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Thomas Martin Schneider: Kirche ohne Mitte? (Leseprobe)

Die evangelische Kirche leidet unter massivem Mitgliederschwund. In den vergangenen Jahrzehnten hat sie sogar noch deutlich mehr Mitglieder verloren als die römisch-katholische Kirche. Die Gründe für diesen Niedergang sind vielfältig und komplex, aber eine Ursache drängt sich auf: Ist der Kirche auch die Orientierung abhandengekommen? Hat sie womöglich ihre Mitte aus den Augen verloren? Die Mitte zwischen der Verkündigung des Evangeliums und gesellschaftspolitischem Appell, die theologische Mitte und die Mitte der Gesellschaft, die Mitte zwischen der Weitergabe religiöser Traditionen und der Anpassung an den Zeitgeist, zwischen eigener Profilierung und Öffnung nach außen, zwischen Amt und Gemeinde? Nach einer Skizzierung der Kirchengeschichte der letzten hundert Jahre diskutiert der renommierte Kenner kirchlicher Zeitgeschichte, Thomas Martin Schneider, diese Frage – anhand konkreter Beobachtungen unserer Gegenwart. Gerade als Kirchenhistoriker will Schneider Anstöße geben, wie das reformatorische Christentum wieder zukunftstauglich werden kann. Das gelingt ihm mit seiner mutigen Analyse.

Die evangelische Kirche leidet unter massivem Mitgliederschwund. In den vergangenen Jahrzehnten hat sie sogar noch deutlich mehr Mitglieder verloren als die römisch-katholische Kirche. Die Gründe für diesen Niedergang sind vielfältig und komplex, aber eine Ursache drängt sich auf: Ist der Kirche auch die Orientierung abhandengekommen? Hat sie womöglich ihre Mitte aus den Augen verloren? Die Mitte zwischen der Verkündigung des Evangeliums und gesellschaftspolitischem Appell, die theologische Mitte und die Mitte der Gesellschaft, die Mitte zwischen der Weitergabe religiöser Traditionen und der Anpassung an den Zeitgeist, zwischen eigener Profilierung und Öffnung nach außen, zwischen Amt und Gemeinde?
Nach einer Skizzierung der Kirchengeschichte der letzten hundert Jahre diskutiert der renommierte Kenner kirchlicher Zeitgeschichte, Thomas Martin Schneider, diese Frage – anhand konkreter Beobachtungen unserer Gegenwart. Gerade als Kirchenhistoriker will Schneider Anstöße geben, wie das reformatorische Christentum wieder zukunftstauglich werden kann. Das gelingt ihm mit seiner mutigen Analyse.

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III Wo die <strong>Mitte</strong> fehlt<br />

Die problematische <strong>Mitte</strong>lpunktstellung der Politik<br />

und das Fehlen der politischen <strong>Mitte</strong><br />

Im November 1915 stellte ein Mitglied einer evangelischen<br />

Synode den förmlichen Antrag auf Abschaffung der Gottesdienste<br />

zur Eröffnung der Synodaltagungen. Die Begründung:<br />

Der Gottesdienst habe für den Inhalt und die Art der<br />

Synodalverhandlungen keinerlei sachliche Bedeutung mehr.<br />

Alles, insbesondere alles Staatliche, werde „hier hundertmal<br />

wichtiger genommen … als Gott“ 201 . Man kann fragen, ob Karl<br />

Barth – er war der Synodale – für sich selbst immer diese Kritik<br />

beherzigt hat, da er sich immer mal wieder in genuin politische<br />

Angelegenheiten einmischte. Man hat ihm auch vorgeworfen,<br />

dass er in der Zeit der „Weimarer Republik“ durch<br />

seine illiberale Theologie „faktisch demokratierelativierend<br />

gewirkt“ habe. 202 Man kann sich heute ferner darüber wundern,<br />

wie gleichgültig sich Barth etwa in seiner berühmten<br />

Programmschrift vom Juni 1933 „Theologische Existenz heute!“<br />

über Freiheit und Recht äußern konnte, die er als „zeitliche<br />

und irdische Güter“ bezeichnete, die „schon manches Volk in<br />

alter und neuer Zeit hat … entbehren müssen und dann auch<br />

entbehren können, wenn das kühne Unternehmen des ‚totalen<br />

Staates‘ es von ihm verlangte“ 203 . Trotzdem hat der junge<br />

201 Zitiert nach Eberhard Busch, Glaubensheiterkeit. Karl Barth. Erfahrungen<br />

und Begegnungen, Neukirchen-Vluyn 5 1987, S. 11.<br />

202 Friedrich Wilhelm Graf, „Der Götze wackelt“? Erste Überlegungen zu Karl<br />

Barths Liberalismuskritik, in: EvTh 46/1986, S. 422–441, hier: 440 f. Zu ähnlicher<br />

Kritik von anderen Theologen und Historikern vgl. <strong>Schneider</strong>, Barmen<br />

(wie Anm. 8), S. 100–102.<br />

203 Karl Barth, Theologische Existenz heute! (ZZ Beiheft 2), München 1933. Neu<br />

hg. und eingeleitet von Stoevesandt, Hinrich (TEH. NF 219), München 1984,<br />

S. 40.<br />

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