellung<br />

ihrer eigenen Lebensgeschichte war klar, dass sie<br />

begriffen hatte.<br />

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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />

Die Schildkröte als Symbol<br />

Die Schildkröte als Spielfigur war wirklich treffend gewählt<br />

und bestätigt einmal mehr, dass Kinder ihr Problem – wenn<br />

auch sprachlich nicht immer oder selten – im Spiel benennen<br />

können. Es kommt nur darauf an, es richtig zu verstehen<br />

und zu deuten.<br />

Im Bild der Schildkröte symbolisierte sich Schutz – das<br />

geschützte Innere hinter dem Panzer – und Zeit – das<br />

gemächliche Voranschreiten.<br />

Es zeigte sich, dass Alexandra Schutz und Zeit brauchte<br />

und sich beides nahm. Im Spiel mit den Schildkröten.<br />

Eine Auswirkung der Therapie war in ihrer äußeren Lebensrealität<br />

in der ersten Zeit kaum zu bemerken. <strong>Das</strong> erfuhr<br />

ich von den Eltern. Und ob die Therapie erfolgreich<br />

sein könnte, war noch nicht abzusehen.<br />

Die Schildkröte im Museum<br />

Mit dem Museum schaffte sich Alexandra einen sicheren<br />

Außenraum.<br />

Im Museum kann man etwas ausstellen, etwas von sich<br />

herzeigen. Hier kann etwas Inneres öffentlich werden, für<br />

andere sichtbar. Es bleibt nicht länger verschlossen. Alexandra<br />

begann sich zu öffnen, wagte sich vor ein Publikum:<br />

Schaut her! Hier bin ich! Und das <strong>ist</strong> meine <strong>Geschichte</strong>!<br />

Als Alexandra die Therapie begann, waren ihre schulischen<br />

Le<strong>ist</strong>ungen nicht gut. Sie konnte dem Unterricht zwar folgen,<br />

verstand, was gelehrt wurde, konnte aber nach außen<br />

nicht zeigen, dass sie es verstanden hatte. Zwischen der Aufnahme<br />

des Wissensstoffes und seiner Wiedergabe lag eine<br />

Störung.<br />

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Im Museumsspiel wurde dann deutlich, was Alexandra bewegte.<br />

Sie konnte vermitteln, was sie in der Schule erlebte, und<br />

konnte von alltäglichen Situationen aus ihrem Außenraum<br />

berichten. Wir malten Szenen, die Alexandra von der Schule<br />

oder vom Heimweg erinnerte. Immer war es meine Schildkröte,<br />

die in angstmachende Situationen geriet, zu der Alexandra<br />

sich Lösungsmöglichkeiten ausdachte, die sie mich<br />

malen ließ. Zum Beispiel wurde meine Schildkröte von Mitschülerinnen<br />

geärgert, und Alexandra riet mir, wie jene sich<br />

wehren könne.<br />

Einmal ging Alexandra mit ihrer Schulklasse ins Theater,<br />

schrieb einen Aufsatz darüber und brachte ihn mit. In dem<br />

Theaterstück ging es um ein Mädchen, das in einer Höhle<br />

eingeschlossen war und von einer Frau dort festgehalten<br />

wurde.<br />

<strong>Das</strong> Mädchen konnte sich nicht befreien.<br />

Während ich ein Bild von dem Mädchen im Gefängnis<br />

malte, schrieb Alexandra eine Zusammenfassung des Theaterstücks.<br />

Die Situation als Gefangene war eine passende<br />

Metapher für den Therapieabschnitt Museum; in dem es für<br />

Alexandra darum ging, sich zu befreien.<br />

Im Museum wurde ihre Lebensgeschichte nach außen verlagert,<br />

in Bildern sichtbar. Ihr Liebespaar-Bild signalisierte,<br />

dass sie positive Gefühle mit ihrem Ursprung verband.<br />

Ihr Satz: <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong>! steht gleichsam<br />

als Titel unter den Bildern ihrer Lebensgeschichte.<br />

Es <strong>ist</strong> ein treffendes Bild, das sich Alexandra mit dem Museum<br />

schaffte. Ein Ort, in dem es im allgemeinen ruhig zugeht;<br />

in dem man sich öffnen kann für die ausgestellten Bilder,<br />

sie auf sich wirken lassen kann, in dem man sich<br />

besinnen kann. Ein geschützter Ort.<br />

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Aus dem Buch <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> <strong>doch</strong> <strong>deine</strong> <strong>Geschichte</strong> von Sigbert E. Kluwe<br />

Auch die therapeutische Praxis <strong>ist</strong> ein geschützter Ort, in<br />

dem Zeit <strong>ist</strong>, nachzudenken und sich zu öffnen. Mit Hilfe<br />

der therapeutischen Begleitung.<br />

Als Alexandra in der Therapie das Museum für sich entdeckte<br />

und nutzte, veränderte sich auch ihre äußere Realität,<br />

wie ich von den Eltern erfuhr. Sie ging nun gern in die<br />

Schule und schrieb bessere Noten. Sie bekam eine neue Lehrerin<br />

und mochte sie. Sie konnte besser äußern und deutlich<br />

machen, was sie verstanden und noch nicht verstanden<br />

hatte. Lernen beruht auch auf dieser Fähigkeit.<br />

Alexandra wurde mutiger und traute sich mehr. Es fiel ihr<br />

leichter, Kontakte zu knüpfen. Sie fand nun eine Freundin.<br />

*<br />

Am Ende der Therapie war sie als eigene Person wahrnehmbarer.<br />

Sie war ein hübsches, frisches und fröhliches<br />

Mädchen. Und sie zeigte mir stolz ihre neue Brille, eine, die<br />

sie sich selbst ausgesucht hatte.<br />

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