Die weisse Jungfrau vom Heiligenberg
ein alte Sage neu erzählt von Hans Jürgen Groß
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Die weiße Jungfrau vom Heiligenberg
eine alte Sage neu erzählt
Hans Jürgen Groß
Es war einmal vor langer Zeit, als die Menschen noch daran
glaubten mit ihren Worten und Gedanken Einfluss auf die
Welt nehmen zu können. Unweit des Ortes Gensungen
erhob sich eine Bergkuppe, die weit hinaus in das Edertal
sichtbar war. Hier wurde alltäglich mit einem roten Ball, den
Menschen ein neuer Tag geschenkt. Der Berg schien alle
vorhandenen Gegensätze aufheben zu können. Er vereinte
den Himmel mit der Erde, die Nacht mit dem Tag.
Es folgte ein Frühling dem Winter, unzählige Male oft. Die
Weltsicht der Menschen veränderte sich. Das Greifbare,
Belegbare, Macht und Herrschaft bestimmten nun ihr
Handeln und ihre Sicht. Immer noch erhob sich die
Bergkuppe über dem Tal. Immer noch zeigte sich hier der
neue Tag in seinem ersten Licht. Immer noch trug die den
Menschen einst heilige Erhebung, den Namen Heiligenberg.
Doch die alten Rituale hatten sich im Zeitenstrom zerstreut,
so wie das Salz im Wasser. Ebenso erging es der Burg,
welche auf dem Bergrücken errichtet worden war, und die
sich in dem Augenblick der Gezeiten verlor.
In ihrer tiefsten Seele erkannten die Menschen die
Besonderheit des Ortes und so dichteten sie diesem einen
verborgenen Schatz von unendlichem Reichtum an. Viele
brachen auf, um diesen Schatz zu suchen, kehrten jedoch
ergebnislos nach Hause zurück.
Da geschah es, dass ein junger Schäfer mit seiner Herde
den Weg hinauf zur Burgruine wählte. Es war die Zeit der
Frühlingstagundnachtgleiche, und intuitiv hatte er gewusst,
dass er an diesem Morgen das beste Futter für seine Herde
hier finden würde. Der Schäfer kannte ein jedes seiner
Schafe beim Namen und sorgte gut für sie. Nie war ihm
eines abhandengekommen, oder hatte Schaden genommen.
Schon früh an Jahren hatte er den alten Schäfer auf seinen
Wanderungen begleitet und von diesem gelernt. Während
die anderen Jungen im Ort rauften, den
Kriegsverherrlichungen der alten Männer lauschten,
verbrachte er seine Zeit bei den Schafen und lernte von
ihnen. Sie zeigten ihm die Schönheit der Natur, offen und
empfänglich zu sein für das, was der Tag gerade bot, die
Ordnung im Durcheinander zu erkennen sowie die
Rhythmen des Jahres bewusst wahrzunehmen. All dies war
Leben, deren Teil er selbst war, und das er beschützen und
bewahren musste.
Er hatte sich auf der großen Wiese, nahe den Mauern der
alten Burg eingerichtet, als wie aus dem Nichts eine junge
Frau in einem langen weißen Gewand vor ihm erschien. Sie
gab ihm sprachlos Zeichen, ihr zu folgen.
Der junge Schäfer spürte eine Zerrissenheit in sich
aufsteigen. Er fühlte sich angezogen von dieser jungen
Frau. Die Schönheit und Anmut ihres Äußeren erregten sein
Herz, doch mehr ergriff ihn diese unaussprechliche
Ausstrahlung, welche sie aussandte. Alles in ihm sehnte sich
hiernach. Er wollte ihr nah sein, mit ihr verschmelzen. In ihr
schien all das vereint, was er sein Leben lang wie eine
ungestillte Sehnsucht gesucht hatte.
Diese starken Gefühle, die er empfand, bereiteten ihm
Furcht. Furcht vor dem Verlust der Kontrolle über sich
selbst. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen. Ängstlich
schritt er hinter der anmutigen Erscheinung her. Diese
öffnete eine Tür und sie traten in einen langen Gang, der in
den Berg hinein führte. Und obwohl kein Licht den Gang
erhellte, erstrahlten die Wände und hüllten den Ort in einen
goldenen, warmen Schein.
Die Unsicherheit des jungen Schäfers schien ins
Unermessliche anzusteigen. Da drehte sich die Jungfrau zu
ihm um, deutete schweigend auf einen Strauß Blumen und
versuchte, ihm durch ein Zeichen verständlich zu machen,
dass er diesen zu sich nehmen solle. Dem Schäfer waren die
Blumen unter dem Namen Himmelsschlüssel, oder
Schlüsselblumen bekannt, und er wusste, dass diese die
Boten des kommenden Frühlings waren.
Seine Gefühle wurden übermächtig. Was tat er hier an
diesem jenseitigen Ort, mitten im Berge? Er hatte seine
Herde allein gelassen. Bald war Frühling. Einige der Schafe
waren trächtig und würden bald lammen, der Erde neues
Leben schenken.
Mit wenigen Sätzen war er zur Tür hinaus, die alsbald laut
hinter ihm zufiel. In demselben Augenblick hörte der junge
Schäfer von drinnen einen lauten Schrei, der ihn in seinen
tiefsten Festen berührte.
Fassungslos, erregt kehrte der Schäfer zu seiner Herde
zurück, die ihm liebevoll empfing. Das eintönige Blöken der
Schafe beruhigte ihn. Er spürte die Erde unter sich, die ihn
trug. Der vertraute Geruch des kommenden Frühlings löste
ihn aus den Fängen des bangen Momentes. So wie Wasser
den Schmutz von einem weißen Laken wäscht, so wusch die
Zeit den Schrecken von seiner Seele. Der Zweifel des
Erlebten hätte sein Dasein bestimmen können, wenn ihm
nicht wegen seiner scheinbaren Dummheit, die Chance auf
Reichtum vertan zu haben, gespottet wurde.
Tief in seinem Inneren wusste er, das er seinen wahren
Schatz, im Angesicht der vermeintlichen Schwäche
gefunden hatte. Er war sich selbst treu geblieben und seiner
Eingebung gefolgt. In den Augen der Jungfrau glaubte er ein
Einverständnis, eine bedingungslose Liebe zu ihm erkannt
zu haben. Eine Liebe, die sich in ihm selbst eingepflanzt
hatte und mit der er nun seiner Welt begegnete. Alles war
gut, so wie es war.
Viele Male kehrte er zum Heiligenberg zurück, doch sah er
weder die Jungfrau noch die Tür, durch die sie gegangen
waren, jemals wieder.
Zahlreiche Menschen suchten in den folgenden Zeiten weiter
nach dem Reichtum im Berge. Doch außer Kohle konnten
sie nichts finden. - Die stumme Jungfrau jedoch, wartet
noch heute darauf, die Menschen tief in ihr Inneres, zu
ihrem Schatz zu führen und dies mit einem Freudenschrei
zu bekunden.
~ E N D E ~
Text und Fotos
© 2023 – Hans Jürgen Groß
www.drgross.eu
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