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Wohnen<br />
& Menschen<br />
THEMA<br />
Was Menschen<br />
möglich machen<br />
Die Mieterzeitschrift – Dezember 2012<br />
INTERVIEW<br />
Welche Rolle spielt der<br />
Mensch in der Architektur?<br />
PORTRäT<br />
Wenn Menschen keine<br />
Wohnung haben<br />
Dezember 2012 – wohnenextra 1
Wohnzimmer<br />
Überbauung Vordere Lorraine (VoLo), Wok Lorraine AG, Bern<br />
2<br />
Dezember 2012 – extra<br />
Foto: Alexander Gempeler
Ich weiss noch, wie sie damals vor mir stand.<br />
Auf dem Treppenabsatz, in einem geblümten<br />
Kleid, den blonden kleinen Buben an der<br />
Hand. Inzwischen ist uns der Junge bald<br />
über den Kopf gewachsen und wir wohnen<br />
beide schon lange nicht mehr dort. Aber mit<br />
meiner ehemaligen Nachbarin bin ich immer<br />
noch befreundet. Und die Erinnerung an diesen<br />
Wohnort ist für immer mit dem Bild dieser<br />
ersten Begegnung verbunden.<br />
Ob in der Wohnsiedlung oder in der Ferienwohnung:<br />
Meist sind es Personen, die mir<br />
im Gedächtnis haften bleiben – viel mehr als<br />
die Architektur. Denn erst die Menschen machen<br />
aus vier Wänden ein Zuhause. Beim genossenschaftlichen<br />
Wohnen erst recht:<br />
Schliesslich setzt das Modell der Genossenschaft<br />
den Menschen ins Zentrum und nicht<br />
die Rendite.<br />
Deshalb stehen in diesem Wohnenextra<br />
die Menschen im Mittelpunkt. Wir haben<br />
Wohnbaugenossenschaften besucht, in denen<br />
besonders viel menschliches Herzblut<br />
und Muskelkraft stecken. Ausserdem fragten<br />
wir uns: Wie sieht Architektur aus, die den<br />
Menschen ins Zentrum stellt? Und umgekehrt:<br />
Wie prägen Menschen ihr Wohnumfeld?<br />
Wie ist es, gar keine Wohnung zu<br />
haben?<br />
Mit diesen unterhaltsamen, aber auch<br />
nachdenklichen Geschichten wünschen wir<br />
Ihnen einige ruhige Feiertage und für 2013<br />
bereits jetzt alles Gute – und viele nette<br />
Begegnungen.<br />
rebecca omoregie, redaktorin<br />
eDitoriAL inhALt<br />
2 Wohnzimmer<br />
4 Thema<br />
Was Menschen möglich machen<br />
8 Interview<br />
«Ikonenarchitektur interessiert mich nicht»<br />
Gespräch mit dem Architekten Jacques Blumer<br />
10 Porträt<br />
Wenn Menschen Spuren hinterlassen<br />
12 Thema<br />
Wenn Architektur den Menschen ins Zentrum stellt<br />
15 Kolumne<br />
Sandro Cavegn, Mister Schweiz 2012,<br />
über die beste Entscheidung seines Lebens<br />
16 Porträt<br />
Wenn Menschen keine Wohnung haben<br />
19 Tipps<br />
Rat vom Rechtsexperten und ein mörderischer<br />
Literaturtipp<br />
20 Rätsel<br />
impressum<br />
extra<br />
Die mieterzeitschrift<br />
Ausgabe Dezember 2012<br />
herausgeber: Wohnbaugenossenschaften<br />
Schweiz, Verband der gemeinnützigen<br />
Wohnbauträger, Bucheggstrasse 109,<br />
8042 Zürich, www.wbg-schweiz.ch<br />
redaktionelle Verantwortung:<br />
Rebecca Omoregie<br />
www.wbg-schweiz.ch/zeitschrift_wohnen<br />
wohnen@wbg-schweiz.ch<br />
Konzeption, Layout, Druckvorstufe:<br />
Partner & Partner AG, www.partner-partner.ch<br />
Druck: Swissprinters AG, Zofingen<br />
Dezember 2012 – extra 3
Thema<br />
4<br />
Was Menschen Möglich Machen<br />
Muskelkraft<br />
und Herzblut<br />
TexT: Rebecca OmORegie /FoTos: maRTin bichsel<br />
Die eine feierte gerade ihren dreissigsten geburtstag, die andere gibt<br />
es erst seit kurzem. Doch etwas haben beide gemeinsam: hinter der<br />
Wogeno Dach in oensingen und hinter der Wohnbäckerei in Biel<br />
stecken Menschen, die mit viel einsatz ihren Wohntraum verwirklichen.<br />
Dezember 2012 – extra<br />
Die Stimmung ist schlecht. Anna holt uns am<br />
Bahnhof Oensingen ab und warnt uns schon<br />
mal vor. Eigentlich wollte die Genossenschaft<br />
Wogeno Dach heute ihre alte Liegenschaft<br />
winterfest machen. Doch der Winter<br />
hat über Nacht angeklopft. Statt einem goldenen<br />
Herbsttag wartet an diesem Samstag<br />
Ende Oktober ein Schneesturm vor der Türe.<br />
Und irgendwie, erzählt Anna während der<br />
kurzen Autofahrt, habe heute niemand so<br />
recht Lust zum Anpacken.<br />
einsatz gefragt<br />
Als wir vor dem alten Haus vorfahren,<br />
scheint die Siedlung menschenleer. Anna<br />
lässt sich die Laune nicht verderben. «Wo<br />
sind die denn alle? Wahrscheinlich irgendwo<br />
am Schärme am Kafi suufe». Sie lacht ihr<br />
breites Lachen und führt erst einmal durchs<br />
Haus. Wir steigen die knarrende Holztreppe<br />
hoch. Die Wohnung im dritten Stock steht<br />
derzeit leer. Eines der Zimmer haben die Bewohner<br />
der Nachbarwohnung schon in Beschlag<br />
genommen. Als die Genossenschaft<br />
vor einigen Jahren ihre Gross-WG in einzel-<br />
ne Wohnungen aufteilte, wählte sie flexible<br />
Wände. So lassen sich die Wohnungsgrössen<br />
anpassen. Wer in die restlichen drei Zimmer<br />
der leeren Wohnung einziehen wird, ist noch<br />
offen. «Es ist lustig», sagt Anna. «Manchmal<br />
gehen die Wohnungen weg wie warme Semmeln.<br />
Und manchmal dauert es länger.»<br />
Auch die grosse Dachwohnung steht derzeit<br />
leer. Hier wird demnächst eine alleinerziehende<br />
Mutter einziehen. Endlich wieder<br />
Kinder in der Siedlung! Dennoch gab es Diskussionen.<br />
Eine Frau, allein mit vier Kindern,<br />
und dann noch mit kleinem Budget?<br />
Doch schliesslich fanden die Genossenschafter:<br />
«Wer soll dieser Familie eine Wohnung<br />
geben wenn nicht wir?» Naki, Annas Mann,<br />
ist gerade dabei, die Holzböden abzuschleifen.<br />
Auch solche Instandsetzungs arbeiten<br />
erledigen die Genossenschaftsbewohner selber.<br />
Rund zehnmal pro Jahr treffen sie sich<br />
zu Arbeitstagen. Fünfzig Stunden sollte jeder<br />
pro Jahr für die Genossenschaft einsetzen.<br />
Bei Anna sind es viel mehr. Sie ist im Vorstand<br />
und in der Hausgemeinschaft aktiv<br />
und streicht als gelernte Malerin auch mal
einsatz auch bei schlechtem Wetter: 50 stunden pro Jahr sollte jeder für die genossenschaft arbeiten.<br />
die Wände der frei werdenden Wohnungen.<br />
Um mehr Zeit für die Genossenschaft zu haben,<br />
hat sie ihren Job gekündigt, arbeitet<br />
derzeit nur temporär. Das macht ihr nichts<br />
aus: «Dann tausche ich meine Stunden halt<br />
Ende Jahr mit jemandem gegen ein Znacht.<br />
Aber eigentlich zähle ich gar nicht mehr.<br />
Schliesslich mache ich das freiwillig und<br />
nicht, weil ich muss.»<br />
besser als ein bordell<br />
Wir verlassen das Haus, treten hinaus in den<br />
Schnee. Schnell zur nächsten Tür wieder hinein.<br />
Für den unkundigen Besucher ist «die<br />
Klus» ein Labyrinth aus Treppen, Ein- und<br />
Ausgängen. Anna öffnet die Tür zum Keller.<br />
«Weil heute schlechtes Wetter ist, wollten<br />
wir wenigstens das Gerümpel hier aufräumen.»<br />
Doch im Moment ist hier keiner. Eine<br />
Tür weiter, im Heizungsraum, treffen wir<br />
Oli. Er gehört zu den wenigen Urgesteinen,<br />
die seit der Gründung der Genossenschaft<br />
hier leben. Während er ein dickes Holzscheit<br />
in den Heizungsofen schiebt, erzählt er, wie<br />
es war vor dreissig Jahren. Damals, als die<br />
Gruppe – man kannte sich aus der alternativen<br />
Szene von Olten – die heruntergekommene<br />
Liegenschaft entdeckte und später eigenhändig<br />
renovierte. Ursprünglich als<br />
Gasthof gebaut, später von einem Kammfabrikanten<br />
gekauft, gelangte das stattliche<br />
«Ich zähle meine Stunden<br />
gar nicht mehr. Schliesslich<br />
mache ich das freiwillig.»<br />
Haus Anfang des 20. Jahrhunderts in die<br />
Hände der Von Roll AG. Die Eisenwerke vermieteten<br />
die Wohnungen zunächst an Arbeiterfamilien,<br />
später an Fremdarbeiter und<br />
dann, ab 1976, gar nicht mehr. «Zwei von<br />
uns arbeiteten bei der Von Roll», erinnert<br />
sich Oli. «Und sie kamen jeden Tag an diesem<br />
leerstehenden Haus vorbei.»<br />
Die Gruppe hatte schon lange den Traum<br />
vom selbstverwalteten Wohnen und Arbeiten.<br />
Sie gründete die «Wogeno Dach» und<br />
bewarb sich um das Haus. Von Roll war tat-<br />
Foto: Fotografenname<br />
sächlich bereit, die Liegenschaft zu verkaufen<br />
– für 130 000 Franken. Viel Geld für die<br />
Genossenschafter, die als Hippies galten und<br />
bei Banken und auch in der Gemeinde nicht<br />
gerne gesehen waren. Es gelang ihnen, Privatdarlehen<br />
zu sammeln, und als sich auch<br />
noch ein Massagesalon um die Liegenschaft<br />
bewarb, gab die Besitzerin doch der Genossenschaft<br />
den Zuschlag. «Wir waren wohl<br />
das kleinere Übel», sagt Oli schmunzelnd.<br />
mit der Zeit gegangen<br />
Esthi stösst dazu, Olis Partnerin. Sie zieht die<br />
dicken Handschuhe aus und reibt sich fluchend<br />
die kalten Finger. Die Frauen verräumen<br />
die Gartenmöbel. Kein Zuckerschlecken<br />
bei diesem Wetter. Ein kleiner Schwatz<br />
kommt da gerade recht. Auch Esthi war von<br />
Anfang an dabei. «Ich gehöre zu den Gruftis<br />
hier.» Sie lacht. Was sich in den dreissig Jahren<br />
verändert habe? «Alles, laufend. Wir haben<br />
uns immer den Bedürfnissen angepasst.»<br />
Zum Beispiel als die ersten Kinder bekamen<br />
und plötzlich überfordert waren mit<br />
der Kommune. «Anfangs war das schon ein<br />
Dezember 2012 – extra 5
Thema<br />
Diskussionspunkt. Die Familienwohnung sei<br />
doch Fübü.» Doch dann hätten sie gemerkt,<br />
dass sie auch in einer Hausgemeinschaft das<br />
leben könnten, was sie in der WG gelebt hätten.<br />
«Das ist nun einmal die Realität. Ich<br />
denke, das haben wir geschafft: uns der Realität<br />
zu stellen und trotzdem den Grundgedanken<br />
weiterzuleben.» Esthi schultert wieder<br />
einen Gartenstuhl. Natürlich setzten sich<br />
die heutigen Bewohner nicht mehr so ein<br />
wie damals die Gründer. «Am Anfang war für<br />
alle ganz klar: Das ist unseres. Es war gar nie<br />
ein Thema, ob jemand an einen Arbeitstag<br />
kommt oder nicht.»<br />
anna: «ich suchte etwas gemeinschaftliches.»<br />
Die Wogeno Dach habe einige Krisen<br />
überlebt, bestätigt Genossenschaftspräsident<br />
Urs später im Verwaltungsbüro. «Die<br />
Ablösung der Gründergeneration und das<br />
nachlassende Engagement waren eine Zeitlang<br />
ein Problem.» Dazu kamen finanzielle<br />
Engpässe. Das habe zu Diskussionen geführt,<br />
man habe sogar überlegt, eine AG zu<br />
gründen. «Trotz allem hat sich das Modell<br />
der Selbstverwaltung hartnäckig gehalten.»<br />
Auch für ihn, der vor zwanzig Jahren hier<br />
Unterschlupf fand, als er sich von der Familie<br />
trennte, ist der viele Freiraum nach wie vor<br />
das grosse Plus. «Es hat Platz für eigene Ide-<br />
6<br />
Dezember 2012 – extra<br />
en. Ich konnte in diesen zwanzig Jahren sehr<br />
viel verwirklichen.» Die beiden kleinen Pavillons<br />
gegenüber vom Haupthaus zum Beispiel<br />
waren seine Idee. «Früher war das hier ein<br />
Hang, voller Brennesseln und Unkraut. Aber<br />
es ist unser Land. Und die Genossenschaft<br />
lebt nur von den Mietzinseinnahmen.»<br />
Verjüngung gelungen<br />
Finanziell steht die Wogeno Dach heute auf<br />
soliden Füssen. Und den Bewohnern ist es<br />
gelungen, wieder jüngere Menschen anzulocken<br />
– Leute, die sie aus der Kulturszene von<br />
Olten kennen. Lea zum Beispiel. Schnaufend<br />
wuchtet sie die schweren Einkaufstaschen<br />
die Treppe hoch. Sie wird heute für alle das<br />
Mittagessen kochen. Seit vier Jahren wohne<br />
sie hier, erzählt sie, während sie die Einkäufe<br />
verräumt. Oli und Esthi fragten sie damals,<br />
ob sie nicht in die frei werdende Nachbarwohnung<br />
ziehen möchte. Die beiden<br />
«Hier hat es Platz für<br />
eigene Ideen.»<br />
Wohnungen sind verbunden, die gemeinsame<br />
Türe steht meistens offen. «Wir gehen<br />
einfach rüber, ein Käfeli holen. Das hat mich<br />
gereizt. Und auch, dass man so viel selber<br />
machen kann.» Auch sie arbeitet als Sozialarbeiterin<br />
nicht hundert Prozent, um genug<br />
Zeit für die Genossenschaft zu haben. «Man<br />
muss halt Prioritäten setzen. Du musst dich<br />
entscheiden, willst du im Sommer lieber mit<br />
den Kollegen in der Badi hängen oder auch<br />
einmal zuhause bleiben und hier etwas tun.»<br />
Mit Anna, der Malerin, ist sogar buchstäblich<br />
die nächste Generation hier eingezogen.<br />
Ihre Eltern gehörten zu den Gründern.<br />
«Doch irgendwann fand meine Mutter,<br />
jetzt reiche ihr das Gestürm. Also zogen wir<br />
esthi: «Wir haben es geschafft, uns der<br />
Realität zu stellen.»<br />
weg.» Dass sie 30 Jahre später wieder hier<br />
gelandet ist, sei eher Zufall. «Ich suchte eine<br />
Wohnung und dann hiess es, wir haben grad<br />
eine, komm doch!» Etwas Gemeinschaftliches<br />
habe sie allerdings schon gesucht. «In<br />
einem normalen Wohnblock zu leben hätte<br />
ich mir nicht vorstellen können.»<br />
Wellness und Wollsäue<br />
Andere haben die Normalität ausprobiert<br />
und sind reumütig zurückgekehrt. «Einmal<br />
Klus, immer Klus», scherzt Oli beim Mittagessen<br />
im Gewölbekeller. Rolf und Corinne<br />
sind so ein Beispiel: Zwanzig Jahre wohnten<br />
sie in der Wogeno Dach, dann drei Jahre<br />
lang in einer ganz normalen Mietwohnung.<br />
«Aber das hat nicht funktioniert», erklärt<br />
Rolf. «Diese isolierten Einzelzellen: Die Wohnung<br />
hört an der Haustüre auf. Und von den<br />
Nachbarn hörst du nichts – ausser, wenn du<br />
Dreck liegen lässt.»<br />
Auch für Oli und Esthi wäre nie etwas anderes<br />
in Frage gekommen. «Wir haben nicht<br />
das Bedürfnis nach einem Einfamilienhüsli.<br />
Unsere Beziehung ist von Anfang an so ge-<br />
Oli: «ich hatte nie das bedürfnis nach einem einfamilienhüsli.» instandsetzungsarbeiten übernehmen die bewohner selbst.
Die alte liegenschaft haben die genossenschafter eigenhändig renoviert.<br />
wachsen.» Wie es einst sein wird, wenn die<br />
ersten von ihnen ins Alter kommen, daran<br />
mögen sie noch nicht denken. «Unsere Devise<br />
war immer: Solange es passt, ist es gut»,<br />
resümiert Esthi. Zukunftswünsche haben sie<br />
aber schon. Ein Wellnessbad zum Beispiel.<br />
«Und Wollsäue», ruft Rolf. Gelächter. Die ersten<br />
beginnen, ihre Teller abzuräumen. Vielleicht<br />
schaffen sie es ja am Nachmittag noch,<br />
den Keller zu entrümpeln.<br />
Von der Wg zur genossenschaft<br />
40 Kilometer weiter westlich macht man sich<br />
schon Gedanken über die Zukunft. Die Genossenschaft<br />
Wohnbäckerei in Biel ist erst<br />
ein gutes Jahr alt. Die Haus-WG allerdings<br />
gibt es schon seit bald fünfzehn Jahren. Eben<br />
weil sie nicht wissen, wie lange es sie noch<br />
hier hält, haben die Bewohner eine Genossenschaft<br />
gegründet. «Wir werden älter und<br />
die Komfortansprüche steigen», erklärt Vizepräsident<br />
Tobias. «Sind wir noch drei Jahre<br />
hier, noch zehn?» Das ehemalige Bäckershaus<br />
an der Bieler Brüggstrasse ist nicht ideal<br />
gelegen: zwischen einer lärmigen Strasse<br />
und den Zuggleisen. Für die Studenten-WG<br />
damals habe das keine Rolle gespielt. Die<br />
jungen Leute teilten sich die drei Wohnungen,<br />
rissen im obersten und untersten Stockwerk<br />
die Küchen heraus und richteten auf<br />
der mittleren Etage eine grosse Gemeinschaftsküche<br />
ein. «Wir waren schon damals<br />
recht selbstverwaltet», erinnert sich Tobias.<br />
«Wir strichen, flickten, renovierten.» Der Liegenschaftsbesitzer<br />
liess sie gewähren, bezahlte<br />
sogar das Baumaterial. Eigentlich hatte<br />
er das alte Haus schon lange abgeschrieben.<br />
Irgendwann fragte er: «Wollt ihr es<br />
nicht kaufen?»<br />
Dies war die Chance, das Haus vor dem<br />
Abbruch zu bewahren. Der Garagenbesitzer<br />
nebenan liebäugelte nämlich schon mit dem<br />
Grundstück. «Wir haben überlegt, ob wir uns<br />
einer anderen Genossenschaft anschliessen<br />
könnten, uns dann aber entschieden, selber<br />
eine Genossenschaft zu gründen», erzählt<br />
Präsidentin Claudia. Das war nicht so einfach.<br />
Vor allem die Statuten bereiteten ihnen<br />
Kopfzerbrechen. «Das ist ein Deutsch, das<br />
niemand versteht», ärgert sich Tobias. Die<br />
Bewohner wollten eine Struktur aufbauen,<br />
die nicht nur für dieses eine Haus trägt, sondern<br />
auch für allfällige weitere Liegenschaften.<br />
Also gründeten sie eine Genossenschaft<br />
und einen Hausverein, mit dem sie einen<br />
Selbstverwaltungsvertrag abschlossen.<br />
Jetzt lohnt es sich<br />
Nun konnten sie endlich richtig loslegen mit<br />
dem Umbau: neue Fenster und eine Zentralheizung<br />
einbauen, die Wände isolieren. «Das<br />
war für mich ein grosser Unterschied», betont<br />
Claudia. «Früher, als das Haus als Abbruchobjekt<br />
galt, wussten wir nie, ob es sich<br />
lohnte, so viel Zeit dafür zu investieren. Jetzt<br />
hat das Haus eine Zukunft. Und die Arbeit,<br />
die ich mache, ist nicht nur für mich, son-<br />
claudia und Tobias: «Wir sind alle ein bisschen bastler.»<br />
Thema<br />
dern auch für diejenigen, die in zwanzig Jahren<br />
hier wohnen werden.» Natürlich sei es<br />
nicht immer einfach, Zeit für die Umbauarbeiten<br />
zu finden. Claudia zuckt die Achseln.<br />
«Das ist nun halt unser Hobby. Wir sind alle<br />
ein bisschen Bastler.»<br />
Inzwischen sind die meisten Bewohner<br />
der Haus-WG zwischen 30 und 40. Nicht<br />
mehr im WG-Alter eigentlich. Noch aber<br />
stimmt diese Wohnform für sie. Jetzt, wo sie<br />
endlich eine Heizung haben, wollen sie den<br />
neu gewonnenen Komfort geniessen. Und<br />
ausserdem: «Wenn man länger hier wohnt,<br />
so viel investiert, wächst einem das Haus ans<br />
Herz.» Wir setzen uns an den gemütlichen<br />
«Jetzt hat das Haus<br />
eine Zukunft.»<br />
Holztisch in der Gemeinschaftsküche; Claudia<br />
schenkt Kaffee ein. «Es ist schön, wenn<br />
man sich abends hierhin setzt und noch drei<br />
andere da sitzen. Ich habe keine Lust, alleine<br />
zu wohnen.» Die günstige Miete habe ihr ausserdem<br />
geholfen, ihre Zweitausbildung als<br />
Sozialarbeiterin zu finanzieren. Auch Tobias,<br />
der als Eventtechniker viel unterwegs ist,<br />
schätzt die Gesellschaft. «Hier komme ich<br />
nicht in ein leeres Haus zurück. Ich muss<br />
nicht herumtelefonieren, wenn ich Leute sehen<br />
will.» Daran änderte sich auch nichts, als<br />
er vor einem Jahr Vater wurde. «Natürlich<br />
haben wir uns überlegt, ob wir nun mehr eigenen<br />
Raum brauchen. Aber in dem Haus<br />
können wir uns zurückziehen und Familie<br />
sein, wenn wir wollen. Ich finde es aber auch<br />
wichtig, das unsere Tochter verschiedene Bezugspersonen<br />
hat.»<br />
Dezember 2012 – extra 7
IntervIew<br />
8<br />
GeSPrÄCH MIt deM ArCHIteKten JACQueS BluMer<br />
«Ikonenarchitektur<br />
interessiert mich<br />
nicht»<br />
Dezember 2012 – extra<br />
IntervIew und BIld: DAnIeL KrUCKer<br />
Bei vielen Bauprojekten seien heute die Zahlen wichtiger als die<br />
Menschen, findet der Architekt Jacques Blumer. er erklärt, was gute<br />
Siedlungsarchitektur ist und wann ein Gebäude emotional berührt.<br />
Wohnenextra: Herr Blumer, mit Ihrem Büro<br />
«Atelier 5» haben Sie beispielhafte Wohnsiedlungen<br />
in ganz Europa entworfen.<br />
Dabei waren Ihnen Kontaktmöglichkeiten<br />
für die Bewohner stets besonders wichtig.<br />
Wie beurteilen Sie die aktuelle Siedlungsarchitektur<br />
in der Schweiz?<br />
Was ich heute sehe, macht mich nicht<br />
glücklich. Ich frage mich, ob die Architekten<br />
genügend darüber nachdenken, was eine<br />
vernünftige Siedlung ausmacht. Dabei<br />
ist die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens<br />
ja nicht neu. Sie hat ihre Anfänge in<br />
der industriellen Revolution: Einige aufgeklärte<br />
Industrielle haben sich Gedanken<br />
über die Wohn- und Lebenssituation ihrer<br />
Arbeiterinnen und Arbeiter gemacht. Zu<br />
dieser Zeit entstanden die ersten wegweisenden<br />
Projekte. Später waren es die Baugenossenschaften,<br />
die den Faden aufgenommen<br />
haben. Leider schielen heute auch<br />
viele Genossenschaften mehr auf die Zahlen<br />
als auf die bekannten Vorbilder. Natürlich<br />
ist das auch ein wichtiger Punkt. Doch<br />
der ökonomische Aspekt wird viel zu stark<br />
gewichtet.<br />
Was müssten denn Architekten und Bauträger<br />
besser machen?<br />
Schauen Sie sich die modernen Siedlungen<br />
an. Da stehen Klötze in einer sterilen<br />
Umgebung. Weil das Material heute im Verhältnis<br />
zur Arbeit so billig ist, kann man sich<br />
eine «goldene Fassade» leisten. Das ist kostengünstiger,<br />
als den Aussenraum so zu gestalten,<br />
dass er brauchbar ist.<br />
Aber gerade auf ihre guten und grosszügigen<br />
Aussenräume sind doch viele Baugenossenschaften<br />
stolz.<br />
Ich habe den ökonomischen Aspekt bereits<br />
erwähnt: Wer einen guten Aussenraum<br />
gestalten will, muss bereit sein, mehr zu investieren.<br />
Denn das verdichtete Bauen bietet<br />
die Chance, Aussenräume zu planen, die<br />
für Kinder anregend sind und auch den Erwachsenen<br />
Begegnungen ermöglichen. Die<br />
Menschen wollen nämlich das Gemeinsame<br />
erfahren, wünschen sich aber gleichzeitig<br />
eine gewisse Privatheit. Doch all dies kostet:<br />
Jede Treppe, jedes Mäuerchen muss bezahlt<br />
werden. Etwas Gescheites zu machen ist jedoch<br />
überall möglich.
Sie plädieren für höchstens vier- bis fünfgeschossige<br />
Wohnbauten. Wer höher baut,<br />
spart dafür Bauland. Das ist doch nicht unwichtig.<br />
Dieses Argument lasse ich nicht gelten.<br />
Mit viergeschossigen Bauten bringt man die<br />
gleiche Anzahl Wohnungen auf der gleichen<br />
Fläche unter wie mit siebengeschossigen Gebäuden.<br />
Natürlich ist die räumliche Verdichtung<br />
bei niedrigeren Häusern höher. Aber gerade<br />
die hohe Dichte lässt mehr Gemeinschaft<br />
zu. Und: Der Kontakt zum Boden ist<br />
für die Menschen wichtig. Vom vierten Stock<br />
aus können die Bewohner die Kinder zum Essen<br />
rufen, und wenn der Lift nicht funktioniert,<br />
ist das auch kein Problem. Je höher ein<br />
Wohnhaus ist, desto schwieriger werden die<br />
ganz banalen Dinge im Alltag. In drei- und<br />
viergeschossigen Häusern sind kleine Kinder<br />
früher selbständig.<br />
Was ist aus dem Gestaltungsleitsatz «form<br />
follows function» geworden?<br />
Der Grundsatz, dass funktionale Aspekte<br />
die Gestaltung eines Hauses mitbestimmen,<br />
ist leider etwas in Vergessenheit geraten.<br />
IntervIew<br />
*Jacques Blumer (76) studierte an der etH Zürich Architektur. Fünf Jahre lang war er Professor<br />
und Partner eines Büros in Chicago, bevor er 1970 als Partner zum bekannten Berner Architekturbüro<br />
«Atelier 5» stiess. An der universität Genf war er ausserdem längere Zeit als Professor<br />
für Städtebau tätig. Jacques Blumer arbeitet heute nicht mehr als Architekt, denkt aber immer<br />
noch viel über Architektur nach, die zum Menschen passt und umgekehrt.<br />
Daran sind vor allem die Architekten schuld.<br />
Sie machen sich wichtig und nehmen sich<br />
zu viele Freiheiten heraus. Das Interesse,<br />
sich über das Wohnen Gedanken zu machen,<br />
nimmt aber zu. Es ist doch so: Wohnen<br />
ist kein Luxus! Ich bin zuversichtlich, dass<br />
bald wieder mehr Zeit in Planung und<br />
Denkarbeit investiert wird. Davon können<br />
die Bewohnerinnen und Bewohner nur profitieren.<br />
In vielen Städten gibt es Gebäude, die<br />
wohl eine Funktion haben, deren Form jedoch<br />
fast mehr zu reden gibt. Kann Ikonenarchitektur<br />
wie zum Beispiel das Guggenheim-Museum<br />
in Bilbao oder das «Vogelnest»<br />
in Peking mehr sein als eine Touristenattraktion?<br />
Dieser Art von Architektur interessiert<br />
mich nicht. Sie mag nett sein, wie ein süsses<br />
Dessert oder ein herumstehender Clown.<br />
Blöd ist nur, wenn in Städten plötzlich alle<br />
hundert Meter ein anderer Clown steht. Mir<br />
gefallen Konzepte wie jenes von Berlin viel<br />
besser. Dort gibt es für die ganze Stadt klare,<br />
einfache und regelmässige Baubestimmun-<br />
gen. Mit einer Ausnahme: dem Potsdamer<br />
Platz. Sehr auffällige Gebäude sind dort an<br />
einer Stelle konzentriert.<br />
Was macht ein Gebäude aus, in dem man<br />
sich beim Betreten sogleich wohlfühlt?<br />
Ein gutes Beispiel ist ein Berliner Konzerthaus<br />
aus den Sechzigerjahren, in dem ich<br />
kürzlich war. Um die Bühne herum ist dort<br />
ein ganzer Satz von Flächen in verschiedenen<br />
Höhen angeordnet. Man fühlt sich wie<br />
in einer Landschaft. Das ist der richtige Ort<br />
für die richtige Sache. Ein Wohnhaus berührt<br />
die Menschen auch dann emotional, wenn<br />
es altern kann, wenn man das Vergehen der<br />
Zeit spürt. Ein Haus muss Runzeln entwickeln<br />
dürfen. Häuser, die klinisch wirken,<br />
werden nie dieselbe Akzeptanz erfahren. Roher<br />
Beton zum Beispiel ist ein wunderbares<br />
Material. Er kriegt Flecken, verfärbt sich,<br />
zeigt sein Alter. Heute wird viel zu viel glatt<br />
polierter Beton verwendet. Mich wundert<br />
nicht, dass die Leute schlecht über Beton reden.<br />
Roher Beton dagegen kann überwachsen,<br />
und das Gebäude ändert sein Gesicht<br />
mit den Jahreszeiten.<br />
Dezember 2012 – extra 9
Porträt<br />
10<br />
Wie Menschen ihr WohnuMfeld prägen<br />
Auf Spurensuche<br />
TexT: Paula lanfranconi / Bild: ursula Meisser<br />
die psychoanalytikerin ingrid feigl versucht, anhand von fotos herauszufinden:<br />
Wer wohnt da? fast 70 Wohnungen hat sie für die beliebte rubrik<br />
im «nZZ folio» bereits analysiert. Was reizt an dieser spurensuche?<br />
Dezember 2012 – extra
Zur Person<br />
ingrid feigl ist psychoanalytikerin. seit fünf Jahren<br />
macht sie sich anhand von Wohnungsfotos auf<br />
die suche nach spuren der Bewohner und rätselt,<br />
wer dort wohl wohnt.<br />
Eigentlich hätte man sie gerne in ihrer Wohnung<br />
getroffen, doch eine öffentliche Person<br />
zu sein wäre in ihrem Beruf kontraproduktiv,<br />
sagt die Mittfünfzigerin ein wenig entschuldigend.<br />
Ingrid Feigl strahlt Ruhe aus, unauffällig<br />
fassen ihre grünen Augen die Besucherin<br />
in den Blick.<br />
Wir treffen uns in ihrer Gemeinschaftspraxis<br />
in einem Altbau, einen Katzensprung<br />
vom Zürcher Rathaus entfernt. Es ist wohnlich<br />
hier. Von den Wänden blicken Porträts<br />
des befreundeten Künstlers Anton Bruhin.<br />
Ein rotes Telefon, ein roter Stuhl und rote<br />
Minihanteln setzen Farbtupfer. Doch das sei<br />
eher Zufall.<br />
Der erste Blick kann täuschen<br />
An diesem Morgen ist ein neues Folio erschienen.<br />
Ingrid Feigl hat das Heft noch nicht<br />
gesehen. «Lag ich richtig?», fragt sie neugierig.<br />
Als sie vor fünf Jahren anfing, sei sie noch<br />
unsicher gewesen. Würde es ihr gelingen,<br />
anhand von nur drei A-4-Wohnungsfotos<br />
herauszufinden: Wohnt da ein Mann? Ein<br />
Paar? Jung, alt? Was arbeiten sie? Und alles<br />
auf vierzig Zeilen in eine griffige Geschichte<br />
zu packen? Die Latte lag hoch, ihr Vorgänger<br />
war der Psychoanalytiker Berthold Rothschild.<br />
Er wusste, dass sich die Kollegin gerne<br />
mit Wohnen und Einrichten befasst und<br />
fragte sie an. Sie sagte zu: «Ich bin ein neugieriger<br />
Mensch, schaue gerne in fremde<br />
Wohnungen, natürlich, um darin etwas Persönliches<br />
der Bewohner zu entdecken.»<br />
Wenn jeweils die drei Fotos der neuen<br />
Wohnung eintreffen, macht sie eine erste<br />
Sichtung – so, als ob sie eine reale Wohnung<br />
beträte: «Man kommt herein, hängt den<br />
Mantel auf, lässt den Blick schweifen.» Dann<br />
lässt sie die Bilder ein bisschen liegen, fragt<br />
manchmal Freunde: «Was siehst du?» Sie<br />
nimmt auch mal die Lupe hervor, denn Buchtitel<br />
legen ergiebige Spuren. Wie auch Küchen.<br />
Oder Badezimmer: «Da hat es Männer-<br />
und Frauenparfüms, da kenne ich mich gut<br />
aus.»<br />
Der erste Blick, das weiss sie als Analytikerin,<br />
ist nicht immer der richtige. Manchmal<br />
müsse man scheinbar Eindeutiges hinterfragen<br />
und «mit dem dritten Ohr hören».<br />
Einmal, erzählt sie, habe sie eine Wohnung<br />
gehabt, da lag auf dem Bett eine Spitzendecke.<br />
Eine Frau, klar. «Aber», sie schmunzelt,<br />
«es war ein Mann.» Oder die Wohnung mit<br />
dem Kinderstühlchen. Wie eine kostbare Antiquität<br />
habe es ausgesehen und sie habe die<br />
Bilder einem kinderlosen Paar zugeordnet,<br />
gehoben, stilvoll, repräsentativ. Es sei dann<br />
eine Familie mit drei Kindern gewesen.<br />
«Aber die», meint sie lachend, «waren wahrscheinlich<br />
im Ostflügel untergebracht.» Übers<br />
Ganze gesehen sei ihre Trefferquote nicht<br />
schlecht.<br />
eine gute Wohnung ist wichtig<br />
Doch wie wohnt sie selber? Vor zwei Jahren<br />
ist sie aus dem Familienhaus am Zürichberg<br />
ausgezogen; die beiden Söhne sind lange erwachsen.<br />
Ihr Mann habe dann eine WG gewollt,<br />
sie nicht. Nun lebt sie allein im Kreis<br />
5, nahe beim Röntgenplatz, in einem renovierten<br />
alten Handwerkerhaus. Ihre Woh-<br />
Porträt<br />
«Wer wohnt da?» gibt es<br />
jetzt als Buch; bestellbar<br />
per e-Mail unter:<br />
wer-wohnt-da@nzz.ch<br />
nung sei ein bisschen wie ein Schiff: aufsteigend,<br />
mit ausgebautem Dachstock und oben<br />
eine Terrasse. Dem Vermieter sei das Haus<br />
eine Herzensangelegenheit. Eine Traumwohnung<br />
also? Eine gute Wohnung, präzisiert<br />
sie: «Man kann sich darin verschlüüfe<br />
und ist doch schnell unter Leuten.» Nach der<br />
Familienphase, wo so vieles fremdbestimmt<br />
sei, genoss sie es, ihre vier Wände nach ihren<br />
ganz eigenen Bedürfnissen einzurichten. Eine<br />
Carte blanche: «Mich und meine Sachen<br />
auszubreiten, Zeitungen und Bücher einfach<br />
liegen zu lassen.»<br />
Auch die Küche ist ihr wichtig. Ihre neue<br />
ist allerdings viel kleiner als jene im Familienhaus.<br />
Weihnachtsguetsli backen, würde<br />
das hier gehen? Inzwischen, sagt sie lachend,<br />
habe sie alles logistisch gut gelöst.<br />
«Und der Backofen ist gut.» Ingrid Feigl, in<br />
Graz geboren und als Siebenjährige nach<br />
Zürich gekommen, ist ein urbaner Mensch,<br />
das spürt man auch in ihren Texten. Am<br />
liebsten würde sie zuoberst in einem der<br />
Hochhäuser des Lochergutes wohnen, ein<br />
bisschen weg vom Alltagsgeschehen. Ihre<br />
Spurensuche für «Wer wohnt da?» betreibe<br />
sie immer noch schaurig gern. «Sonst müsste<br />
ich der Redaktion sagen: Ich wiederhole<br />
mich!» Inzwischen gehört die Rubrik fest zu<br />
ihrem Leben. Wenn sie den Text jeweils beieinander<br />
hat, lässt sie ihn über Nacht ruhen,<br />
«wie einen Hefeteig», büschelt ihn dann<br />
noch ein bisschen. Und freut sich über das<br />
sichtbare Produkt – etwas, was sie in ihrem<br />
Beruf sonst nicht hat.<br />
Dezember 2012 – extra 11
Thema<br />
Wenn Architektur die BeWohner ins Zentrum stellt<br />
Um den Menschen<br />
herum bauen<br />
text: Daniel KrucKer<br />
Wie müssen häuser und siedlungen gebaut sein, damit sich die menschen<br />
wohlfühlen? soll Architektur eher den rückzug ins Private oder das<br />
Zusammenleben ermöglichen? diese Fragen beschäftigten die menschen<br />
schon immer. einige Beispiele aus der ganzen Welt.<br />
Architektur, von den Menschen in Besitz genommen<br />
caracas, Venezuela<br />
Der «Torre David» in Caracas (Venezuela)<br />
ist ein 45-stöckiges Bürogebäude aus<br />
den 1990er Jahren – und wurde nie fertiggestellt.<br />
In der Bauruine liessen sich<br />
750 Familien nieder. Sie bilden heute die<br />
grösste Wohngemeinschaft der Welt.<br />
Wasser und Strom organisieren sich die<br />
Bewohnerinnen und Bewohner selbst.<br />
12<br />
Dezember 2012 – extra<br />
Die diesjährigen Architekturbiennale in<br />
Venedig rückte das Gebäude und seine<br />
Bewohner in den Fokus: Ein Jahr lang<br />
untersuchten die Architekten Alfredo<br />
Brillembourg und Hubert Klumpner die<br />
Gemeinschaft und versuchten, den Turm<br />
noch funktionaler und besser bewohnbar<br />
zu machen. Die Architekturausstel-<br />
lung zeichnete das Projekt mit dem Goldenen<br />
Löwen aus. Die Jury ehrte mit<br />
dem Preis insbesondere auch die Bewohnerinnen<br />
und Bewohner, die sich aus eigener<br />
Kraft ein neues Zuhause schufen.<br />
Ein Beispiel dafür, wie Menschen einem<br />
scheinbar nutzlosen Gebäude neues Leben<br />
einhauchten.<br />
Bilder: zVg.
Soziale Ideale im Bau umgesetzt<br />
Berlin, Deutschland<br />
Luxus für die<br />
Arbeiterschaft<br />
Guise, Frankreich<br />
Der französische Ofenfabrikant Jean-Baptiste<br />
André Godin entwarf Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
für seine Arbeiterinnen und Arbeiter<br />
den Gebäudekomplex «Familistère». Drei<br />
grosse Wohnhäuser umschliessen jeweils mit<br />
Glas überdachte Innenhöfe, die für gemeinsame<br />
Festivitäten genutzt wurden. Das Familistère<br />
bot einen für die damalige Zeit sehr<br />
hohen Standard. In den Wohnungen gab es<br />
– für viele Arbeiter unvorstellbar – fliessendes<br />
Wasser und eine Toilette. Doch damit<br />
nicht genug: Godin, der selbst ebenfalls dort<br />
wohnte, liess weitere Ideen verwirklichen.<br />
Es entstanden ein Erholungspark, ein Theater,<br />
ein Schwimmbad, eine Bibliothek, ein<br />
Kindergarten und Einkaufsläden. Das Familistère<br />
gelangte bereits früh zu einiger Berühmtheit:<br />
Friedrich Engels lobte Godins<br />
«sozialistisches Experiment» und Vincent van<br />
Thema<br />
Sie war eines der ersten Projekte des sozialen<br />
Wohnungsbaus nach dem Ersten Weltkrieg:<br />
die Hufeisensiedlung in Berlin. Heute<br />
gilt sie als Schlüsselwerk des modernen<br />
städtischen Siedlungsbaus und gehört seit<br />
2008 mit sechs anderen Berliner Überbauungen<br />
zum Unesco-Weltkulturerbe. Die Hufeisensiedlung<br />
entstand zwischen 1925 und<br />
1933, als Antwort auf die prekäre Wohnungsnot<br />
in der deutschen Hauptstadt. Familien<br />
aus den unteren sozialen Schichten<br />
fanden hier ein völlig neues Lebensgefühl<br />
vor. Statt in Mietskasernen oder dunklen,<br />
verschachtelten Hinterhöfen wohnten sie in<br />
der hufeisenförmigen Siedlung in luftigen<br />
und hellen Wohnungen. Wie Theaterlogen<br />
öffneten sich die Loggien zum grünen<br />
Aussenraum. Zum Anbauen von Gemüse<br />
und Kartoffeln gab es kleine Gärten. Trotz<br />
der relativ kleinen Flächen von durchschnittlich<br />
49 Quadratmetern sind die Wohnungen<br />
nach wie vor gefragt: Über die Hälfte der<br />
3100 Einwohner lebt bereits seit mehr als<br />
zwanzig Jahren in der Siedlung.<br />
Gogh erwähnte das Familistère in der Korrespondenz<br />
mit seinem Bruder. Im 20. Jahrhundert<br />
nahmen Architekten wie Le Corbusier<br />
Ideen des Familistère wieder auf.<br />
Dezember 2012 – extra 13
Thema<br />
Radikale<br />
Reduktion<br />
Japan, noch nicht realisiert<br />
Wie werden wir wohnen, wenn es immer<br />
mehr Menschen und immer weniger Platz<br />
gibt? Wohl kaum im Einfamilienhaus. Mit<br />
den Fragen der demografischen Entwicklung<br />
und der nötigen Verdichtung beschäftigen<br />
sich viele Architekten – insbesondere in Japan,<br />
wo man sich den Umgang mit der Enge<br />
schon lange gewohnt ist. Der japanische<br />
Architekt Riken Yamamoto entwickelte ein<br />
radikales Siedlungskonzept mit Wohneinheiten<br />
für bis 500 Personen. Einige seiner<br />
Ideen fanden teilweise bereits ihre Umsetzung,<br />
zum Beispiel Clusterwohnungen.<br />
Yamamotos Vorstellungen einer neuen Art<br />
von Architektur gehen aber noch viel weiter:<br />
Für die Bewohnerinnen und Bewohner sind<br />
keine eigenen Bäder oder Küchen vorgese-<br />
14<br />
Dezember 2012 – extra<br />
hen. Diese Einrichtungen sollen dezentral<br />
und dafür grosszügig und in ausreichender<br />
Anzahl zur Verfügung stehen. Die Gemeinschaftsräume<br />
werden maximiert, während<br />
der Privatbereich möglichst wenig Raum be-<br />
Im Einklang<br />
mit der Natur<br />
Barcelona, Spanien<br />
Einen ganz anderen Ansatz, Bauwerke<br />
auf den Menschen abzustimmen,<br />
verfolgt die sogenannte organische<br />
Architektur. Die Architekturströmung,<br />
die zu Beginn des 20. Jahrhunderts<br />
entstand, orientiert sich an<br />
den Gesetzmässigkeiten und Formen<br />
der lebendigen Natur. Stilistisch ist<br />
die organische Architektur sehr unterschiedlich<br />
und keiner bestimmten<br />
Ästhetik verpflichtet. Einer der bekanntesten<br />
Vertreter dieser Denkrichtung<br />
war der katalanische Archi-<br />
anspruchen soll. Wohnen und Arbeiten spielt<br />
in diesen Überlegungen eine zentrale Rolle.<br />
Jede Wohneinheit ist in einen privaten<br />
Schlafbereich und einen «Serviceraum» aufgeteilt,<br />
der sich zur Gemeinschaft hin öffnet.<br />
tekt Antoni Gaudí. In Barcelona errichtete<br />
er zahlreiche organische<br />
Bauwerke, darunter die berühmte<br />
Casa Milà (siehe Bild). Fast alle Zimmer<br />
dieses Hauses sind mit einem<br />
Fenster ausgestattet, was in der damaligen<br />
Zeit nicht üblich war. Ausserdem<br />
lassen sich die Wände in jeder<br />
Wohnung individuell verschieben,<br />
weil sie keine tragende Funktion<br />
haben. Der flexible Grundriss war<br />
also bereits damals ein Thema.
Die beste<br />
Entscheidung<br />
meines Lebens<br />
Von SanDro CaVegn*<br />
Ich erinnere mich noch genau, wie ich damals als vierjähriger<br />
Bub mit meinen Eltern von Chur nach Rapperswil fuhr.<br />
Meine jungen Eltern hatten damals einen Golf, schwarz-grün<br />
métallisé. Die Reise war für mich mit Spannung und Wehmut<br />
verbunden. Mein Vater arbeitete bei den SBB und hatte einen<br />
neuen Job in Aussicht, für den ein Umzug nach Rapperswil<br />
unumgänglich war. An diesem Samstagnachmittag waren<br />
wir also zu Besuch in der Eisen-<br />
bahnerbaugenossenschaft. Mir fiel<br />
als erstes die Wiese vor den riesigen<br />
Wohnblöcken auf: gross wie<br />
zwei Fussballfelder und mit Toren<br />
und Pingpong-Tisch ausgerüstet. Später kam sogar noch<br />
ein Basketballfeld hinzu. Alles, was ein Kind sich wünschen<br />
kann! Kaum zur Besichtigung angekommen, begann ich, mit<br />
den anderen Kindern der Siedlung zu spielen. Ich wollte bleiben,<br />
sofort und für immer.<br />
Ich wollte bleiben,<br />
sofort und für immer.<br />
ein Paradies für kinder<br />
An den Umzug kann ich mich nicht genau erinnern. Ich weiss<br />
nur, dass ich am Anfang Schwierigkeiten hatte, mich mit den<br />
anderen Kindern zu unterhalten. Ich sprach nur romanisch<br />
und musste mich mit Händen und Füssen verständigen. Zum<br />
Glück legten meine Eltern den Umzugstermin genau auf den<br />
Kindergartenstart. So lernte ich schnell deutsch. Und in der<br />
Siedlung war es nicht schwer, Kontakt zu den anderen Kindern<br />
zu knüpfen. Man musste nur rausgehen auf den grossen<br />
Spielplatz, und schon bildete sich eine Kinderhorde. Wir<br />
rannten herum, spielten «Räuber und Poli» und «Wir kommen<br />
aus dem Morgenland» oder veranstalteten ein Fussballturnier.<br />
Wir wuchsen zusammen auf, fast wie eine grosse Familie.<br />
Auf unseren Spielplatz waren wir stolz. So stolz, dass<br />
wir anderen Kinder nie den Zutritt zu unserem Areal gewährten<br />
– nur denjenigen, die in der Genossenschaft wohnten.<br />
gemeinschaft gross geschrieben<br />
Mit 12 oder 13 Jahren fanden wir den Spielplatz dann nicht<br />
mehr so interessant. Und jüngere Kinder kamen fast keine<br />
nach. Schaue ich heute auf die Wiese hinaus, sehe ich keine<br />
Menschenseele. Hat es keine Kinder mehr oder ist die Play-<br />
Bild: zVg.<br />
kolumne<br />
*Wie erleben bekannte Persönlichkeiten<br />
das Wohnen in einer Genossenschaft?<br />
In unserer Kolumne erzählen verschiedene<br />
Autoren und Autorinnen aus ihrem<br />
Wohnalltag. Sandro Cavegn, Mister<br />
Schweiz 2012, ist seinen Eltern heute<br />
noch dankbar, dass sie damals mit ihm<br />
in die Eisenbahnerbaugenossenschaft<br />
Rapperswil zogen.<br />
Die Aussagen der Autoren decken sich nicht<br />
zwingend mit der Ansicht der Redaktion.<br />
station wichtiger geworden als die Spielwiese? Mich macht<br />
das sehr traurig. Ich wünsche mir, dass meine Kinder dereinst<br />
in einem ebenso sorgenfreien und verspielten Umfeld<br />
aufwachsen können, wie ich es durfte. Ich lebe immer noch<br />
in der Baugenossenschaft, die mir und den Menschen hier<br />
ermöglicht, zu bezahlbaren Mietzinsen zu wohnen. Ich bin<br />
der Genossenschaft unendlich dankbar, dass ich in ihren<br />
Mauern aufwachsen durfte. Nicht nur wegen den finanziellen<br />
Vorteilen für meine Familie und mich. Auch, weil die Gemeinschaft<br />
und Freundschaft unter den Bewohnern immer<br />
sehr gross geschrieben wurde. Heute, wo alles immer teurer<br />
wird, ist es wichtig, dass es noch solche Oasen gibt. Ich danke<br />
meinen Eltern, dass sie damals hierhin gezogen sind. Es<br />
war die beste Entscheidung für mein persönliches Leben.<br />
Dezember 2012 – extra 15
Porträt<br />
Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank.<br />
Das Zimmer ist karg eingerichtet. Doch jetzt,<br />
wo es draussen eindunkelt und eine garstige<br />
Bise bläst, hat der hell erleuchtete Raum<br />
etwas Einladendes. Das Nachttischlämpchen<br />
brennt, darunter steht ein kleiner CD-Player.<br />
Auf dem Tisch eine Tafel Billigschokolade,<br />
daneben ein Aschenbecher und eine Schachtel<br />
Papiertaschentücher.<br />
Ralf Schreiner* schaltet den kleinen Fernsehapparat<br />
ein und setzt sich auf die säuberlich<br />
gefaltete Bettdecke. Viel mehr kann man<br />
hier in dem kleinen Zimmer nicht tun. Ausser<br />
einigen Kleidungsstücken hat der 53-Jährige<br />
seine ganzen Habseligkeiten in einem<br />
Magazin eingelagert. Freimütig erzählt er,<br />
wie er hier in der Nachtpension für Obdachlose<br />
gelandet ist.<br />
16<br />
Porträt: Wenn Menschen keine Wohnung haben<br />
«Es ist halt kein Zuhause»<br />
text: rebecca omoregie/bilder: michele limina<br />
in der nachtpension in Zürich finden obdachlose eine einfache unterkunft.<br />
ein augenschein.<br />
Dezember 2012 – extra<br />
Plötzlich auf der Strasse<br />
Einst hatte auch er eine Wohnung. Fast zwölf<br />
Jahre lang lebte er an der Wehntalerstras se<br />
in Zürich. Dann stand ein Umbau an und<br />
Ralf Schreiner musste ausziehen. Fürs erste<br />
kam er bei seiner damaligen Partnerin in<br />
Affoltern unter. «Aber nur am Wochenende»,<br />
präzisiert er leise. «Unter der Woche war ich<br />
in Ellikon. Habe eine Entziehungskur gemacht.»<br />
Er lächelt verlegen. «Hat aber nicht<br />
viel gebracht.» Den angebotenen Softdrink<br />
lehnt er ab. Er habe schon genug getrunken.<br />
Sieben Dosen Bier waren es heute. Wäre nicht<br />
der Alkoholdunst, man würde dem freundlichen<br />
Mann in Jeans und Sportpulli seine<br />
Situation nicht auf den ersten Blick ansehen.<br />
Auch die 53 Jahre gäbe man ihm nicht; er<br />
wirkt jugendlich, fast ein wenig hilflos. Ob<br />
das mit dem Alkohol zusammenhängt? Das<br />
Trinken war es auch, das die Lawine ins<br />
Rollen brachte. «Ich ging oft aus, kam erst<br />
um zwei Uhr morgens heim», erzählt Ralf<br />
Schreiner. «Dann hat die Frau jeweils ein<br />
Riesentheater gemacht.» Bei einer solchen<br />
Auseinandersetzung sei es zu Handgreiflichkeiten<br />
gekommen, die Frau habe die Polizei<br />
gerufen und ihn aus der Wohnung gewiesen.<br />
Und dann stand er auf der Strasse. Ein<br />
Bekannter nahm ihn mit zur «Notschlyfi» in<br />
Zürich. Für fünf Franken erhielt er dort eine<br />
Schlafgelegenheit, warme Suppe und ein<br />
Zmorge. Doch die Notschlafstelle ist nicht<br />
für längere Aufenthalte gedacht. Höchstens<br />
vier Monate können die Obdachlosen dort<br />
bleiben. «Mein Manager hat dann etwas gemischelt.»<br />
So nennt er seinen «Case Mana-
Zur Person<br />
ralf Schreiner* (53) ist schon lange obdachlos.<br />
seit zwei Monaten übernachtet er jeweils in der<br />
nachtpension in Zürich.<br />
Die bewohner müssen lernen, ihr Zimmer<br />
in ordnung zu halten.<br />
ger», den zuständigen Sozialarbeiter. Dieser<br />
erreichte, dass Ralf Schreiner etwas länger<br />
bleiben und sich schliesslich für die Nachtpension<br />
bewerben konnte. Zwei, drei Tage<br />
später erhielt er schon ein Zimmer. Hier hat<br />
Ralf Schreiner mehr Ruhe als in der Massenunterkunft,<br />
und er darf ein Jahr lang bleiben.<br />
Aber nur nachts. Spätestens um neun<br />
Uhr morgens müssen die Nachtgäste die<br />
Pension verlassen. Das bedrückt den Obdachlosen.<br />
«Nicht einmal am Wochenende<br />
kann man länger schlafen. Um neun Uhr bist<br />
du wieder auf der Strasse, bei jedem Wetter.»<br />
Im Sommer ist das weniger schlimm. Dann<br />
verbringt Ralf Schreiner die Tage am See<br />
und angelt. Im Winter sitzt er meist den ganzen<br />
Tag im t-alk, dem Treffpunkt für Alkoholabhängige.<br />
Seit einem schweren Unfall, bei<br />
dem sein linker Ellenbogen zertrümmert<br />
wurde, ist der gelernte Elektriker von der IV<br />
abhängig. Er überlegt nun, im t-alk hinter<br />
dem Buffet auszuhelfen. Bis zu fünfzig Stunden<br />
pro Monat können Personen, die auf<br />
dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr haben,<br />
mit der so genannten Jobkarte arbeiten.<br />
«Besser als einfach herumsitzen und trinken.»<br />
Wenn der Treffpunkt um halb sechs<br />
schliesst, setzt sich Ralf Schreiner ins Tram,<br />
bis die Nachtpension um sieben Uhr ihre Tore<br />
öffnet. «Das ist nicht so einfach.» Er<br />
schlägt die Augen nieder und knetet seine<br />
Finger. «Man hat halt doch kein Zuhause.»<br />
Keine Wurzeln schlagen<br />
Das will die Nachtpension auch nicht sein.<br />
«Die Obdachlosen sollen sich hier nicht<br />
häuslich einrichten», erklärt die Leiterin Marianne<br />
Spieler. «Wir wollen sie so weit bringen,<br />
dass sie wieder eine dauerhafte Wohnlösung<br />
finden.» Das heisst zum Beispiel: Die<br />
Bewohnerinnen und Bewohner lernen, sich<br />
an Zeiten und Termine zu halten. Sie müssen<br />
auf Hygiene achten und ihr Zimmer in<br />
Ordnung halten – das wird regelmässig kon-<br />
Porträt<br />
Jeden abend um 19 Uhr öffnet die nachtpension ihre tore.<br />
trolliert. Denn nicht zuletzt davon hängt der<br />
Erfolg bei der Wohnungssuche ab. Nicht allen<br />
gelingt das so gut wie Ralf Schreiner. Betreuer<br />
Norbert Peterthalner öffnet die Türe<br />
zu einem anderen Zimmer. Hier türmen sich<br />
Kleiderhaufen, DVD-Stapel und Kabel. Nicht<br />
gerade ordentlich, aber auch nicht schlimmer<br />
als eine durchschnittliche Teenagerhöhle.<br />
«Für diesen Mann sieht es hier momentan<br />
sehr gut aus», bestätigt Norbert Peterthalner.<br />
«Daran haben wir gemeinsam gearbeitet.»<br />
Für seine Arbeit braucht der Sozialfachmann<br />
Fingerspitzengefühl und Durchsetzungsvermögen.<br />
Vor allem abends, wenn die<br />
Bewohner zwischen sieben Uhr und Mitternacht<br />
eintreffen und bei ihm den Zimmer-<br />
norbert Peterthalner: «es gibt wenig,<br />
was mich noch erschreckt.»<br />
Dezember 2012 – extra 17
Porträt<br />
Die nachtpension bietet 17 möblierte einer- und Zweierzimmer.<br />
schlüssel abholen. Dann erkundigt er sich,<br />
wie der Tag war, prüft, wie die Klienten psychisch<br />
und körperlich beieinander sind.<br />
Manchmal, wenn eine Gruppe zusammen im<br />
Aufenthaltsraum sitzt, gesellt er sich dazu,<br />
spricht mit ihnen über Gott und die Welt. Gerade<br />
klingelt es wieder. Höflich linst ein grosser<br />
Mann mit langen schwarzen Locken<br />
durch den Türspalt. «Tut mir leid, Herr Rama,<br />
ich habe jetzt gerade keine Zeit für Sie»,<br />
sagt Norbert Peterthalner und drückt dem<br />
Mann die Schlüssel in die Hand. «Kein Problem»,<br />
flüstert dieser und verschwindet leise.<br />
berührende Schicksale<br />
Nicht alle Nachtgäste sind so zurückhaltend.<br />
Wenn sich zwei gar nicht ausstehen können<br />
und aggressiv werden, könne es schon heikle<br />
Situationen geben, erzählt Norbert Peterthalner.<br />
Das erschüttert den Sozialfachmann<br />
kaum. «Ich mache diese Arbeit schon<br />
so lange. Es gibt wenig, was mich noch erschreckt.»<br />
Aus Erfahrung könne er meist<br />
schon abschätzen, wann ein Streit eskalieren<br />
in der nachtpension gelten regeln.<br />
18<br />
Dezember 2012 – extra<br />
werde, und rechtzeitig reagieren. Viel<br />
schwieriger findet er es, wenn Klienten die<br />
Betreuer gar nicht an sich heranlassen.<br />
«Wenn einer denkt, er habe hier sein Zimmer<br />
und alles andere interessiert ihn nicht. Dann<br />
hat er aber auch kaum eine Chance auf eine<br />
Vertragsverlängerung», betont Norbert Peterthalner.<br />
Denn der Mietvertrag gilt jeweils<br />
nur für drei Monate. Das bedeutet für die<br />
Mitarbeitenden, diese Person wieder auf die<br />
Strasse schicken zu müssen. Natürlich gebe<br />
es Schicksale, die einem nahe gingen. «Eigentlich<br />
ist jede einzelne Geschichte hier berührend,<br />
wenn man sie sich genauer anschaut.»<br />
Doch das dürfe man bei diesem Job<br />
nicht. «Man muss diese Menschen gerne haben,<br />
um diese Arbeit machen zu können.<br />
Gleichzeitig braucht es Respekt und eine gewisse<br />
Distanz.» Deshalb werden die Gäste<br />
auch gesiezt.<br />
Langsam kehrt Ruhe ein in der Nachtpension.<br />
Zum Schlafen kommt Norbert Peterthalner<br />
trotzdem noch lange nicht. Denn<br />
in den schummerigen Bars im Quartier hat<br />
die Nacht eben erst begonnen. Und auf den<br />
Betreuer wartet ein Berg Büroarbeit. Für jeden<br />
Klienten erstellt er einen Bericht, dokumentiert,<br />
wie der Abend verlief. Da steht<br />
plötzlich der dunkelhaarige Mann von vorhin<br />
wieder im Büro. «Der falsche Schlüssel!»<br />
Norbert Peterthalner entschuldigt sich sofort.<br />
«Das macht nichts. 501, 502, das ist<br />
doch fast dasselbe.» Der grosse Mann lächelt,<br />
schnappt sich den richtigen Schlüssel<br />
und schlüpft durch die Tür. «Gute Nacht.»<br />
*namen von der redaktion geändert.<br />
Pilotprojekt<br />
für Obdachlose<br />
Vor zwei Jahren lancierte die stadt Zürich<br />
die nachtpension für obdachlose als<br />
schweizweit einzigartiges Pilotprojekt. im<br />
november entschied der gemeinderat,<br />
den betrieb definitiv weiterzuführen.<br />
die nachtpension richtet sich insbesondere<br />
an ältere, psychisch kranke oder<br />
suchtkranke langzeitobdachlose. Für sie<br />
ist die notschlafstelle irgendwann nicht<br />
mehr die richtige lösung und andere einrichtungen<br />
nehmen sie nicht auf. in der<br />
nachtpension finden diese Menschen ein<br />
Jahr lang eine unterkunft für die nacht.<br />
sozialfachleute betreuen die obdachlosen<br />
und helfen ihnen, eine dauerhafte<br />
Wohnlösung zu finden.<br />
das haus in Zürich Wiedikon verfügt über<br />
17 möblierte einer- oder Zweierzimmer.<br />
Für die Übernachtung inklusive betreuung<br />
bezahlen die klienten den betrag,<br />
den die sozialhilfe oder iV für die Wohnkosten<br />
übernehmen: 1100 Franken pro<br />
Monat im doppelzimmer, 1375 Franken<br />
im einzelzimmer.
FundStück<br />
Tod in der<br />
Genossenschaft<br />
Wenn ganz verschiedene Menschen auf<br />
engem Raum zusammenwohnen, kann<br />
es schon mal zu Reibereien kommen.<br />
Aber gleich Mord und Totschlag? Im<br />
Alltag zum Glück nicht! Doch warum<br />
sich nicht einmal in eine abenteuerliche<br />
Geschichte entführen lassen? In seinem<br />
nächsten Buch erzählt Krimiautor Stephan<br />
Pörtner von einer Genossenschaftssiedlung,<br />
in der Mysteriöses geschieht.<br />
Allzu viel sei noch nicht verraten,<br />
nur dies: Es geht um einen toten<br />
Alkoholiker, verdächtige Scherben, dubiose<br />
Immobilienspekulanten und einen<br />
beherzten Hauswart.<br />
Der «Genossenschaftskrimi», eigens<br />
für Wohnbaugenossenschaften Schweiz<br />
verfasst, erscheint im nächsten Frühsommer.<br />
Als Erinnerung an das Uno<br />
Jahr der Genossenschaften werden alle<br />
Baugenossenschaften ein persönliches<br />
Exemplar erhalten und es zum Vorzugspreis<br />
für ihre Bewohnerinnen und Bewohner<br />
bestellen können. Der Krimi<br />
wird ausserdem im Buchhandel erhältlich<br />
sein. Wohnen wird auf jeden Fall<br />
informieren, wenn es soweit ist.<br />
Mehr zum Autor: www.stpoertner.ch<br />
Recht<br />
Hat jeder Mensch<br />
das Recht auf eine<br />
Wohnung?<br />
Tipps & Tricks<br />
Wie Genossenschaftsbewohner beim Wohnen mitreden können und<br />
wann die Gastfreundschaft Grenzen hat: Vier Fragen an Michael<br />
Schlumpf vom Rechtsdienst von Wohnbaugenossenschaften Schweiz.<br />
Gibt es in der Schweiz ein verbrieftes Recht<br />
auf eine Wohnung?<br />
Nein. Im Zusammenhang mit den verfassungsmässigen<br />
Grundrechten gibt es in der<br />
Schweiz diesbezüglich keinen Anspruch. Es<br />
steht also nirgends geschrieben, dass allen eine<br />
Wohnung zusteht. Steckt jemand in einer<br />
prekären Wohnsituation, kann er sich aber an<br />
unsere sozialen Einrichtungen wenden.<br />
Aber wenn meine Genossenschaftswohnung<br />
totalsaniert wird oder einem Neubau<br />
weichen muss, habe ich dann als Mitglied<br />
einer Baugenossenschaft Anspruch auf<br />
eine Ersatzwohnung?<br />
Das ist nicht zwingend der Fall. Viele Baugenossenschaften<br />
verpflichten sich jedoch<br />
in ihren Statuten, den Mitgliedern eine geeignete<br />
Ersatzwohnung anzubieten, falls<br />
ein Auszug wegen einer umfassenden Sanierung<br />
oder einem Ersatzneubau nötig<br />
wird. Das klappt auch in den meisten Fällen<br />
bestens. Sollte es einer Genossenschaft aus<br />
irgendwelchen Gründen unmöglich sein,<br />
ein Ersatzobjekt zur Verfügung zu stellen<br />
und sie sich gezwungen sehen, die Kündigung<br />
auszusprechen, kann der Mieter diese<br />
anfechten.<br />
Mitglieder von Baugenossenschaften können<br />
mitbestimmen. Ein konkretes Instrument<br />
dazu ist zum Beispiel der Antrag an<br />
die Generalversammlung. Kann ein solcher<br />
spontan an der GV eingebracht werden?<br />
Es kommt darauf an, ob aus dem Antrag ein<br />
Beschluss gefasst werden soll. Ein Spontanantrag<br />
mit Beschlussfassung ist nicht möglich.<br />
Es ist nämlich so, dass ein ordentlicher<br />
Antrag im Normallfall zwanzig Tage vor der<br />
GV schriftlich eingereicht, auf die Traktan<br />
denliste gesetzt und allen Mitgliedern zugestellt<br />
werden muss. Wer an der GV spontan<br />
eine Idee einbringen will, hat jedoch die<br />
Möglichkeit, diese unter Varia vorzubringen.<br />
Ein Beschluss darüber kann jedoch erst an<br />
der nächsten GV gefasst werden.<br />
Viele Leute beherbergen gerne Gäste. Darf<br />
man als Mieter andere Personen in seiner<br />
Wohnung aufnehmen?<br />
In unseren Musterstatuten ist dieser Aspekt<br />
erwähnt. Dort heisst es: Die dauerhafte Aufnahme<br />
von anderen Personen ist in der Mietwohnung<br />
nicht zulässig. Wenn der Mieter<br />
von Gästen spricht, ist das natürlich eine Definitionsfrage.<br />
Wohnen beispielsweise über<br />
einen längeren Zeitraum sieben Menschen<br />
in einer Zweizimmerwohnung, kann die Genossenschaft<br />
wohl zu Recht eine übermässige<br />
Beanspruchung der Mietsache geltend<br />
machen. Dasselbe gilt übrigens für die Untermiete,<br />
für die es ja sowieso die Zustimmung<br />
der Genossenschaft braucht. Und immer<br />
mehr Genossenschaften bestimmen,<br />
dass das Mitglied selber in der Wohnung leben<br />
muss.<br />
Dr. iur. Michael schlumpf ist Berater beim<br />
Rechtsdienst von Wohnbaugenossenschaften<br />
Schweiz.<br />
Dezember 2012 – extra 19
Rätsel<br />
Die Gewinnerinnen und Gewinner des Rätsels von<br />
Wohnen extra 2/2012 sind:<br />
Otto streif<br />
Waldparkstrasse 49<br />
8212 Neuhausen<br />
Heidi Fischer<br />
Maihofhalde 13<br />
6006 Luzern<br />
Katrin Hürzeler<br />
Haldenstrasse 135<br />
8055 Zürich<br />
Übrigens: Wer das Quiz in<br />
Wohnen extra 1/2012<br />
gewonnen hat und drei Monate gratis wohnen darf, lesen Sie im<br />
Hauptheft der Dezemberausgabe von Wohnen.<br />
Ferien und Freizeit geniessen –<br />
mit Reka-Geld<br />
Wenn Sie beim Preisrätsel mitmachen, haben Sie die<br />
Chance, Reka-Checks im Wert von 100 Franken zu gewinnen.<br />
Mehr als 8700 Annahmestellen akzeptieren<br />
Reka-Checks als Zahlungsmittel, darunter Restaurants,<br />
Bergbahnen, Museen, Freizeitparks und der öffentliche<br />
Verkehr. Damit eröffnen sich zahlreiche Möglichkeiten<br />
für Ferien und Freizeit. Insgesamt verlosen wir dreimal<br />
Reka-Checks im Wert von je 100 Franken.<br />
Schreiben Sie das Lösungswort auf eine Postkarte und<br />
senden Sie diese bis 1. März 2013 an Verlag Wohnen,<br />
Bucheggstrasse 109, Postfach, 8042 Zürich. Die Gewinnerinnen<br />
und Gewinner werden ausgelost und schriftlich<br />
benachrichtig. Über den Wettbewerb wird keine<br />
Korrespondenz geführt.