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Aus Wolfgang und Jürgen Butzkamm: Wie Kinder sprechen lernen ...

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<strong>Aus</strong><br />

<strong>Wolfgang</strong> <strong>und</strong> <strong>Jürgen</strong> <strong>Butzkamm</strong>:<br />

<strong>Wie</strong> <strong>Kinder</strong> <strong>sprechen</strong> <strong>lernen</strong><br />

Tübingen, Francke Verlag, 2. Auflage 2004<br />

Kapitel 6 Das »Mutterische« nach Sprechbeginn:<br />

eine Art Unterricht?<br />

Eltern lehren die <strong>Kinder</strong> nie Sprache, ohne daß diese nicht immer selbst mit<br />

erfänden. (Johann Gottfried Herder)<br />

Anpassung ohne grammatische Dosierung<br />

Das »Mutterische« meint – in Anlehnung an das englische motherese – die<br />

Art, in der Mütter mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern kommunizieren. Man<br />

braucht aber nicht tatsächlich Mutter geworden zu sein, um das »Mutterische«<br />

zu <strong>sprechen</strong>. Auch Nichtmütter verwenden es als Babysitter oder in<br />

Rollenspielen; desgleichen Väter <strong>und</strong> ältere Geschwister. So wäre auch<br />

»Elternsprache« (engl. parentese, auch caretaker speech, child-directed<br />

speech) angebracht. Die ältere Bezeichnung »Ammensprache« (baby talk)<br />

wird heute für das mütterliche An<strong>sprechen</strong> des Kleinkinds vor Sprechbeginn<br />

reserviert.<br />

Mütter passen sich den Fortschritten ihrer <strong>Kinder</strong> kontinuierlich an. Sie<br />

lassen sich durch das Kind leiten <strong>und</strong> dosieren ihre Anregungen ent<strong>sprechen</strong>d<br />

der kindlichen Aufnahmebereitschaft. Das »Mutterische« für das<br />

Säuglingsalter, eben die Ammensprache, ist anders als die an Zweijährige <strong>und</strong><br />

wieder anders als die an Fünfjährige gerichtete Sprache.<br />

Allerdings: Eltern haben keinen Lehrplan. Ihre Sprache ist nicht wie ein<br />

Lehrbuch in grammatische Kapitel eingeteilt. Zwar traktiert niemand einen<br />

Zweijährigen mit Obwohl-Sätzen – weil dieser sie wohl nicht kapieren würde.<br />

So bekommen <strong>Kinder</strong> wie im Unterricht durchaus eine grammatische<br />

Schonfrist, doch nur in den Fällen, wo die Verständigung gefährdet wäre.<br />

Die Gr<strong>und</strong>regel des »Mutterischen« besteht darin, verständlich <strong>und</strong> dabei<br />

grammatikalisch korrekt zu <strong>sprechen</strong>. Zwar benutzen Eltern anfangs<br />

verniedlichende Babywörter <strong>und</strong> Kosewörter, die so in der<br />

Erwachsenensprache nicht vorkommen: taita statt spazierengehen, hmhm<br />

statt essen usw. Aber sie <strong>sprechen</strong> grammatisch richtig <strong>und</strong> gehen keine<br />

Kompromisse ein wie etwa beim »<strong>Aus</strong>länderdeutsch«.<br />

Den Schlüssel zum Verständnis des Mutterischen liefert somit der<br />

Vergleich: Warum unterscheidet sich das Mutterische sowohl vom<br />

Sprachunterricht wie auch vom <strong>Aus</strong>länderdeutsch? Im Umgang mit<br />

radebrechenden <strong>Aus</strong>ländern kommen uns Sätze wie die folgenden fast<br />

ungewollt über die Lippen.


(Beim <strong>Aus</strong>füllen eines Fragebogens): »Hier du Kreuz machen.«<br />

(Am Mittagstisch in der Familie): »In Deutschland das Kartoffelsalat<br />

heißen.«<br />

Nach unseren Erfahrungen ist dies keineswegs herablassend gemeint.<br />

Vielmehr ist der Wunsch überdeutlich, voll <strong>und</strong> ganz verständlich zu sein <strong>und</strong><br />

in Notsituationen wirksam zu helfen. Warum <strong>sprechen</strong> Mütter dann nicht auch<br />

so? Hier geht es doch auch in erster Linie um Verständigung! Daß sie mit<br />

ihren Kleinkindern z.T. grammatisch vereinfacht, aber richtig <strong>sprechen</strong>, ist uns<br />

selbstverständlich. Zu selbstverständlich. Wir sollten über solche<br />

Selbstverständlichkeiten stolpern <strong>und</strong> stutzig werden!<br />

»<strong>Aus</strong>länderdeutsch« wird in punktuellen Begegnungen <strong>und</strong> bei flüchtigen<br />

Bekanntschaften gesprochen. Ein Verständigungsproblem ist möglichst rasch<br />

zu lösen. Der Umgang mit dem Kind ist jedoch von Dauer <strong>und</strong> auf dauernden<br />

Spracherwerb ausgerichtet. Beim <strong>Aus</strong>länderdeutsch fehlt das Motiv, das Eltern<br />

bewußt oder unbewußt leitet: Sprache zu lehren.<br />

Bleibt die Frage, wie <strong>und</strong> warum sich das Mutterische vom Vorgehen der<br />

Sprachlehrer unterscheidet.<br />

Vokabelgleichungen, Trennhilfen <strong>und</strong> Lehrerfragen<br />

Eltern erteilen Sprachlektionen en miniature – aber eben eher unbeabsichtigt.<br />

Würden sie ihren Kleinen wirklich Sprachunterricht geben wollen, würde der<br />

Versuch kläglich mißraten. Trotzdem verwenden sie teilweise die gleichen<br />

didaktischen Tricks wie Fremdsprachenlehrer. Kommt z.B. ein neues<br />

Spielzeug in die Badewanne, heben sie das Wort in ihrer Rede so hervor, daß<br />

das Kind gewissermaßen eine Vokabelgleichung aufstellen kann: »Aha,<br />

(dasheißtalsojetzt) Entchen«. »Entchen« als neuer Geschehensschwerpunkt<br />

hebt sich ab vom bekannten Hintergr<strong>und</strong> der Badezeremonie. Wort <strong>und</strong> Welt<br />

werden zur Deckung gebracht. Zusätzlich zu solchen »Vokabelhilfen« geben<br />

sie »Trennhilfen«, so daß die den Inhalt tragenden Wörter aus dem Satz<br />

herausgelöst werden können. Wir, als der Schrift verhaftete Erwachsene, die<br />

wir die Wörter im Druck säuberlich getrennt vor uns sehen, vergessen, wie die<br />

Einzelwörter in der Rede normalerweise aneinanderkleben<br />

<strong>und</strong>inihrgleichsamverschwinden. War das nun die Rektorstelle oder<br />

Direktorstelle? Es klingt völlig gleich. Aber erst wenn wir eine Fremdsprache<br />

<strong>lernen</strong> <strong>und</strong> Mühe haben, die ineinanderfließenden Klanggebilde zu<br />

entschlüsseln, werden wir uns dessen wieder bewußt.<br />

Daß <strong>Kinder</strong> Trennhilfen brauchen, verrät uns der gut vierjährige Bubi, der<br />

eine Zeitlang an den unmöglichsten Stellen vor das »du« ein s zu setzen<br />

pflegte, wahrscheinlich in Anlehnung an Formen wie gehste (gehst-du), biste<br />

(bist-du), siehste (siehst-du). So sagte er statt »wenn du«, »weil du«, »wie<br />

du«, »ob du«, »die du« – »wennste«, »weilstu«, »wiestu« »obstu«, »diestu«:


»Die Kiste, diestu auf den Tisch gestellt hast ...« oder »wennste nich artig bist,<br />

wer’ ich dich ins Wasser wäfen.« 1 Ein schönes Beispiel liefert Hilde Stern<br />

(3;10), die oft mit einem »Zerlaubst du’s?« um Erlaubnis bittet. Des Rätsels<br />

Lösung: Das z /ts/ stammt wohl aus dem Satz: »Die Mutter, der Vater hat’s<br />

erlaubt.« Ihr Bruder Günther, zweieinhalb, nennt den Weihnachtsbaum<br />

»Otannebaum« nach dem bekannten Weihnachtslied. Und natürlich haben<br />

nicht nur <strong>Aus</strong>länder, sondern auch deutsche Muttersprachler mit den<br />

»trennbaren Verben« ihre Probleme, wie wiederum Hilde (5) dokumentiert:<br />

»Warum wortest du nicht an? Warum wortest du mir nicht an?« Weitere<br />

falsche Abtrennungen von verschiedenen <strong>Kinder</strong>n:<br />

mit’n das Messer<br />

die Abalo, meine Abalo (Diabolospiel)<br />

Papa: Das sind doch gar keine Pakete.<br />

Gisa: Gisa offen machen! Gisa dahfa (darf-er) doch offen machen!<br />

Gisa: Magse nich (Mag ich nicht). Papa mags das.<br />

Ein niederländisches Beispiel:<br />

Papa kweet ’t niet.<br />

(statt: Papa weet ’t niet. Falsche Abtrennung des k von: Ik weet ’t niet/ ich<br />

weiß es nicht)<br />

<strong>Wie</strong> im Deutschen <strong>und</strong> Englischen bereitet auch im Französischen die richtige<br />

Scheidung zwischen Artikel <strong>und</strong> Hauptwort Probleme; so tauchen statt l’oiseau<br />

(der Vogel) auch Fehlformen auf wie le loiseau <strong>und</strong> le soiseau, statt<br />

l’ascenseur (der Lift) la senseur <strong>und</strong> viele ähnliche Fehler.<br />

Ein englisches Beispiel:<br />

Mother: Don’t argue.<br />

Hugh (3;0): I don’t arg me.<br />

Hugh hat argue (wider<strong>sprechen</strong>) als arg you oder arg Hugh mißverstanden,<br />

wobei unklar ist, was er sich überhaupt unter arg vorgestellt hat. 2<br />

An Unterricht erinnern auch die typischen »Lehrerfragen«, die eigentlich<br />

gar keine Fragen sind. Die Eltern wissen die Antwort ja schon <strong>und</strong> fragen,<br />

genau wie der Lehrer, nur um die <strong>Kinder</strong> zu sinnvollen Äußerungen zu<br />

bewegen. Im Englischen spricht man hier von display questions, also von<br />

Vorzeigefragen: Die Schüler erhalten durch sie die Gelegenheit, ihre<br />

Kenntnisse vorzuzeigen.<br />

So ahnt die Mutter schon, was die eineinhalbjährige Jenny will, nämlich<br />

ihre Teeflasche. Sie stellt sich aber dumm, möchte gerne, daß Jenny auch<br />

»Tee« sagt. Sie hat ja schon einmal so etwas wie »tä« gesagt. Also fragt die<br />

Mutter, indem sie auf Verschiedenes zeigt: »Willst du das? Oder das?« Jenny<br />

verneint jeweils mit einem »gägä« Laut, verändert aber die Intonation deutlich,


als endlich das Teefläschchen an der Reihe ist. Diesmal gelingt es also nicht,<br />

ihr das Wort zu entlocken: vielleicht hat Jenny einfach Spaß an dem Spiel. Sie<br />

ist noch im Einwortstadium <strong>und</strong> läßt sich nicht häufig herab, vernehmlich »tä«<br />

zu sagen. Mütter wissen also, ob ihr Kind ein betreffendes Wort schon einmal<br />

gebraucht hat – genauso wie der Lehrer die Übersicht über den Stoff behält,<br />

den er durchgenommen hat.<br />

In den folgenden <strong>Aus</strong>schnitten haben die Mütter mehr Erfolg als bei Jenny.<br />

Es gelingt ihnen, den Kleinen das passende Wort zu entlocken. 3<br />

Maria (1;9) zeigt beim Betrachten eines neuen Bilderbuches auf einen Hahn<br />

<strong>und</strong> äußert zur danebensitzenden <strong>und</strong> zusehenden Mutter:<br />

Maria: ga<br />

Mutter: was ist das?<br />

Maria: gi gi<br />

Mutter: <strong>und</strong> wie macht der Hahn?<br />

Maria: ki ki<br />

Mutter: jawoll<br />

Julia (2;6) sitzt auf dem Schoß der Mutter <strong>und</strong> äußert plötzlich:<br />

Julia: mein Hallo<br />

Mutter: dein was?<br />

Julia: mein Hallo<br />

Mutter: dein was?<br />

Julia: mein Telefon<br />

Mutter: na da geh doch, hol dein Telefon, da telefonieren wir beide ja<br />

Julia: ja<br />

Mutter: los, holst de ma.<br />

Auffällig ist auch, daß <strong>Kinder</strong> bei Rückfragen Varianten des zuerst Gesagten<br />

anbieten, so als ahnten sie, daß sie sich vielleicht nicht richtig oder<br />

verständlich genug ausgedrückt haben:<br />

Valle (2;10): Die ham sich die Farben abmacht! (Der Regen hatte Farben<br />

von der Scheibe gewaschen)<br />

Mutter: Hm?<br />

Valle: Die ham die Malen abmacht.<br />

Mutter: Die ham das Gem-, was da gemalt war, weggewaschen, ja.<br />

S (1;10, geht mit einer Dose zum Vater): Schrauben machen.<br />

Vater: Was soll ich machen?<br />

S. (gibt ihm die Dose): Macht schrauben.<br />

(Vater öffnet die Dose) 4<br />

Als Valle zum zweiten Mal ansetzt, läßt er das falsche »sich« weg, ersetzt<br />

aber auch »Farben« durch »Malen« <strong>und</strong> verschlimmbessert nur. Aber es<br />

kommt auf das Prinzip an.<br />

Die Eltern könnten gar nichts erreichen, wenn die <strong>Kinder</strong> nicht von sich aus


mitarbeiten würden.


Das Prinzip der Mehrdarbietung<br />

Eltern passen sich allgemein – in Thematik <strong>und</strong> Wortschatz mehr als in der<br />

Grammatik – der Aufnahmefähigkeit des Kindes an, sind ihm dabei aber stets<br />

ein gutes Stück voraus: das Sternsche Prinzip der »Mehrdarbietung«.<br />

Manchmal ergießt sich ein wahrer Wortschwall über das Kind. Es wird nicht<br />

erwartet, daß das Kind dann alles einzeln aufnimmt. So wie jeder von uns<br />

mehr Wörter <strong>und</strong> Satzbaupläne versteht, als er selbst aktiv gebraucht, so<br />

rechnen Eltern auch mit einem Gefälle zwischen (elterlicher) Spracheingabe<br />

<strong>und</strong> (kindlicher) Sprachaufnahme.<br />

Das Prinzip der »Mehrdarbietung« ist identisch mit dem pädagogischen<br />

Gr<strong>und</strong>satz der »leichten Überforderung«. Es ist eine Art Vorwegnahme, wie<br />

aller Unterricht. Die Ansprüche werden stets ein wenig höher geschraubt. Wer<br />

<strong>Kinder</strong> fördern will, muß ihnen immer mehr bieten, als ihrem augenblicklichen<br />

Kenntnisstand entspricht. Es braucht ihnen nicht alles gleich in den Schoß zu<br />

fallen, <strong>und</strong> sie brauchen nicht alles bis aufs i-Tüpfelchen zu verstehen, haben<br />

sie doch die Fähigkeit, über Unverstandenes schlicht hinwegzuhören. Es muß<br />

Raum bleiben für das kindliche <strong>Aus</strong>deuten, Erahnen, Weiterfragen. So werden<br />

<strong>Kinder</strong> durchaus mit einem reichen, differenzierten Sprachangebot fertig,<br />

hätten aber keinerlei Möglichkeit, ein kärgliches <strong>und</strong> sprachlich primitives<br />

Angebot zu kompensieren.<br />

Ein weiteres Merkmal ist das verständnisvolle Aufgreifen <strong>und</strong> Erweitern<br />

kindlicher Äußerungen etwa der folgenden Art:<br />

Gisa (2;3): Gisabeth Mama sind?<br />

Vater:<br />

Ja wo sind denn Elisabeth <strong>und</strong> Mama? Die sind grad um die Ecke gebogen.<br />

Gisa (2;3): Papa hinamissen, Gisa wiedaaufahebt.<br />

Vater:<br />

Da hat doch die Gisa die Mütze wieder aufgehoben. Vielen Dank auch.<br />

Jenny: Ich hab die Blumen gegießt.<br />

Mutter:<br />

Gut, du hast die Blumen gegossen. Und was kommt jetzt dran?<br />

So spricht man nicht mit seinesgleichen. Es klänge zu betulich. Das scheinbar<br />

beiläufige <strong>Wie</strong>derholen könnte indes eine ideale Art des sprachlichen<br />

Umgangs mit <strong>Kinder</strong>n sein – aber auch nur, solange es den <strong>Kinder</strong>n selbst<br />

nicht gewollt <strong>und</strong> belehrend vorkommt. Bei <strong>Kinder</strong>n im Einwort-, Zweiwort- <strong>und</strong><br />

Dreiwortstadium tragen die Eltern ohnehin die Hauptlast des Gesprächs. Das<br />

Wesentliche ist hier, daß sie den Beitrag des Kindes bekräftigen – das<br />

Gespräch fortführen, ohne offen zu korrigieren. Zugleich wird ihm eine korrekte<br />

Form seiner eigenen Äußerung sehr geschickt zugespielt. Ob das Kind genau<br />

zu diesem Zeitpunkt etwas damit anfangen kann, ob die korrekte Form dem


Kind etwas signalisiert, können sie nicht wissen. Vielfach scheinen die <strong>Kinder</strong><br />

die ihnen so schön präsentierten Korrekturmöglichkeiten – statt »gegießt« also<br />

»gegossen« – gar nicht aufzugreifen – oder doch zunächst nicht. Aber<br />

irgendwann werden sie dazu bereit sein. Im Fremdsprachenunterricht, der<br />

unter Zeitdruck steht, hat diese Art von Korrektur den Effekt, das Gespräch in<br />

Gang zu halten <strong>und</strong> Mut zu machen zu fremdsprachlicher Verständigung, statt<br />

Ängste vor Fehlern zu schüren.<br />

Normalentwickelte <strong>Kinder</strong> wiederum reagieren genauer als die in ihrer<br />

Sprachentwicklung verzögerten <strong>Kinder</strong> auf den elterlichen Zuspruch: Sie<br />

greifen im Gespräch bedeutend mehr Stücke der elterlichen Äußerungen auf. 5<br />

Dortm<strong>und</strong>er Aufnahmen zeigen uns das Aumaß der von <strong>Kinder</strong>n <strong>und</strong> Eltern<br />

gemeinsam geleisteten Spracharbeit. Katrin wurde im Alter von 1;5 202<br />

Minuten lang aufgenommen, in denen sie genau 3.998 Wörter sprach; die<br />

fünfjährige Gabi wurde zweieinhalb St<strong>und</strong>en lang aufgenommen <strong>und</strong> sprach<br />

insgesamt 6.412 Wörter. Hochgerechnet auf den Tag ergeben sich ca. 14.000<br />

Wörter für die jüngere <strong>und</strong> 30.400 für die ältere. Das ist mehr, als ein<br />

Schulkind im Englischunterricht bei fünf Wochenst<strong>und</strong>en über ein ganzes Jahr<br />

spricht. 6<br />

Das Prinzip des doppelten Verstehens<br />

Vergessen wir nicht die im vierten Kapitel dargestellte elterliche<br />

Suggestionsmethodik in den frühen Stadien der vorsprachlichen<br />

Kommunikation. In den Verhaltensmikroanalysen der Papouseks wurde<br />

deutlich, wie Kleinkinder unter elterlicher Führung ein Know-how des Dialogs<br />

erwerben – noch vor Sprechbeginn. So wecken die um etwa eine Terz erhöhte<br />

Stimmlage <strong>und</strong> die charakteristischen, ausgeprägten Tonhöhenschwankungen<br />

die Aufmerksamkeit für die Sprache, so daß das Baby die elterlichen Stimmen<br />

in dem Schwall von Umweltgeräuschen lokalisieren <strong>und</strong> ihnen folgen kann.<br />

Was ist jetzt wichtig? Wer ist jetzt an der Reihe? Dazu kommt die<br />

<strong>Wie</strong>derholung derselben wenigen, deutlich voneinander geschiedenen<br />

melodischen Muster, die auch bei wechselndem Wortlaut in auffallender<br />

Ähnlichkeit wiederkehren <strong>und</strong> Botschaften des Gefühls vermitteln: Locken,<br />

Animieren, Bestätigen, Beruhigen, Trösten.<br />

Man darf die elterlichen Schrittmacherdienste in den frühen Erwerbsstadien<br />

nicht übersehen. In diesem Kapitel beziehen wir uns jedoch auf die elterlichen<br />

Sprechweisen im zweiten <strong>und</strong> dritten Lebensjahr, also nach dem<br />

Sprechbeginn. In dieser Zeit wird ebenso deutlich, daß Eltern nicht nur<br />

Lieferanten des Sprachstoffs sind, den die <strong>Kinder</strong> nach eigenen Prinzipien<br />

verarbeiten. So bleibt das Besprochene immer in einem überschaubaren<br />

Rahmen. Eltern spüren, daß sie nicht zuviel Informationen auf einmal bieten<br />

dürfen, <strong>und</strong> geben wiederholt die gleiche Information. Sie wiederholen auch<br />

sprachlich korrekte Äußerungen des Kindes besonders häufig <strong>und</strong> stellen<br />

nach inkorrekten Äußerungen häufiger Klärungsfragen. Dabei bekommt das


Kind die Gelegenheit, mitzutun <strong>und</strong> mitzureden. Die elterliche Devise lautet: Im<br />

Gespräch bleiben – auch bei minimalen Beiträgen des Kindes.<br />

Bew<strong>und</strong>ernswert meist auch die große Kunst, die sie bei der Deutung der<br />

kindlichen Beiträge an den Tag legen: »E hossen e Heller e Hünter; e heine e<br />

Hilde«. Und Clara Stern weiß, was ihr Günther hier sagt: »Einen großen Teller<br />

hat der Günther, einen kleinen die Hilde«. Eltern machen auch weiter, wenn<br />

das Gespräch eher einseitig verläuft <strong>und</strong> die <strong>Kinder</strong> noch vielfach reagieren,<br />

statt selbst etwas zu initiieren.<br />

Ein zweiter Punkt. Eltern wollen verstanden werden. Nur so können sie<br />

erwarten, daß ihre <strong>Kinder</strong> ihnen gehorchen, <strong>und</strong> das ist fürs Überleben heute<br />

vielleicht noch genauso wichtig wie im Steinzeitalter. Das Verstehen der<br />

Sprache ist aber nun auch die Voraussetzung für die Entschlüsselung der<br />

Sprachform. Die an <strong>Kinder</strong> gerichtete Sprache ist anfangs grammatisch<br />

transparenter als gewöhnlich. Hilfsmittel sind das langsamere, schon an<br />

Karikatur grenzende überdeutliche Sprechen <strong>und</strong> das Betonen der neuen, den<br />

Sinn tragenden Wörter, die aus dem umkleidenden Redeschwall<br />

herausgehoben werden. Die Sprechmelodik vermittelt somit nicht nur basale<br />

Botschaften des Gefühls, sondern übernimmt sprachliche Funktionen <strong>und</strong> gibt<br />

die erwähnten Trenn- <strong>und</strong> Vokabelhilfen. Dazu kommen <strong>Wie</strong>derholungen, teils<br />

in identischer, teils in leicht abgewandelter Form, <strong>und</strong> Vereinfachungen der<br />

folgenden Art:<br />

–<br />

viele sich auf das Hier <strong>und</strong> Jetzt beziehende Fragen <strong>und</strong> Aufforderungen, die<br />

das Verstehen der Situation geradezu herbeizwingen<br />

– kurze Sätze, kleine Informationsmengen<br />

– weniger komplexe Sätze, weniger Nebensätze<br />

– weniger Vergangenheitsformen der Verben<br />

– weniger Wörter vor dem Hauptverb<br />

–<br />

weniger Funktionswörter, statt dessen Dingwörter, die konkrete, anschauliche<br />

Inhalte bezeichnen.<br />

Auf die kürzeste Formel gebracht: Eltern versuchen das Miteinander-Tun <strong>und</strong><br />

die Welt für ihr Kind verstehbar zu machen. Dabei legen sie es – eher<br />

unbewußt – auf ein doppeltes Verstehen an. Die <strong>Kinder</strong> sollen nicht nur<br />

begreifen, was man jetzt von ihnen will <strong>und</strong> wie das Gespräch weitergehen<br />

soll, sondern auch verstehen, wo die sinntragenden Wörter im Satz<br />

hingehören. Die Gefahr ist groß, daß sich die <strong>Kinder</strong> im Dickicht der Wörter<br />

verlieren. So liefern sie mit der Entschlüsselung der Botschaft zugleich Hilfen<br />

für die Entschlüsselung der Sprachstruktur.<br />

Machen wir uns dieses zweifache Verstehen am französischen s’il vous<br />

plaît klar. Man könnte meinen, es handele sich wie im Deutschen um ein Wort,<br />

aber eines aus drei Silben statt zwei. Erst im Druck wird klar, daß das Wort für<br />

›bitte‹ aus vier Teilen besteht:


s(i) il vous plaît<br />

wenn es euch gefällt<br />

Muß man das wissen? Nicht, um höflich zu bitten. Wir haben ja das Wort<br />

richtig verstanden <strong>und</strong> können es ent<strong>sprechen</strong>d einordnen. Da genügt es, den<br />

Sinn dieser Formel zu kennen. Die Bauform wird erst interessant, wenn wir die<br />

fremde Sprache er<strong>lernen</strong> wollen, statt nur auf momentane Verständigung aus<br />

zu sein. Dann können wir aus unserem Verständnis der Form Kapital schlagen<br />

<strong>und</strong> nach ihrem Muster Dinge sagen wie<br />

si l’hôtel vous plaît<br />

wenn das Hotel euch gefällt<br />

si le vin vous plaît<br />

wenn der Wein euch gefällt (= schmeckt)<br />

Ohne Verständnis der Bauform bleiben Formeln wie Chinesisch ni hao »Guten<br />

Tag!« bloße Sprachdressur. Erst das Durchschauen der Bauform – ni hao<br />

heißt wörtlich du gut – ermöglicht uns die Abwandlung der Form, d.h. analoge<br />

Bildungen. Wir können weiter <strong>lernen</strong> <strong>und</strong> neue Sätze nach diesem Muster<br />

bilden.<br />

Eine Verstehens- <strong>und</strong> Strukturhilfe zugleich stellen z.B. solche Äußerungen<br />

von Eltern dar, in denen sie statt der Pronomina Namen verwenden, etwa »Gib<br />

Mama den Ball« oder »Lukas muß jetzt ins Bettchen«.<br />

So können <strong>Kinder</strong> mit dem Gesamtsinn einer Äußerung zugleich besser<br />

erfassen, wie die tragenden Sinnelemente im Satz plaziert sind. Eltern geben<br />

damit Hinweise auf die Grammatik, ohne allerdings grammatisch zu belehren.<br />

Ein solcher Versuch müßte auch kläglich scheitern.<br />

Die Lehrbarkeit der Sprache oder was Eltern nicht leisten können<br />

Wenn es heißt, jedes Kind erfinde seine Sprache aufs neue, meint man die<br />

Grammatik. Die Mithilfe der Eltern ist unabdingbar, von ihnen übernehmen die<br />

<strong>Kinder</strong> ihre Wörter <strong>und</strong> Wendungen direkt; die Grammatik aber nur indirekt.<br />

Dies macht der Vergleich zum Fremdsprachenunterricht deutlich, wo die<br />

Lehrer grammatische Strukturen nach <strong>und</strong> nach einführen. Auch wenn Eltern<br />

in Graden ein doppeltes Verstehen fördern, so legen sie sich keineswegs<br />

solche starken grammatischen Fesseln an. Im Unterricht ist es z.B. nicht<br />

üblich, schon in den ersten Monaten mit Relativsätzen, dem Konjunktiv oder<br />

dem Passiv zu operieren. Man schreitet systematisch vom Einfachen zum<br />

Komplizierten fort, wie überall, sei’s beim Kochen, Klavier- oder<br />

Schachspielen.<br />

Doch solche weitgehenden Rücksichten nehmen Eltern nicht, <strong>und</strong> sie<br />

brauchen’s auch nicht: »Gestern haben wir das mal ausgelassen, aber heute<br />

wird’s Kindchen gebadet«. Solche grammatischen Vorwegnahmen sind nichts


Ungewöhnliches, sie wären es aber im englischen Anfangsunterricht.<br />

<strong>Wie</strong>derholen wir: Eltern sind auf Verständigung <strong>und</strong> Verständnissicherung<br />

aus <strong>und</strong> geben dabei unbewußt auch grammatische Hilfen. Diese reichen<br />

jedoch keineswegs, um den kindlichen Grammatikerwerb aufzuklären. Die<br />

Elternsprache läßt sich nicht einfach nachbauen. Sie ist grammatisch<br />

durchaus komplex, genau genommen ein Gemisch aus betont einfachen <strong>und</strong><br />

komplexen Strukturen. Warum gehen die Eltern nicht noch weiter <strong>und</strong> gliedern<br />

den Sprachstoff wie die Lehrer? Letztere geben außerdem noch grammatische<br />

Erklärungen. Klar, Eltern sind keine ausgebildeten Sprachlehrer <strong>und</strong> <strong>Kinder</strong><br />

sind <strong>Kinder</strong>, deren unausgereifter, unentwickelter Verstand mit grammatischen<br />

Erklärungen nichts anfangen könnte.<br />

Und gerade das, so meinen eine Reihe von Forschern, ist der springende<br />

Punkt, das Verblüffende. Die vermeintlichen Schwächen sind die Stärken!<br />

Muttersprachen sind lernbar, weil sie auf ein noch unentwickeltes, reifendes<br />

Gehirn treffen, das dabei ist, sich selbst zu strukturieren. Dieses kann gar nicht<br />

anders, als zunächst nur die einfachsten Formen aufzugreifen <strong>und</strong> zu<br />

verarbeiten. Nur sie filtert es aus dem Zugesprochenen heraus, <strong>und</strong> sind sie<br />

einmal etabliert, sind sie das Packende, um komplexere Formen dazu zu<br />

<strong>lernen</strong>. Erste Grobstrukturierungen verfestigen sich selbst <strong>und</strong> schaffen<br />

weitere Strukturen. <strong>Kinder</strong> sehen den Wald, aber noch nicht die Bäume, sagt<br />

Terence Deacon, <strong>und</strong> gerade dieses <strong>Aus</strong>blenden der Details <strong>und</strong> Auf-später-<br />

Verschieben hilft ihnen. Der Lehrer wird quasi durch ein reifendes Gehirn<br />

ersetzt, formuliert Spitzer: »Gerade weil das Gehirn reift <strong>und</strong> gleichzeitig lernt,<br />

ist gewährleistet, daß es in der richtigen Reihenfolge vom Einfachen zum<br />

Komplizierten lernt.« »Ein sich in seiner Kapazität entwickelndes System ist für<br />

das Er<strong>lernen</strong> komplexer Strukturen besser geeignet als eines, das von Anfang<br />

an die volle Kapazität aufweist«, so Spitzer, der dies anhand von<br />

Computersimulationen neuronaler Netzwerke überzeugend belegt. 7 Hat sich<br />

das System anhand des einfachen Inputs selbst strukturiert, kann es<br />

Komplexität als <strong>Aus</strong>nahme vom einfachen Fall erkennen <strong>und</strong> draufsatteln.<br />

<strong>Kinder</strong> sind also nicht auf sorgfältig gestufte Sprachzufuhr angewiesen.<br />

Selbst wenn Eltern Grammatik erklären könnten, lassen sie gewöhnlich die<br />

Finger davon. <strong>Wie</strong> wollte man auch erwarten, Dreijährigen Zusammenhänge<br />

klarzumachen, auf die man erst durch ein linguistisches Studium aufmerksam<br />

wurde? Eltern korrigieren auch nicht, wie das Lehrer in reinen Übungsphasen<br />

tun können, in denen die Schüler auch solche Korrekturen erwarten. Sie<br />

kämen ja vor lauter Korrigieren nicht mehr zum Kommunizieren. Sie<br />

akzeptieren den Lauf der Natur: daß ihre <strong>Kinder</strong> sich korrekte Lautungen <strong>und</strong><br />

korrekte Grammatik nur allmählich erobern können. Sie erwarten, daß die<br />

<strong>Kinder</strong> den Weg durch den grammatischen Dschungel selbst finden, wenn sie<br />

ihnen nur verständlich zu<strong>sprechen</strong>. Sie sind auch relativ inkonsequent: Wenn<br />

sie die Äußerungen der <strong>Kinder</strong> erweitern <strong>und</strong> ihnen damit indirekt Korrekturen<br />

zuspielen, so tun sie das im ganzen doch sehr unregelmäßig. Das eine Mal<br />

erweitern sie eine unkorrekte Äußerung <strong>und</strong> spielen sie korrekt zurück, wie wir<br />

oben gesehen haben, das andere Mal jedoch lassen sie eine unkorrekte Form


stehen, ja übernehmen sie mitunter selbst, ein drittes Mal paraphrasieren sie<br />

eine kindliche Äußerung <strong>und</strong> spielen sie in einer anderen Form zurück, ohne<br />

daß die Äußerung des Kindes selber fehlerhaft gewesen ist. Selten kann das<br />

Kind sicher sein <strong>und</strong> sich gewissermaßen im stillen merken: »Ah, so muß das<br />

heißen, das hätte ich sagen sollen; was ich gesagt habe, war klar falsch!« 8<br />

Eltern korrigieren einigermaßen klar, wenn <strong>Kinder</strong> etwas sagen, was inhaltlich<br />

nicht stimmt, oder unhöflich sind. Sie sind keine Grammatiklehrer, aber auch<br />

weit mehr als bloße Sprachlieferanten.<br />

Natürlich greifen sie auch einmal direkt in die Grammatik ein. Als Gisa vier<br />

Jahre alt war, sagte sie immer noch gang statt ging. Als wir sie ein paarmal<br />

darauf hinwiesen, sagte sie nun erst recht gang. Wir haben es – innerlich<br />

schmunzelnd – akzeptiert.<br />

So machen Eltern aus guten Gründen die Grammatik nicht zum Thema,<br />

sondern konzentrieren sich auf Verständigung. Dafür sind ohnehin die Wörter<br />

allemal wichtiger als die Grammatik. Wer ins <strong>Aus</strong>land reist, hat eher ein<br />

Wörter- <strong>und</strong> Phrasenbuch im Gepäck als eine Grammatik.<br />

Naturtatsache <strong>und</strong> Kulturleistung<br />

Hier greifen Lernen <strong>und</strong> Lehre unmittelbar <strong>und</strong> unvermerkt ineinander.<br />

(Jacob Grimm)<br />

So wie wir eine unwiderstehliche Neigung in uns verspüren, mit Säuglingen zu<br />

<strong>sprechen</strong> (obwohl wir doch wissen, daß sie uns kaum verstehen), so<br />

unwillkürlich verfallen wir auch in die Ton- <strong>und</strong> Gesprächslage des<br />

»Mutterischen«. Vielleicht ist diese Reaktion mit dem sogenannten<br />

Kindchenschema vergleichbar: <strong>Wie</strong> wir uns von einem Babygesicht magisch<br />

angezogen fühlen, der hohen, vorgewölbten Stirn, der kleinen Nase, den<br />

Pausbacken, den weit auseinander liegenden großen Augen, so löst dieser<br />

Anblick auch ein bestimmtes Sprachverhalten in uns aus.<br />

Ob allerdings in allen Kulturen Eltern ein Mutterisch benutzen, wie es in<br />

westlichen Kulturen üblich ist, wird zur Zeit noch erforscht. Mutterisch scheint<br />

keine zwingende Voraussetzung für den Spracherwerb zu sein. Wir<br />

spekulieren jedoch, daß wer immer mit seinem Kleinkind spricht, sich ihm auch<br />

verständlich machen will. Dann wird er auch seine Sprache unwillkürlich dem<br />

Verständnisvermögen des Kindes anpassen. So gesehen ist das<br />

»Mutterische«, besonders aber die Anbahnung von Kommunikation im ersten<br />

Lebensjahr, wohl universal – mit der Möglichkeit zur kulturellen <strong>Aus</strong>gestaltung.<br />

»Die heutigen Kenntnisse unterstützen die Annahme, daß die Anpassungen<br />

der Sprechmelodik im Vorsilbenalter mehr als durch kulturelle Tradition <strong>und</strong><br />

Erziehung durch genetische Prädispositionen bestimmt werden.« 9 Die<br />

Sprechmelodik der unglücklichen Genie, die erst mit dreizehneinhalb Jahren in<br />

eine <strong>sprechen</strong>de Mitwelt kam, blieb immer unnatürlich (vgl. S. 308ff.). Aber es<br />

gibt noch viele Fragezeichen. Vergessen wir nicht, daß die Kulturen sehr


unterschiedliche Sprachen hervorgebracht haben; im gleichen Maße müßte es<br />

auch unterschiedliche Erwerbsverläufe geben. Schließlich ist bisher nur ein<br />

Bruchteil der heute existierenden Sprachen <strong>und</strong> Kulturen diesbezüglich<br />

untersucht worden, <strong>und</strong> von diesen wiederum wurden nur kleine Stichproben<br />

gemacht. In anderen Kulturen mögen sich Eltern eher abwartend verhalten<br />

<strong>und</strong> nicht so intensiv mit ihren noch »unmündigen« <strong>Kinder</strong>n reden, ohne daß<br />

ihre Sprachentwicklung erkennbar Schaden nähme. Die <strong>Kinder</strong> sind demnach<br />

stärker darauf angewiesen, Sprachstücke aus den Gesprächen der<br />

Geschwister <strong>und</strong> der Erwachsenen untereinander aufzuklauben. Die Vielfalt<br />

des Lebens ist jedenfalls nur über Untersuchungen mit umfangreichen Eltern-<br />

Kind-Gruppen unterschiedlicher Völker einzufangen.<br />

Vorsicht ist also geboten, allein schon deshalb, weil schließlich alle Mütter<br />

mit ihren <strong>Kinder</strong>n kommunizieren wollen, <strong>und</strong> dies ganz besonders dann, wenn<br />

Forscher mit Tonbandgeräten <strong>und</strong> Videokameras zugegen sind. Bisher gibt es<br />

keine hieb- <strong>und</strong> stichfesten Beweise dafür, daß bestimmte Eigenschaften des<br />

»Mutterischen« die Sprachentwicklung besonders positiv beeinflussen, wohl<br />

aber vielfältige Hinweise. <strong>Aus</strong> einigen Studien kann man zudem herauslesen,<br />

daß ein direktiver Sprechstil eher schadet: Herumkommandieren tut dem Kind<br />

nicht gut. Was Eltern für die Sprachentwicklung ihrer <strong>Kinder</strong> bedeuten, läßt<br />

sich wohl am besten im Vergleich mit Heimkindern ermessen. Letztere sind in<br />

ihrer Sprache oft deutlich zurückgeblieben, können aber diesen Rückstand<br />

später durchaus aufholen. 10<br />

Fazit: So wie das Baby in vielfältiger Weise zur Sprache begabt ist, so ist<br />

parallel dazu bei den Erwachsenen der Drang, mit den <strong>Kinder</strong>n zu <strong>sprechen</strong>,<br />

wie auch die Fähigkeit zur sprachlichen Anpassung biologisch verankert.<br />

Beide haben sich nach unserer Auffassung in der Menschheitsgeschichte<br />

gemeinsam mit den Sprachlernfähigkeiten des Babys entwickelt (Ko-<br />

Evolution). Spracherwerb kann nicht anders als kulturspezifisch sein, da immer<br />

eine überlieferte Sprache weitergegeben wird, <strong>und</strong> ist zugleich genetisch<br />

doppelt gesichert. Dennoch können ungünstige Verhältnisse zur<br />

Vernachlässigung <strong>und</strong> Verwahrlosung der <strong>Kinder</strong> führen. Das ist die negative<br />

Kehrseite der Tatsache, daß es dem Menschen gelungen ist, sich einen<br />

Freiheitsraum zu schaffen. Er ist seinen Trieben <strong>und</strong> Instinkten, auch seinen<br />

Pflegeinstinkten, nicht willenlos unterworfen. »Ungünstige Verhältnisse« heißt<br />

im wesentlichen: Mangel an Zuwendung <strong>und</strong> Zeit. Unterschiede im elterlichen<br />

»Sprachlehrtalent« – die wird es natürlich auch geben – werden sich kaum in<br />

der Grammatik, wohl aber im Wortschatz niederschlagen. Der<br />

Erstspracherwerb gilt als vergleichsweise robuster Prozeß. Denn Sprache ist<br />

eine Art Urkraft. So er<strong>lernen</strong> auch hörende <strong>Kinder</strong> taubstummer Eltern ziemlich<br />

normal <strong>sprechen</strong>, indem Verwandte <strong>und</strong> Bekannte für die Eltern einspringen.<br />

Das Prinzip Freude<br />

Eltern könnten auf den Gedanken kommen, man müsse das hier <strong>Aus</strong>geführte


sorgsam beachten, um ihr Kind sprachlich optimal zu fördern. Deshalb sei<br />

noch einmal daran erinnert, daß es sich bei dieser »Elterndidaktik« eher um<br />

unbewußtes Lehren ohne pädagogischen Zeigefinger <strong>und</strong> ohne pädagogische<br />

Expertise handelt.<br />

Die charakteristischen elterlichen Sprechweisen sind immer auch Signale<br />

gesteigerter Zuwendung: Besonders die höhere Tonlage <strong>und</strong> die<br />

Verkleinerungsformen (Näschen, Schnütchen, Händchen) drücken Zuneigung<br />

aus: niedliche Sprache für ein niedliches Kind. Wollen wir zärtlich zu Tieren<br />

oder Pflanzen sein, verfallen wir oft auch in eine Art Babysprache. Und – wer<br />

wüßte das nicht – solche Sprechweise gehört zum Repertoire aller Verliebten.<br />

So mag es genügen, Freude zu haben, Freude über das kindliche Echo,<br />

Freude an Gegenseitigkeit, Freude an den eigenen Fähigkeiten, sich dem<br />

Kind verständlich zu machen, <strong>und</strong> Freude an den wachsenden Fähigkeiten<br />

des Kindes. Sich Zeit nehmen, hinhören. Nicht abbrechen, weitermachen, bis<br />

das Kind signalisiert, daß es genug hat <strong>und</strong> eine Pause braucht. Alles andere<br />

kommt von selbst. »Denn unter dem Himmel der Heiterkeit gedeiht alles, Gift<br />

ausgenommen« (Jean Paul).<br />

1 Scupin & Scupin II (1910), 5<br />

2 Crystal 1986, 108<br />

3 Reimann 1996, 40<br />

4 Tracy 1990, 39; 42<br />

5 Grimm 1990, 109<br />

6 Wagner 2003<br />

7<br />

Spitzer 2004, 95; 2000, 199. Deacon 1997, 141: »Immaturity of the brain is a learning<br />

handicap that greatly aids language acquisition.« Beide Autoren weisen auch auf die<br />

Theorie der neuronalen Netze hin. Mit Computern, ausgestattet mit einem<br />

unspezifischen Mustererkennungsprogramm, also ohne grammatisches »Vorwissen«,<br />

<strong>und</strong> gefüttert mit Sprachinput, wie ihn <strong>Kinder</strong> bekommen, konnte u.a. der Erwerb von<br />

Vergangenheitsformen perfekt simuliert werden.<br />

8 Dazu Tracy (1990) mit dem provozierenden Titel »Spracherwerb trotz Input«.<br />

9<br />

M. Papousek 1994, 135; Fernald 1992, 397: »The cross-cultural universality of prosodic<br />

modifications in infant-directed vocalizations is crucial evidence for the claim that this<br />

special form of speech is a species-specific caretaking behavior.«<br />

10 Bühler 1967, 158ff.

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