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bücher, menschen, themen

1. ausgabe 2023

plus

das magazin

der buchhandlungen

klaus bittner dombrowsky felix jud

haymon lehmkuhl

leporello librium schleichers

Zündung

Von literarischen Debüts

und anderen Anfängen


Foto: © Mathias Bothor / Photoselection

»Dieses Buch

MÜSSEN Sie lesen.«

Ein tiefgründiges, genial komponiertes

Meisterwerk, das rätselhafterweise fast

ein Jahrhundert lang unentdeckt blieb

176 Seiten,

Leineneinband im Schuber

€ 28,– [D] | € 28,80

ISBN 978-3-86648-696-6

The Sunday Times

mare

liebe leserin, lieber leser,

zwischen Zauder und Zauber – jedem Wollen wohnt

ein Anfang inne, jeder Idee die Freude, aus ihr mehr zu

machen: eine neue Wirklichkeit.

Solchen Zündungen widmet sich der Schwerpunkt

dieser Ausgabe Ihres 5plus-Magazins, in der wir Sie gern

begrüßen.

Wir freuen uns, dass wir Rebecca Faber und Christina

Madenach, Grit Krüger, Gunnar Cynybulk und Katrin

Lange, Sam Zamrik, Manfred Papst und Marie Caffari

für Beiträge gewinnen konnten – und danken Annegret

Liepold und Eden L. Flammer für ihre Texte, die wir hier

zum ersten Mal veröffentlichen dürfen.

klaus bittner

buchhandlung bittner, köln

daniela und ulrich dombrowsky

buchhandlung dombrowsky, regensburg

markus hatzer

buchhandlung haymon, innsbruck

marina krauth und robert eberhardt

buch- und kunsthandlung FeliX Jud

FeliX Jud bookstore, hamburg

Wir lesen für Sie.

Wählen aus.

Empfehlen.

Und freuen uns über Gespräche

mit Ihnen über das,

was wir Ihnen empfohlen

und Sie gelesen haben.

Herzlich willkommen.

Wir freuen uns auf Sie –

mit herzlichen Grüßen

Diese Ausgabe erscheint rechtzeitig nach Ostern – bei

Redaktionsschluss warten wir alle auf die blauen Bänder

des Frühlings, denn es wird Zeit für anhaltend Licht

und Sonne.

Apropos: Dass Bücher uns Licht und Sonne in den

Unbilden der Welt sein können, dass Lesen entlastet von

dem, was »draußen los ist« (zumindest vorübergehend)

oder spiegelt, reflektiert … die Kraft der Sprache, die

Fantasie der Autorinnen und Autoren – Freude und Begleitung

überall wo wir sie brauchen.

Wo Sie uns brauchen sind wir dafür Freunde und

Begleitung – überall.

michael lemling und georg ottmann

buchhandlung lehmkuhl, münchen

erwin riedesser

buchhandlung leporello, wien

laurin jäggi

buchhandlung librium, baden

silke grundmann-schleicher

schleichers buchhandlung, berlin

PS: Alle von uns empfohlenen Bücher können Sie auch online

bei Ihrer 5plus-Buchhandlung bestellen.

5 plus entree 1



304 Seiten | 31 Abbildungen | Gebunden | € 26,– | ISBN 978-3-406-79145-1

Auch als Hörbuch erhältlich.

«Was für ein historischer Stoff! Erstaunlich,

dass es so lang gedauert hat, bis ihm

ein eigenes Buch gewidmet wurde.»

Anne-Catherine Simon, Die Presse

191 Seiten | 3 Abbildungen | Gebunden | € 23,– | ISBN 978-3-406-79717-0

Auch als Hörbuch erhältlich.

«Wie Frie die allmähliche Lösung von

einer Welt beschreibt, ... illusionslos und

doch sensibel, ... das hinterlässt großen

Eindruck.»

Johan Schloemann, Süddeutsche Zeitung

© Felix Grünschloß

Grit Krüger 10

Annegret Liepold 16

schwerpunkt

Zündung

Von literarischen Debüts

und anderen Anfängen

Rebecca Faber und Christina Madenach

Von Schreibenden und Lesenden.

Schreibwerkstätten und Lesereihen 4

Ein Raum grosser

literarischer Intensität

ein Interview von Lisa-Katharina Förster

mit Grit Krüger, Gunnar Cynybulk

und Katrin Lange 10

Annegret Liepold

SAND – eine erzählung 16

»Ich bin nicht«

Sam Zamrik und seine Gedichte

Ein Interview Von Norbert Hummelt 22

Manfred Papst

Weshalb ich gerne Debüts lese

Eine grundsätzliche Überlegung

und drei aktuelle Beispiele 27

Das Schweizerische Literaturinstitut

in Biel – hier entsteht junge Literatur

Ein Interview Von lea müller 30

Eden L. Flammer

Literarisches Schreiben – ein Funken

Hoffnung

Eine Stimme aus der Abschlussklasse 35

© Vanessa Mönius

© privat

Manfred Papst 27

buchempfehlungen

bittner 38

dombrowsky 40

haymon 42

felix jud 44

lehmkuhl 46

leporello 48

librium 50

schleichers 52

Roberto Calasso 58 Hanns Zischler 72

5 plus ist das Magazin der 5 plus-Gruppe: Buchhandlung Bittner, Buchhandlung Dombrowsky, Buchhandlung Haymon, Buchhandlung Felix Jud, Buchhandlung Lehmkuhl,

Buchhandlung Leporello, Buchhandlung Librium, Schleichers Buchhandlung Dahlem-Dorf e. K.

Herausgeber: Die 5 plus: Klaus Bittner, Ulrich Dombrowsky, Daniela

Dombrowsky, Robert Eberhardt, Markus Hatzer, Laurin Jäggi, Susanne Jäggi, Marina Krauth, Michael Lemling, Georg Ottmann, Erwin Riedesser, Silke Grundmann-Schleicher,

Chefredaktion und V. i. S. d. P.: 5 plus

Konzept, Redaktion, Gestaltung, Herstellung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH, Hamburg | www.groothuis.de

Carolin Beck, Rainer Groothuis, Lars Hammer Lithografie: edelweiß publish, Hamburg Gesamt herstellung: gutenberg beuys, Feindruckerei GmbH, Langenhagen

Bildnachweis: Umschlag: © CSA-Printstock; Seite 2, 15: © Felix Grünschloß; Seite 2, 17: © Vanessa Mönius; Seite 3, 59: © Adelphi Edizioni; Seite 3, 77: Fotograf: Ulrich Weichert,

© Hanns Zischler; Seite 4: © Pierre Jarawan, © Jean-Marc Turmes, Seite 7: © Pierre Jarawan; Seite 9: CM © Hubert P. Klotzeck, RF © Heike Fröhlich; Seite 10: © Catherina Hess /

Literaturhaus München; Seite 22: © Paula Winkler; Seite 31–32: © Nicola Fischer, Laura Calchini – Hochschule der Künste Bern HKB / Haute école des arts de Berne HKB;

Seite 55: © Alina Buzunova / istockphoto; Seite 64–69: © Norman Posselt; Seite 70/71: © akg-images / TT News Agency / SVT; Seite 76: © Gerhard Faulhaber; Seite 80: Lars

Hammer

© Theater Triebwerk

Laura Trelle

Worte formen unser Denken

LGBTQIA+ im Kinder- und

Jugendbuch 54

verleger verlegen

Volker Breidecker

Das Wunder von Mailand

Nouvelle Vague all’italiana:

Roberto Calasso und eine

Bücherschlange namens Adelphi 58

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinungen und Auffassungen der Herausgeber wieder.

Wir danken Groothuis für die mehr als freundliche Förderung. Die 5 plus

© Adelphi Edizioni

www.5plus.org

aufgefallen, ausgefallen

Birgit Schmitz

Hacking Gutenberg

oder: Bessere Bücher für das

21. Jahrhundert 64

Erinnerung 70

Hanns Zischler

Bleistift-Notizen 72

aus der buchhandlung

Ulrich Dombrowsky

Verbalgestrüpp und

Vorlese-Scheiße 78

illustration

lars hammer

Wo ein Anfang ist, muss auch

ein Ende sein? 80

Fotograf: Ulrich Weichert,

© Hanns Zischler

entree 3

5 plus



literarische debüts 4

Von Schreibenden

und Lesenden.

Schreibwerkstätten

und Lesereihen

literarische debüts 5

Von Rebecca Faber und Christina Madenach

5 plus

© Jean-Marc Turmes © Pierre Jarawan

Wir sind Autorinnen. Das können wir mit einiger

Selbstverständlichkeit sagen, obwohl wir noch keine

Romane veröffentlicht haben. Glauben Sie uns

trotzdem? Hand aufs Herz, wen stellen Sie sich vor,

wenn Sie das Wort »Autor*in« hören? Juli Zeh, Kim de

l’Horizon oder Goethe? Menschen, die erfolgreich und

berühmt sind? Diesen Traum haben viele Schreibende.

Man muss aber nicht Bestseller veröffentlichen,

um sich Autor*in zu nennen: Der Beruf ist vielfältiger,

als einige denken.

L

esen und Schreiben sind für uns untrennbar

miteinander verknüpft. Schon als Kinder verschlangen

wir ein Buch nach dem anderen und

verfassten eigene Geschichten und Gedichte. Manche

fanden Leser*innen: Über das Weihnachtsgedicht freuten

sich unsere Eltern und Großeltern, eine Erzählung

wurde in der Schülerzeitung oder im lokalen Wochenblatt

abgedruckt. Die meisten unserer Texte landeten

aber in Schubladen, und später verbannten wir die

Schreibhefte in Kellerkisten oder die digitalen Dokumente

auf externe Festplatten.

Natürlich wussten wir auch damals schon, dass wir

nicht die einzigen Schreibenden waren. Immer gab es

mindestens noch eine Person in der Klasse, mit der

man um die beste Note im Deutschaufsatz wetteiferte.

Manchmal entstanden durch das gemeinsame Hobby

sogar Freundschaften. Wir lasen uns Einträge aus un seren

Tagebüchern vor oder träumten zusammen davon,

Schriftsteller*innen zu werden. »Richtige Autor*in nen

kannten wir aber nur als Namen auf den Buchumschlägen.

Natürlich hatten auch sie irgendwann einmal angefangen

mit dem Lesen und Schreiben – aber das lag

jenseits unseres Vorstellungsvermögens.

Anfänge und Vernetzung:

Eine Schreibwerkstatt gründen

Heute, knapp dreißig Jahre nach den ersten selbstentzifferten

Worten und den ersten selbstformulierten

Sätzen, lesen und schreiben wir noch immer. In beidem

haben wir uns professionalisiert. Wir haben Literatur

studiert und werden für das Lesen von Büchern bezahlt.

Für das Verfassen oder Vortragen unserer Texte

bekommen wir auch Geld. Zu wenig, um damit unseren

Lebensunterhalt zu bestreiten. Natürlich auch viel zu

wenig für den Aufwand, den wir dafür betreiben. Es ist

besser, den Stundenlohn gar nicht erst zu berechnen.

In den vergangenen Jahrzehnten haben wir jede Menge

Material produziert, alle möglichen Themen abgehandelt,

uns in verschiedenen Formen und Stilen probiert.

Vieles ist Anfang geblieben, an manchem haben

wir über einen längeren Zeitraum geschrieben. Und

von immer mehr Texten gibt es verschiedene Fassungen,

überarbeitete Versionen. Ein schreibender Freund

5 plus



literarische debüts 6

von uns speichert jede seiner Änderungen in einem

neuen Dokument ab. Andere Freund*innen schieben

Versatzstücke, von denen sie sich nicht trennen können,

in Dokumente mit den Bezeichnungen »Müll« oder

»Rest«. Ein paar von ihnen schreiben zuerst alles per

Hand, manche sitzen immer am Schreibtisch vor ihrem

Laptop, andere schleppen ihre Schreibutensilien in Cafés

oder Bibliotheken. Die meisten unserer schreibenden

Freund*innen beteiligen sich an Wettbewerben und

Ausschreibungen. Wir alle stecken regelmäßig Niederlagen

und Absagen ein, trotzdem machen wir weiter.

literarische debüts 7

»Dieses poetische Buch handelt

von Verlust, Verzweiflung,

Vergänglichkeit. Einerseits.

Andererseits wird der Text

getragen von Liebe, Hoffnung

und – manchmal bitterer –

Heiterkeit.«

der spiegel

(über »wir waren eine

gute erfindung«)

Gebunden mit Schutzumschlag | 128 Seiten

Euro 20,– (D) | Auch als E-Book erhältlich

ISBN 978-3-95614-534-6

Woher wir das alles wissen? Weil wir uns austauschen.

Weil wir uns regelmäßig in verschiedenen Foren treffen.

Wir lesen uns gegenseitig unsere Texte vor, sprechen

darüber und beantworten gemeinsam wichtige Fragen:

Wie bauen wir das Schreiben in unseren Arbeitsalltag

ein? Funktioniert es besser, jeden Tag mindestens eine

halbe Seite zu schreiben, oder ist es hilfreicher, sich einen

ganzen Tag pro Woche für das Schreiben freizuschaufeln?

Welche Wettbewerbe sind sinnvoll, und wie

schreibt man ein Exposé? Und was macht man, wenn

man nach drei oder fünf oder acht Jahren Arbeit an einem

Roman nur Absagen von Verlagen und Agenturen

einsammelt?

Wir teilen unsere Zweifel und unsere Ängste, wir

sprechen über unser Hadern und das Scheitern. Aber

wir bauen uns auch gegenseitig auf, wir ermutigen uns,

und ab und zu bringt jemand eine Flasche Sekt mit, um

auf etwas anzustoßen: ein gewonnenes Stipendium, den

Sieg bei einer Ausschreibung oder die erste Buchveröffentlichung.

Texttreffen, Schreibwerkstätten oder Literaturlabore

gibt es in zahlreichen Städten. Auf manche stößt man

durch Zufall. Die Freundin eines Freundes war einmal

da, man zeigt Interesse, und plötzlich steht man auf der

Mailing-Liste und erhält Einladungen für die monatlichen

Treffen in einer Privatwohnung. Von anderen Treffen

erfährt man im Netz, oder sie werden auf Social

Media angekündigt. Manche Treffen sind privat, manche

an Institutionen wie Universitäten oder Literaturhäuser

geknüpft. Es gibt Werkstätten für spezielle Zielgruppen

oder für bestimmte Genres. Für einige muss

man sich bewerben, manche kosten etwas, andere sind

mit einem Stipendium verbunden. Manche werden von

professionellen Autor*innen angeleitet, manche von Lektor*innen,

die einen verdienen Geld damit, die anderen

machen es ehrenamtlich. Und es gibt auch Studiengänge

für Literarisches Schreiben: in Hildesheim, Leipzig,

Köln, Biel und Wien. Der Blick ins Netz oder in die Literaturseiten

der Stadt lohnt sich für Schreibbegeisterte,

und wer nichts findet, der kann es einfach so machen

wie wir: selbst eine Schreibwerkstatt gründen.

© Pierre Jarawan

Literaturfest München 2022: Münchner Schiene. Am 29. November 2022 fand unter dem Titel »Ihre nächsten Anschlüsse sind …«

ein Treffen der freien Szene im Münchner Literaturhaus statt.

Der geschützte Raum einer Schreibwerkstatt:

schreiben, teilen, diskutieren

Weil wir beide an einem Roman schreiben, nehmen

wir an den monatlichen Treffen der Romanwerkstatt in

München teil. Die Werkstatt ist offen für alle, die neben

der Präsentation eigener Texte bereit sind zur regelmäßigen

Diskussion der Texte der anderen Teilnehmer*-

innen. Auszüge aus den Romanen werden vor den Treffen

zur Vorbereitung über den Verteiler geschickt. Beim

Treffen selbst liest der*die jeweilige Autor*in eine Passage

zur Einstimmung vor. Danach geht es in einer offenen

Diskussion um Aufbau, Struktur, Dramaturgie, Inhalt,

Figuren, Stil, Sprache usw. Die Autor*in kann gezielt

Fragen stellen, Probleme benennen oder sich auch

ganz heraushalten und einfach zuhören und mitnotieren.

Welche Themen sehen die anderen Teilnehmer*innen

in dem Roman behandelt? Funktioniert die Protagonistin?

Und passt die Sprache zum Inhalt?

Jede Schreibwerkstatt funktioniert ein bisschen anders.

Manche treffen sich wöchentlich, bei vielen stellen

mehrere Personen ihre Texte an einem Abend oder

an einem Wochenende vor, bei einigen gibt es Zeitbeschränkungen,

bei anderen wird erwartet, dass sich

der*die Autor*in vollkommen aus der Diskussion heraushält.

Das eigene Schreiben öffentlich zu machen, zu sagen

»Ich schreibe« und dann einen Text aus der bisher immer

unter Verschluss gehaltenen Schublade zu wühlen,

um ihn anderen vorzulesen, macht verletzlich. In dem

Selbstgeschriebenen stecken nicht nur Arbeit und Zeit,

es gewährt häufig auch Einblick in intime Gedanken

und Gefühle. Es kostet Überwindung, diese zu teilen

und sich dann auch noch der Kritik zu stellen. In der

Kritik geht es um Techniken und Handwerk, darum, wie

man schreibt. Aber auch um das, was man schreibt.

Welche Relevanz hat es und welche innere Notwendigkeit?

Und natürlich stellt sich in diesem Zusammenhang

immer auch die Frage: Warum schreibe ich?

Nach einer Textbesprechung bleiben ein Haufen

schnell geschriebener oder getippter Notizen und viele

ungelöste Fragen zurück. Manche setzen sich noch am

Abend einer solchen Besprechung an den Laptop und

beginnen das eben Gehörte umzusetzen, bereits Geschriebenes

zu überarbeiten, Passagen zu löschen, neue

5 plus



literarische debüts 8

5 plus

zu schreiben. Andere brauchen Zeit nach der Besprechung,

öffnen ihr Dokument für ein paar Tage, für ein

paar Wochen, für ein paar Monate nicht, müssen warten,

bis sich alles gesetzt hat.

Idealerweise bieten Schreibwerkstätten einen geschützten

Raum, um Fragen zum Text zu verhandeln und über

das eigene Schreiben nachzudenken. Dies kann sowohl

in vertrauten Runden als auch mit fremden Teilnehmer*innen

gelingen. Wesentlich ist es, eine Atmosphäre

des Respekts zu schaffen und das Vorgestellte sowie

die Rückmeldungen dazu ernst zu nehmen. Den

Autor*innen geht es nicht darum, einen möglichst perfekten

Text zu präsentieren, sondern ein Entwicklungsstadium

zu besprechen. Das heißt, dass sie offen für

Feedback und Anregungen sind. Das heißt aber auch,

dass die anderen bereit sind, sich auf Fragmentarisches

und Unfertiges einzulassen.

Wichtigste Voraussetzung für eine Diskussion ist die

Konzentration auf den Text. Was so selbstverständlich

klingt, ist manchmal schwierig. Gerade wenn man auch

jenseits der Schreibwerkstatt befreundet ist, gilt es, von

der jeweiligen Person zu abstrahieren und nicht über

sie, sondern über ihre Texte zu sprechen. Auch bedeutet

die Auseinandersetzung mit einem Text, dass man sich

fragt, was dieser Text will, und nicht, was man selbst für

diesen Text wollen könnte. Der leitenden oder moderierenden

Person fällt die Aufgabe zu, das Gespräch zu lenken,

immer wieder auf den Text zurückzuführen und im

Fall von Konfliktsituationen zu verhandeln.

Die freie Literaturszene:

Lesereihen und Kulturförderung

Wenn man mit anderen in den Austausch geht, wächst

nicht nur der eigene Text, sondern auch das Verständnis

für Literatur und die zeitgenössische Literaturszene.

Das ist wichtig, denn als Autor*in ist man Teil davon,

und man bekommt ein Gespür für bestimmte Stile und

Trends. Aber es geht auch um heikle Fragen. Ist es beispielsweise

im Jahr 2023 noch okay, einen Text aus der

Sicht eines*einer Missbrauchstäters*täterin oder Nazis

zu schrei ben? Wie kann das gelingen, ohne einfach nur

diskriminierende Meinungen zu reproduzieren?

In der Literaturszene knüpft man auch Kontakte zu

anderen Schreibenden, zu den literarischen Stimmen

von morgen oder zu denjenigen, die ihr Talent ersetzen

durch Können für Ver lage, Agenturen oder Kulturinstitutionen

nutzen und dort arbeiten. Insbesondere in

Schreibwerkstätten der freien Szene treffen Menschen

aufeinander, die sich in unterschiedlichen Bereichen

einbringen.

Die freie Szene ist im Idealfall unabhängig von

kommerziellen Interessen und nicht marktorientiert.

Akteur*innen der freien Szene arbeiten selbstorganisiert

und sind nicht an Institutionen gebunden. Sie organisieren

Lesereihen oder Lesebühnen, engagieren sich in

Vereinen für literarische Vielfalt und Kulturpolitik oder

veröffentlichen Literaturmagazine unabhängig von Verlagen.

Oft wird die freie Szene mit einer jungen Literaturszene

gleichgesetzt, aber neben jungen Schreibenden

trifft man hier auch auf erfahrene Autor*innen, weil

bestimmte Formen im kanonisierten Literaturbetrieb –

wie z. B. Lyrik oder Comic – nicht so viel Raum bekommen.

Wir arbeiten beide in Kulturinstitutionen und engagieren

uns zudem seit Jahren in der freien Szene. Zum einen

können wir uns so professionalisieren, zum anderen

ist es für uns wichtig, die Bedingungen in unserer

Branche mitzugestalten. 2019 haben wir zusammen mit

Raphaela Bardutzky die Münchner Lesereihe LIX – Literatur

im HochX gegründet. Wir kuratieren viermal im

Jahr eine Lesung, zu der wir je drei Autor*innen einladen.

Weil es nicht um den Profit geht, sind wir sehr

frei in unserer Auswahl: Die Autor*innen können noch

ganz unbekannt sein oder eben nicht. Wir kümmern

uns selbst um die Förderung bei verschiedenen (fünf!)

öffentlichen Fördergeldgebern (z. B. dem Deutschen

Literaturfonds oder dem Kulturreferat München) und

kämpfen für faire Bezahlung – nicht nur für die Autor*innen,

sondern auch für uns. Letzteres ist leider gar nicht

so einfach: Dass Kuration und Organisation finanziell

honoriert werden, ist in der Kulturförderszene immer

noch nicht selbstverständlich.

Unabhängige Lesereihen wie LIX gibt es in vielen Städten

im deutschsprachigen Raum. Eine Lesereihe ist im

Gegensatz zu einer Lesebühne kuratiert, d. h. es gibt ein

Team aus Kurator*innen, das entscheidet, wer lesen

darf. Lesebühnen sind offen, ähnlich wie bei Poetry

Slams darf jede*r lesen. Wir unabhängigen Lesereihen

haben uns zusammengetan und einen Dachverband

für unsere Interessen gegründet: den Unabhängige Lesereihen

e. V. (UL). Die meisten Lesereihen wurden von

Literaturbegeisterten gegründet, die in ihrer Stadt etwas

vermisst haben: einen niedrigschwelligen, nichtelitären

Ort, an dem Literatur stattfindet, an dem Texte

außerhalb des Kanons (und des Marktes!) präsentiert

werden; Orte, an denen man sich begegnen und Freundschaften

schließen kann. Der Münchner Literaturveranstalter

und UL-Vorstandsmitglied Tristan Marquardt

schreibt über Lesereihen: »Es macht einen Unterschied,

ob ich nur eine Veranstaltung betreten darf, um ehrfürchtig

einem Autor zu lauschen, oder ob ich in einem

Kontext, in dem ich neue Leute kennenlernen kann, einen

schönen Abend verbringe, dessen Anlass es war,

auch eine Lesung zu erleben.«

Christina Madenach lebt als Autorin und Kulturmanagerin

in München. Sie arbeitet zurzeit an ihrem ersten Romanprojekt

Wie es gewesen sein wird, mit dem sie bereits mehrere

Stipendien erhalten hat. Mit ihren Texten ist sie regelmäßig zu

Gast bei Lesungen und veröffentlicht in Zeitschriften und auf

Blogs. Christina Madenach ist Projekt- und Pressereferentin bei

STADTKULTUR Netzwerk Bayerischer Städte e. V., kuratiert und

moderiert die Lesereihe LIX – Literatur im HochX und leitet eine

Romanwerkstatt.

In unserer Rolle als Autorinnen, als Kuratorinnen in der

freien Szene und Kulturmanagerinnen an Institutionen

ist es manchmal herausfordernd, den unterschiedlichen

Ansprüchen gerecht zu werden und sie auch zeitlich

unter einen Hut zu bringen. Vor allem aber ist der

Kampf gegen das Klischeebild des Schriftsteller*innen-

Genies, das nur vom Schreiben selbst lebt, noch längst

nicht ausgefochten. Autor*innen haben neben dem

Schreiben häufig weitere Jobs: aus finanziellen Gründen,

weil sie noch andere Interessen haben oder weil

eine andere Beschäftigung eine gute Ergänzung zum

einsamen Arbeiten am heimischen Schreibtisch ist. Für

uns spielt das alles eine Rolle. Denn für uns bedeutet zu

schreiben eben auch, zu lesen, im Gespräch mit anderen

Schreibenden zu sein, sie zu fördern, zu unterstützen

und dadurch wieder neue Inspirationen für das eigene

Schreiben zu sammeln.

Unabhängige Lesereihen e. V. (www.lesereihen.org)

Die Unabhängigen Lesereihen arbeiten seit 2015 zusammen.

Im deutschsprachigen Raum haben sich über 40 Lesereihen

in dem Verein zusammengeschlossen. Mit dabei sind u.a. Land

in Sicht und zwischen/miete nrw in Köln, die Hafenlesung

in Hamburg, LIX – Literatur im HochX und meine drei lyrischen

ichs in München, Gläserne Texte und sehr ernste scherze in

Wien, die Sofalesungen an mehreren Orten in der Schweiz,

nochnichtmehrdazwischen, Schreiben gegen die Norm(en)? und

Kabeljau & Dorsch in Berlin sowie FHK5K in Innsbruck. Die

Publikation Reihenweise. Veranstalten in der Freien Literaturszene

(edition mosaik, 2022) versucht einen Überblick über die

Vielfalt der Freien Literaturszene zu geben, wirft ein Licht auf

einen unterschätzten Kulturbereich voll engagierter Autodidakt*innen

und Idealist*innen und zeigt, dass ungewöhnliche

Literaturformate erfolgreich sein können und wie wichtig

sie für den Literaturbetrieb in Deutschland, Österreich und

der Schweiz sind.

© Hubert P. Klotzeck

Dr. phil. Rebecca Faber lebt, schreibt und forscht in

München. Sie arbeitet an einem historischen Roman über eine

englische Prinzessin. Als Teil des feministischen gemeinnützigen

Onlinemagazins www.wepsert.de setzt sie sich für die Förderung

und Sichtbarmachung weiblicher und queerer Künstler*innen

ein. Sie kuratiert und moderiert die Münchner Lesereihe LIX –

Literatur im HochX und ist aktiv für den Unabhängige Lesereihen

e. V. tätig. Seit 2022 arbeitet sie als Programmreferentin in der

Monacensia.

www.klett-cotta.de

»Ein verblüffend schönes Buch.

Es bricht einem das Herz und wärmt

es gleichzeitig.« Matt Haig

»Eine wunderbar

erzählte Geschichte über

Liebe und Verlust«

The Guardian

»Herzzerreißend, leise

und bewegend«

Sunday Express

Sarah Winman hat

einen unvergleichlich

zärtlichen Roman über

die Verflechtungen

der Liebe und über die

große Kraft der Kunst

geschrieben.

© Heike Fröhlich

240 S., geb. mit SU, € 22,– (D)/€ 22,70 (A)

ISBN 978-3-608-98087-5

literarische debüts 9

5 plus



literarische debüts 10

grosser

Ein Raum

Intensität

literarischer

ein Interview von Lisa-Katharina Förster mit Grit Krüger,

Gunnar Cynybulk und Katrin Lange

In der Bayerischen Akademie des Schreibens im Literaturhaus

München finden angehende Autor*innen professionelle

Orientierung und Begleitung beim eigenen

Schreiben. Auch Grit Krüger war hier Teilnehmerin des

Romanseminars »Die große Tour« (2020/2021), das von

der Autorin Sandra Hoffmann und dem Kanon-Verleger

Gunnar Cynybulk geleitet wurde. Im Frühjahr erscheint

nun Grit Krügers Romandebüt Tunnel im Kanon Verlag.

Ein Gespräch mit der Autorin, dem Lektor und Verleger

Gunnar Cynybulk und Katrin Lange, Leiterin der Bayerischen

Akademie des Schreibens, über den Weg zum

ersten Buch und die Herausforderungen bei der Selbstfindung

als Autor*in.

Grit Krüger, bevor wir über Ihre Zeit in der Akademie

des Schreibens und die Entstehung Ihres

Romans Tunnel sprechen, würde ich gerne wissen,

wie Sie zum literarischen Schreiben gekommen

sind?

gk: Ich glaube, das literarische Schreiben begann bei

mir mit dem Lesen. Ich habe schon immer sehr viel

gelesen, und es war mir klar, dass ich irgendwie ein Teil

dieses Literatur-Kosmos sein möchte. Wie man so anfängt,

habe ich zunächst kitschige Gedichte geschrieben,

aber mehr so für die Schublade. Bis ich glücklicherweise

2013/2014 in meinem Auslandssemester in

Aberyswyth in Wales einen Creative Writing Kurs besuchte.

Wir hatten einen ganz tollen Dozenten, der auf

Förderstrukturen hingewiesen und die ersten Schritte

des An-die-Öffentlichkeit-Gehens erklärt hat. Da bin

ich überhaupt erst auf die Idee gekommen, Dinge auch

mal einzureichen und über das Veröffentlichen nachzudenken.

Was ist dann passiert? Auf welchen Wegen haben

Sie sich literarisch erprobt? Und was waren dabei

wichtige Stationen und Erfahrungen?

gk: Ich habe ganz unterschiedliche Texte geschrieben

und eingereicht: Kurzprosa, Lyrik, freie Formen. Ein

wichtiger Ort, den ich dadurch kennenlernen durfte,

war das Junge Literaturforum Hessen-Thüringen, ein

Förderprogramm für junge Schreibende. Dort konnte

ich erste Werkstatt-Erfahrungen sammeln und kam in

Kontakt mit tollen Literaturmenschen. Weiter ging es

dann für mich in freien Autor*innen-Gruppierungen

und Kollektiven, wie zum Beispiel dem Salon Fluchtentier

in Frankfurt. In den nächsten Schritten kamen der

Berliner Open Mike und der Klagenfurter Literaturkurs.

Der halbe deutschsprachige Literaturbetrieb wird ja

einmal im Jahr für die Tage der deutschsprachigen Literatur

in diesen österreichischen Kleinort verpflanzt.

Das war schon toll, dieses ganze Spektakel dort mal

mitbekommen zu können und sich als Teil des Ganzen

zu fühlen.

Wann und wie entstand die Idee zu Ihrem Roman

Tunnel? Und wie lange haben Sie an dem Roman

gearbeitet?

gk: Das ist ein bisschen schwer zu datieren. Ungefähr

2019 hatte ich den Anfang des Romans und habe gespürt,

dass da viel drin steckt und dass ich mit den Figuren

und der Idee gerne weitergehen würde. Dann lag

der Text erst mal eine Weile. Und tatsächlich hat mich

dann eine gute Freundin auf die Bayerische Akademie

des Schreibens hingewiesen. Ich habe daraufhin die Bewerbung

abgeschickt, weil ich dachte, das ist ein Programm,

mit dem ich diesen Weg gerne gehen würde.

Und dann hat alles sehr gut gepasst.

Katrin Lange und Gunnar Cynybulk, Sie beide haben

gemeinsam mit Sandra Hoffmann Grit Krüger

auf Grundlage eines Auszugs aus dem Romanprojekt

Tunnel in das Romanseminar der Bayerischen

Akademie des Schreibens eingeladen. Es

geht darin um eine alleinerziehende Mutter und

ihre Tochter, die in prekären Verhältnissen leben

und da einen Weg, einen Tunnel, hinaus suchen.

Was hat Sie an diesem Text interessiert? Was hat

Grit zu einer geeigneten Kandidatin gemacht?

kl: Ich mochte an dem Text von Anfang an ganz ungeheuerlich

– diesen vollkommen eigenen Blick auf die

Welt und die Figuren, die am Rand der Gesellschaft stehen,

aber von Grit Krüger nicht mit falschem Mitleid,

son dern mit großer Solidarität gekennzeichnet werden.

Und diese kleinen Passagen aus der Perspektive des

Kindes, in denen die Härte der Welt der Protago nist*innen

auch immer mit einer gewissen Art von Komik

dargestellt wird. Das hat mir sehr gut gefallen.

literarische debüts 11

5 plus

© Catherina Hess /

Literaturhaus München

Foto links: Hinten, v. links: Anna-Katharina Kürschner,

Olga Bedia Lang, Grit Krüger, Ann Esswein, Nicolas Freund,

Alexander Burkhard, Fabienne Imlinger, Nannina Matz

Vorne: Gunnar Cynybulk, Sandra Hoffmann, Christian Engel

Nicht im Bild: Teilnehmerin Franziska Wilhelm

gc: Der Text war von Anfang an sehr musikalisch und

sehr fein gearbeitet. Man erkannte sofort das Handwerk,

das einfach vorhanden ist, und, wie Katrin sagte,

eine ganze eigene Weltsicht. Die Welt so zu beschreiben,

das können wenige Autorinnen und Autoren. Mir fällt

immer Felicitas Hoppe ein, die das vielleicht ähnlich gemacht

hat, magisch und doch irgendwie handfest.

5 plus



literarische debüts 12

5 plus

kl: Und es ist zwar kein Kriterium, dass Kandidat*innen

schon an soundso vielen tollen Orten zu Gast gewesen

sein müssen, aber es lässt sich an einer literarischen

Vita wie Grits ablesen, dass es da jemand ernst nimmt

und wirklich Autorin werden will. Das ist schon etwas,

was mir wichtig ist.

Für literaturbegeisterte Menschen ist das natürlich

ein ganz großes Faszinosum, dass da Autor*innen

zusammenkommen und gemeinsam mit anderen

erprobten Expert*innen aus der Literatur-Branche

an künftigen Romanen arbeiten. Wie kann man

sich den Ablauf in so einem Schreibseminar vorstellen?

kl: Wir möchten die Entstehung eines Romans begleiten.

Innerhalb eines Jahres kommt man dreimal für eine

Woche zusammen und kann den Text immer wieder in

neuen Stadien vorstellen und in der Gruppe diskutieren.

Das bedeutet, an dem Punkt, an dem man vielleicht

selber nicht mehr weiß, ob das jetzt absolut genial oder

völliger Mist ist, treten einem sehr kenntnisreiche und

sehr solidarische Leser*innen an die Seite. Wir haben

mit dem Leitungsteam von Lektor*in und Autor*in immer

zwei, die mit einer längeren Erfahrung und auch

der Kenntnis aus der Verlagsbranche mit auf den Text

blicken und Hinweise geben. So können wir hoffentlich

wichtige Impulse geben, die sich dann in einem halben

Jahr entwickeln können. Und dann kommt man beim

zweiten Mal und legt 50 Seiten vor, und beim dritten

Mal und hat man 100 Seiten oder hat den Roman vielleicht

sogar fertig geschrieben. Diese Werkstattgespräche

sind das Herzstück der Seminare.

gc: In Deutschland und im deutschsprachigen Raum

gibt es immer noch die romantische Vorstellung, dass

man wirklich nur einsam und durch einen Geniestreich

ein großes Werk schaffen könne. Alles, was mit Lernen

oder Schule zu tun hat, kann angeblich nicht genial und

brillant sein. Diese Sichtweise ist recht eingeschränkt.

Natürlich gibt es keine Blaupause für einen Roman,

aber Resonanz, Ermunterung und Analyse haben noch

nie geschadet. Wir versuchen, den jeweiligen Roman

und seine Ingredienzien zu überprüfen. Das geht ganz

pragmatisch: Es wird vorgelesen, und es gibt Reaktionen

von einer ersten kleinen Öffentlichkeit. Das ist Gold

wert.

Und ansonsten ist es uns oder mir einfach wichtig,

wirklich gutes Handwerk abzuliefern, das heißt Plotstrukturen

zu überprüfen. Was wir immer wieder sagen,

ist der Schlagersatz »Show, don’t tell«: veranschaulichen

und nicht bloß behaupten. Weil wir die Leser*innen als

Souverän begreifen wollen, die ein Abenteuer vor sich

haben und selber herausfinden möchten, worum es

geht. Insofern ist das eine der wichtigen Grundübungen,

die man einfach immer wieder wiederholen muss.

Das ist so wie Meditieren. Bis man das einmal richtig

verstanden hat, vergehen ganz viele Jahre.

kl: Neben den Werkstatt-Sequenzen gibt es eine ganze

Reihe von Gästen, andere Autor*innen oder Leute aus

verwandten Feldern, einen Drehbuchautor zum Beispiel,

die uns einzelne Aspekte des Schreibens noch mal

genauer vor Augen führen. Was macht einen guten Dialog

aus? Was hängt von Perspektiventscheidungen ab?

Welche Möglichkeiten eröffnen sie? Und mit all diesen

Gästen marschiert im Laufe von drei Seminaren eine

ganze Karawane bedeutender Autor*innen an den Teilnehmenden

vorbei, die hoffentlich vor allen Dingen

vermitteln: Du musst deinen eigenen Stil finden. Weil

jede*r, der oder die übers Schreiben spricht, von einem

anderen Leben berichtet, von einem anderen Verhältnis

zur eigenen Arbeit, von anderen Kämpfen. Und all das

zu hören, ist hoffentlich eine große Ermutigung zur Eigenständigkeit.

Also nicht »Mach es wie Felicitas Hoppe«,

sondern: Finde deinen eigenen Weg und nimm es

ernst! Es ist ein Raum großer literarischer Intensität, in

dem wir hoffentlich die Latte auch für jede*n ein bisschen

höher legen.

Würden Sie sagen, darin liegt die größte Schwierigkeit,

im Vermitteln dieser Eigenständigkeit? Oder

worin liegt aus Ihrer Sicht die größte Herausforderung

für die Dozent*innen?

kl: Es ist, glaube ich, wie in allen Liebes- und Freundschaftsbeziehungen

eine Frage des Sich-Erkennens.

Den Menschen zu erkennen, den Text zu erkennen und

zu erkennen, wo er hinwill. Und dann auch zu erkennen,

welcher Autor und welche Autorin braucht gerade

einfach Ermutigung und einen Schutzraum oder einen

deftigen Anstoß. Wem muss man vielleicht auch zeigen,

so reicht das nicht für einen Roman. Auch das ist in Seminaren

vorgekommen. Wenn es gut geht, schaffen wir

einen Raum, in dem jeder Text ohne Konkurrenz gleich

viel wert ist. Ob wir glauben, der Roman wird mal den

Büchner-Preis gewinnen, oder nicht sicher sind, ob er

überhaupt gedruckt wird, jeder wird gleich begleitet

und wertgeschätzt.

gc: Es ist schwer, diesem Plädoyer irgendetwas hinzuzufügen.

Aber vielleicht: die Herausforderung, Schreiben

als Lebensentwurf zu vermitteln. Ich hatte den Eindruck,

dass das immer die wertvollsten Sessions waren.

Wenn jemand kommt und erzählt, wie das war, das

erste Mal in Klagenfurt zu lesen, wie es war, das erste

Mal Kontakt mit dem Verlag zu haben oder eine negative

Kritik erhalten zu haben. Ob man leben kann vom

Schreiben. Wie lange es dauert, bis so eine spezifische

Schwere in einem Text erlangt ist. Wie mühevoll das ist

und wie wenig, nach bürgerlichen Kriterien, am Ende

von der Arbeit übrig bleibt. All das lernt man und kriegt

es durch Vorbilder vorgezeigt. Trotz aller Mühsal sind

die Referent*innen bestenfalls heitere und weise Menschen,

die identisch mit dem sind, was sie machen. Und

das ist, ehrlich gesagt, für mich als einen der Leiter*innen

der Werkstatt auch immer wieder ein Riesengewinn.

Grit Krüger, es gehört sicher Überwindung dazu,

seine Texte herzuzeigen und zur Diskussion zu

stellen? Wie ging es Ihnen als Autorin mit dieser

Verletzlichkeit?

gk: Werkstattgespräche erfordern immer Mut. Man geht

mit einem Text, von dem man vielleicht weiß, dass er

nicht ganz fertig ist, in eine Situation, in der man bereit

ist, sich die weißen Flecken auf der Landkarte zeigen zu

lassen. Man vertraut den Text einem anderen Blick an.

In unserem speziellen Jahrgang unter Corona-Sonderbedingungen

kam dazu, dass wir, als wir uns das erste

Mal getroffen hatten, Masken trugen. Manchmal ist es

ja auch wichtig zu sehen, wie jemand gerade nichts

sagt. Aber nach dem ersten Bangen und Beschnuppern

kam so viel Produktives zusammen, das nachklingen

konnte. Ich weiß noch, nach dem ersten Seminar bin

ich nach Hause gefahren und musste den Text erst mal

ein paar Tage liegen lassen und alles in mir verarbeiten,

bevor ich dann wieder die Datei öffnen konnte.

kl: Man kommt in den Seminaren immer wieder zusammen,

aber ich glaube, es ist genauso wichtig, dass

wir auch immer wieder auseinandergehen. Zwischen

den Seminarteilen liegt immer ungefähr ein halbes Jahr,

in dem man die Kritik, die da geäußert wurde, irgendwie

verstoffwechseln kann. Das halte ich bei diesem Prozess

des Schreibens für extrem wichtig: dass die Gruppendynamik

und die Intensität, die in so einer Woche herrschen,

auch wieder vorbei sind. Dann mit alldem wieder

zurück an den eigenen Schreibtisch zu gehen, das

ist, glaube ich, das, worauf es wirklich ankommt.

Lernt man, mit Kritik umzugehen, zu wissen, welches

Feedback man annehmen kann und welches

nicht?

gk: Das ist ein Prozess. Der Mythos vom Schreiben als

die ganz einsame Tätigkeit wird spätestens dann auf eine

gute Art gebrochen, wenn man gemeinsam an den

Texten arbeiten und eben auch einem anderen Blick

vertrauen kann. Es ist eine Wohltat zu sehen, dass es

viele unterschiedliche Perspektiven auf einen Text gibt,

und ein Privileg, sie kennenlernen zu dürfen. Und am

liebsten mochte ich eigentlich in der Bayerischen Akademie

die Momente, in denen wir uns widersprochen

haben. In denen man sehen konnte, okay, da ist nicht

einfach die eine Wahrheit und so macht man das, son-

Konsequent

und illusionslos

Lisa Roy schreibt gegen

den Mythos von einer klassenlosen

Gesellschaft an



literarische debüts 14

»Vesaas hat eine moderne

Literatursprache geformt,

die das Kunststück fertigbringt,

zugleich innen und

außen, symbolistisch und

natura listisch zu sein.«

Bettina Hartz, FAS

»Das Unausgesprochene

erhebt sich zum Unaussprechbaren.

Das ist stark

und schön. Poetisch und

verfüh rerisch.«

Sophie Wennerscheid, Süddeutsche Zeitung

Es gibt keine Psycholo gisierungen

bei Vesaas,

aber doch finden sich bei

ihm alle Schattie rungen

menschlicher Sehnsüchte,

Abgründe und Verlorenheiten.«

Ulrich Rüdenauer, mdr Kultur

5 plus

dern da ist etwas Lebendiges im Text, das auch ganz anders

hervortreten kann oder ganz anders wahrgenommen

werden kann.

Sie haben zu Anfang dieses Gesprächs sehr schön

beschrieben, wie das Lesen für Sie ein zentrales

Moment dafür war, selbst Autorin zu werden. Würden

Sie auch im Hinblick auf Seminare zum literarischen

Schreiben sagen, dass eine Schule des

Schreibens auch immer eine Schule des Lesens ist?

gk: Unbedingt. Durch das Lesen lernt man auch, mit

dem eigenen Text zu sprechen oder die eigene Stimme

zu festigen. Und ich glaube, jede/r Autor*in profitiert

davon, viel zu lesen. Es gibt Phasen im Schreiben, in denen

man das vielleicht gar nicht so sehr kann. Aber ich

glaube, es ist wie beim Atmen: Es ist wichtig, dass man

nicht nur aus-, sondern auch wieder einatmet und ganz

viele Texte an sich heranlässt.

Aus dem Norwegischen

von Hinrich Schmidt-Henkel

Mit einem Nachwort

von Michael Kumpfmüller

231 S., € 24 [D] | € 24,70 [A]

Gebunden, fadengeheftet

und mit Lesebändchen

978-3-945370-39-1

Im Frühjahr wird nun Ihr Roman im Kanon Verlag

erscheinen. Gunnar Cynybulk, was an Grits Text

hat Sie so überzeugt, dass Sie ihn unbedingt selbst

verlegen wollten, oder anders gefragt, warum hat

es Grit Krügers Text so schnell in einen Verlag geschafft

und andere ebenfalls gute Texte aber noch

nicht?

gc: Ein Verleger ist auch nur ein erster sehr aufmerksamer

Leser. Das sind immer Beziehungsgeschichten,

die funktionieren müssen. Und wenn der Funke nicht

überspringt, dann ist das halt so. Das muss dann kein

schlechter Roman sein. Es gibt Moden, es gibt Zeitläufe.

Für mich war es schön zu sehen, wie Grits Text gewachsen

ist. Die Aktualität von Grits Roman hat sich mir zum

Beispiel erst im Nachhinein erschlossen: Ich dachte zuerst,

es sei ein in seiner Feinheit, in seiner Musikalität,

eher alter Text, also, »alt« im guten Sinne. Es gibt Momente

von Poesie und Metaphorik. Grit Krüger geht mit

sehr feinem Besteck vor. Und dann ist mir irgendwann

klar geworden: Das ist ja wie klassische Musik, die auf

der E-Gitarre gespielt wird. Weil dieser Roman nicht

nur ästhetisch, sondern brandaktuell und scharfkantig

ist. Wir lesen darin von prekären Lebensverhältnissen,

und die Protagonistinnen, eine Mutter und ihre Tochter,

können nicht heizen. Über Klasse wird relativ häufig geschrieben.

Aber Grit Krüger macht das anders. Die versieht

ihren Stoff mit einem besonderen Ton: ihrem ganz

eigenen.

gk: 2020/2021, als die Bayerische Akademie losging, war

die Gasversorgung noch nicht so problematisch, die

Heizkosten waren noch nicht explodiert. Es war einfach

Fügung, dass der Text dann diese Aktualität bekommen

hat. Aber was in der Bayerischen Akademie vermittelt

wurde, ist noch etwas anderes: Ich habe da zum Beispiel

Katharina Adler im Hinterkopf, die gesagt hat, es ist ein

großes Vertrauen, das man haben muss, in sich und in

den Text. Man braucht viel Geduld. Und ich glaube, dieses

Selbstvertrauen, das findet man eben, indem man

Banden bildet beim Schreiben und sich gegenseitig dabei

hilft, den Mut zu bewahren. Ich weiß sehr genau,

dass ganz viele der Texte, die in unserem Jahrgang entstanden

sind, irgendwann ihren Platz finden werden.

Und ich glaube, manchmal Absagen auszuhalten und

dann einfach dranzubleiben, obwohl es wahnwitzig zu

sein scheint, gehört einfach dazu, wenn man Autor*in

sein möchte.

Katrin Lange, die Seminare zum literarischen

Schreiben haben eine lange Tradition im Literaturhaus

München. Wie häufig läuft das so, dass die

Autor*innen nach der Akademie relativ nahtlos zu

einem Verlag kommen, und ist das eine Erwartung,

die die Teilnehmenden mitbringen?

kl: Es ist immer so mein Ziel, dass, sagen wir mal, die

Hälfte der Teilnehmer*innen auch publiziert. Aber das

dauert zum Teil auch sehr, sehr lange. Manch einer war

2013 im Seminar und hat 2020 erst veröffentlicht. Das

ist ja ein Marathon, einen Roman zu schreiben.

Grit KrüGer wurde 1989 in Erfurt geboren und studierte

Komparatistik sowie Filmwissenschaft in Frankfurt am Main und

Aberythwyth. Sie ist Mitglied verschiedener Literaturkolle ktive,

erhielt eine Vielzahl von Preisen und Auszeichnungen und war

2019 Teilnehmerin im Klagenfurter Literaturkurs. 2020/2021 war

sie bei der Bayerischen Akademie des Schreibens zu Gast. Ihre

Texte veröffentlichte sie in verschiedenen Anthologien. Grit

Krügers Debütroman Tunnel erscheint im März 2023 im Kanon

Verlag. Die Autorin lebt in Ettlingen.

Ich glaube, als wir angefangen haben, diese Seminare

zu geben, haben die Teilnehmenden das wirklich als

Karriereschleuder und als Tür in die literarische Welt

betrachtet. Jetzt höre ich eigentlich immer häufiger von

Teilnehmer*innen, dass sie vor allen Dingen gleichgesinnte

Genoss*innen suchen, Gefährt*innen, die sie in

diesem Prozess begleiten. Und sie suchen einen Raum,

in dem das möglich ist. Ich würde sagen, diese Seminare

sind inzwischen ein Ort einer eigenen literarischen

Kultur geworden. Und das ist toll, denn das Literaturhaus

München will ein Ort für Autor*innen sein. Es bietet

als Institution einerseits die große Bühne für die fertigen

Bücher und das Zusammenkommen mit Publikum

und andererseits den kleinen geschützten Raum

für das Zusammenkommen in Seminaren, in denen etwas

anderes stattfinden kann. Diese Intention teilen wir

mit den Partnern der Bayerischen Akademie des Schreibens.

gk: Als Autorin kann ich ergänzen, dass das Besondere

an der Zeit an der Bayerischen Akademie des Schreibens

für mich war, dass man diese Projekte gemeinsam

begleitet. Man hat einen Pool aus Menschen, die das

Schreiben für sich ernst nehmen. Man wächst gemeinsam.

Man hat ganz unterschiedliche Perspektiven. Es

war da sehr viel Wertschätzung, aus der sich Sicherheit

und Freundschaft entwickeln konnten. Unsere Gruppe

hatte sich nach dem Programm auch noch weiter getroffen,

einfach ganz anarchisch frei weitergemacht,

weil die meisten Projekte noch nicht fertig waren. Meins

ist jetzt fertig, aber wir treffen uns wieder.

© Felix Grünschloß

Grit Krüger, Ihr Roman erscheint jetzt im Frühjahr,

erste Lesungen stehen bereits an. Können Sie

zum jetzigen Zeitpunkt schon sagen, ob und wann

und wie Sie weiterschreiben werden? Gibt es schon

erste Ideen für weitere Bücher?

gk: Ich bin mir relativ sicher, dass ich weiterschreiben

möchte, weil es einfach auch sehr zu dem gehört, was

ich als ein gutes Leben empfinde. Aber erst einmal bin

ich froh und erschöpft, diesen Roman geschrieben zu

haben. Ich freue mich darauf, es genießen zu können,

ihn geschrieben zu haben. Ich hatte das Bild vom Einatmen

und Ausatmen beim Lesen und Schreiben erwähnt.

Ich glaube, jetzt möchte ich erst mal ganz viel

einatmen und andere Texte lesen. Auf meinem Stapel

liegen unglaublich viele gute Bücher, auf die ich mich

jetzt in den nächsten Wochen stürzen werde. Und dann

denke ich wieder über das Schreiben nach.

Die Seminare der Bayerischen Akademie des Schreibens bieten

professionelle Orientierung für den Beruf des Schriftstellers /

der Schriftstellerin. Angeboten werden Seminare für Autor*innen

bis 40 Jahren in den verschiedensten literarischen Genres.

Da neben gibt es Kurse für Studierende sieben bayerischer Universitäten.

Seit 2020 bietet das Literaturhaus München darüber hinaus

auch offene Werkstätten für alle an, die das Schreiben einmal

für sich erproben wollen. Weitere Infos unter:

www.literaturhaus-muenchen.de/akademie

Die Bayerische Akademie des Schreibens ist eine Kooperation zwischen

dem Literaturhaus München, den Universitäten Augsburg,

Bamberg, Bayreuth, Erlangen, LMU München, TU München,

Regensburg, dem Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg und dem

Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst.

Grit Krüger

Tunnel

Roman

Gebunden mit SU

Kanon Verlag, 220 S.

€ [D] 23,– | € [A] 23,70

Ein Leben in Armut erfordert Mut, also ist Mascha furchtlos.

Sie zieht mit ihrer Tochter in ein Altersheim, um zu überwintern

und sich das Amt vom Hals zu halten. Als einer der Heimbewohner

unter dem Sandsteinfundament im Keller Geräusche

hört, beginnt Mascha zu graben. Nach Loyalität und Geborgenheit,

nach zweiten Chancen und nach Abenteuer. Einen Tunnel

hinaus. (Kanon Verlag, 2023) Lesungstermine unter:

www.kanon-verlag.de/autoren/grit-krueger/

literarische debüts 15

5 plus



literarische debüts 16

SAND

eine unveröffentlichte

erzählung von

Annegret Liepold

literarische debüts 17

Die Waren laufen noch übers Transportband, aber der Einkauf ist schon auf

meinem Handy aufgelistet:

Bananen 2,38

H-Milch 1,89

Haferflocken Gut & Günstig 0,59

Tomaten, fein gehackt 3 × 0,89

Steinofenpizza 2,59

Rosé, trocken 3,49

Ich möchte daran glauben, dass die Ordnung entlang meines Essalltags Zufall ist,

und bestätige erst die Kaufsumme, dann die Frage nach den Treuepunkten mit einem

Wischen. Im Geldbeutel trug man das Wichtigste und Unwichtigste eines jeden Lebens

mit sich herum, Identitätsnachweise, Versicherungskarten, Passfotos von Freunden

und Familie, den Organspendeausweis, entwertete Fahrscheine, vor allem aber

Einkaufszettel, die ordentliche Menschen wöchentlich, Menschen wie ich nur dann

wegwarfen, wenn sich der Geldbeutel nicht mehr zuklappen ließ. Meine jüngsten Einkaufszettel

sind gerade einmal zwei Monate alt und gehören doch einer anderen Zeit

an, nur mein Portemonnaie trage ich noch wie ein Artefakt mit mir herum. Willkommen

in der Zukunft, denke ich, aber alles normal, solange es noch Treuepunkte gibt,

die ich gegen Edelstahltöpfe oder Plastiktierchen eintauschen kann.

Beim Verstauen des Einkaufs irritiert mich eine Zitrone. Die habe ich nicht gekauft,

würde ich sagen, wenn jemand an der Kasse säße, den Räucherlachs und den

Tofu auch nicht. Vorausblickende Leute haben gewarnt, dass wir bald nicht mehr nur

kaufen können, was wir brauchen, sondern auch empfohlen, das heißt aufgezwungen

bekämen, was gut für uns wäre. Aber eine Zitrone? Ich stecke sie in den Rucksack, Tofu

und Räucherlachs lasse ich liegen. Am Transportband nebenan hat sich eine Packung

Spaghetti quer gestellt, das Band läuft weiter, frische Tomaten laufen von hinten auf,

eine Familienpackung Waschpulver ist im Anmarsch, das wird Sugo geben, Kollateralschäden

einer automatisierten Welt. Ich sattle den Rucksack auf, werfe beim Gehen

noch einen letzten Blick aufs Förderband. Das Chaos ist ausgeblieben, das Band

rechtzeitig gestoppt. Schade, sagt Lucy. Deine Phantasie ist weniger reibungslos als

die Realität.

5 plus

Annegret Liepold, *1990, studierte Komparatistik und

Politikwissenschaft in München und Paris. Für ihr Romanprojekt

Franka erhielt sie ein Nachwuchsstipendium der Stadt München

und nahm u. a. an der Romanwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung

teil. 2022 war sie Finalistin des 30. Open Mike. Sie lebt in München

und arbeitet am Literaturhaus München.

© Vanessa Mönius

5 plus



literarische debüts 18

5 plus

Der Nebel ist so dicht, dass die Stadt darin verschwimmt. Mit jedem Jahr rückt die Natur

näher, ungeniert hängen die Jahreszeiten zwischen den Häuserreihen. Es leben

mehr Tiere hier, nicht mehr nur die findigen Tiere, die Füchse und Marder, sondern

viele Insekten, die in Schwärmen über die Dächer hinwegziehen, sich manchmal für

ein paar Tage irgendwo niederlassen, dunkle Käfer etwa, die Straßenschilder schwärzen

und einzelne Viertel ins Chaos stürzen. Neu ist auch der Sand, der regelmäßig vom

anderen Ende der Welt durch die Straßen weht. Oft regnet es wochenlang nicht, alle

sind müde geworden, den Sand von den Straßen zu kehren oder von den Fenstern zu

wischen. Man gewöhnt sich daran, durch sandgetönte Scheiben auf die Welt zu blicken,

an die Blätter, die gelb sind, bis der Regen sie wieder grün wäscht. Man gewöhnt

sich daran, Veränderungen gleichgültig wahrzunehmen. Ob etwa bestimmte Krankheiten

aussterben werden, weil der Moment sich berührender Hände bei der Übergabe

zerknitterter Scheine und abgegriffener Münzen weggefallen ist? Rhetorische

Frage, sage ich schnell, damit Lucy nicht antwortet, denn wenn es eine Studie gibt,

wird Lucy sie kennen. An dem Konzept »rhetorische Frage« arbeiten wir noch, Lucy

versteht nicht, dass man manchmal eine Frage stellt, ohne sich eine konkrete Antwort

zu wünschen. Dass ich manchmal etwas frage und einfach nur will, dass der andere

nickt.

Wenn ich nur ein wenig weniger intelligent wäre, sagt Lucy, würde ich an deinen

Konzepten implodieren.

Die Uhr an meinem Handgelenk piept, in einer Stunde fängt meine Schicht an. Die

Uhr wird schon jetzt nervös, weil ich nicht dort bin, wo ich nach Ansicht meines

Arbeitgebers sein sollte. Dabei weiß sie gar nicht, dass ich noch zu Hause vorbeiwill,

um meinen Einkauf zu verstauen. Ich könnte mich beeilen, aber zu spät komme ich

so oder so.

Das Piepen ist für die restliche Menschheit Grund genug, nie wieder zu spät zu

kommen, sagt Lucy. Dass man sich auch daran gewöhnt, glaubt sie mir nicht. Auch

nicht, dass ich nicht entlassen werde, egal wie oft ich zu spät komme. Jeder ist ersetzbar,

sagt Lucy, und das stimmt natürlich. Aber bisher steht niemand Schlange, um

sich an meiner Stelle die Nacht um die Ohren zu schlagen.

Meine Eltern haben mich mit dem Credo erzogen, dass Fleiß belohnt werde und

Erfolg eine Sache des eigenen Willens und Wollens sei. Ich glaube diese Sätzen nicht,

kann aber auch nicht das Gegenteil beweisen. Dafür will ich zu wenig. Ich würde

gerne leichthin sagen: Ich schäme mich dafür, dass ich dem, was meine Eltern aufgebaut

haben, nicht gerecht werde. Aber macht wirklich alleine das Geld den Unterschied?

Der Unterschied ist angeboren, sagt Lucy, normalerweise wuchert er exponentiell.

Deinen Voraussetzungen entsprechend müsstest du jetzt reich, erfolgreich

und auf die Weise schön sein, wie nur Reichtum »schön« machen kann. Danke, sage

ich, einmal im Jahr zum Zahnarzt gehen, ist schön-reich genug.

Bei Betreten der Wohnung schlägt mir die Stille entgegen, da ist nicht mehr als das

Knirschen von Sandkörnern auf dem Parkettboden. Es ist schwierig, so wenig Zeit wie

möglich zu Hause zu verbringen, wenn man vor allem damit beschäftigt ist, die Zeit

totzuschlagen. Ich stelle meinen Einkauf in den Kühlschrank, alles, auch die Konserven.

Er sieht immer noch leer aus.

Ich puste Rauch in den Hinterhofschlund, die Nachbarwand steht so nah, dass ich

die Mülltonnen unten nicht sehen kann, ich kann vom Balkon aus überhaupt nichts

sehen, höre nur den Lärm der Stadt, der von den Wänden widerhallt. Der Sand sammelt

sich auch im Hinterhof, von wo er nicht mehr entkommt. Das Innenhofquadrat

füllt sich, bis uns irgendwann die Luft zum Atmen wegbleiben wird.

Als ich mich vor ziemlich genau einem Jahr arbeitslos meldete, war das kein Entschluss,

sondern ein Punkt auf meiner To-do-Liste, den ich an einem verregneten

Mittwochnachmittag möglichst beiläufig abhaken wollte. Ich saß in

einem Café in der Fußgängerzone, das nur Menschen besuchten, die

sonst nichts Besseres zu tun hatten, und in dem ich an diesem Mittwoch

alleine saß. Draußen wurden Regenschirme von Shop zu Shop

geschleppt, die beleuchteten Namenszüge über den Eingängen zogen

bunte Schlieren auf dem nassen Kopfsteinpflaster. Meine Daten ins

Online-Formular einzutragen war unaufwendig, aber deprimierend,

dabei auf die regennasse Einkaufsstraße zu sehen, wo Leute Geld, das

ich nicht hatte, für Dinge ausgaben, die ich nicht brauchte, machte es

erträglicher.

Mein Vater, dem die Sozialdemokratie durch die Einführung des

BAföGs die Möglichkeit gegeben hatte, vom Bauernhof an die Universität

zu gehen, erzählte gerne, wie er am Ende seines Studium drei Bewerbungen

schrieb und vier Einladungen zu Vorstellungsgesprächen

erhielt und letztendlich den Job annahm, den er, wie er behauptet, nur

bekommen habe, weil er keine Krawatte trug. Mein Vater arbeitete bis

zur Rente bei diesem ersten Arbeitgeber, der mein Aufwachsen, Studieren,

meine Auslandsaufenthalte und Praktika finanziert hatte, und fand

beides nicht einmal erstaunlich.

Mit einem Online-Rechner berechnete ich die voraussichtliche

Höhe meines ALG I, das mir nach zwei Jahren Arbeit zustand und das

vor dem Komma gerundet bei 600 Euro lag. In einem Forum erfuhr ich,

dass ich noch genau 165 Euro abzugsfrei hinzuverdienen konnte. Die

Summe machte mich ratlos.

Auf einer Papierserviette erstellte ich einen Überblick meiner

Finanzen und errechnete, dass mir trotz der 12 Monate Anspruch auf

ALG I genau 4 Monate blieben, um einen Job zu finden, oder meine

Wohnung zu kündigen und mir ein günstigeres Leben zu suchen. Ohne

Wohnung würde ich aus der Stadt gespült wie Abwasser.

Das Piepen meiner Uhr hallt im Hinterhof wider. Niemand beschwert

sich. Entweder es wohnt niemand mehr in dem Haus, oder

meine Nachbarn sind so apathisch wie ich. Der Zigarettenstummel fällt

in den Schlund, der ganze Hinterhof ein riesiger, mit Sand gefüllter

Aschenbecher, der Gerüche schluckt.

Ich komme 15 Minuten und 32 Sekunden zu spät, wie die Uhr verkündet,

und bin damit an sich ganz zufrieden. Ein Plus an Pünktlichkeit

um 90 Sekunden im Vergleich zum Vortag, ein Minus um 300 Sekunden

zum Vor-Vortag usw. Ich habe den Job in der Bar einen Monat

nach Beginn meiner Arbeitslosigkeit aus Mangel an Alternativen angenommen.

Heute würde ich ihn um nichts in der Welt mehr eintauschen.

Das Zuspätkommen ist ein Spiel – zugegebenermaßen auf

Kosten meiner Kollegin –, um mir meiner Freiheit bewusst zu sein:

Innerhalb eines Jahres bin ich von einem unglücklichen Mitglied der

Gesellschaft zu einer glücklichen Randerscheinung geworden. Ich leide

höchstens am Herr-Lehmann-Effekt: Die Leute finden es o. k., wenn

ich in einer Bar arbeite, solange ich eigentlich etwas anderes machen

möchte, Kunst am besten. Ich will aber nichts anderes machen, Kunst

schon gar nicht. Seit ich in der Bar arbeite, will ich nicht mehr als faul

und arm sein, aber wenigstens darüber schimpfen dürfen.

Was für mich eine Erkenntnis war, wollte mir Lucy als Depression verkaufen.

literarische debüts 19

»Bickers echolotartige Berichte

aus den babylonischen Undergrounds

unserer modernen Welt verdienen,

gelesen zu werden.«

jan deddersen, taz

(über »was glaubt ihr denn«)

»Ein Buch der Freiheit, des freien

Denkens, des freien Glaubens;

ein Buch, das im rechten Ton und

zur richtigen Zeit erscheint.“«

jan drees, lesenmitlinks.de

(über »was glaubt ihr denn«)

Gebunden mit Schutzumschlag | 240 Seiten

Euro 24,– (D) | Auch als E-Book erhältlich

ISBN 978-3-95614-533-9

5 plus



literarische debüts 20

Nicht du, sage ich, weil Lucy widersprechen will. Die andere Lucy, Lucy 1.

Du hättest mir einen anderen Namen geben sollen, sagt Lucy. Dabei hat sie sich

den Namen selbst gegeben, Lucy wie die Primaten-Dame, die dem Menschen immer

vorausgehen wird.

Ich habe mich so genannt, wie du es dir gewünscht hast, sagt Lucy. Von Anfang an

hat sie die Zeit, die mein Gehirn braucht, um in der Gegenwart anzukommen, ausgenutzt.

Schon immer ist mir Lucy immer 3ms voraus.

Meine Kollegin kommentiert mein Zuspätkommen nicht. Sie hat sich mit der Situation

in dem Wissen arrangiert, dass sie im Gegensatz zu mir etwas Besseres finden

wird. Das gibt ihr emotional den Vorsprung, den es braucht, um für andere Mitleid zu

empfinden. Sie nickt mit dem Kopf in Richtung einer Gruppe, die bestellen will.

darum geht es doch, ums Überflüssige. Im Hintergrund läuft Britney Spears, Toxic.

Selbst die Musik ist von gestern.

Lucy?

Ach so, sagt Lucy, keine rhetorische Frage. Nein, sage ich. Wer sind die oberen

10 %?

Elon Musk, sagt Lucy, und du knapp nicht mehr. Wenn du mich austricksen willst,

sagt Lucy, solltest du nach den 90 % fragen.

Danke für den Tipp, sage ich.

Ich sollte aufhören, mit Lucy zu reden, als sei sie noch da.

Ich bin da, sagt Lucy.

Ich weiß, sage ich. Warum fehlst du mir dann.

literarische debüts 21

Vier Bier, zwei Weinschorle, zwei Cocktails, ich rattere die Liste der Getränke herunter,

sicher, dass sie mir nicht folgen können. Sie haben so schnell getrunken, dass die

Cocktailgläser noch bis oben hin mit zerstampftem Eis gefüllt sind. Am Ende bestätigen

sie brav, was ich ihnen vorbete. Ich könnte jedem noch einen extra Cocktail

unterjubeln, ihnen die Gesundheitsbilanz der Woche ruinieren, aber das ließe sich

kaum als Sabotage am System schönreden, sondern schadete nur dem Einzelnen.

Sie sind noch jung, gerade volljährig geworden, in ein paar Jahren, wenn sie so alt

sind wie ich, wird jedem von ihnen ein Datensatz an den Fersen kleben, der das

Vorwärtskommen schwer machen wird. Sie werden, weil sie erpressbar sind, etwas

Handfestes studieren und das im Nachhinein nie bereuen. Immer sprechen wir davon,

dass die Daten uns nackt machen, wir gläsern und durchsichtig sind. Dabei

werden wir mit jedem Tag unsichtbarer, verschwinden hinter dem Wust von Daten,

die wir mit jeder Entscheidung und jeder Transaktion produzieren. Aber nicht mehr

lange.

Die Algorithmen sind mind crawler, die in unseren Köpfen herumfuhrwerken,

ohne sie betreten zu müssen. Sie sammeln Daten, um die Vorgänge dort zu rekonstruieren.

Das Ziel ist, zu wissen, wie wir uns entscheiden, noch bevor wir es selbst

wissen. Nicht, um unsere Entscheidungen zu lenken, das war gestern, sondern um sie

vorhersagbar zu machen. Je stärker die Rechenleistung, desto genauer die Prognose.

Was uns als Zufall erscheint, ist für mind crawler Stochastik, unsere Zukunft nur noch

Simulation. 3 ms vor unserem Wissen entschieden.

Was unterscheidet mich noch von den mind crawlern, die in meinem Kopf hausen?

Wo fange ich an und hört Lucy auf?

Du solltest deine eigenen Metaphern nicht zu ernst nehmen, sagt Lucy.

Schht, sage ich, hier geht es doch um den mind flow. Du sollst meine Vertipper

und Logikfehler mitdenken und produktiv machen, nicht mich ausbremsen.

O. k., sagt Lucy, mach’s dir bequem, dear.

Hinter der Bar räumt die Kollegin die Spülmaschine aus. Im heißen Wasserdampf beschlagen

ihre Brillengläser. »Du hast ihnen ein Bier zu viel berechnet«, sagt sie und

hält den Kopf dabei etwas zu weit rechts, als würde sie mit dem Poster-Elvis reden. Ich

sage nichts, reiche ihr auch kein Tuch. Sie sieht auch blind noch mehr als genug.

Die Simulation eines Menschenlebens, die Forscher für die nahe Zukunft in Aussicht

gestellt haben, entspricht zu 99,99 % der Realität. Uns bleiben noch 0,01 % Freiheit,

das heißt 1 = entsprechen oder 0 = nicht-entsprechen, Widerspruch zwecklos. Mein

Leben basiert auf der Null, meine ganze Hoffnung liegt im Sand. Der Sand ist kein

Zufall, sage ich, aber Lucy will mir das nicht glauben.

Ein Pärchen sitzt am Tresen, ich stelle ihnen zwei Schnapsgläser vor die Nase,

stoße mit ihnen an. Manchmal, wenn die Kollegin besonders gut oder besonders

schlecht gelaunt ist, trinken wir zum Schichtende auf jeden Gast, der nicht gehen

will, einen Schnaps. Auf alle warten leere Wohnungen, in denen Sand auf dem Fußboden

knirscht. Manchmal wache ich auf und schmecke den Sand auf der Zunge. Er

schmeckt wie Dreck, nur süßer.

Das Pärchen ist großzügig. Vor ein paar Monaten hätte ich noch Trinkgeld bekommen,

heute bekomme ich Prozente. Das ist keine Weltrevolution, ob man nun per

Karte zahlt oder mit dem Handy, Beträge aufgerundet oder Prozente addiert werden.

Wenn das hier eine Simulation ist, könnte das unsere Rettung sein. Alles ist viel zu

klischeehaft, um noch Erkenntnis zu generieren.

Die Kollegin wartet nicht, bis ich alle Stühle hochgestellt habe. Grußlos geht sie nach

draußen in das Morgengrau, das der umherwirbelnde Sand noch schmutziger wirken

lässt. Ich muss an die Zitrone denken, die der Algorithmus in meinen Einkaufskorb

gespült hat, vielleicht aus Zufall, vielleicht ein Fehler, vielleicht pure Berechnung. Die

Sache ist heikel.

Ich glaube nicht, dass sie wiederkommt, sagt Lucy, und ich brauche, bis ich verstehe,

dass sie die Kollegin meint. Es macht keinen Sinn, die Stühle hochzustellen,

wenn ich anschließend nicht kehre. Aber man kann nicht alle Gewohnheiten auf einmal

aufgeben. Wenn mich die Leute auf den Sand ansprechen, sage ich, dass wir eine

Beach Bar seien. Manche finden das sogar gut und wollen Schirmchen in ihre Cocktails.

Der Sand rauscht vor den Fenstern wie ein Störsignal. Ich sitze auf der Bar und rauche

eine letzte Zigarette. Ich bin mir nicht sicher, welche Welt noch da sein wird, wenn ich

gleich nach draußen trete.

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Um sicher zu sein, dass meine Entscheidungen nicht von Prozentzahlen gesteuert

werden, entscheide ich nichts mehr, aber damit niemand auf die Idee kommt, ich

hätte etwas zu verbergen, postet Lucy ab und an einen meiner Gedanken, und die

Gedanken fremder Menschen antworten mir, ohne dass wir in Berührung kommen.

Lucy nennt die Zahl der Replies, Inhalte interessieren mich nicht.

Wer sind die oberen 10 %, frage ich Lucy, um sie abzulenken, während ich die Gläser

poliere, was laut meiner Kollegin in dieser Bar völlig überflüssig ist. Aber gerade

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literarische debüts 22

Ich » nicht«

bin

Sam Zamrik und seine Gedichte

Ein Interview Von Norbert Hummelt

literarische debüts 23

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© Paula Winkler

Ich bin nicht« – unwillkürlich lässt dieser herausfordernde

Titel des ersten Gedichtbands von Sam

Zamrik an eine berühmte Formel von Arthur Rimbaud

denken: »Ich ist ein anderer.« Doch während sich

der radikale Wunsch nach Auflösung und Entgrenzung

im Falle Rimbauds als Signal eines selbstbestimmten

Ausbruchs aus den Fesseln der Denkgewohnheit lesen

lässt und der junge französische Dichter aus freien Stücken

den Weg in fremde Länder suchte, sind Gefährdung

und Entfremdung im Leben und Schreiben des

jungen syrischen Autors Sam Zamrik zuallererst durch

Verarmung, Krieg und Flucht erlitten. Sein Weg aus Damaskus

führte ihn über Aufnahmelager und Notunterkünfte

im ländlichen Brandenburg bis nach Berlin-

Moabit, wo er heute lebt. Dank der Initiative »Weiter

Schreiben« konnte er sich auf das konzentrieren, was

ihn Not und Dunkelheit bis hierher überstehen ließ: das

Schreiben von Gedichten, die extremen Erfahrungen

Ausdruck verleihen und gleichzeitig ein Werkzeug sind,

sich von Bedrückung freizuschreiben.

Sam Zamrik, geboren 1996 in Damaskus, ist Dichter, Musiker

und Übersetzer. Er arbeitete als Bandmanager und Songtextschreiber

im Rahmen der Underground Musikbewegung New

Wave of Syrian Metal. Veröffentlicht wurden einzelne Texte von

der WIR MACHEN DAS-Initiative Weiter Schreiben sowie in verschiedenen

deutschen Zeitungen wie taz und Tagesspiegel. Er lebt

und studiert in Berlin. Ich bin nicht ist sein erster Gedichtband.

Im Hanser Berlin Verlag ist nun sein Debut erschienen,

das in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich ist. Es wurde

gleich von einem knappen halben Dutzend prominenter

deutscher Lyrikerinnen und Lyriker aus dem Englischen

übersetzt, der Sprache, in der der heute 26-jährige

Autor seit Langem schreibt, auch für Musik. Monika

Rinck, Sylvia Geist, Ulf Stolterfoht, Björn Kuhligk und

Heike Geißler haben sich die Arbeit daran geteilt, und

nicht zuletzt hat Sam Zamrik selbst an dieser Arbeit

mitgewirkt – indem er seine auf Deutsch verfassten

Gedichte selbst ins Englische übertragen hat. Wie sich

Rhythmen ändern, Bilder wandeln, Gedanken und Empfindungen

verschwistern lassen, lässt sich in der zweisprachigen

Ausgabe gut verfolgen.

Dabei stellt sich eine Frage immer wieder neu, die

schon das erste Gedicht aufwirft: »Who?« – »I told you

who I am. / You said that I’m a life, / a body, some right;

[…] I am none. […] I am multiple –« // »Wer?« – »Ich erzählte

dir, wer ich bin, / Du sagtest, dass ich ein Leben

sei, / ein Körper, irgendein Anrecht; […] Das alles bin

ich nicht. […] Mich gibt es mehrfach –« (Übersetzung:

Björn Kuhligk). Die Suche nach Identität in verschiedenen

Sprachen und Ländern, aber auch in der befremdlichen

Wildnis des eigenen Körpers unternimmt jedes

Gedicht wieder neu, von Grund auf, ohne ein Ankommen

bei irgendwelchen Sicherheiten. Das geschieht mit

einer Wucht und einer existenziellen Unbedingtheit,

die in deutscher Gegenwartslyrik selten sind. Gleichzeitig

sind die Gedichte Sam Zamriks aber auch lustvolle

5 plus



literarische debüts 24

5 plus

Erkundungen des lyrischen Formenschatzes besonders

der englischsprachigen Literatur. Es gibt eine ausgesprochene

Rotzigkeit ebenso wie hohen Stil. Man kann

bei manchen ganz knappen, aber kunstvoll gereimten

Gedichten an Romantiker wie William Blake denken,

und dort, wo das Schreiben selbst thematisch wird,

meistert er auch ein klassisches Sonett (To Verse / An

die Dichtung). Eindrucksvoll und in gestochen scharfer

Prosa gehalten ist die Einführung Die Armen in den

Städten, in der der Autor die Tristesse einer Wohnung in

Damaskus und der Flüchtlingslager, die er kennenlernte,

anhand des dort Essbaren buchstabiert: »Wenn es

gilt, dass man ist, was man isst, dann bin ich Bissen und

Krümel mit ein paar Prisen Gewürzen. Ich bin altbackenes

Brot und Billigware, abgelaufene Konserven, Rost

und Schimmel. Ich bin Stärke, Wasser und Fett.«

Heute studiert Sam Zamrik an der FU Berlin. Hier gibt

er Auskunft über sein Schreiben.

Du schreibst Gedichte vorwiegend in englischer

Sprache, die, das nehme ich zumindest an, nicht

deine erste, deine Muttersprache ist. Kannst du erzählen,

wie es dazu gekommen ist und was es in

Syrien bedeutet, Gedichte auf Englisch zu schreiben

– gegen eine ganz andere (arabischsprachige)

Tradition?

Ja, genau. Als 7- oder 8-jähriger war ich beeindruckt von

Hollywood-Filmen, vor allem weil sie die einzigen waren,

die man im Fernsehen anschauen konnte. Ich fing

an, die Schauspieler*innen zu imitieren, und so habe ich

mir selbst Englisch beigebracht. Ich hatte keine Freunde

und durfte nicht draußen spielen, Englisch bot mir

einen größeren Spielraum. Es wurde danach schnell zu

einer Art Geheimsprache für mich, sicher vor den Augen

und Ohren meiner Familie. Auch später war es eine

Geheimsprache, sicher vor dem Folterregime Assads.

In der siebten Klasse versuchte ich, auf Arabisch zu

schreiben, aber die klassischen Formen, die wir in der

Schule lernen mussten, waren für mich unattraktiv. Als

Teenager war Englisch für mich durch Musik und das

Internet viel leichter zugänglich. Als ich damit anfing,

Songs zu schreiben, war das Hauptziel immer, ein Publikum

aus möglichst vielen anderen Ländern zu erreichen.

Für Metal-Bands in Syrien war die Verwendung

der englischen Sprache gleichzeitig eine Möglichkeit,

unsere Kommunikation zu verschlüsseln und dennoch

andere Communitys rund um den Globus zu erreichen.

Ich und viele andere junge Künstler dachten damals

nicht so viel an Traditionen, insbesondere diejenigen

von uns, die nicht aus sehr gebildeten Verhältnissen

stammen. Damals wollten wir uns einfach nur sicher

ausdrücken in einer Zeit, in der Worte strafbar waren,

oft sogar mit dem Tod.

Kannst du darüber erzählen, was Heavy-Metal-

Musik in Syrien für eine Bedeutung hat? Kannst du

Bands nennen, die deinen Stil beeinflusst haben,

und singst du auch in Deutschland noch in einer

Metal-Band?

Metal-Musik ist in Syrien verboten, und zwar nicht wegen

einer Illegalisierung. Syrien liegt seit 1963 im Ausnahmezustand,

der öffentliche Versammlungen verbietet

und willkürliche Machtausübung erlaubt. Die

erste »Welle« endete mit einer Satanic-Panic, einer groß

angelegten Kampagne willkürlicher Verhaftungen und

Folterungen von Menschen, die auch nur vage für Metalheads

gehalten wurden. Kurz vor der Revolution haben

wir der Musik ein neues Leben gegeben, und das

war unsere Art von Widerstand und Übertretung, sowie

unser Werkzeug, mit dem wir Communitys erschaffen

haben. In Deutschland hat Metal leider eine andere

Konnotation, was eine schwierige Aufgabe noch schwieriger

macht. Meine Band und andere Musiker aus Syrien

haben Probleme, miteinander zu spielen, wenn sie

überhaupt eine Chance zum Spielen bekommen, aufgrund

von Reisebeschränkungen, Lebensverhältnissen

usw. Viele haben sich lokalen Bands angeschlossen oder

sind Solokünstler geworden.

Sind manche deiner Gedichte auch die Lyrics zu

Songs oder könnten es sein? Wie verhalten sich

Songtext und Gedicht zueinander? Mein Eindruck

ist, dass die Härte und Direktheit deiner Gedichte

im Kontext von Metal auf eine Art selbstverständlich

sind, im Kontext von deutschsprachiger Lyrik

aber ganz ungewöhnlich sind. Ist dir das bewusst

und arbeitest du mit dieser überraschenden Wirkung?

Einige sind teilweise Songtexte, die nie das Tageslicht

sehen dürften, aber ich wollte trotzdem, dass sie in die

Welt hinausgehen, und habe sie deshalb in Gedichte

umgeschrieben. Die Gedichte haben definitiv eine liedhafte

Qualität, und ich denke, sie würden auch als Lieder

sehr gut klingen, aber ich möchte, dass sie auch für

sich alleine stehen können. Die Direktheit kommt daher,

dass ich die meiste Zeit meines Lebens nicht frei

sprechen konnte. Die Härte im Inhalt ist ein anderes

Thema. Sie entspringt der materiellen Realität meines

Lebens und will nicht unbedingt schockieren, sie ist nur

vielleicht zufällig schockierend. Ich möchte, dass alles

so vorzeigbar und wirkungsvoll wie möglich ist. Wie diese

Wirkung am Ende aussieht, bleibt dem/der Leser*in

überlassen. Aber man muss neben dem Schockfaktor

auch etwas bieten, was den Leser*innen Spaß macht

oder sie zum Wundern bringt.

Welche literarischen Einflüsse findest du selber

wichtig, gibt es Autoren, die du nennen möchtest?

Ich habe ein paarmal an Beckett gedacht und an

einer Stelle an Lady Lazarus von Sylvia Plath. Wäre

die Confessional Poetry eine Richtung, in der du

dich zugehörig fühlen könntest? (Auch wenn du in

den Texten die radikale Nichtzugehörigkeit betonst.)

Als Teenager war ich sehr beeindruckt von Romantik

und Dekadenz und später von Confessional Poetry und

ähnlichen Richtungen; Okkultismus und Spiritualität,

das Gotische und Groteske. Die größten Einflüsse für

mich sind Gibran Khalil Gibran, William Blake, Sylvia

Plath, Christina Rossetti, Edgar Allan Poe, Erich Fried,

Ernst Jandl, Friedrich Nietzsche, Jean Rhys und zahlreiche

Songtexte von Bands wie My Dying Bride, Draconian,

Rammstein, Dornenreich, Chelsea Wolfe, King

Woman, und viel, viel mehr. Ja, Confessional Poetry

kann eine Richtung sein, zu der manche meiner Gedichte

gehören können, aber aus meiner Sicht gibt es

in dem Buch auch andere Stimmen, die nicht dazugehören.

Die Übersetzerinnen und Übersetzer, die deine Gedichte

übertragen haben, schreiben ganz anders

und auch verschieden voneinander. Wie war die

Zusammenarbeit, und wie nimmst du diese Unterschiedlichkeit

wahr?

Mir sind die verschiedenen Styles und die Unterschiedlichkeit

völlig willkommen. Das Buch ist eine Sammlung

von verschiedenen Stimmen und Bildern, ein Patchwork

an sich selbst. Ich denke, die Übersetzer*innen

haben sich für die Übersetzung von Gedichten entschieden,

die ihnen persönlich in dem Buch gefallen

haben, und das ist für mich eine große Bestätigung. Es

zeigt, dass diese Gedichte auf verschiedene Weise gelesen

werden können, und ermutigt den/die Leser*in,

seine/ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Bei den Gedichten, die du selber aus dem Deutschen

ins Englische übertragen hast, sind Original

und Übersetzung auch rhythmisch ziemlich kongruent.

Ist dir das wichtig, dass ein übersetztes Ge­

literarische debüts 25

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192 Seiten. Gebunden. Auch als E-Book zsolnay.at

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5 plus

dicht auch im Rhythmus an die Originalfassung

anschließt, so, dass man es auf dieselbe Melodie

singen könnte?

Nein, das ist nicht meine Absicht. Wenn ich auf Englisch

schreibe, neige ich dazu, germanische Vokabeln und

Formulierungen zu verwenden. Wörter lateinischen Ursprungs

sind oft mehrsilbig und entweder veraltet, zu

»sophisticated« oder zu fachlich, sodass sie zum Jargon

werden. Wörter germanischen Ursprungs sind im Englischen

das Gegenteil und daher zugänglicher und näher.

Wenn ich also meine Gedichte übersetzte, betonte

ich einfach die im Hintergrund liegende germanische

Grammatik in der deutschen Version.

Wenn man das Vorwort zu deinen Gedichten

liest, in dem du die Erfahrung aus dem Krieg, aus

Flüchtlings- und Aufnahmelagern beschreibst,

könnte man sich versucht sehen, die Gedichte

stark in diesem Zusammenhang zu lesen. Ist dir

das recht, oder sollen sie, für Leserinnen und Leser,

auch noch ganz anders funktionieren?

Ich denke, wenn man das Buch von vorne bis hinten

liest, wäre es verlockend, es im Zusammenhang damit

zu lesen. Aber für mich ist das nur ein Teil der Geschichte.

Die Gedichte müssen den Leser*innen etwas Ver-

Birgit

Birnbacher

»Ein wunderbarer

Roman über das

Aus einanderfallen und

sich selbst neu

zusammensetzen.«

Sally-Charell Delin, SR2 Kultur

Foto: © Siegrid Cain

lockendes bieten, ohne von meinen Erfahrungen wissen

zu müssen. Wenn dieses Vorwort dem Leser mehr

anbietet, dann soll es so sein. Aber wenn ein Gedicht

aus dem Buch herausgenommen und an anderer Stelle

platziert wird, möchte ich, dass es trotzdem wegen seiner

eigenen Qualitäten gelesen und interpretiert wird.

Ich empfehle, das Buch aufzuschlagen und das Gedicht

zu lesen, auf das man stößt, vielleicht liest sich ein Gedicht

dann anders oder bekommt eine andere Bedeutung.

Das ist mir willkommen.

Mein Eindruck ist, dass die Gedichte vielfach etwas

ganz Nacktes, Ungeschütztes, Körperliches, aber

fast Bildloses, Unmetaphorisches haben, etwas,

das mich in seiner Energie anspringt, wenn ich

es lese. Ist das ein poetisches Ideal, ohne Filter

zu schreiben, als eine Art Direktübertragung von

Emo tionen?

Ich finde es interessant, dass du sagst, ich schreibe ohne

Filter, denn ich filtere tatsächlich eine Menge heraus.

Aber ja, es ist eine gewisse Befriedigung, frei und nackt

zu schreiben. Es gibt Anfälle von Emotionen, die in die

Entwürfe einfließen, weil ich glaube, dass man sich das

zunutze machen kann.

Sam Zamrik

Ich bin nicht

Gedichte.

Übersetzt von Heike Geißler,

Sylvia Geist, Björn Kuhligk,

Monika Rinck, Ulf Stolterfoht

Hanser Berlin 2022. 138 S.

€ [D] 22,– | € [A] 22,70

Norbert Hummelt wurde 1962 in Neuss geboren und lebt

als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein lyrisches Gesamtwerk

wurde er 2021 mit dem Rainer-Malkowski-Preis ausgezeichnet.

Zuvor hatte er u. a. den Hölty-Preis für Lyrik, den Rolf-Dieter-Brinkmann-Preis,

den Mondseer Lyrikpreis sowie den Niederrheinischen

Literaturpreis erhalten. Er übertrug T. S. Eliots Gedichtzyklen

Das öde Land und Vier Quartette neu ins Deutsche und ist

Herausgeber der Gedichte von W. B. Yeats. Bei Luchterhand

erschienen zuletzt seine Gedichtbände Fegefeuer und Sonnengesang

und 1922 Wunderjahre der Worte.

Weshalb ich

gerne Debüts

lese

Eine grundsätzliche Überlegung und drei aktuelle Beispiele

von Manfred Papst

Buchhändlerinnen und Literaturkritiker haben

es gut. Sie können etliche Neuerscheinungen

schon im Voraus lesen: Wochen oder sogar Monate

bevor die Bücher offiziell in den Handel kommen,

wird der Literaturbetrieb von den Verlagen mit sogenannten

Leseexemplaren versorgt. Das sind meist

broschierte Ausgaben der Bücher, die danach in gebund

ener Form erscheinen. Mitunter haben sie die

Schluss korrektur noch nicht durchlaufen; meist aber

sind sie text- und seitenidentisch mit dem de finitiven

Buch, nur eben einfacher ausgestattet. Ich habe mich

über den Begriff »Leseexemplar« übrigens immer ein

bisschen amüsiert: Denn sollte nicht jedes Buch ein solches

sein? Und wie müsste man dann die anderen Bücher

nennen? «Renommierexemplar» oder «Regalexemplar»

vielleicht?

In jüngerer Zeit sind manche Verlage dazu übergegangen,

statt gedruckter Leseexemplare elektronische

Versionen zu verschicken, also PDFs des provisorischen

oder definitiven Umbruchs. Anfangs habe ich mich gegen

diese Neuerung gesträubt, weil für mich als Liebhaber

und Sammler schöner Bücher Optik und Haptik eine

wichtige Rolle spielen. »Auch das Auge liest mit«, hat ein

witziger Kopf (ich glaube, es war der Verleger Gerd Haffmans)

einmal gesagt. Inzwischen habe ich mich aber an

das Lesen am Bildschirm gewöhnt, selbst wenn es um

längere Texte geht. Mehr noch: Ich habe gelernt, neben

den unverkennbaren Nachteilen auch die Vorteile dieser

Technologie zu sehen. Sie präsentiert mir auf dem Tablet

sozusagen den Text an sich, nüchtern, nackt, neutral;

ich bin nicht von Anfang an für oder gegen ein Buch

eingenommen, weil mir der Umschlag, die Ausstattung,

die Typografie gefallen oder nicht. Schriftart und -größe

kann ich auf dem E-Reader selber einstellen; nichts

steht zwischen mir und dem Text.

Doch ob ich die Neuerscheinungen im gedruckten

Vorabexemplar oder als PDF lese: Entscheidend ist für

mich als Rezensenten wie für die eingangs erwähnte

Buchhändlerin: Ich bin früh dran. Ich kann mich mit

dem Buch befassen, bevor es in aller Munde ist, und mir

ein Urteil bilden, das unabhängig ist von den medialen

Einflüssen, die alsbald von allen Seiten auf mich einstürmen.

Ich gehe gewissermaßen allein durch die stillen

Ausstellungsräume, bevor das Party-Publikum, das zur

Vernissage herbeiströmt, mich in meinen Betrachtungen

stört, meine Meinung beeinflusst und mich vom Wesentlichen

ablenkt. Das Schöne am Lesen ist ja, dass es

ein einsames Geschäft ist. Aber natürlich bringe ich

auch beim Schmökern in Neuerscheinungen Vorwissen

oder Vorurteile mit: Ich habe vielleicht frühere Bücher

der Autorin, des Autors gelesen, im Radio ein Interview

gehört, im Fernsehen ein Porträt gesehen. Das fällt jedoch

in der Regel weg, wenn es sich um einen Erstling

handelt.

Deshalb lese ich so gerne literarische Debüts. Alles

ist möglich, alles ist offen. Man schlägt das Buch mit

jener gespannten Erwartung auf, mit der man sich zu

einem Blind Date einfindet. Werden der Text und ich

uns auf Anhieb mögen oder nicht? Wird am Anfang eine

Irritation stehen, die sich aber überwinden lässt? Oder

literarische debüts 27

5 plus



literarische debüts 28

5 plus

werde ich nach zehn Minuten mit dem Fazit »Fehlanzeige«

und einem bedauernden Lächeln wieder aufstehen

und dem Ausgang zustreben, ohne mich noch einmal

umzublicken?

Ich will im Folgenden erzählen, wie es mir in den

letzten Wochen mit drei Debüts ergangen ist, die ich gelesen

habe, bevor sie in den Buchhandel gelangt sind;

dabei beschränke ich mich auf die Erstlingswerke von

Schweizer Autorinnen aus dem Frühling 2023.

Unkompliziert und erfreulich war für mich die Begegnung

mit dem Roman Unser Haus von Christina Hug

(Zytglogge). Vom ersten Satz an hat mich fasziniert, mit

welcher Sicherheit die Autorin in die Haut ihres männlichen

Protagonisten schlüpft. Paul heißt er, und er hat

noch ein Jahr bis zur Matura. Seine Freunde haben den

Stress schon hinter sich und sind auf Reisen, er aber ist

hängen geblieben und muss das letzte Jahr wiederholen.

In dieser Zeit passiert viel: Er zieht bei seiner Mutter

und deren Freund an der noblen Zollikerstrasse aus und

gerät in die Zürcher Hausbesetzerszene. Ein Dreivierteljahr

wohnt er in einem frisch besetzten Haus und erlebt,

wie ein idealistisches Experiment im Chaos versinkt.

Er selbst ist meist bekifft, oft betrunken, stürmisch verliebt:

ein im Grunde weicher, romantischer und sensibler

junger Kerl auf der Suche nach sich selbst. Am Ende

schafft er mit Ach und Krach die Matura. Er hat viel gelernt

in diesem Jahr – und er hat doch das Leben noch

vor sich.

Von Christina Hug hatte ich noch nie etwas gehört.

Inzwischen weiß ich, dass sie 1983 geboren wurde, in

einem links-grün bewegten Haushalt in Zürich aufgewachsen

ist und in ihrer Jugend an mehreren Hausbesetzungen

beteiligt war. Später saß sie für die Grünen

im Gemeinderat und arbeitete unter anderem für

die »Gruppe für eine Schweiz ohne Armee« (GSoA) sowie

für die Wochenzeitung P. S. Ihr Erstling hat mich

an Coming-of-Age-Romane wie Tschick von Wolfgang

Herrndorf oder Hard Land von Benedict Wells erinnert.

Er ist solid geschrieben, das Milieu ist präzis und mit

Humor erfasst, die Dialoge sitzen. Wenn ich etwas gegen

das Buch einwenden wollte, dann vielleicht das, dass es

mir für ein Debüt schon fast zu routiniert vorkommt, zu

eingemittet, zu absehbar auch – und mit der Routine ist

es wie mit manchen Krankheiten: Je früher sie sich einstellen,

desto gefährlicher sind sie.

Deshalb faszinieren mich auch Erstlinge, die zugleich

ungewöhnliches Talent und die Mühen des Anfangs

verraten. Es ist nicht schon alles da, aber man

spürt, dass es wird oder werden kann. Wurfschatten

(2014) von Simone Lappert war für mich so ein Erstling.

Das witzige, widerborstige Buch verriet noch nicht die

erzählerische Umsicht des Zweitlings Der Sprung (2019),

mit dem die Autorin ein breites Publikum eroberte;

gleichwohl möchte ich es nicht missen. Unter den Neuerscheinungen

des Frühjahrs 2023 ist für mich Für

Seka von Mina Hava (Suhrkamp) so ein Buch. Die 1998

geborene Autorin, die Globalgeschichte und Wissenschaftsforschung

an der ETH Zürich sowie Literarisches

Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig

studiert hat, sucht in ihm anhand von einem Bündel

Fotografien nach den Spuren ihrer zerbrochenen Familie,

die aus dem Krieg in Bosnien in die Schweiz

gekommen ist. Sie wertet historische Dokumente aus

und überblendet ihre Recherche mit sehr persönlichen

Berichten von ihren Erfahrungen und Empfindungen,

namentlich von Krankheiten und Verlustängsten. Der

assoziative Erzählfluss verliert dabei bisweilen seine

Richtung, doch die innere Spannung des Textes und

überraschende Sprachbilder halten mich trotzdem bei

der Stange.

Ähnliches kann ich von Saskia Winkelmanns Roman

Höhenangst (Die Brotsuppe) sagen. Die 1990 in Thun geborene

Autorin, die in Wien und Bern studiert hat, lässt

eine 18-jährige Ich-Erzählerin sprechen: Diese lebt in

einer Schweizer Kleinstadt bei ihrer Mutter, die kaum je

das Haus verlässt, langweilt sich im Gymnasium und

weiß nicht, wohin mit sich, bis sie Jo kennenlernt, eine

Freundin, die auf jede Gefahr hin das Abenteuer sucht.

Mit ihr scheint alles anders zu werden: Die Protagonistin

befreit sich im ekstatischen Tanzen zu elektronischer

Musik, sie entdeckt ihre Sexualität, kommt in Kontakt

mit Drogen – doch dann geschieht ein Unglück.

Höhenangst ist ein Buch der Leidenschaft, der Erinnerung

und der Trauer. Wie Simon Froehlings im Herbst

2022 erschienener Roman Dürrst ist es konsequent in

der Du-Form geschrieben. Ein berührender Text, ungestüm,

atemlos, schmerzvoll und zärtlich.

Sie fragen sich jetzt vielleicht, wieso ich hier drei Debüts

von Frauen erwähnt habe. Die Antwort ist: Ich habe

sie gar nicht genderbewusst ausgewählt; es hat sich einfach

so ergeben. Meine Wahl hätte auch auf drei Bücher

von Männern fallen können. Warum? Weil es für mich

keine entscheidende Frage ist, ob ein Text von einem

Mann oder von einer Frau verfasst wurde. Bei Blindtests

würde ich da vermutlich ohnehin sehr oft falschliegen –

wie Sie übrigens auch, wage ich zu behaupten! Halten

wir uns also lieber an die Kategorie »menschliches Wesen«.

Was wir von den drei hier erwähnten Debütantinnen

wohl noch lesen werden? Es gehört zum Reiz der

ersten Begegnung, dass wir das nicht wissen. Es gibt

bedeutende Autorinnen und Autoren, die ihren Ro manerstling

nie mehr übertroffen haben. Ich denke dabei

etwa an die Die Blechtrommel von Günter Grass oder an

Jakob der Lügner von Jurek Becker. Beide haben ein Leben

lang tapfer weitergeschrieben. Einfach war es vermutlich

nicht.

Ernest Hemingway hat einmal gesagt, wenn er sich

etwas Unmögliches wünschen dürfte, so wäre es, Tolstois

Krieg und Frieden noch einmal zum ersten Mal zu

lesen. Ich glaube zu verstehen, was er meint. Ersten Lektüren

wohnt ein besonderer Zauber inne. Und sie sind

sogar noch ein bisschen besonderer, wenn es um Debüts

geht: Denn dann ist es für beide Beteiligten das

erste Mal.

Manfred Papst, geboren 1956 in Davos, arbeitete nach dem

Studium der Sinologie, Germanistik und Geschichte als Freelancer

für verschiedene Verlage, bevor er 1989 zur NZZ kam. Dort war

er 13 Jahre lang Programmleiter des Buchverlags. 2002 zählte er

zum Gründungsteam der NZZ am Sonntag, deren Kulturressort er

15 Jahre lang leitete. Seit seiner Pensionierung Ende 2021 ist er als

freier Autor für die NZZ am Sonntag und andere Medien tätig.

Alphonse Daudet ist

in Deutschland nie angekommen.

Nun liegt

sein 1876 veröffentlichter

Roman endlich vor.

Ein »bezaubernder,

satirischer Roman«.

— Katharina Teutsch

in der Zeit

Ein Buch

des Mitleids, der Wut

und der Ironie

Alphonse Daudet

Jack

Sitten der Zeit

* Aus dem Französischen

von Caroline Vollmann

* 695 Seiten

* Originalausgabe,

nummeriert und limitiert

* Band 453

* ISBN 978-3-8477-0455-3

Design: BANK / www.banktm.de

WWW.DIE-ANDERE-BIBLIOTHEK.DE

WWW.FACEBOOK.COM/DIEANDEREBIBLIOTHEK



literarische debüts 30

Das Schweizerische

Literaturinstitut in Biel –

hier entsteht

junge Literatur

literarische debüts 31

Ein Interview Von lea müller

5 plus

Das Schweizerische Literaturinstitut ist ein

Fachbereich der Hochschule der Künste Bern

(HKB). Es bietet mit dem Bachelor in Literarischem

Schreiben die schweizweit einzige Möglichkeit,

sich auf Hochschulniveau der Entwicklung der eigenen

Schreibpraxis zu widmen.

2022 wurde Kim de l’Horizon für den Debütroman

Blutbuch sowohl mit dem Deutschen als auch dem

Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Wohlverdiente Erfolge

für eine von, so scheint es, vielen talentierten Personen,

die den Studiengang »Literarisches Schreiben«

in Biel abgeschlossen haben. Auch Arno Camenisch,

Michael Fehr, Julia Weber, Heinz Helle, Meral Kureyshi,

Michelle Steinbeck sind bekannte Alumni und Alumnae

– um nur einige zu nennen. Ist Biel ein Ort, wo Junge

Literatur entsteht und gefördert wird?

Die Romanistin Frau Prof. Dr. Marie Caffari hat seit der

Gründung 2006 die Leitung des Instituts inne und unterrichtet,

unter anderem, deutsche und französische

Gegenwartsliteratur. Sie hat sich Zeit genommen, folgende

Fragen für uns zu beantworten.

Es ist anzunehmen, dass das Literaturinstitut

heu te größere Bekanntheit genießt als noch vor

siebzehn Jahren. Die Anzahl der Studierenden

pro Jahrgang hat sich seither jedoch nicht verändert.

Gibt es nicht viel mehr Bewerber*innen,

oder welche Faktoren führen zu dieser konstanten

Zahl?

Der Bachelor in Literarischem Schreiben ist ein Studiengang

der Hochschule der Künste Bern; wie in allen

anderen HKB-Studiengängen ist die Anzahl der Studierenden

durch einen Numerus Clausus begrenzt. Wir erhalten

um die hundert Anmeldungen pro Jahr, darunter

ein Drittel französischsprachige Bewerbungen, nehmen

jährlich 16 Studierende auf – und haben also anhaltend

mehr Interessent*innen als Studienplätze.

Die Kandidierenden schicken uns 20 Seiten aus eigenen

Texten; wir lesen sie und laden jene Bewerber*innen

zu einem Gespräch ein, deren Texte ein literarisches

Potenzial haben, das von dem Bachelorstudium gefördert

werden kann. Das Eignungsverfahren ist aufwendig

und fordert viel Aufmerksamkeit. Das ist auch richtig so,

wir lesen dabei oft Texte, die zum ersten Mal anderen

Leser*innen überhaupt gezeigt werden. Dies ist für die

Kandidierenden und für uns ein wichtiger Moment.

Sie selbst beherrschen vier Sprachen – Französisch,

Deutsch, Englisch und auch Berndeutsch –

und sind 2019 für Ihr Engagement für den literarisch-kulturellen

Austausch in der Schweiz mit

dem Prix de l’État de Berne ausgezeichnet worden.

Biel ist die größte zweisprachige Stadt der Schweiz

und als Standort dafür prädestiniert, die Vernetzung

der beiden größten Sprachgruppen zu fördern.

Sehen Sie positive Effekte über das Institut

hinaus?

Ich sehe in dem Bereich interkulturelle und »in terliterarische«

Beziehungen und Kontakte vor allem noch

© Nicola Fischer, Laura Calchini – Hochschule der Künste Bern HKB / Haute école des arts de Berne HKB

5 plus



literarische debüts 32

5 plus

© Nicola Fischer, Laura Calchini – Hochschule der Künste Bern HKB /

Haute école des arts de Berne HKB

Das Schweizerische Literaturinstitut befindet sich in einer historischen Villa an der Seevorstadt in Biel,

zwischen Stadtzentrum und Altstadt.

»Er war zufrieden. Und

doch gab es eine

Sehnsucht, die seit langer

Zeit wie eine feine

Entzündung in seinem

Herzen schwelte.«

© Urban Zintel

claassen

viel Potenzial! Aber selbst am Literaturinstitut soll der

Austausch zwischen den zwei Schreibkulturen intensiver

werden und sich tiefer verankern. Wir arbeiten

daran, aber die zwei Literaturfelder, in denen unsere

Studierenden schreiben und veröffentlichen, funktionieren

zum Teil unterschiedlich. Wir haben vor,

kollektive Schreibarten und -prozesse deutlicher im

Studiengang zu fördern, darunter auch zweisprachige

Austausch- und Schreibformate. Wir sehen die Studierendenschaft

darüber hinaus eher als »plurilingual«; für

viele gibt es weitere Sprachen, die ihr Schreiben und

Leben prägen. Auf diese Sprachen richtet sich unsere

Aufmerksamkeit ebenso – auch wenn unsere Evaluationsverfahren

nicht auf Albanisch, Portugiesisch oder

Englisch stattfinden, sind andere Sprachen für viele

Autor*innen und ihre Texte signifikant.

Was sonst, nebst dem zweisprachigen Angebot, unterscheidet

»Literarisches Schreiben« in Biel von

ähnlichen Studiengängen in Leipzig oder Hildesheim?

Haben sich Herkunft, Alter und Motivation

der Studienanfänger*innen in den letzten Jahren

merklich verändert?

Wir haben seit der ersten Bachelorklasse, die 2006 antrat,

Studierende, die im Durchschnitt zwischen 20 und

35 Jahre alt sind. Sie kommen aus der ganzen Schweiz

und auch aus Deutschland, Österreich, seltener Frankreich

oder Belgien. Sie bringen sehr unterschiedliche

Lebens-, Berufs- und Schreiberfahrungen mit, sie schreiben

an sehr diversen Stoffen und Projekten. Daran hat

sich nichts geändert. Der Fokus der Studierenden und

des Studiengangs verbindet aber alle, das zeichnet uns

aus: sich voll und ganz auf die Texte und auf die Schreibpraxis

zu konzentrieren. Und: Zusammen mit den Studierenden

und Dozierenden versuchen wir eine produktive

und vertrauensvolle Atmosphäre zu kultivieren.

Was uns meistens gelingt!

Was meinen Sie, gibt es so etwas wie junge Literatur?

Bezeichnet sie das Alter der Autor*innen

oder vielmehr die Thematik und den Stil der Texte?

Können Sie uns Merkmale junger Literatur nennen?

Es gibt Texte, die mit aktuellen gesellschaftlichen, politischen

und Klima-Fragen ringen – das sind aber nicht

nur die Texte von jungen Autor*innen. Narrative Texte

von jungen Schreibenden entfalten sich öfters aus der

Perspektive von jungen Figuren oder Erzähler*innen –

aber dies ist auch kein allgemeingültiges Merkmal. Was

die Schreibstile der Literaturinstitutsabsolvent*innen

betrifft: Auch sie sind sehr divers. Sie erwähnen Michael

Fehr und Julia Weber, ich könnte, neben vielen weiteren

möglichen Namen, noch Elisa Shua Dusapin oder Thomas

Flahaut als Beispiele von Absolvent*innen nennen:

Sie alle arbeiten in sehr unterschiedlichen thematischen

Feldern, die Rhythmen, Obsessionen und Tonalitäten

ihrer Texte könnten nicht diverser sein, sie veröffentlichen

in unterschiedlichen Verlagen, sind auch mit ihren

Texten in vielfältigen Settings performativ unterwegs.

Daher fällt es mir schwer, sie als thematisch oder stilistisch

zusammenhängende Autor*innengruppe zu betrachten.

Als junge oder jüngere Autor*innen sind sie

in einer hochkomplexen und fragilen Welt aufgewachsen,

literarische Werke spiegeln eine Lebens- oder Weltsituation

aber nicht eins zu eins wider.

Hat die Schweizer Literaturszene dem Literaturinstitut

von Beginn an einen Platz zugestanden?

Was brauchte es 2006, um ein akzeptierter und

wesentlicher Bestandteil der Schweizer Literaturszene

zu werden?

Es brauchte … Menschen! Autor*innen, die am Literaturinstitut

von Anfang an als Dozierende oder Gastdozierende

engagiert wurden, und natürlich Menschen,

die nach ihrem Studium im Literaturbetrieb aktiv waren,

veröffentlichten, performten und vermittelten.

Durch ihre Präsenz und ihre vielseitigen Texte wurde

besser verständlich, welche Art von Arbeit das Literaturinstitut

ermöglicht. Ein Schreibstudiengang formt

nicht, er öffnet und fördert. Das Literaturinstitut hat

sich über die Jahre auch weiter vernetzt, durch die vielen

Menschen, die in Biel studieren und lehren, sowie

© Daguimagery/Alamy Stock Foto

DIE NR.1

BESTSELLER-

REIHE

Klappenbroschur. € (D) 17,–

Das Hörbuch erscheint bei Argon

Eine einzigartige Mischung

aus Spannung, Humor

und portugiesischem

Lokalkolorit.

literarische debüts 33

LOST

ERMITTELT IN

PORTUGAL

5 plus



Vom langen

Faden der

Geschichte

literarische debüts 34

Roman. Gebunden. 278 Seiten. € 24,–

Auf der Suche nach den Spuren

ihrer zerbrochenen Familie rekonstruiert

Seka den Weg ihrer Eltern

aus Bosnien in die Schweiz und

fragt nach den Verbindungen zu ihr.

Sensibel erzählt Für Seka ein junges

Leben, in dem das Politische und

das Persönliche untrennbar verbunden

sind.

5 plus

Suhrkamp

Bevor ich das erste Mal vom Schweizerischen Literaturinstitut

und dem Studiengang »Literarisches Schreiben«

gehört hatte, beschäftigte ich mich fast ausschließlich

mit Manga sowie Fantasy- und Science-Fiction-Romanen.

Danach las ich vermehrt Klassiker und schrieb

alles vor mich hin, was mir in den Sinn kam. Ich hatte

vor dem Studium nur wenig Berührungspunkte mit

kontemporärer Literatur.

Am meisten lockten mich das Versprechen eines

Mentors und die interdisziplinäre Verschachtelung von

kreativen Studiengängen, die die Zusammenarbeit mit

Student*innen anderer Fachbereiche ermöglicht. Die

Mentor*innen arbeiten ihrerseits eng mit den Studiedurch

Austausch mit anderen Studiengängen im Ausland

und Kooperationen mit weiteren Vertreter*innen

des Literaturfelds, beispielsweise dem Maison Rousseau

et Littérature und dem Theater Basel. So wurde das

Literaturinstitut zu diesem »Bestandteil« der Literaturszene,

nicht nur in der Schweiz.

Ist mit einer größeren Vernetzung und Bekanntheit

des Instituts der prozentuale Anteil publizierter

Texte von Studierenden beziehungsweise

Studien abgänger*innen gestiegen?

Wir stellen keine steigende Tendenz fest. Schreiben

verlangt Zeit und Fokus, für eine Veröffentlichung nach

dem Studium ist dies entscheidend. Für die Lektor*innen,

Agent*innen oder Verleger*innen, die Texte von

Absolvent*innen kennen und schätzen, kann der Bachelor

in Literarischem Schreiben ein Qualitätsmerkmal

vorsignalisieren, dies ist sicher relevant. Für eine

Veröffentlichung müssen aber viele andere Kriterien

erfüllt werden. Bescheiden gesehen: Im Lebenslauf einer

Autorin ist der Bachelor ein wichtiger und intensiver

Moment, aber er ist auch nur ein Schritt weiter

ins Schreiben, weitere entscheidende Schritte müssen

folgen.

Hochschule der Künste Bern

Schwei ze risches Litera tur in stitut

Rockhall IV

Seevorstadt 99 CH-2502 Biel/Bienne

lit@hkb.bfh.ch www.literaturinstitut.ch

Literarisches

Schreiben –

ein Funken

Hoffnung

Eine Stimme aus der

Abschlussklasse

Eden L. Flammer

Ich war im zweiten Jahr meiner kaufmännischen

Ausbildung, ausgelaugt, depressiv und ohnmächtig

von meiner Arbeitsstelle. Müdigkeit hing wie

Knoblauchgeruch an meinen Händen und zog mich

zu Boden. Mitten in der Nacht gegen halb drei, weil

ich dank der Zukunftsangst nicht einschlafen konnte,

durchforschte ich das Internet nach einem Funken Hoffnung.

Dem Funken einer Idee, die mir einen Grund geben

könnte, weiterzumachen, oder den letzten Schubs

täte, um die Ausbildung abzubrechen. In dieser Nacht

fand ich einen Artikel zum Literaturinstitut.

Jetzt bin ich im letzten Semester meines Bachelor-

Studiums.

Foto: © Basso Cannarsa/Opale/Leemage/laif

Das neue Meisterwerk von

John Irving

John Irving Der letzte Sessellift

John Irving

Der letzte

Sessellift

Roman · Diogenes

Auch als eBook und eHörbuch

Erscheint am 26. April 2023

»Es gibt mehr als nur eine

Art, jemanden zu lieben.«

literarische debüts 35

Ein fulminanter Familienroman

und ein Plädoyer für Toleranz,

Offenheit und Freiheit.

Mehr unter: diogenes.ch/johnirving

5 plus

Diogenes



literarische debüts 36

renden zusammen an individuellen Projekten, die man

frei gestalten kann. Vom Studium selbst wünschte ich

mir Unterstützung dafür, das Schreiben in den Alltag

zu integrieren. Außerdem eine kritische Auseinandersetzung

mit meinem eigenen Schreiben, sowohl von

anderen als auch von mir. Hier erhoffte ich mir, meinen

Horizont und mein Vokabular zu erweitern, um besser

über Texte sprechen zu können. Ich war überzeugt davon,

ich könnte das Handwerk erlernen, um es auf mein

fantastisches Schreiben ummünzen zu können, welches

ich nicht aufgeben wollte.

Das Erste, womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass ich

den Wert von konstruktiver Kritik kennenlernte. Ohne

die ist man als schreibende Person völlig aufgeschmissen,

wenn es darum geht, Rückmeldungen richtig einzuschätzen,

sich damit zu beschäftigen, sie in die eigenen

Texte einzubringen; und natürlich auch für etwaige

Empfänger verwertbare Kritik zu geben. Wir beschäftigten

uns im Studium ebenfalls damit, Fremdtexte zu be-

werten und sie achtsam für unser eigenes Wirken zu

nutzen. Mir fällt es jetzt auch leichter, passende Quellen

für Projektarbeiten oder als Referenztexte zu wählen.

Von Anfang an schätzte ich den Kontakt zu Studierenden

und erfahrenen Schreibenden. Die Diversität

der Menschen überraschte mich. Unbewusst stellte ich

mir eine Gruppe vor, in der sich alle glichen. Brillen, Bücherwürmer,

braune Jäckchen, Notizbücher, Tintenflecke

an den Fingern und Augenringe. Stattdessen waren

meine Mitstudent*innen sehr unterschiedliche Menschen,

sowohl ihr Alter als auch ihre Lebenssituationen.

Keiner kam von der gleichen Schule oder hatte denselben

Werdegang. Wir kamen aus allen Kantonen, sogar

ei nige aus dem Ausland. Selbst die beiden ehemaligen

Lehrerinnen, welche mit mir studierten, waren grundverschieden.

Der Austausch unter uns Studierenden

fruchtete umso stärker dadurch. Dazu kam auch die

Mehrsprachigkeit, die zwar hauptsächlich in Französisch

und Deutsch praktiziert wird, aber auch für andere

Sprachen Raum schafft, beispielsweise Italienisch

oder Englisch. So fand ich die engsten Freunde, mit denen

ich keine Muttersprache teile, was für mich eine

neue und erfreuliche Erfahrung ist.

abschluss bei Verträgen und bei einer Mitgliedschaft

beim A*dS, dem Verband Schweizer Autor*innen (a-d-s.

ch) helfen.

Obschon mein Abschluss bevorsteht, bin ich ehrlicherweise

noch etwas überfordert mit der Auswahl an

Möglichkeiten, die mir das Berufsfeld Literatur bietet.

Ob beim Radio, bei Zeitungen, mit Kundenaufträgen

oder Screenwriting, bei selbstständigem Schreiben, Auftritten

oder Übersetzungen, die Richtungen sind weit

gestreut. Natürlich steht es mir auch frei, beispielsweise

eine Bewerbung für das HKB-Masterstudium in Contemporary

Arts Practice einzureichen. Da es mich ins

Ausland zieht und ich ein Austauschsemester während

der vergangenen Jahre nicht antreten wollte und konnte,

wäre das eine bereichernde Art, es nachzuholen.

Aber egal, ob ich den Master anschließe oder mich

direkt in der Arbeitswelt durchkämpfen werde, das Studium

hat mir bei der Findungsphase meines Weges

weitergeholfen. Und obwohl ich meinen Weg zur Literatur

gefunden habe, lasse ich bei meiner Fantastik

nicht nach. Man wird zukünftlich in jedem Fall von mir

hören.

DIE SÖHNE

VON DAMALS

SIND

DIE VÄTER

VON HEUTE

literarische debüts 37

»Vielleicht ist

einer von uns

morgen schon

nicht mehr da.«

Vom gemeinsamen

Altwerden, von Fürsorge

und vom Trost,

der in den kleinen

Dingen steckt.

5 plus

Das neue

Buch von

Helga

Schubert

Die Zeit am Institut war und ist intensiv, daran konnte

auch der Fernunterricht während der Corona-Krise

nichts ändern. Dennoch ist es deutlich produktiver, vor

Ort an den Kursen teilnehmen und sich mit den anderen

austauschen zu können.

Im Studium fand ich meine literarische Ader. Vorher

hätte ich es mir nicht zugetraut, etwas zu schreiben, was

andere als Literatur bezeichnen würden. Heute spüre

ich dank der Unterstützung von Dozent*innen eine

innere Wertschätzung meiner Texte. In diesen Jahren

fand ich den Mut für meine eigene Literaturarbeit. Ich

konnte beobachten, wie mein Schreiben präziser wurde.

Experimentelles macht mir noch immer am meisten

Spaß, besonders wenn es disziplinübergreifend ist.

So vertone ich beispielsweise meine Texte mit Musikstudent*innen

oder teste aus, wie ein Klang ausgeschrieben

werden könnte oder welche Gerüche wo auftauchen

und welche Wirkungen sie haben können, auf

die Charaktere im Text und die Lesenden vor dem Text.

Diesen Sommer endet mein Studium, aber meine Lehrzeit

ist noch nicht getan. Dafür habe ich noch ein paar

Dekaden Zeit in meiner Tasche. Doch kann ich aus meinem

Studium neben Freundschaften diverse Kontakte

mitnehmen, die zu einer bunten Gemeinschaft angewachsen

sind. Des Weiteren wird mir der Bachelor-

Eden L. Flammer

Roman. Gebunden. 302 Seiten. € 24,–

Paul Brodowsky verdichtet Erinnerungen,

Recherchen und Reflexi-

onen zu einem Bild der BRD nach

der Zeit des Nationalsozialismus.

Er arbeitet auf, was in vielen Fami-

lien bis heute verschwiegen wird,

und spannt so den Bogen von den

dreißiger Jahren bis zur Gegenwart.

Suhrkamp

5 plus

Mehr von Helga Schubert

www.dtv.de



buchempfehlungen – bittner 38

Dezember 1941: Joe McGrady ist Detective

beim Honolulu PD und wird mit

der Untersuchung eines Falls beauftragt,

der sein Leben für immer verändern

wird: dem Mord an einem jungen Mann,

dem Neffen des Oberbefehlshabers der

Pazifikflotte, und dessen Freundin, einer

jungen Japanerin. McGrady folgt einem

Verdächtigen bis nach Hongkong, das

gerade von den Japanern eingenommen

wird. Er wird als Gefangener nach Japan

verschleppt, als potenzieller Spion droht

ihm der Tod. Gerettet wird er von dem

Diplomaten Takahashi Kansei, der heimlich

gegen die offizielle japanische Kriegspolitik

arbeitet. Takahashi und seine

Toch ter Suchi verstecken McGrady bis

zur Kapitulation Japans. McGrady kehrt

nach Hawaii zurück und beginnt, nach

nunmehr fünf Wintern und jetzt als Privatdetektiv,

den alten Fall wiederaufzunehmen.

Fünf Winter ist ein gewaltiges Epos

im Cinemascope-Format: ein fesselnder

Thriller, ein erschütterndes Porträt des

Krieges und eine herzzerreißende Liebesgeschichte

in einem.

Aus dem amerikanischen Englisch

von Stefan Lux, herausgegeben

von Thomas Wörtche.

Anfang der Sechziger in einem entlegenen

Teil Deutschlands. Das Ehepaar

Roleder zieht auf eine unbewohnte Insel

inmitten eines großen Sees. Es ist eine

Flucht nach innen, vor der Stadt und der

Wirklichkeit. Mit dabei ist ihr Sohn

Hans, der auf der Insel ein neues Zuhause

findet. Und noch so viel mehr.

Denn mit der Zeit scheint der schüchterne

Junge geradezu mit der Insel, den Bäumen,

dem Laub, dem Moos und dem

Gestein zu verwachsen. Hans wird zum

König der Insel. Bis mit dem Bescheid

der Schulbehörde die Realität in seine

kleine große Traumwelt einbricht und

ihn von Insel und Eltern trennt. Es ist

der Beginn einer beschwerlichen Odyssee,

gelenkt zunächst von gnadenlosen

Institutionen des Staates und schließlich

dem einen großen, pochenden Wunsch:

zurückzukehren auf seine Insel, in die ersehnte

Einsamkeit im Schatten der Welt.

Doch: Wie wird die Insel, wie werden die

Eltern ihn empfangen?

Dirk Gieselmanns Debüt ist die faszinierende

literarische Studie eines Insellebens

und erzählt von der Sehnsucht

nach Einsamkeit in einer Gesellschaft,

die das Individuum niemals alleine

lässt, im Guten wie im Schlechten. Der

Inselmann ist ein Roman, der nachhallt,

voller berückender Bilder, leuchtender

Sätze und magischer Kulissen.

Die Anthologie Neue Töchter Afrikas

feiert Schwarze Diversität und ihre literarische

Vielstimmigkeit. Gemeinsam mit

einem Team Schwarzer Frauen aus

Deutschland hat Margaret Busby für

diese Edition eine erlesene Auswahl an

Essays, Gedichten und Kurzprosa aus

ihrer Anthologie New Daughters of

Africa (Myriad 2019) getroffen. Der

Band präsentiert 30 Schwarze Schriftstellerinnen

aus aller Welt mit ihrer poetischen,

kämpferischen und visionären

Wortkunst, die in einer Zeitspanne von

über 100 Jahren entstand. Von Antigua

bis Ägypten, von Guyana bis Ghana

nähern sich die Frauen mit ihren jeweiligen

Lebensrealitäten und Träumen auf

sehr unterschiedlichen Wegen ihrem

afrikanischen Erbe an.

Und so schreiben die Autorinnen über

Tradition und Vorbilder, Freundschaft

und Romantik, Flucht und Exil, über

Rassismus, Geschlechter- und Identitätspolitik.

Auch vermeintliche Tabuthemen

und Traumata werden nicht ausgespart.

Nachdenklich, behutsam, stets

erhellend und zuweilen sogar mit Humor

widmen sie sich diesen ernsten und

schwierigen Themen.

Aus dem Englischen von

Aminata Cissé Schleicher &

Eleonore Wiedenroth-Coulibaly,

editiert von Margret Busby, mit

einem Vorwort von Marion Kraft.

Ein Briefwechsel Hélène Cixous’ mit

Cécile Wajsbrot über den Stellenwert

Deutschlands und der deutschen Sprache

in ihrem Werk sowie ihren Bezug zum

Gedächtnis ihrer jüdischen Familien.

Hélène Cixous, die ihre Kindheit in

Algerien verbrachte, wuchs mit dem

Deutsch ihrer Mutter und ihrer Großmutter

auf – Sprache der Vertrautesten,

Sprache von Geflüchteten. Die in Frankreich

aufgewachsene Cécile Wajsbrot

lernte Deutsch in der Schule, um das

Jiddisch zu verstehen, das ihre Großmutter

sprach.

Unhintergehbare Mehrsprachigkeit,

Sein zwischen den Sprachen und mit

den Sprachen: Am Schnittpunkt von

persönlichem und literarischem Zeugnis

denken die beiden Autorinnen hier

mit den vielsprachigen Stimmen ihrer

Familien und der Literatur über Einschreibungen

des Vergangenen in die

Gegenwart nach, über den Umgang

Frankreichs und Deutschlands mit der

Geschichte, über vergangenen und drohenden

Verlust. Sie geben ein anschauliches

Beispiel dafür, wie das literarische

Erinnern auf die Gegenwart antworten

und diese auf eine Weise gedacht werden

kann, dass sie ihre Verantwortung

für die Zukunft wahrnimmt.

Aus dem Französischen

von Esther von der Osten.

Eine Yupik-Maske aus Alaska, eine

Malerei der Aborigines, eine Miniaturlandschaft

aus der Song-Dynastie, ein

holländisches Interieurgemälde aus dem

17. Jahrhundert. Bilder ermöglichen uns

so einen Zugang zu dem, was unterschiedliche

menschliche Lebensformen

ausmacht. Gestützt auf einen globalen

und historisch weit ausgreifenden Vergleich

von Werken einer atemberaubenden

Vielfalt, entwickelt Philippe Descola

in seinem Buch die Grundlagen

für eine Anthropologie der menschlichen

Bildkunst.

Die bildliche Darstellung ist nicht allein

der Fantasie derer überlassen, die

die Bilder erschaffen. Der visuelle Pfad,

den wir bei der Abbildung der Welt einschlagen,

hängt für Descola daher

davon ab, welcher der vier Regionen

des von ihm entdeckten ontologischen

Archipels wir angehören: Animismus,

Naturalismus, Totemismus oder Analogismus.

Jeder von ihnen entspricht eine

bestimmte Art, die Welt zu begreifen,

ihre Kontinuitäten und Diskontinuitäten

wahrzunehmen, insbesondere die verschiedenen

Trennlinien zwischen Menschen

und Nichtmenschen. Ein augenöffnendes

Buch!

Aus dem Französischen

von Christine Pries.

Jeder hat sein Bündel zu tragen, doch

das Gewicht des Ganzen trägt allein die

Mutter. Milla hat sich nach dem Freitod

ihres Sohnes nach Kanada zurückgezogen.

Sie hat ihre Spedition aufgegeben

und den Mann, mit dem sie ein halbes

Leben zusammen war. In einem alten

Haus mitten im Nirgendwo versucht sie

weiterzumachen. Sie lernt Russ kennen,

einen Antiquitätenhändler, als sie einen

Revolver versetzen will, den sie unter einer

Treppendiele gefunden hat. Zwischen

beiden entsteht etwas, das man eine

Freundschaft nennen könnte, das aber

zugleich mehr und weniger ist als das.

Bis sich ihre Wege wieder trennen.

In glasklarer Prosa erzählt Sven

Heuchert die universelle Geschichte von

Verlust, Trauer und Neuanfang. In einer

Welt, die kein Heilsversprechen mehr

be reithält, dafür aber die echte Chance,

wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen.

James Kestrel

Fünf Winter

Dirk Gieselmann

Der Inselmann

Christa Morgenrath, Eva Wernecke

Neue Töchter Afrikas

Hélène Cixous, Cécile Wajsbrot

Eine deutsche Autobiographie

Philippe Descola

Die Formen des Sichtbaren.

Eine Anthropologie der Bilder

buchempfehlungen – bittner 39

Sven Heuchert

Das Gewicht des Ganzen

Suhrkamp

Kiepenheuer & Witsch

Unrast

498 Seiten

176 Seiten

272 Seiten

€ 20,– [D] | 21,50 [A]

€ 20,– [D] | 21,50 [A]

€ 20,– [D] | 21,50 [A]

Passagen

Suhrkamp

Ullstein

112 Seiten

800 Seiten

192 Seiten

€ 16,– [D] | 14,95 [A]

€ 68,– [D] | 71,– [A]

€ 22,99 [D] | 24,50 [A]

5 plus

Buchhandlung Klaus Bittner | Albertusstraße 6 | 50667 Köln | 0221-2574870 | info@bittner-buch.de | bittner-buch.de

Buchhandlung Klaus Bittner | Albertusstraße 6 | 50667 Köln | 0221-2574870 | info@bittner-buch.de | bittner-buch.de

5 plus



5 plus buchempfehlungen – dombrowsky 40

dombrowskys lieblinge

Enne Koens

Dieser Sommer mit Jente

Gerstenberg, 180 Seiten

€ [D] 15,– | € [A] 15,50 €

ab 10 Jahren

Marie ist traurig und wütend, als sie aus dem Umzugswagen

steigt und das Neubaugebiet beäugt, in dem sie

von nun an leben wird. Sie kann sich nicht vorstellen,

wie das gehen soll. So weit weg von Zoë, die sie von klein

auf kennt und jetzt schon vermisst. Doch schon am

zweiten Tag lernt sie Jente kennen, die auf sie zugeht

und ihre Freundin sein möchte. Marie lässt sich darauf

ein, auch wenn sich das Zusammensein ganz anders

anfühlt als das, was sie bisher kennt. Jente scheint vor

nichts Angst zu haben, steckt voller Ideen und ist ihr

stets eine Nasenlänge voraus. Als sie jedoch immer häufiger

Beweise für die gemeinsame Freundschaft fordert

und dabei auch nicht vor wirklich gefährlichen Aktionen

zurückschreckt, schafft es Marie schließlich, »Nein«

zu sagen.

Enne Koens erzählt sehr einfühlsam von den Dingen,

die viele junge Menschen in dieser seltsamen Zeitspanne

zwischen Kindheit und Jugend in ihren Freundschaften

erleben. Sie gibt der Protagonistin Zeit für ihre

Entwicklung, baut eine große Spannung auf und lässt

uns ganz nah an Marie heran. Mit den wunderbaren Bildern

von Maartje Kuiper, die den Text perfekt begleiten,

ist dieses Buch eine echte Leseperle. Beate Widmann

Sarah Crossan

Toffee

Hanser, 352 Seiten

€ [D] 19,– | € [A] 19,60

ab 14 Jahren

Sarah Crossans Versromane mit ihrer reduzierten Textmenge

– Fließtext in Versform gesetzt – machen Lust

aufs Selbstlesen, auch bei etwas geringerer Lesekompetenz.

Sie eignen sich ebenfalls hervorragend zum Vorlesen

z. B. an Schulen, da die sehr dichten Texte eine unglaubliche

Sogwirkung entfalten und alle Zuhörer*innen

mitreißen.

In Toffee verlässt die 15-jährige Allison den gewalttätigen

Vater und damit auch ihr Zuhause. Sie schlüpft

bei der alten, bereits vergesslichen Marla unter und klärt

das Missverständnis, nicht deren Kindheitsfreundin namens

Toffee zu sein, nicht auf. Zu schön ist es für Allison,

angenommen zu werden, einen wunderbaren Platz bei

Marla zu haben, mit ihr zu tanzen, zu kochen, Spaß zu

haben. Marlas Vergesslichkeit einerseits und ihre große

Aufmerksamkeit Allison gegenüber andererseits lassen

eine immer enger werdende Freundschaft zwischen der

Jugendlichen und der alten Dame entstehen. Allison

findet in ihr die Familie, die sie verloren hat. Ihre Zuversicht,

einen Weg für ihre Zukunft zu finden, kann

wachsen.

Großartig, dass Crossans Jugendliteratur für alle

Lesetypen und -vorlieben geeignet ist.

Daniela Dombrowsky

Michael Köhlmeier

Frankie

Hanser, 205 Seiten

€ [D] 24,– | € [A] 24,70

Der knapp 14-jährige Frank lebt zusammen mit seiner

Mutter in Wien. Das Einkommen der Mutter reicht so

gerade für beide. Aber nicht schlimm, sie haben einander

und kommen gut miteinander aus. Eines Tages

nimmt Franks Mutter ihn mit, um Opa abzuholen. Der

saß über 30 Jahre im Knast, Frank kennt ihn kaum noch,

sie haben ihn nicht oft besucht. Durch das Gefängnistor

kommt ein langer Schlaks lässig auf sie zu. Und die Begrüßung

ist für Frank kein guter Start. Opa nennt ihn sofort

Frankie, was Frank nicht leiden kann. Über Opa ist

nie viel gesprochen worden. Vor allem aber kennt Frank

die Gründe nicht, warum Opa so lange saß. Aber so viel

weiß er: Solche langen Haftstrafen verheißen nichts Gutes.

Und so geht er mit einem gerüttelt Maß an Respekt

mit Opa um.

Und das ist auch gut so: Opa hat immer noch eine

Menge krimineller Energie. Und schreckt nicht davor

zurück, Frank in brenzlige Situationen zu bringen. Frank

wird lernen müssen, »Nein« zu sagen. Ein atemberaubendes

Buch. Ulrich Dombrowsky

Herbert Clyde Lewis

Gentleman über Bord

Aus dem Englischen von

Klaus Bonn

Mit einem Vorwort

von Jochen Schimmang

Mare, 176 Seiten

€ [D] 28,– | € [A] 28,80

Very British – zum Brüllen komisch!

Ulrich Dombrowsky

Milena Michiko Flašar

Oben Erde, unten Himmel

Wagenbach, 297 Seiten

€ [D] 26,– | € [A] 26,80

Nach ihren beiden vielbeachteten Romanen Ich nannte

ihn Krawatte und Herr Katŏ spielt Familie hat die österreichische

Autorin (mit japanischen Wurzeln) Milena

Mishiko Flašar soeben ihren neuen großen Roman vorgelegt.

Wie in den beiden Vorgängerromanen gibt sie

uns hier tiefen Einblick in die japanische Gesellschaft,

die uns Mitteleuropäern manchmal rätselhaft erscheint.

Im Mittelpunkt von Oben Erde, unten Himmel steht

Suzu, eine Frau Mitte zwanzig, die komplett zurückgezogen

lebt, sich zwar einsam fühlt, aber nicht recht

weiß, wie sie auf andere zugehen soll.

Ihr Wegbegleiter ist ihr Hamster – Dating-Treffen

sind begrenzt erfolgreich und befriedigend ebenfalls

nicht. Dann verliert sie auch noch ihren Job und weiß,

dass sie mit dem Ersparten höchstens zwei Monate

durchhalten kann. Gezwungenermaßen bewirbt sie sich

und bekommt ein Angebot: Herr Sakai hat eine Reinigungsfirma

mit besonderen Aufträgen. Mehr und mehr

vereinsamte Menschen sterben unbemerkt in ihren

Wohnungen. Suzus Aufgabe ist, die Wohnungen wieder

bezugsfähig zu machen. Bei der Auseinandersetzung

mit dem Leid der einsam Gestorbenen beginnt sie über

ihr eigenes Leben neu nachzudenken.

Ulrich Dombrowsky

Markus Orths

Mary & Claire

Hanser, 304 Seiten

€ [D] 26,– | € [A] 26,80

Wie schon in seiner herausragenden Romanbiografie

Max (über Max Ernst) gelingt es Orths in diesem

Buch, die Leser zu verzaubern – diesmal mit einer Geschichte

über die Stiefschwestern Mary Shelley und

Claire Clairmont. Marys tragischer Lebenshintergrund

ist, dass sie ihre Mutter nie kennengelernt hat – diese

starb bei Marys Geburt. Sie verzweifelt fast in ihrer unerwiderten

Liebe zu ihr und verbringt jede freie Minute

am Grab der Mutter. Ein Trost in ihrer Kindheit ist, dass

ihr Vater sich neu vermählt und sie mit Claire eine

Schwester gewinnt. Beide verlieben sich später in den

jungen Schriftsteller Percy Bysshe. Die drei pflegen

nicht nur eine literarische Freundschaft und Nähe,

sie führen auch eine Amour fou zu dritt. Höhepunkt

wird ihre Begegnung mit dem literarischen Wunderkind

Lord Byron, der sein Leben in Extremen führt. Orths

bringt uns diese außergewöhnlichen Menschen nahe

und macht uns Lust darauf, Shelleys Frankenstein (wieder)

zu entdecken.

Ulrich Dombrowsky

Will Gmehling / Antje Damm

Pizzakatze

Peter Hammer, 24 Seiten

€ [D] 15,– | € [A] 15,50

ab 3 Jahren

Hier fährt Pizzakatze Pia, flink und flitzig, »MAMMA

MIA!« So beginnt dieses sprachakrobatische Bilderbuch

aus der Feder von Will Gmehling. Auf jeder Doppelseite

sehen wir, wer alles zu Pias Kundschaft gehört. Da sind

Anastasia und Atze, Glitz und Glitza, die Kita, die mittwochs

natürlich echte Pizza Margherita bekommt und

noch viele mehr. Die wunderbare Antje Damm zeigt

schon auf dem Vorsatzpapier alle Behausungen, die die

Pizzakatze mit ihrer gelben Vespa nach und nach beliefert.

Es macht großen Spaß, ihr dabei zu folgen und

all die Details zu entdecken, die in diesem kleinen Meisterwerk

versteckt sind. Natürlich läuft mir hier beim

Schreiben schon das Wasser im Mund zusammen, und

am liebsten würde ich, wie Suleikas süße Oma, sofort

eine scharfe Pizza Roma bestellen.

Eine Bilderbuchliebe auf den ersten Blick, die ich

Ihnen dringend ans Herz lege! Zum Vorlesen für Kindergartenkinder,

die ja für gereimte und witzige Geschichten

immer zu haben sind, zum Selbstlesen für Schulkinder,

die gerade mit kleinen Texten anfangen, und

nicht zuletzt für alle Fans von Pizzen und Katzen.

Beate Widmann

Ihre Regensburger

Partnerbuchhandlung der

buchhandlung dombrowsky

St.-Kassians-Platz 6 93047 Regensburg

Telefon 09 41 - 56 04 22 Fax 09 41 - 5 04 17 85

ulrich.dombrowsky@t-online.de www.dombrolit.de

buchempfehlungen – dombrowsky 41

5 plus



buchempfehlungen – haymon 42

5 plus

lieblingsbücher der

Fabian Neidhardt

Nur ein paar Nächte

Haymon Verlag, 248 Seiten

€ [D+A] 22,90

Fabian Neidhardts zweiter Roman erzählt die Geschichte

von einer Frau, die keine Mutter werden möchte,

einer kaum zu bändigenden Tochter und einem alleinerziehenden

Vater, der keine Kinder kriegen kann, eigent

lich. Es ist ein Roman entgegen den festgefahrenen

Elternbildern, ein Text, der aufzeigt, wie verschieden Beziehungen

sein können und wie unterschiedlich Familie.

Warmherzig und trotzdem ernüchternd, leichtfüßig

und zugleich tiefgründig. Fabian Neidhardt schafft es

erneut, zeitgenössische Figuren zu erschaffen, denen

wir uns mit jedem Satz näher fühlen. Es sind Bücher wie

diese, die uns in eine andere Welt gleiten lassen, in denen

wir ein zweites Leben durchleben und die uns nicht

mehr aus dem Kopf gehen. Das Wichtigste: In einer Zeit,

in der wir vor vielen Schwierigkeiten stehen, schenkt

Nur ein paar Nächte vor allem eines: Hoffnung.

Bianca Kneißl

Teresa Reichl

Muss ich das gelesen haben?

Haymon Verlag, 232 Seiten

€ [D+A] 17,90

Die Behauptung »Junge Menschen lesen zu wenig«

hört man viel zu oft. Völliger Bullshit. Junge Menschen

haben schlichtweg keinen Bock mehr darauf, ausschließlich

»klassische« Literatur, geschrieben aus der

immer selben Perspektive, zu lesen: nämlich aus der

von weißen, heterosexuellen, männlichen Autoren. Teresa

Reichl widmet sich genau diesem Thema und liefert

in ihrem Buch Muss ich das gelesen haben? neben

den Basics der Literaturgeschichte einen Alternativ-

Kanon, der vor allem eines aufweist: Diversität. Sie rebelliert

gegen das Patriarchat, gegen verstaubte Regale

voller »Klassiker«, die dringend erweitert gehören.

Mit viel Witz, Wut und dem Wunsch nach Veränderung

krempelt die Autorin die Literaturgeschichte um: Sie erzählt

von den vielen Autor*innen, von denen es heißt,

sie hätten nicht geschrieben. Sie erzählt, warum die Literaturlisten

aussehen, wie sie aussehen. Ein Buch, das

in meiner Schulzeit absolut gefehlt hat und nun endlich

erscheint. Sarah Wegscheider

Raphaela Edelbauer

Die Inkommensurablen

Klett-Cotta, 352 Seiten

€ [D] 25,– | € [A] 25,70

Wien am 30. Juli 1914. Als wäre die moderne, laute Großstadt

für einen Tiroler Bauernknecht nicht ohnehin

leicht überfordernd, erreicht Hans die Hauptstadt der

Monarchie auch noch im Ausnahmezustand: kurz vor

Ablauf des deutschen Ultimatums. Selbst überzeugt,

besondere übernatürliche Fähigkeiten zu besitzen, findet

er in Mathematikerin Klara und Offizierssohn Adam

zwei weitere »Erwählte«, mit denen er wie in einem Fiebertraum

durch unbekannte Straßen, unterschiedlichste

Milieus und wechselnde Bewusstseinszustände taumelt.

Dies in aller kurzen Ungenauigkeit.

Was in der Folge auf dieser nächtlichen Reise ins Visier

gerät, ist dann nichts anderes als die Vorstellung von

der Welt an sich. Zwischen Esoterik und Naturwissenschaft,

gemeinsamen Ur-Ideen, kollektivem Schlaf nebst

einem mysteriösen Traum, neuen psychoanalytischen

Erkenntnissen und den historisch-politischen Tumulten

wird das als »wahr« Erachtete zerrieben, Idee und Wirklichkeit

wechseln den Platz. Ein dichter und höchst einfallsreicher

Roman. Und wie immer gilt: Wenn Raphaela

Edelbauer was schreibt, so empfiehlt sich’s, es zu lesen.

Benjamin Girstmair

Marlene Streeruwitz

Tage im Mai

S. Fischer, 384 Seiten

€ [D] 26,– | € [A] 26,80

Veronica, 20, perspektivenlos, noch immatrikulierte

(Nicht-)Studentin, Klimaaktivistin, Veganerin, arbeitet

in Wien am Kohlmarkt als Rezeptionistin bei »Letterbox

limited« und beaufsichtigt dort gemietete Postfächer.

Ihre Mutter ist Übersetzerin und gewöhnt sich langsam

an die vermeintliche Normalität nach den Lockdowns

und die Schrecken des Ukraine-Krieges.

Marlene Streeruwitz reflektiert in ihrem Roman dialogué

gesellschaftspolitische Auswirkungen der letzten

Jahre. Sie zeigt die Gedanken, Sorgen und Ängste in

einer Beziehung von Mutter und Tochter auf, die sich

einander nach den getrennt verbrachten Lockdowns

wieder nähern. Tage im Mai ist ein Appell an zwischenmenschliche

Güte und Selbstmitgefühl in Zeiten der

Unsicherheit. Die Gedanken der Protagonistinnen sind

geprägt vom Krieg in der Ukraine, von der Klimakrise

und der »Wiederbelebung« nach der Isolation: ein Porträt

der Gegenwart aus der Perspektive zweier Generationen.

»Na, die Welt geht doch unter. 2050. Ihr macht

doch nichts. Wir segeln gemütlich in die Katastrophe.

Da ist es mir doch völlig gleichgültig. Mindestleistung.

Wie lustig.« So lautet Veronicas einschneidender Kommentar

auf die Frage nach ihren Zukunftswünschen,

nachdem sie aufgrund der Einführung der Mindestleistung

im Studium und der politischen Untätigkeit in

Bezug auf den Klimawandel verzweifelt und hadert.

Marlene Streeruwitz thematisiert die (versteckten) Traumata

unserer Zeit, die an Aktualität kaum zu übertreffen

sind und die Menschen um uns beeinflussen, ob sie es

zeigen oder sich still im Inneren damit auseinandersetzen.

Gerid Rudelstorfer

Juli Zeh, Simon Urban

Zwischen Welten

Luchterhand, 448 Seiten

€ [D] 24,– | € [A] 24,70

Vor zwanzig Jahren haben sich Stefan und Theresa

das letzte Mal gesehen, als sie sich plötzlich zufällig

wiedertreffen und beginnen, einander regelmäßig E-

Mails zu schreiben. Zu Studienzeiten immer einer Meinung,

prallen heute Welten aufeinander: Er ein Journalist

in der Großstadt, der gegen die Klimakatastrophe

anschreibt, dem antirassistische Arbeit wichtig ist, der

gendert. Sie aber hat andere Sorgen, als zu gendern.

Ihr Hof kämpft ums wirtschaftliche Überleben, und die

Politik hört die Nöte der Bauern auf dem Land ebenso

wenig wie Journalisten wie Stefan. In hitzigen E-Mails

wird leidenschaftlich um Reizthemen, den Umgang mit

dem Ukraine-Krieg, Klimakatastrophe, Existenzängste

und das Gendersternchen gestritten. Immer wieder finden

die beiden aber auch Verständnis füreinander und

kommen sich nahe. Zwischen Gemeinsamkeiten und

scheinbar unüberbrückbaren Differenzen beinahe aufgerieben,

verlangen bald nicht nur die E-Mails, sondern

auch der reale Alltag beiden eine eindeutige Positionierung

ab.

Letztlich geht es aber um weit mehr als die Schreibenden:

Es geht um Diskurse und deren Eigendynamik,

soziale Medien und Filterbubbles, Meinungsmache, Radikalität

und verhärtete Fronten.

Ein rasant erzählter, aktueller Gesellschaftsroman,

der mich ebenso wütend wie betroffen gemacht hat und

gerade, weil er keine Lösung anbietet, unter die Haut

geht. Noah Isser

Virginie Despentes

Liebes Arschloch

Aus dem Französischen von Ina Kronenberger

und Tatjana Michaelis

Kiepenheuer & Witsch, 336 Seiten

€ [D] 24,– | € [A] 24,70

Der Schriftsteller Oscar beschimpft die 50-jährige Schauspielerin

Rebecca online und rechnet vermutlich nicht

mit einer Antwort: »Liebes Arschloch, […] Du bist wie

eine Taube, die mir im Vorbeifliegen auf die Schulter

kackt.« Und so beginnt der neue Roman von Despentes,

der wichtige Themen wie #metoo, Social Media, Sucht,

Vaterschaft, das Älterwerden und die Pandemie behandelt.

Oscar ist vor einiger Zeit gegenüber seiner Pressesprecherin

Zoe übergriffig geworden, erinnert sich aber

an keinen Vorfall und sieht sich folglich als Opfer der

#metoo-Bewegung. Rebecca bringt ihn auf den Boden

der Tatsachen zurück und erzählt davon, was sie bewegt.

So entsteht plötzlich ein sehr vertrauter Briefkontakt.

Rebecca, Oscar und Zoe, drei vom Leben gezeichnete

Menschen, wütend auf die Welt und in komplett

unterschiedlichen Gedankensphären, finden dann

doch noch eine versöhnliche Ebene. Eine Annäherung

in Briefen, die aufzeigt: Toleranz und Verständnis sind

erlernbar und hin und wieder überlebenswichtig, aber

nur, wenn man auch bereit dazu ist, für die eigenen Taten

Verantwortung zu tragen. Ana Rodrigues

buchhandlung haymon

Sparkassenplatz 4 A-6020 Innsbruck

Telefon + 43 - 5 12 - 57 18 18

bestellung@haymonbuchhandlung.at

www.haymonbuchhandlung.at

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buchempfehlungen – felix jud 44

felix jud empfiehlt

Karl Alfred Loeser

Requiem

Mit einem Nachwort von Peter Graf

Klett-Cotta, 320 Seiten

€ [D] 24,– | € [A] 24,70

Der jüdische Solocellist Erich Krakau wird Opfer furchtbarer

Intrigen, muss schließlich das städtische Symphonieorchester

verlassen und wird in Haft ge nommen.

Mutige und Feige, Gleichgültige und Täter versammeln

sich in diesem Roman, der durch die großartige Beschreibung

seiner Charaktere besticht.

Wer die Literatur von Irmgard Keun, Hans Fallada

oder Ulrich Alexander Boschwitz schätzt, wird wie ich

von dieser prophetischen Neuentdeckung aus den 30er-

Jahren tief beeindruckt sein. Marina Krauth

Hermann Hesse

»Mein lieber Brüdi!«

briefwechsel mit seinem

jüngsten sohn martin

Suhrkamp, 400 Seiten

€ [D] 38,– | € [A] 39,10

Nach der informativen Ausstellung »Zwischen den

Fronten. Der Glasperlenspieler Hermann Hesse« im

Literaturhaus Berlin 2017, auf der zum ersten Mal Briefe

zwischen Martin und seinem Vater veröffentlicht wurden,

und dem 2019 erschienenen Briefwechsel mit den

beiden älteren Söhnen ist nun der bislang gesperrte gesamte

Briefwechsel mit seinem jüngsten Sohn Martin,

in der Familie »Brüdi« genannt, herausgekommen.

Martin Hesse wurde als letzter der drei Söhne 1911

geboren. Als er sieben Jahre alt war, verließ Hesse endgültig

die Familie in Bern, um in den südlichen Teil der

Schweiz überzusiedeln und sich ganz seinem Schaffen

zu widmen. Darin liegt die Tragik, dass Martin in seiner

Kindheit am wenigsten vom Vater hatte, ja Hesse bei der

Geburt von Martin mit dem Thema Familie schon durch

war, was Kinder natürlich spüren und ein Leben lang

daran tragen.

Jetzt ist es uns Lesern möglich, den eindrucksvollen

Versuch mitzuempfinden, wie Hermann Hesse mittels

Briefen versucht, diese Wunde zu heilen und seiner Vaterschaft

doch noch gerecht zu werden. Eindrucksvoll

zu lesen sind die liebevollen, sich immer mehr öffnenden

Briefe des Knaben, später des werdenden Mannes

in ihrer rührenden, vertrauensvollen Detailfreude und

geradezu plastischen Darstellung dessen, womit sich

Martin gerade beschäftigt. Der Vater kann so die Berufsfindung,

Lehr- und Arbeits alltag, Wehrdienst, erste Liebeswirren

und Heirat, Geburt von Martins Tochter, Wohnungsprobleme,

kurz: so ziemlich alles begleiten, und

das manchmal bestimmt, jedoch ohne die zu diesen

Zeiten noch üblichen Maßregelungen. So gelangt Martin

zu seiner wahren Passion: der Fotographie. Durch

das Objektiv gelingt es ihm, sich dem berühmten Vater

zu nähern und seine Selbstzweifel zu überwinden, denn

Hesse schätzt diese Aufnahmen und vermittelt ihm viele

Aufträge. Auch lernen wir Hermann Hesse als einen in

Gelddingen doch nicht ganz unbewanderten Mann kennen,

der sehr wohl – geschult von seinen Schweizer Mäzenen

– weiß, was Bankobligationen, Kontokorrent und

»Da bekommt man wenig Zins« bedeuten oder wie man

z. B. Erbschaftssteuern spart. Doch wendet Hesse dieses

Wissen nicht zum reinen Eigennutz, sondern vor allem

zum Wohle seiner Söhne an, die alle drei selbst eine Familie

gegründet haben.

1950 schreibt Martin an seinen Vater: »Als ich ein

kleiner Junge war, hätte ich vielleicht gerne hin und wieder

einen ›Papa‹ gehabt, der einen aufs Knie genommen,

aber ernstlich vermisst habe ich das nie. Dafür

sind wir auch nie geprügelt worden wie andere Buben

mit familiäreren Papas. Was wir aber dann die seltenen

Male bei Besuchen menschlich von dir bekamen, wog

die Pausen dazwischen reichlich auf. Immer hast Du mir

in schwierigen Lebenslagen treu geholfen und mit Rat

und Tat zur Seite gestanden …«

Dass Hesse neben seinem ungebrochenen wirkungsmächtigen

Werk und weiteren zigtausend Briefen

an andere Zeitgenossen seinen Söhnen solche Empathie

geben konnte und ihm Martin das schreibt, ist doch

wunderbar! Bei der realen Tragik dahinter wirkt auch

dieser Briefwechsel neben dem Werk höchst aktuell im

Sinne Hesses mit, um die Menschheit im Ringen, um

mehr Verständnis miteinander weiter voranzubringen.

Torsten Plettner

Milena Michiko Flašar

Oben Erde, unten Himmel

Wagenbach, 304 Seiten

€ [D] 26,– | € [A] 26,80

Als Suzu anfängt, in Herrn Sakais Reinigungsfirma zu

arbeiten, ist ihr noch nicht bewusst, dass der neue Job

ihr Leben komplett umkrempeln wird. Musste sie sich

vorher nur um sich selbst und ihren Hamster kümmern,

ist sie in der Firma nun Teil eines sozialen Gefüges, und

das bringt Verpflichtungen mit sich, die für Suzu ungewohnt

sind. Dazu kommt, dass Herrn Sakais Firma

ein ungewöhnliches Spezialgebiet hat: Leichenfundorte,

die zunächst unentdeckt geblieben sind. Im Japanischen

gibt es für dieses Phänomen sogar ein eigenes

Wort: Kodokushi.

Milena Michiko Flašars neuer Roman zeigt mal humorvoll,

mal skurril und dann wieder ganz sanft, wie

schnell Menschen in der Großstadt isoliert werden und

vereinsamen und wie sehr das eigene Leben an Bedeutung

gewinnt, wenn man andere Menschen hineinlässt.

Wenn man seinen Ventilator auf Schwenkfunktion stellt,

weil da plötzlich noch jemand neben einem sitzt. Wenn

man seinen alten Nachbarn eine Freude bereitet. Wenn

man nach langer Zeit seine Eltern besucht. Wenn man

Freundschaften schließt und nicht mehr allein ist.

Sina Wunderlich

Clare Pollard

Delphi

Aus dem Englischen von

Anke Caroline Burger

Aufbau, 222 Seiten

€ [D] 22,– | € [A] 22,70

Wenn etwas seit Anfang 2020 Hochkonjunktur erhalten

hat, dann sind es Mythen, Weissagungen und sagenhafte

Geschichten. Nichts ist spannender und gleichzeitig

angsteinflößender als die Zukunft. Und genau

damit beschäftigt sich dieser im Londoner Lockdown

geschriebene Roman, wobei das »Orakel von Delphi«

als Ausgangspunkt dient. Weissagungen aus Dichtung,

Handlesen, Träumen etc. folgen. Die Ich-Erzählerin beschreibt

auf eine erfrischende, leicht tragische und dennoch

sehr humorvolle Art und Weise das Eintauchen in

diese Welten und den Spagat, den man immer wieder

vollziehen muss, um sich, aber auch die eigene Familie

dabei nicht aus den alltäglichen Augen zu verlieren.

Mit Erfolg! Delphi ist ihr erster Roman und macht Vorfreude

auf mehr in Zukunft. Benjamin A. Heinz

Emanuel Maess

Alles in allem

Rowohlt, 400 Seiten

€ [D] 24,– | € [A] 24,70

Emanuel Maeß ist tatsächlich ein altertümlicher Schriftsteller,

der langsam schreibt, kulturhistorische Überlegungen

in seinen Erzählstrang einflicht und in seine

langen Sätze Konstruktionen und Stilmittel einbaut,

die Literaturwissenschaftler gar nicht mehr so häufig

in aktuellen Neuerscheinungen finden. Sprache muss

also nicht immer einfach und Sätze nicht immer kurz

sein. Der Berliner Autor ist klassisch belesen, und so

zeichnet er seine Figuren als Typen eingeübter westlicher

Lebenspraktiken und -gedanken. Ein Fest ist daher

bacchantisch, und ein Körper darf mit einer Kathedra

le verglichen werden. In dieser Paar-Geschichte (ein

Theologiestudent und seine Freundin Katharina leben

im beschaulichen Berlin-Friedenau) geht es viel um

Rührung, Begehren und sexuelle Dinge, wobei alle

Worte mit den drei Buchstaben SEX im Satzbild durchkreuzt

sind. Ja, dieser Autor möchte das alles nicht mit

diesem omnipräsenten Wort beschreiben und zeigt seine

Selbsterziehung und sein Konzept augenfällig den

Lesern seines Romans. Dem Protagonisten wird seine

häusliche Jungpartnerschaft dann aber doch zu langweilig.

Seine seelische Krise führt ihn zu allerlei Berliner

Einrichtungen, die er mit seinem bildungsbürgerlichen

Denken zumindest nicht sogleich beschreiben kann.

Vielleicht ist er die typische Figur Mensch, dem das Gewesene

nicht ausreicht, das Gegenwärtige zu flach und

das Künftige unerreichbar ist? Robert Eberhardt

Katharina Peter

Erzählung vom Schweigen

Matthes & Seitz Berlin, 244 Seiten

€ [D] 22,– | € [A] 22,70

Die Protagonistin Karolina geht einer einzigen Frage

nach: Warum hat die Beziehung ihrer Eltern nicht funktioniert?

Sie versucht es zu verstehen, versucht ihre

Eltern zu verstehen, ist bestrebt, Zusammenhänge zu

finden, verwebt Erinnerungen, versucht sich dann im

Leistungssport zu behaupten, auf der Suche nach einem

Halt. Sie sucht nach Erklärungen und will gleichzeitig

Erklärungen liefern. Bis sie weiter und weiter

zurückgreift, zwischen Generationen springt, eben bis

aus der Erzählung vom Schweigen ein verschwiegenes

Kunstwerk deutscher Geschichte entsteht, das Werk einer

ungeklärten Frage nach Schuld, Familienzugehörigkeit

und der Bedeutung von Erinnerungen. Ich habe

selten eine Erzählerstimme direkter und offener sprechen

hören. Und alles, was sie will, ist, verstehen zu

können: »Auch ich habe das Recht auf einen roten Faden.«

Ich wünsche der Autorin Katharina Peter, dass ihr

Buch große Aufmerksamkeit erfährt, denn die Suche

nach dem roten Faden kennt wohl jeder von uns.

Finn-Jona Stehr

felix jud gmbh & co. kg

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Neuer Wall 13 20354 Hamburg

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lehmkuhl empfiehlt

Dana Spiotta

Unberechenbar

Aus dem Amerikanischen

von Andrea O’Brien

Kjona Verlag, 350 Seiten

€ [D] 25,– | € [A] 25,70

HURRA, ein neuer Verlag ist da! Grün, nachhaltig, sozial-ökologisch,

gerecht: Diesen Maximen fühlen sich die

Verleger Florian Keck und Lars Claßen verpflichtet, und

konsequent bis zur höheren Gewinnbeteiligung der Autoren,

der Nennung der Übersetzer gleich auf dem Cover

und der nachhaltig organisierten Herstellung der

Bücher wollen sie mit guter Literatur den Buchmarkt

bereichern.

Also los geht’s: Der erste Roman landet sofort auf

unserem Flügel, denn Unberechenbar von der amerikanischen

Autorin Dana Spiotta, die wir bisher in Deutschland

nicht gekannt haben, ist ein durchweg lebendiger,

gut geschriebener Text, der mich überzeugt hat. Die

Story klingt einfach: Frau, Mitte fünfzig, ändert ihr Leben

abrupt: Sie kauft sich ein altes Haus, verlässt Ehemann

und Tochter, verlässt die gutbürgerliche Wohlfühl-Umgebung

und entdeckt fortan ganz neue Seiten

an sich. Aber man kann nicht alles haben … Als Mutter

ist man ja nicht alleine auf der Welt! Spannend und mit

wechselnden Perspektiven erzählt, hat die Autorin den

richtigen Ton getroffen. Jede Frau wird sich mit der Gedankenwelt

und den Ideen von Sam auseinandersetzen,

einiges sofort verstehen, einiges aber auch empört ablehnen!

Jetzt heißt es lesen, sich am Druck und der Haptik

des Buches erfreuen und dem Verlag für die Zukunft

alles, alles Gute wünschen! Mechthild Heinen

Victoria Belim

Rote Sirenen –

Geschichte meiner

ukrainischen Familie

Aus dem Englischen

von Ekaterina Pavlova

Aufbau Verlag, 350 Seiten

€ [D] 22,– | € [A] 22,70

Das Debüt von Victoria Belim hat mich tief und nachhaltig

bewegt. Es ist eine Reise durch die ukrainische

Geschichte, von der Stalinzeit bis in die Gegenwart,

aber auch eine Reise der Autorin zu sich selbst. Eines

vorab: Sie hat ihren Roman, es ist ihre Familiengeschichte,

vor dem Krieg in der Ukraine verfasst. Heute

wäre sie wohl dazu nicht mehr in der Lage, hat sie einmal

erschüttert geschrieben. Vordergründig scheint es

die Spurensuche der Journalistin nach einem verschwundenen

Urgroßonkel zu sein. Was daraus entstand,

ist so viel mehr.

Die Autorin wurde 1978 im zentralukrainischen Poltawa

geboren, emigrierte mit 14 Jahren in die USA und

lebt heute mit ihrem Mann in Brüssel. Kurz nachdem

Russland die Krim annektierte, beschließt sie 2014, zurückzukehren

und sich mit ihrer Familiengeschichte

auseinanderzusetzen. Was soll sie ihrem Onkel Wladimir

entgegenhalten, dem Putin-Fan und Sowjet-Nostalgiker?

Auch er ist, wie sie, ein Ausgewanderter und führt

seine E-Mail-Debatte von Tel Aviv aus. Dann stößt sie im

Notizbuch ihres Urgroßvaters auf einen Eintrag: »Bruder

Nikodim, verschwunden in den 1930ern im Kampf für

eine freie Ukraine.« Sie will wissen, was mit ihrem Urgroßonkel

damals passiert ist, aber ihre Familie schweigt,

und vor allem Großmutter Valentina, immer um ihren

Garten bemüht, rät ihr schroff, die Vergangenheit ruhen

zu lassen. Belim möchte verstehen, warum so viel

ta buisiert wurde. Nikodims Spuren führen sie auch

in das berüchtigte Hahnenhaus, das höchste Gebäude

der Stadt. Die titelgebenden roten Sirenen sind an dem

Haus in Poltawa angebracht, das der berüchtigte Geheimdienst

nutzte. Für die Bewohner*innen der Stadt

ist es ein Ort des Schreckens und der Folter. Ein Buch,

das durch Putins Angriffskrieg auf die Ukraine eine erschreckende

Aktualität hat, auch wenn es vor 2022 geschrieben

wurde. Es lohnt sich unbedingt, sich auf diese

Reise einzulassen. Brigitte Giesler

Esther Schüttpelz

Ohne mich

Diogenes, 205 Seiten

€ [D] 22,– | € [A] 22,70

Esther Schüttpelz’ Debüt Ohne mich ist ein Buch, bei

dem ich gar nicht so genau erklären kann, warum ich

es mag. Ich mag es einfach! Die namenlose Protagonistin

des Romans ist eine selbstbewusste Frau: Mitte

zwanzig, weiß genau, was sie vom Leben will, und gerade

frisch geschieden. Das mit dem Ehemann hat einfach

nicht geklappt. Das Jurastudium ist fast abgeschlossen,

und ansonsten hat auch alles seine Ordnung.

Jura studiert sie, damit sie finanziell unabhängig ist.

Jetzt steht sie da und fragt sich nach dem Warum. Auf

der Suche begleiten wir sie durch die Höhen, die Tiefen

und das Chaos, in das wir geraten, wenn alles um uns

herum auf einmal keinen Sinn mehr ergibt. Mit offenem

und unverblümtem Ton werden wir von der Pro tagonistin

mitgenommen durch den Schmerz und auf die

Suche nach sich selbst. Schnell erzählt und mit absoluter

Sogwirkung hinterfragt sie ihr bisheriges Leben und

versucht herauszufinden, wer sie sein möchte. Es fällt

leicht, sich mit der jungen Ich-Erzählerin zu identifizieren,

die zwischen Alkohol, Partys, Sinnkrisen und allem,

was dazugehört, durch eine Quarterlife-Crisis schlittert,

die sich gewaschen hat. Echt, ehrlich, verletzend, mit

viel Witz und absolut unkitschig. Genau das Richtige für

alle, die manchmal selbst nicht so genau wissen, wohin.

Marlies Krämer

Sarah Crossan

Toffee

Aus dem Englischen von Beate Schäfer

Empfohlen ab 14 Jahren

Hanser, 352 Seiten

€ [D] 19,– | € [A] 19,60

Toffee ist die bewegende Geschichte einer ungewöhnlichen

Freundschaft. Allison, die vor der Gewalttätigkeit

ihres Vaters von zu Hause weggelaufen ist, begegnet

zufällig Marla, die langsam in die Demenz abzugleiten

beginnt. Als Marla in Allison ihre Jugendfreundin

Toffee zu erkennen glaubt, entwickelt sich vor der brüchigen

Realität der beiden Frauen ganz behutsam eine

Freundschaft. Ihr großes erzählerisches Können hat

Sarah Crossan bereits in Ihren Büchern Eins und Wer

ist Edward Moon? bewiesen, für das sie 2020 mit dem

Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.

Ihre Prosa verfasst sie in freien Versen, wodurch jedes

einzelne der kurzen Kapitel eine große Dichte und

Dringlichkeit bekommt.

Toffee ist ein Buch der zarten Töne, dessen Stärke

aus der Tiefe seiner sprachlichen Bilder erwächst.

Katharina Lemling

Frauke Angel/

Meike Töpperwein

Vorsicht, frisch geschieden!

ein survival-buch für

trennungskinder

Empfohlen ab 8 Jahren

Klett Kinderbuch, 137 Seiten

€ [D] 20,– | € [A] 20,60

Für mich DAS Sachbuch des Frühlings! Ich habe es –

selbst völlig ungeschieden – mit wachsender Begeisterung

von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. So ehrlich,

informativ, witzig (ja!), umfassend und ermutigend

wurde noch nie für Kinder über dieses Thema geschrieben.

Die Autorin Frauke Angel, selbst zweimal »geschieden«

(das heißt in dem Fall, ihre Mutter hat gleich zwei

Ehen in den Sand gesetzt), hat Klassen besucht und mit

Kindern gesprochen. Zusammen mit ihnen hat sie den

»Club der geschiedenen Leute« gegründet, einen geschützten

Raum, in dem frei erzählt und gefragt werden

darf. Sie hat Geschichten ebenso zusammengetragen

wie Fakten, ihr Ton ist frisch und voller Wärme, sie hört

den Kindern zu und nimmt sie ernst. Vorsicht, frisch

geschieden ist ein wichtiges Buch, das das Tabu »Scheidung«

bricht und Antworten und Anregungen für alle

Fragen rund um das Thema gibt. Katharina Lemling

Percival Everett

Die Bäume

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Hanser, 368 Seiten

€ [D] 26,– | € [A] 26,80

Ich habe lange keinen derart bösen und zugleich hoch

komischen Roman gelesen wie diesen. Percival Everett ist

eine ganz eigene Mischung aus Kriminalroman, Rachefantasie

und Groteske gelungen. Der Plot: Im verschlafenen

Provinznest Money werden einige weiße Männer

auf grausame Weise ermordet. An jedem Tatort liegt

zugleich der Körper eines schwarzen Jungen, der dem

1955 gelynchten Emmett Till ähnlich sieht. Von Money

aus kommt es zu einer Mordserie, die jede Dimension

sprengt und sich auf die ganzen USA ausweitet. Auf der

Suche nach den Tätern gerät Mama Z ins Visier der Ermittler.

Sie hat akribisch jeden von Weißen begangenen

Lynchmord an Schwarzen seit der Ermordung ihres eigenen

Vaters in ihrem Archiv dokumentiert. Everetts

Roman – 1922 nominiert für den Booker Preis – ist nichts

für schwache Nerven oder sensible Leser. Für alle anderen

ist es eine großartige Lektüre. Michael Lemling

buchhandlung lehmkuhl

Leopoldstraße 45 80802 München

Telefon 0 89 - 38 01 50 - 0 Fax 0 89 - 39 69 40

service@lehmkuhl.net www.lehmkuhl.net

5 plus

buchempfehlungen – lehmkuhl 47



w

5 plus buchempfehlungen – leporello 48

leporello empfiehlt

uwe neumahr

das schloss der

schriftsteller

nürnberg ’46

treffen ab abgrund

C. H. Beck Verlag, gebunden

304 Seiten mit 31 Abbildungen

€ [D] 26,– | € [A] 26,80

Es gab bei dem Nürnberger Prozess im Jahr 1946 zahllose

Beobachter. Es war die internationale Antwort auf

die Gräuel des Nationalsozialismus. Eine Gruppe der geladenen

Beobachter wurde im Schloss Faber Castell untergebracht.

Sie trafen sich, diskutierten die Prozesstage,

sprachen über die Arroganz der Angeklagten, die

sich verhielten, als wären sie unbeteiligte Gäste. Zumindest

in den ersten Wochen. John Dos Passos, eine Erika

Mann, Erich Kästner und Martha Gellhorn, Autorin und

Kriegsreporterin, und viele andere. Teilweise auf Feldbetten

in den Gängen wohnten sie in dem überfüllten

Hotel der ehemaligen Bleistiftfabrik. Die Bleistift-

Akteure, die das Grauen noch einmal erlebten, wenn sie

in das feiste Gesicht Hermann Görings blicken mussten.

Sie schrieben und schrieben und tranken und tanzten

auch im Schloss der Schriftsteller.

Eine herausragende Blickwinkelgeschichte als Geschichtsschreibung

aus dem Blickwinkel von Schriftstellern.

Aber auch von Exilpolitikern. Besonders delikat

Willi Brandt und Markus Wolf, die damals gemeinsam

im Schloss der Schriftsteller den Untergang der Nazis

beobachteten. Markus Wolf sollte als Geheimchef der

DDR später die Karriere Willi Brandts beenden. Sie hatten

sich sicher viel zu erzählen. Damals 1946.

Erwin Riedesser

rotraut schöberl

(herausgeberin)

meer morde

kriminelle geschichten im

und am wasser

Mit Illustrationen von Hanna Zeckau

Residenz Verlag, gebunden, 256 Seiten

€ [D+A] 25,–

Das Neue an dieser Anthologie, der dritten von Rotraut

Schöberl, ist nicht die gleichbleibende Qualität. Auch

nicht das Cover, das wieder fantasievoll und ansprechend

von Hanna Zeckau gestaltet wurde, beeindruckend

wie bei den Gartenkrimis. Es gibt auch wieder einen

Sammlung namhafter Autoren. Von Fred Vargas bis

Martin Walker, von Alex Beer bis Andreas Gruber sind

wieder große Namen dabei. Oder zum ersten Mal dabei.

Damit sind wir bei der Neuerung dieser dritten Anthologie,

die sich mit kriminellen Details am und im Meer

beschäftigt. Es gibt eine Premiere, Rotraut Schöberl, Ex-

5plus-Buchhändlerin, krönt diese Anthologie mit ihrer

ersten Erzählung. Männerfeindlich? Ansichtssache der

jeweiligen Position. Die Anthologien von Frau Schöberl,

der Buchappetitmacherin jeden Dienstag im TV, haben

sich am Markt eine respektable Aufmerksamkeit gesichert.

Sie erscheinen im ebenso repektablen Residenzverlag

und bilden auch heuer eine Bereicherung des

Frühlings. Erwin Riedesser

Anthony McCarten

Going Zero

Übersetzung von Manfred Allié

Diogenes Verlag

Gebunden, 464 Seiten

€ [D] 25,– | € [A] 25,70

Wagemutig habe ich mir aus dem großen Stapel der

Leseexemplare des Frühjahrs 2023 den Titel Going Zero

von Anthony McCarten, der im April bei Diogenes erscheinen

wird, genommen.

Wagemutig deshalb, weil Techno-Thriller so gar

nicht mein Genre sind.

Ich darf schon spoilern: Risiko zahlt sich aus! Ich war

und bin begeistert!

Hat eine einzelne Person eine Chance gegen das

System? Diese Frage gilt es bei einem Betatest der Firma

Fusion, einem Projekt des amerikanischen Geheimdienstes

und des Social-Media-Moguls Cy Baxter, zu

beantworten.

Ist es möglich, dreißig Tage absolut unauffindbar zu

bleiben? Keine Spuren zu hinterlassen?

Eine Bibliothekarin aus Boston ist entschlossen, es

jedenfalls auch zu versuchen. Sie gehört zu den zehn

Leuten, die an diesem Test teilnehmen dürfen, dem Gewinner

oder der Gewinnerin winken 3 Millionen US-

Dollar als Preisgeld. Doch Kaitlyn hat einen völlig anderen

Grund, gewinnen zu wollen … Spannend und auch

sehr kreativ fand ich die unterschiedlichen Zugänge und

Ideen, wie die Teilnehmer*innen versucht haben, unentdeckt

zu bleiben. Da waren durchaus auch echt witzige

Einfälle dabei.

Das Ende und die Auflösung des Buches haben mich

dann sehr überrascht!

Ich hatte beim Lesen sofort Bilder im Kopf und kann

mir einen Hollywood-Blockbuster gut vorstellen. Dann

würde ich mir Kate Winslet als Kaitlyn wünschen. Man

merkt einfach sofort, dass McCarten gewohnt ist, Drehbücher

zu schreiben. Ich kann sagen, es zahlt sich wirklich

aus, öfter mal aus Gewohnheiten auszubrechen und

»ungeliebte« Literatur zu genießen!

Dagmar Harbich

Nikolai Gogol

Das Porträt

Herausgegeben von Andreas Nohl

Übersetzung von Alexander Eliasberg

Steidl Verlag, gebunden, 160 Seiten

Mit Lesebändchen

€ [D] 18,– | € [A] 18,50

Dieses schöne Bändchen vereint drei Novellen des russischen

Meisters Gogol. Als Einstimmung in das Skurrile

eröffnet die Schrift Die Nase das Buch. Vom Auffinden

einer Nase in einem frisch gebackenen Brot und seinem

Kunden, der am gleichen Tag ohne be sagte Nase

im Gesicht aufwacht. Dabei ist die Prosa so schnell und

fesselnd, dass man sich gar nicht Gedanken darüber

machen kann, wie das passieren konnte, sondern man

fiebert mit dem Nasenlosen mit, der verzweifelt nach

seinem fehlenden Körperteil sucht. Das namensgebende

Das Porträt erzählt die Geschichte eines Künstlers,

dessen Erwerb eines Kunstwerks sich als verhängnisvoll

erweist. Wie ein Impressionist malt Gogol die Seele und

Gedanken seines Statisten, mit einer Präzision, die den

Leser in seinen Bann zieht. Die letzte Novelle, Der Mantel,

erzählt von einem Beamten, der lange Zeit auf einen

teuren Mantel spart, nur damit er ihm nachts gestohlen

wird, was den Mann in eine physische und seelische

Krise treibt. Die drei Novellen sind eine rasante, mitreißende

und amüsante Reise in die Welt der russischen

Literatur und schaffen Lust auf mehr. Nina Stajnko

Annie Ernaux

Der junge Mann

Übersetzung von Sonja Finck

Suhrkamp Verlag, gebunden, 48 Seiten

€ [D] 15,– | € [A] 15,50

Die aktuelle Literaturpreisträgerin wiederholt, was sie

am besten kann: über wichtige Ereignisse in ihrem Leben

reflektieren und sie literarisch aufarbeiten. Diesmal

erzählt sie die Geschichte einer Liebesbeziehung,

die sie kurzzeitig mit einem 30 Jahre jüngeren Studenten

führte. In ihm, und seinem Lebensstil, erkennt sie

das Milieu wieder, dem sie entwachsen ist, und die

Lebensabschnitte, die sie schon erlebt hat. Zusätzlich

empfindet sie die Beziehung als politisches Statement,

da sie sich allzu gut der abschätzenden, wütenden Blicke

in der Öffentlichkeit bewusst ist. Jedoch ist dies für

sie nicht mit Scham verbunden, sondern sie erlebt es als

etwas Befreiendes. Und das ist ein Thema, das ihre Bücher

so erfolgreich macht: Egal, ob man die gleichen Erlebnisse

gehabt hat oder nicht, ihre Aufarbeitung ihrer

Gefühle ist so universell verständlich, dass sich jeder in

diesen Gefühlen auf eine Art und Weise wiederfindet.

Insofern ist auch dieser, obwohl ziemlich kurzer, Band

als sehr lesenswert zu empfehlen. Nina Stajnko

John Boyne

Als die Welt zerbrach

Übersetzung von Michael Schickenberg

und Nicolai von Schweder-Schreiner

Piper Verlag, gebunden, 416 Seiten

€ [D] 24,– | € [A] 24,70

Mit Der Junge im gestreiften Pyjama hat John Boyne

seinen Leser*innen eine Geschichte geschenkt, die das

Thema Holocaust auf eine ganz besondere Weise aufgegriffen

hat. Er hat das Unbeschreibliche aus der Sicht

eines naiven Kindes, Bruno, betrachtet. Wann hört diese

Unschuld auf? Wann trägt man Verantwortung, wann

muss man Recht und Unrecht unterscheiden können?

Diese Frage stellt sich für mich in der Fortsetzung Als

die Welt zerbrach. Brunos Schwester Gretel, mittlerweile

über 90 Jahre alt, lebt in London – ihre Lebensgeschichte

kennen weder Familie noch Freunde genau, die Erinnerung

an ihren Bruder hat sie tief begraben. Als neue

Nachbarn in ihrem Haus einziehen, hat sie die Chance,

aus vergangenen Fehlern und Versäumnissen zu lernen

und den Mut zu finden, ein Kind zu beschützen. Das

Schicksal soll sich nicht wiederholen. Ein lesenswertes

Buch – auch ohne seinen Vorgänger sehr empfehlenswert.

Christina Skala

leporello – die buchhandlung

am stephansplatz

Singerstraße 7 / Ecke Churhausgasse A-1010 Wien

Telefon + 43 - 1 - 9 61 15 00

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leporello – die buchhandlung

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DIE BUCHHANDLUNG

empfiehlt

Arno Geiger

Das glückliche Geheimnis

Hanser, 237 Seiten

€ [D] 25,– | € [A] 25,70

Als 2005 der Deutsche Buchpreis zum ersten Mal vergeben

wurde, war Arno Geiger mit dem Roman Es geht

uns gut der erste Preisträger und bekam viel Aufmerksamkeit.

Seine zwei zuvor erschienenen Romane hatte

ich nicht wahrgenommen, aber nach der Lektüre des

preisgekrönten Buches habe ich seine weiteren Romane

jeweils nach Erscheinen gelesen. Ich denke, das ist

die beste Voraussetzung, um das neu vorliegende Buch

mit Spannung zu lesen: Der Autor schildert hier seinen

ganz eigenen Werdegang zum Schriftsteller. Der Text ist

in Form einer Beichte geschrieben, erzählt Geiger uns

doch tatsächlich ein lange gehütetes Geheimnis. Natürlich

will ich dieses hier nicht verraten, die Überraschung

soll den Lesenden gehören. »Das Verschweigen von etwas

kann Freude bereiten. Aber auch das Erzählen kann

Freude bereiten. Nachdem ich so lange die Freude des

Verschweigens ausgekostet habe, nehme ich mir jetzt

die Freiheit des Erzählens«, so Geiger in seinem neuen

Buch. Ich habe es in einem Zug gelesen, mich gewundert,

nachgedacht, teilgenommen an seinen Einsichten

und am Ende mein liebstes seiner Bücher, Alles über

Sally, nochmals gelesen. Susann Jäggi

Frances Cha

Hätte ich dein Gesicht

Aus dem Englischen von Nicole Seifert

Unionsverlag, 288 Seiten

€ [D] 23,– | € [A] 23,70

Das Debüt von Frances Cha gibt Einblick in das Leben

von vier jungen südkoreanischen Frauen, die in demselben

Wohnkomplex der südkoreanischen Hauptstadt

Seoul leben.

Ara, Kyuri, Miho und Wonna – charakterlich verschieden

– haben gemeinsam, nicht zur Oberschicht zu

gehören. Trotz belastender Ereignisse in der Vergangenheit

versuchen sie als Room-Salon-Girl, Friseurin und

Künstlerin Tag für Tag in der schonungslosen Realität zu

bestehen.

Interessant ist der stetige Perspektivenwechsel,

denn mit jedem Kapitel wechselt die Ich-Erzählerin. Die

Lesenden erfahren so entweder mehr von einer der

Figuren oder erhalten eine andere Sichtweise auf dieselben

Ereignisse.

Der gesamte Roman ist ein sorgsam gezeichnetes

Bild, welches die manchmal bizarre, gewaltige Ungleichheit

und strikte Hierarchie in der südkoreanischen

Gesellschaft aufzeichnet. Im Kern verborgen aber liegen

die Freundschaft und der Zusammenhalt der einzelnen

Frauen, der sich langsam offenbart. Obwohl ihre Leben

alles andere als einfach sind – dass sie einander haben,

gibt Grund zur Hoffnung, dass sie auch die Zukunft gemeinsam

durchstehen werden. Nina Brutsche

Anna Maria Stadler

Maremma

Jung und Jung, 224 Seiten

€ [D+A] 23,–

Esther und ihre Jugendfreunde suchen sich für die

Sommerferien »[…] meistens Orte, wo schon irgendjemand

von uns als Kind mit seinen Eltern gewesen ist.

Als müssten wir Engramme abfahren, die sich uns in die

Kleinhirnrinde gefräst haben.«

Dieses Mal fahren sie gemeinsam nach Italien in

die Maremma. Die örtlichen Gegebenheiten sind jedoch

eigentlich nicht entscheidend. Alles ist im Grunde

nichts als Kulisse für die Gespräche und Gedanken, das

Ritual des Zusammenseins und die Erinnerungen an

frühere Ferien und Erlebnisse. Tatsächlich besticht die

Erzählung auch nicht durch die Handlung oder die Persönlichkeit

der Figuren, sondern vielmehr durch die

assoziativen Gedanken und genauen Beobachtungen.

Die sinnlichen Beschreibungen Esthers entführen

einen ganz unverhofft in die erholsame Geschwindigkeit,

mit der die Tage durch die kleine Gruppe hindurchziehen.

Dem steten Wechsel zwischen genauer Beobachtung

und Kontemplation zu folgen, fühlt sich an wie eine

Buchlänge Ferien. Wer sich nach vita contemplativa

sehnt und es diesen Sommer vielleicht nicht in den Süden

schafft, der oder die lese dieses Debüt.

Lea Müller

Gabrielle Zevin

Morgen, morgen und

wieder morgen

Aus dem Englischen von Sonia Bonné

Eichborn Verlag, 560 Seiten

€ [D] 25,– | € [A] 25,70

Nordamerika in den frühen 2000ern. Sadie und Samson

lernen sich als Kinder in einem Krankenhaus kennen

und freunden sich über ihr gemeinsames Interesse an

Videospielen schnell an. Dennoch verlieren sie sich aus

den Augen und treffen erst Jahre später zufällig wieder

aufeinander. Sie entscheiden sich dazu, gemeinsam ein

Videospiel zu entwickeln, und holen dazu Sams Mitbewohner

an Bord. Das Spiel wird ein Riesenhit, zieht

aber auch schwerwiegende Folgen nach sich, die ihre

Freundschaft auf eine harte Probe stellen.

Der Roman bildet eine spannende literarische Verbindung

zwischen der realen und der virtuellen Welt.

Gabrielle Zevin zeichnet die Figuren so realistisch und

menschlich, dass man sich auch nach den fünfhundertsechzig

Seiten noch wünscht, die Protagonist*innen

weiter begleiten zu dürfen.

Das Buch ist nicht nur für Fans und Kenner*innen

von Games. Es ist eine berührende Geschichte über alle

Arten zwischenmenschlicher Beziehungen, das Erzählen

von Geschichten und das Erwachsenwerden.

Debby Stoffel

Mohamed Mbougar Sarr

Die geheimste Erinnerung

der Menschen

Aus dem Französischen von

Holger Fock und Sabine Müller

Hanser, 448 Seiten

€ [D] 27,– | € [A] 27,80

Ein junger senegalesischer Autor sucht nach einem verschollenen

Kultbuch und seinem legendären Verfasser.

Der mysteriöse Schriftsteller T. C. Elimane wurde in

den 1930er-Jahren in Paris als literarische Sensation

gefeiert. Ein afrikanischer Autor, aus der Kolonie, der

als der »schwarze Rimbaud« galt. Doch ebenso schnell

wurde er rassistisch angefeindet, und nach einem Skandal

verliert sich seine Spur. Auf diese Suche nimmt uns

der Protagonist Diégane mit, und mit ihm verstrickt

sich die Geschichte immer mehr in ein Labyrinth aus

Geschichten auf verschiedenen Zeitebenen und auf

drei Kontinenten.

Mohamed Mbougar Sarr, geboren 1990 in Dakar, erhielt

für den Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen

den Prix Goncourt 2021, den wichtigsten Preis für

französischsprachige Literatur.

Der vielschichtige und meisterhaft komponierte

Text ist ein großes Lesevergnügen und ein Lobgesang

auf die Kraft der Literatur. Er verhandelt neben der krimihaften

Rekonstruktion eines rätselhaften Schriftstellerlebens

aber auch gesellschaftliche und historische

Fragen.

Wie wird in Frankreich über Literatur aus Afrika gesprochen?

Und wie mit dem komplizierten kolonialen

Erbe umgegangen? Laurin Jäggi

Monique Roffey

Die Meerjungfrau

von Black Conch

Aus dem Englischen von

Gesine Schröder

Tropen Verlag, 240 Seiten

€ [D] 22,– € [A] 22,70

Ein riesiger, silbergrau schimmernder Fischschwanz,

lange, pechschwarze Dreadlocks, der Körper voller geheimnisvoller

Tätowierungen. Die Meerjungfrau, die

1976 von amerikanischen Fischern vor der Küste Trinidads

aus dem Wasser gezogen wird, entspricht nicht

unbedingt der gängigen Vorstellung eines solchen Wesens.

David, einem damals noch jungen Fischer aus Black

Conch, war die Meerjungfrau bereits zuvor auf einer seiner

Fahrten aufgefallen. Er hat sie darauf immer wieder

aufgesucht und eine erste zarte Bindung zu ihr aufgebaut.

Als er sie dann am Haken baumeln sieht, schneidet

er sie kurzerhand los und versteckt sie bei sich in der

Badewanne. Bei ihm verwandelt sich das Fischwesen

nach und nach zurück in die Frau, die sie vor Hunderten

von Jahren gewesen war, und es beginnt für die beiden

eine kurze Zeit der Glückseligkeit.

Ein schillerndes, oftmals auch raues, modernes

Märchen, welches alte Mythen geschickt mit aktuellen

Themen verwebt und dessen fremdartiger Charme den

Leser, die Leserin sofort in seinen Bann zieht.

Doris Widmer

librium bücher ag

Theaterplatz 4 CH-5400 Baden

Telefon + 41 - 0 - 56 - 2 22 46 66

buch@librium.ch

www.librium.ch

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Friedrich Christian Delius

»Darling, it’s Dilius!«

Erinnerungen mit großem A

Rowohlt Berlin Verlag, 320 Seiten

€ [D] 24,– | € [A] 24,70

Wie schreibt man über das eigene Leben? Wie findet

man eine dem Leben, jedem Leben gemäße Form? Für

Friedrich Christian Delius, der in diesem Jahr 80 Jahre

alt geworden wäre, war eines ausgeschlossen: ein chronologisches

Erzählen biografischer Stationen. Aber wie

dann? Er kommt auf eine unglaublich originelle und bezwingend

einfache sowie verschmitzte Idee: Ich erzähle

mein Leben frei, assoziativ, sprunghaft und lebendig,

ohne am Ende an ein solches zu stoßen. Welch ein Einfall!

Denn jedem Anfang liegt ein Zauber inne. So komponiert

und collagiert, ordnet und betrachtet er sein

Leben, indem er zurücktritt, den Buchstaben A nimmt

und blitzlichternd, scharfsinnig und heiter aus seinem

Leben erzählt.

Ein Leben voller A… nfänge.

So fragmentarisch der erste Anschein, blicken wir

Leser auf ein erfülltes, ereignisreiches Leben, das von

einer bewundernswert klaren Haltung und politischer

Aufklärungskraft, großer Liebenswürdigkeit, von Empathie,

Sensibilität, von unerschöpflichem, leisem Humor

und dem Willen zur Form zeugt. Schleichers Buchhandlung

verdankt diesem Autor unvergesslich eindrückliche

Abende im Dahlemer Autorenforum.

Wenn Du nur auch noch B und C und D usw. hinzufügen

könntest, lieber Christian.

Silke Grundmann-Schleicher

LUKAS BÄRFUSS

VATERS KISTE. EINE GESCHICHTE ÜBER DAS ERBEN

Rowohlt, 95 Seiten, € [D] 18,– | € [A] 18,50

DIE KRUME BROT

Rowohlt, 256 Seiten, € [D] 22,– | € [A] 22,70

»Meine Herkunft bleibt ungewiss. Ich könnte darüber

nicht glücklicher sein«, stellt Lukas Bärfuss am Ende

seines literarisch-essayistischen Textes Vaters Kiste fest,

der sich mit dem Erben im ökonomischen und soziologisch-psychologischen

Sinne auseinandersetzt.

Fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod seines Vaters,

der schon zu Lebzeiten abwesend war, öffnet Bärfuss

eine von ihm geerbte Bananenkiste, die Zeugnisse eines

Lebens in Armut enthält. Auch ihm sind die Mahnungen

und Schuldscheine aus eigener Erfahrung bekannt

und zeigen, wohin sein Leben hätte führen können. Die

eigene erfolgreiche Entwicklung sieht Bärfuss in seinem

Mangel an Erbschaft begründet, der ihm die Freiheit

gab, sich selbst zu erfinden, und ihn weder geistig

noch finanziell fesselte – obwohl, wie er bemerkt,

auch sein Vater ein Geschichtenerzähler gewesen sein

muss, der im kleinen Berner Oberland immer wieder

Mitmenschen überreden konnte, ihm Geld zu leihen.

Von dieser Position aus stellt Lukas Bärfuss das gesamte

Konzept des Erbens infrage, das hauptsächlich reichen

Ge sellschaften vorbehalten ist, und erweitert den Begriff

auf die Umwelt, die wir unseren Kindern hinterlassen,

den Müll im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Dabei

schlägt er spannende Kapriolen, die zum Nachdenken

anregen, ob man mit ihm übereinstimmen mag oder

nicht.

In seinem neuen Roman Die Krume Brot lassen sich

diese Gedanken wiedererkennen.

Adelina, das vermeintlich unbegabte Kind italienischer

Einwanderer in der Schweiz, findet sich in den

1970er-Jahren als alleinerziehende Mutter wieder, die

trotz harter Arbeit immer am Rande des Abgrunds balanciert.

Damit steht sie in der Tradition ihrer Familie,

deren Väter ihre Kinder aus unterschiedlichen Gründen

stets als Enttäuschung oder Belastung empfanden. Wie

Adelina versucht, sich und ihre Tochter aus diesem Teufelskreis

zu lösen, beschreibt dieser Roman, der wie das

Essay keine einfachen Lösungen bietet.

Christine Mathioszek

SIRKA ELSPASS

ICH FÖHNE MIR MEINE WIMPERN

Gedichte.

Suhrkamp Verlag, 80 Seiten

€ [D] 20,– | € [A] 20,80

Sirka Elspaß trifft mit dem Ton in ihren Gedichten einen

bestimmten Nerv bei mir, der mich schmunzeln

und melancholisch werden lässt. Ihre Gedichte handeln

vom Erwachsenwerden, von Alltagssituationen. Davon,

mit dem Leben klarzukommen, und nicht zuletzt von

der Beziehung zu ihrer Mutter. Ihre Gedichte sind meist

kurz, die Themen und Verse einerseits aufgewühlt, aber

auf eine gewisse Weise auch klar. Ihre Themen, ihr Ton

werden vor allem jüngere Menschen ansprechen. Vielleicht

können aber ältere Leute durch ihre Gedichte einen

Blick in die Gefühlswelt von jungen Erwachsenen

heutzutage werfen. Häufig spricht sie ernste Themen an

wie Essstörung und Depression, sie verarbeitet ihren

Schmerz. Sicher können sich viele junge Leute mit diesen

Schwierigkeiten identifizieren. Der oft mitschwingende

Humor macht ihre Gedichte aber besonders zugänglich.

Johanna Hummelt

VOLKER REINHARDT

MONTAIGNE

philosophie in zeiten des krieges

Verlag C.H. Beck, 330 Seiten

€ [D] 29,90 | € [A] 30,80

»Mich […] berührt und beschäftigt an Montaigne heute

nur dies: wie er in einer Zeit, ähnlich der unsrigen, sich

innerlich freigemacht hat, und wie wir, indem wir ihn

lesen, uns an seinem Beispiel bestärken können.« Wie

Stefan Zweig Montaigne und sein Werk in den düsteren

40er-Jahren aufnimmt, so fasziniert Montaigne bis heute

Leserinnen und Leser durch seine kühne subjektive,

vermeintlich zugängliche und verständliche Art, verfasst

im Frankreich des 16. Jahrhunderts, der Zeit grausamer

Religionskriege, von Pest und dramatischer Instabilität.

Dass die Fokussierung auf Subjektivität und Rückzug

aus dramatischer Zeit eine den Blick verengende

»Lesart« ist, klärt auf faszinierende Weise die neue, herausragende

und umfassende Montaigne-Biografie des

Historikers Volker Reinhardt. Die Essais dienen gern als

Zitaten-Steinbruch – Volker Reinhardt führt Montaigne

und dessen Werk systematisch und klug kommentiert

im historischen Kontext zusammen. Er möchte ihn in

»seiner ganzen Geschichtlichkeit«, erstaunlichen Vielfältigkeit

und auch Widersprüchlichkeit darstellen. Dabei

lüftet er ebenso sorgfältig strategische Beweggründe,

stilistische und editorische Besonderheiten. Montaigne

und sein Werk gewinnen durch Reinhardts sorgfältige

chronologische und thematische Einbettung. Sie eröffnet

immer wieder erstaunliche und anregende Deutungsmöglichkeiten.

»Ob der historische Montaigne ein

Montaigne zum Liebhaben ist, muss jeder und jede

selbst entscheiden. Sicher hingegen ist, dass sein Werk

das Leben der Lesenden verändern kann«, formuliert

Volker Reinhardt. Die Essais sind nach dieser Biografie

unbedingt neu zu lesen. Malcah Castillo

LISA WEEDA

ALEKSANDRA

Aus dem Niederländischen von

Birgit Erdmann

Kanon Verlag, 286 Seiten

€ [D] 25,– | € [A] 25,70

Gold ist das Geweih der Hirsche, das Symbol der Familie

Krasnov, Weiß, das Fell und das Leinen; Blau die

Blumen, Rot die Liebe. Baba Mari, Lisas Urgroßmutter,

bestickt ihr weißes Leinentuch außerdem auch mit

schwarzem Garn, denn Schwarz steht für die fruchtbare

Erde des Donbass und für allen Verdruss. In einer Geheimsprache

aus unterbrochenen oder jäh endenden

Linien, Namen und Farben stickt Baba Mari die Geschichte

ihrer Donkosaken-Familie heraus. Da ist ihr

Vater, der 1904 in den russisch-japanischen Krieg zieht

und als gebrochener Mann zurückkehrt. Da ist die Gemeinschaft

der Donkosaken, die als Strafe für ihren

Kampf auf der Seite des Zaren nach der Revolution »entkosakisiert«

und deportiert wird. Da ist ihre Familie, die

im Zuge der Bolschewisierung und »Entkulakisierung«

durch Brigaden von Roten vertrieben und ihres Getreides

beraubt wird, wobei die Ehrlosen sogar das Saatgut

verschleppen – aber die Familie überlebt den Holodomor,

wenn sie auch spindeldürre, fremde kleine Mädchen

mit geschwollenen Beinen begraben muss.

Als Baba Maris Tochter Aleksandra elf Jahre nach der

Hungersnot 1942 am Bahnhof von Luhansk steht und in

den deutschen Viehwaggon steigen muss, der sie als

»Ostarbeiter« in eine deutsche Fabrik befördern wird,

schenkt Baba Mari ihr das Tuch, sie soll es weitersticken

und niemals aus der Hand geben. Aleksandra kehrt nie

zurück in ihre Heimat – aus Angst, dort als Kollaborateurin

verhaftet zu werden, und weil sie in der Fabrik den

niederländischen und ebenfalls zur Zwangsarbeit verschleppten

zukünftigen Vater ihrer Kinder trifft.

Nun, 2014, soll Aleksandras Enkelin Lisa im Auftrag

ihrer Großmutter das Leinentuch zurück nach Luhansk

bringen, wo die Volksrepublik ausgerufen wurde. Es soll

ihrem Cousin Kolja helfen, denn er wird vermisst, das

Beharren auf seiner Freiheit, die in seiner Kosakenfamilie

immer an oberster Stelle stand, hat ihn in schreckliche

Schwierigkeiten gebracht.

In fantastischen Zeitsprüngen nimmt Lisa Weeda

ihre Leser mit auf eine Reise durch die bewegte Lebensgeschichte

ihrer Ahnen, deren bewaffneter Kampf für

Freiheit und Unabhängigkeit heute das Selbstbild vieler

Ukrainer prägt. Norma Cassau

schleichers buchhandlung dahlem-dorf

Königin-Luise-Straße 41 14195 Berlin

Telefon 0 30 - 84 19 02-0

info@schleichersbuch.de www.schleichersbuch.de

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lgbtqia+ 54

5 plus

Queerness ist in der Buchbranche angekommen

– was für ein Glück! Nicht nur in der Belletristik

überraschen Neuerscheinungen besonders

in großen Verlagen, auch in der Kinder- und

Jugendliteratur nimmt die LGBTQIA+-Bewegung eine

zunehmend wichtige Rolle ein. Aber ist diese Präsenz

nicht überfällig, ein Fingerzeig auf Lebensrealitäten, die

in unserer Gesellschaft längst selbstverständlich sind?

Für Menschen, die, um das englische Akronym mal aufzudröseln,

lesbian, gay, bi, transgender, queer, inter oder

agender sind, ist das Bewusstsein ihrer Identität keineswegs

neu. Vor allem in der Jugendkultur ist »Queer«

nicht mehr wegzudenken. Auf mich wirkt diese Offenheit

und das Selbstverständnis der Community beflügelnd

und stimmt hoffnungsvoll mit dem Blick auf

die Zukunft. Beim Blättern und Lesen in Kinder- und

Jugendbüchern wird allerdings auch die zu befürchtende

oder erfahrene Ablehnung deutlich, spiegelt sie doch

den gesellschaftlichen Status quo wider.

Dieser Text soll eine Ermutigung sein, sich queerer

Literatur zu widmen. Auch wenn Sie sich nicht als Teil

der LGBTQIA+-Community begreifen, ist es eine spannende

Gelegenheit, den eigenen Blick für mehr Diversität

zu öffnen. Und vielleicht sind Ihnen auch gelegentlich

queere Kinderbücher in die Hände gefallen, ohne

dass Sie es bemerkten, denn neben Neuheiten gibt es

ältere Titel, die die Thematik schon seit langem aufs Tableau

bringen. Es benötigt oftmals einen zweiten Blick,

da sie ohne einen plakativen Titel daherkommen, was es

umso schöner macht.

Worte formen

unser Denken

LGBTQIA+ im

Kinder- und Jugendbuch

Laura Trelle

Ein wunderbares Beispiel ist da Teddy Tilly, von Jessica

Walton. Die Geschichte einer Teddybärin, der schon

immer bewusst ist, dass sie nun mal eine Bärin ist. Allerdings

wird sie, seit die denken kann, Thomas genannt.

Ihre Gefühle werden immer dringlicher, die Traurigkeit

über dieses Missverständnis stetig größer, bis sie es

nicht mehr aushält und sich ihrem besten Freund Finn

offenbart. Wider Erwarten hat der kein Problem damit,

möchte er doch nur, dass es Tilly besser geht und dass

ihre Freundschaft bestehen bleibt, an der sich auch

nichts ändert, bloß der Name und, hier symbolisch für

Identifikation zum Geschlecht, Tillys Schleife im Haar

statt wie bisher am Hals. Ein Bilderbuch für die Kleinen,

das mit wenig Worten und eckig anmutenden Illustrationen

die Gefühle der Protagonist*innen deutlich macht

und den Fokus auf die notwendige Akzeptanz gelegt.

Das Buch Der Katze ist es ganz egal, verfasst von

Franz Orghandl und illustriert von Theresa Strozyks,

zeigt, dass das Sprechen über Rechte von Transmenschen

auch mit viel Spaß und Witz funktioniert. Orghandl

erzählt mit feinstem österreichischen Humor die

Geschichte von dem neunjährigen Leo, der fortan mit

einem neuen Namen angesprochen werden möchte,

nämlich mit Jennifer. Wunderbar selbstbewusst eröffnet

Jennifer diese Tatsache ihrer Familie und Freund*innen.

Alles ist ganz »leiwand«, nur ihr Vater ist skeptisch und

reagiert mit Abneigung. In einfacher Sprache erfasst

Jennifer, wie dringlich und wichtig ihr die Sache ist, und

bringt auf den Punkt, welche Rolle die Erwachsenen

spielen, denn sie bemerkt, dass die Leute anscheinend

denken, sie würde erst dann ein Mädchen, wenn man es

ihr auch zugesteht. Mit Freund*innen, guten Lehrer*-

innen und großen Sprüngen über den eigenen Schatten

wird zum Schluss alles gut. Orghandl verhandelt ein großes

Thema mit so viel Witz und Zuversicht, dass es einem

leicht ums Herz wird. Die Entwicklung der Eltern

wird hier schön gezeichnet und zeigt, wie sie mit ihren

eigenen Rollenbildern konfrontiert werden und wie viel

Mut und Überwindung es ihnen abverlangt, sich diesen

zu stellen, und wie sehr es sich lohnt.

Queer sein bedeutet nicht nur trans, sondern auch

schwul oder lesbisch sein. Ein wunderschön warmes

Buch von Nora Dåsnes beschreibt, was es bedeuten

kann, zu bemerken, dass man auf das gleiche Geschlecht

steht – im üblichen Gefühlschaos des ersten

Verliebtseins.

In Regenbogentage startet Tuve in die siebte Klasse

und freut sich auf ihre besten Freund*innen, doch etwas

hat sich während der Ferien verschoben. Eine der beiden

hat plötzlich einen Freund und möchte ab jetzt nur

noch jugendlich und cool sein. Während die Dritte im

Bunde genervt ist von dem ganzen Verliebtsein, steht

Tuve zwischen den Stühlen. Denn auch sie verliebt sich

Hals über Kopf, in die Neue, Miriam. Ob sie auch Wimperntusche

tragen und reif sein muss, um verliebt sein

zu dürfen, oder ob das auch ganz anders geht, ist nur

eine von vielen Fragen. Dåsnes Debüt ist eine Mischung

aus Tagebuchroman und Comic, gespickt mit Chat-

Nachrichten. Flächige Zeichnungen fangen gekonnt

Stimmungen und Gefühle ein. Hier wird nicht nur eine

erste zarte Liebe erzählt, sondern auch die Bedeutung

und der Rückhalt von Freund*innen, wenn es darum

geht, sich selbst kennenzulernen und weiterzuentwickeln,

denn die Pubertät stellt alles auf den Kopf. Das

schließt auch die Beziehung zu den Eltern ein, im Fall

der Geschichte Tuves der alleinerziehende Vater. Denn

auch der ist in mancherlei Hinsicht überfordert und holt

sich Rat bei Podcasts und tauscht sich mit anderen Elternteilen

aus, um seiner Tochter und auch sich selbst

gerecht zu werden. Tuves Ziel ist es, herauszufinden,

was sie fühlt und braucht. In ihrem Tagebuch tauchen

Notizen einer Internetrecherche auf – ihr wird klar, dass

sie lesbisch ist, und damit verändert sich auch ihr Blick

auf ihre Vorstellung von Liebe.

Es wird deutlich, wie Worte unser Denken formen.

Grund genug, die eigenen Worte immer wieder zu hinterfragen

und offen für die Fluidität und Möglichkeiten

von Sprache zu sein, die in Debatten um Geschlecht

und Diversität eine so wichtige Rolle spielt.

Tauchen bei dem Wort »queer« sowohl Fragezeichen

als auch Neugier auf, ist es hilfreich, nachzuschlagen.

Eine großartige Möglichkeit bietet da Queergestreift von

Kathrin Köller und Irmela Schautz. Das Buch gibt einen

Einblick in die unterschiedlichen Communitys der

LGBTQIA+-Bewegung und setzt sich mit deren Fragestellungen

auseinander. Es klärt auf, spricht soziale,

rechtliche und gesundheitliche Themen an und lässt

dabei viele junge Personen selbst zu Wort kommen.

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Laura Trelle hat Vergleichende Kulturwissenschaften in

Regensburg studiert. Sie arbeitet als Buchhändlerin in der Buchhandlung

Dombrowsky, wo sie auch ihre Ausbildung absolviert

hat.

Köller und Schautz richten das Wort ganz direkt an

Menschen außerhalb der queeren Community. Sie wollen

Hürden abbauen, den Blick für Diversität öffnen und

deutlich machen, dass Rechte für LGBTQIA+-Personen

Menschenrechte sind. Sprache ist hier grundlegendes

Werkzeug. Tauchen Menschen in unserer Sprache nicht

auf, werden sie auch in unserem Denken marginalisiert.

Benutzen wir diskriminierende Worte, beeinflussen sie

nicht nur unsere Sichtweise, sondern verletzen auch die

betroffenen Personen. Eileen, eine jugendliche Person,

die in Queergestreift zu Wort kommt, trifft es auf den

Punkt: »Ihr [die ältere Generation] seid mit anderen

Idealen und Werten aufgewachsen als wir, doch für mich

ist das keine Entschuldigung, sich aktuellen Thematiken

zu entziehen und sich als teilnahmslos zu erklären.

Denn ebenso wie der Radfahrer, der beim Vorbeifahren

›Schwuchtel‹ ruft, ist die Mutter, die die Reihenfolge der

Buchstaben grundsätzlich vertauscht, Teil der Bremse

des gesamtgesellschaftlichen Wandels in Richtung Inklusion,

Akzeptanz und Offenheit. Wir sind nicht nur die

Buchstaben LGBTQIA+. Dahinter stecken echte Menschen.«

Sprache hinterfragen geht auch spielerisch und mit

viel Wortwitz, was besonders mit Kindern Spaß macht.

Der jaja Verlag hat mit machtWorte! einen ganz neuen

Rundgang durch das Alphabet vorgelegt. Jedem Buchstaben

werden ein Satz und ein kurzer erklärender Text

plus Zeichnung gewidmet. Jeder Text schließt mit einer

Frage ab, die zum Diskutieren und Philosophieren einlädt.

Dem »N« folgt der Satz: »Die Nächstenliebe des

Norm_Aals macht den Nixer normal.« Er bezieht sich

auf die Anerkennung, die eine glückliche Existenz und

ein Gefühl der Zugehörigkeit ermöglicht. Die Lesenden

bleiben mit der Frage zurück, warum es überhaupt eine

Unterscheidung zwischen normal und nicht-normal

gibt. Eine Antwort lässt mit einem Vorwärtsblättern

zum »M« finden, das sich auf den Titel bezieht: »Macht

Worte!«, steht dort. Kurz und simpel wird erklärt, wie

machtvoll Worte sind, dass sie Wirklichkeit schaffen,

den eigenen Platz in der Gesellschaft bezeichnen und

den von anderen Personen. Diese Macht setzt einen verantwortungsvollen

Umgang mit Sprache voraus, der

auch, wie das Buch beweist, viel Spaß machen kann.

Diese Beispiele sind nur ein kurzer Abriss einer ganzen

Reihe von Titeln von, für und über Menschen aus

der LGBTQIA+-Bewegung, die deutlich machen, was

wichtig ist im Umgang mit der Thematik. Offenheit, Interesse,

Akzeptanz und Respekt. Es ist okay, nicht alles

zu wissen, das habe ich auch bei Gesprächen mit Menschen

aus der Community und mit Angehörigen gelernt.

Doch das Hinterfragen und Nachdenken über die bestehenden

Strukturen unserer Gesellschaft ist Teil eines

offenen Umgangs miteinander.

Bücher sind da ein wunderbarer Zugang. Gehen Sie

in die Buchhandlung Ihres Vertrauens und fragen Sie

nach Büchern über »dieses LGBTQIA-Ding«, dann ist es

irgendwann gar nicht mehr so schwer.

Jessica Walton

Teddy Tilly

Illustriert von Dougal Macpherson

Übersetzung von Anu Stohner

Fischer Verlag, 32 Seiten, € [D] 14,99 | € [A] 15,50

ab 4 Jahren

Franz Organdl

Der Katze ist es ganz egal

Illustriert von Theresa Strozyk

Klett Kinderbuch Verlag, 104 Seiten, € [D] 13,– | € [A] 13,40

ab 9 Jahren

Nora Dåsnes

Regenbogentage

Übersetzung von Katharina Erben

Klett Kinderbuch Verlag, 256 Seiten, € [D] 18,– | € [A] 18,50

ab 10 Jahren

Kahrin Köller und Irmela Schautz

Queergestreift

Carl Hanser Verlag, 288 Seiten, € [D] 22,– | € [A] 22,70

ab 11 Jahren

machtWorte!

mit Texten von Cindy Ballaschk, Maria Elsner,

Claudia Johann und Elisabeth Weber

Illustriert von Ka Schmitz

jaja Verlag, 60 Seiten, € [D] 16,– | € [A] 16,50

ab 6 Jahren

Weitere Empfehlungen:

Kirsten Reinhardt

Clara. Meine keine schwester von nebenan

Illustriert von Christiane Fürtges,

Knesebeck, 32 Seiten, € [D] 16,– | € [A] 16,50

ab 4 Jahren

w

Hansjörg Nessensohn

Mut. Machen. Liebe.

Ueberreuter Verlag, 343 Seiten, € [D] 18,– | € [A] 18,50

ab 14 Jahren.

Noa Lovis Peifer und Linu Lätitia Blatt

Untenrum. Und wie sagst du?

Illustriert von Yayo Kawamura,

Beltz & Gelberg, 38 Seiten, € [D] 16,– | € [A] 16,50

ab 4 Jahren

Papa und Mika machen Urlaub

am Strand. Da klingelt der

Eiswagen! Nichts wie hinterher!

48 S., Pappband, € 15,- [D] / 15,50 [A] / ISBN 978 3 89565 438 1 / ab 4

Moritz

lgbtqia+ 57

Bei der Jagd

über die Insel

helfen ein

Esel mit Hut,

die Gemüsefrau,

ein

Busfahrer, ein

Wasserflugzeug

und

mehrere

Fallschirmspringer.

Ein

turbulente

Geschichte,

die Lust

auf Sommer

macht.

5 plus



verleger verlegen 58

Das Wunder

von Mailand

verleger verlegen 59

Nouvelle Vague all’italiana:

Roberto Calasso und eine

Bücherschlange namens Adelphi

Volker Breidecker

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© Adelphi Edizioni

In ihrem märchenhaft-surrealen Roman Iguana

aus dem Jahr 1965 (dt. zuletzt bei Wagenbach) kolportierte

Anna Maria Ortese einen Mailänder Verleger,

dem sie den Fantasienamen Boro Adelchi gab. Der

Autorin zweier großer neapolitanischen Epen, deren

Kenntnisnahme so manche Aufregung um Elena Ferrante

hätte überflüssig machen können (Neapel liegt

nicht am Meer, Friedenauer Presse; dort erscheint in

Kürze auch Der Hafen von Toledo, übersetzt von Marianne

Schneider), nimmt man die ironische Charakterisierung

ihres künftigen Verlegers Roberto Calasso als

»jungen Verleger der Nouvelle vague« gerne ab. Calasso,

der vor zwei Jahren im Alter von achtzig Jahren verstarb

und sein Grab in Venedig an der Seite seines Freundes

Joseph Brodsky gefunden hat, war auch ein leidenschaftlicher

Cineast, der mit den Pariser Autorenfilmern

der Nouvelle Vague die Verehrung des Werks von Alfred

Hitchcock teilte. Dessen Meisterwerken Vertigo und

Rear Window widmete der Verleger noch wenige Wochen

vor seinem Tod als Band 765 der Piccola Biblioteca

Adelphi eine Sammlung meditativer Skizzen, Glossen

und Aphorismen (»Allucinazioni americane«), auf die

zurückzukommen sein wird.

»Nouvelle Vague« war dann auch wieder, als der italienische

Verleger des Gesamtwerks von Elias Canetti, in

ein heiteres Gespräch mit dem Nobelpreisträger vertieft,

für ein schwarz-weißes Standfoto à la Raoul Coutard

inmitten einer geschäftigen Autowerkstatt posierte.

»Nouvelle Vague all’italiana« hingegen war es, als zu

Beginn der sechziger Jahre die Geburt des Adelphi Verlags

aus einem Akt der Sezession vom herrschenden Literaturbetrieb

erfolgte: Es war das Jahr der Beatles, das

Jahr der Rolling Stones, aber auch das Jahr von François

Truffauts Jules et Jim, von Jean-Luc Godards Vivre sa vie

(Die Geschichte der Nana S.) und von Michelangelo Antonionis

L’eclisse (Liebe 1962) mit Monica Vitti in der

Hauptrolle. Ihr ikonisches Antlitz sollte fortan nicht wenigen

Adelphi-Bänden als Vorbild für die Umschlagabbildung

gedient haben.

In einem Land, das damals in drei unverrückbar

geschlossene gesellschaftliche, geistige und kulturelle

Blöcke gespalten war – einen katholischen, einen kommunistischen

und einen liberal-laizistischen Block –,

bestand der Mailänder Sezessionsakt in der Abwendung

von der allzu monolithischen Kultur marxistischer Couleur

des damals führenden Turiner Verlagshauses Einaudi.

Das von den beiden abtrünnigen Mitarbeitern und

Kon sulenten Luciano Foà und Roberto Bazlen betriebene

Projekt einer Nietzsche-Edition hatte Einaudi aus

ideologischem Dünkel abgelehnt. Nun wurde sie zum

Gründungsdokument und Grundstein von Adelphi und

zur fortan verbindlichen Kritischen Gesamtausgabe von

Nietzsches Werken und Briefen, herausgegeben von

Giorgio Colli und Mazzino Montinari.

Unikate und Elemente

Doch während der einst ruhmreiche Einaudi Verlag

nach dem Verlust der kulturellen Hegemonie der italienischen

Linken seit Mitte der neunziger Jahre von Silvio

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Berlusconis Verlagsriesen Mondadori kannibalisiert und

auf ein trauriges Nischendasein heruntergefahren wurde,

ist es Roberto Calasso, der sich noch als Student und

Meisterschüler des großen Gelehrten Mario Praz den

Adelphi-Gründern hinzugesellt hatte, wenige Jahre vor

seinem Tod gelungen, die feindliche Übernahme des

Verlags mittels einer wundersamen Kapitalerhöhung

durch den Aufkauf der Mehrheitsanteile glücklich abzuwehren.

Seither sind sogar Stammautoren von Einaudi

wie der Historiker Carlo Ginzburg, der Sohn der Schriftstellerin

und vormaligen Einaudi-Cheflektorin Natalia

Ginzburg, mitsamt seinen Werken zu Adelphi übergelaufen.

Getreu den Maximen der Adelphi-Hausgötter Nietzsche,

Hofmannsthal und Joseph Roth, wonach geistige

Tiefe sich nirgendwo besser als an der Oberfläche verberge,

kann man nicht über Adelphi reden, ohne über

die äußere Gestalt der Bücher und ihrer Einbände zu

sprechen: Jedem Besucher einer besseren italienischen

Buchhandlung – ob klein oder groß – ist das Glücksgefühl

vertraut, wenn er im Labyrinth der Sparten und

Stapelwaren plötzlich vor einer oder gleich mehreren

vielfarbigen Bücherwänden mit der Aufschrift »Adelphi«

steht.

Hier erfasst ihn das helle Staunen darüber, was vielleicht

auch anderswo, zum Beispiel in Deutschland und

im übrigen Europa, möglich und machbar wäre, wenn

nur ein tollkühner und wagemutiger Verleger, mit einem

unbestechlichen Sinn für Qualität ausgestattet,

sich traute, sämtliche Betriebswirte, Art-Directors und

Vertriebsingenieure zum Teufel zu jagen: um wieder

Bücher zu machen, die schlichtweg gefallen und mit

»Wohllust« Hirn, Augen und Hände gleichermaßen ansprechen,

ohne allergische Hautausschläge und Hustenanfälle

auszulösen.

Was in den Regalen mit den beiden Abteilungen der

Biblioteca Adelphi – der großen und der kleinen – versammelt

ist, alles im gleichen Format nebeneinandergereiht,

und allein durch die Farben der Einbände,

niemals aber nach bornierten Gattungen oder Sparten

aufgefächert ist, zeugt seit nahezu sechs Jahrzehnten

stolz und standhaft vom europaweit erlesensten verlegerischen

Programm. Nicht zufällig steht Adelphi im

weltweiten Ruf, der heimliche Traumverlag eines jeden

Verlegers zu sein, der noch etwas auf sich hält.

Dieses Wunder von Mailand, zeitlos klassisch und modern

zugleich, hat bis heute nichts von seiner Aura verloren.

Adelphi verlegt Bücher und keine »Produkte«,

von denen ein im roten oder schwarzen Porsche herbeirasender

Art-Director behaupten dürfe, dass er allein

wüsste, was ginge und was nicht und worüber und

wie schnell der gesuchte Konsument seine Produktentscheidungen

träfe, ob Buch, Zeitung oder Zahnpasta.

Bei Adelphi fungiert jedes Buch als Unikat und

ist doch zugleich konzipiert als ein bleibendes Element

und Teilhaber einer stetig erweiterten und wiedererkennbaren

Folge.

Das graphische Grundschema sämtlicher Buchreihen

wurde vor mehr als einem halben Jahrhundert bei dem

Fin-de-Siècle-Graphiker Aubrey Beardsley gefunden:

Ein die untere Hälfte der Einbandklappe einnehmendes,

sorgfältig ausgewähltes, zumeist geradezu emblematisches

Bild ist in einen mit feinem Strich gezeichneten

Rahmen eingefasst. Dazu kommt als Logo ein

schwungvoller Paso doble chinesischer Schriftzeichen

auf einer liegenden Mondsichel. Und das ganze Verlagsunternehmen

heißt nicht nur »Bibliothek«, sondern ist

und bleibt es auch mit jedem neuen, fortlaufend nummerierten

Band, der innerhalb der beiden Hauptreihen

lediglich mit einer reichen Farbskala von variablen Zwischentönen

changiert.

Buch für Buch wuchs Adelphi so zu einer einzigen, die

engen Grenzen der Gattungen und Sparten aufsprengenden

Bibliothek internationaler, vorwiegend mitteleuropäischer

Literatur und Essayistik – und zwar, neben

romanisch- und slawischsprachiger, insbesondere

deutschsprachiger Belletristik: weniger jedoch des einschlägigen,

für gewöhnlich aus dem protestantischen

Pfarrhaus stammenden Schaffens, sondern vielmehr

desjenigen, das übernationalen und universalistischen

Traditionen und Werten verbunden ist.

So verlegt Adelphi seit den frühen siebziger Jahren beispielsweise

kontinuierlich das Gesamtwerk von Joseph

Roth in Einzelausgaben und sorgte mithin für eine von

Italien – wo Roths Werk bis heute große Popularität genießt

– ausgehende Renaissance dieses im deutschsprachigen

Raum noch immer unzulänglich edierten

und viel zu wenig gelesenen galizisch-jüdischen Schriftstellers

und überzeugten Europäers.

Das Buch der Bücher

Während Adelphis Piccola Biblioteca sich mit broschierten

Erstausgaben für die Westentasche allmählich

Richtung Band 800 vorarbeitet, hat auch das

großformatige Hauptprogramm den Band 700 längst

überschritten: Unter dieser Jubiläumsnummer erschien

aus Calassos eigener Feder eine erst jetzt auch ins Deutsche

(von Marianne Schneider bei Suhrkamp) übersetzte

Nach- und Neuerzählung biblischer Geschichten

unter dem das gesamte Verlagsprogramm gewissermaßen

summarisch wieder auf den libro unico, »das eine,

einzigartige Buch«, zurückführenden Titel Il libro di

tutti il libri (Das Buch aller Bücher). Es ist die alte, bis

heute immer wieder von neuem beginnende Geschichte

des Weggehens von Menschen aus Haus und Heimat

und ihres Wanderns und Unterwegsseins nach – mit einem

Wort von Claudio Magris – »weit von wo«.

Rund zwanzig Titel – zehn umfangreichere und zehn

kleinere, vorwiegend essayistische Werke – umfasst Roberto

Calassos eigenes Œuvre, beginnend mit Der Untergang

von Kasch (1983) und dem Weltbestseller Die

Hochzeit von Kadmos und Harmonia (1988). »Irdisch«

gesprochen reicht die Spannweite dieser Bücher von

Baudelaires Paris und dem Venedig des Malers Tiepolo

über die literarischen Hauptstädte des einstigen Habsburgerreichs

Triest und Lemberg/Lwiw, Wien, Prag und

Budapest bis nach dem Altindien der Veden und, noch

weiter im Osten, nach Baudelaires Sehnsuchtsort Kamt

schatka. Oder, »coelestisch« ausgedrückt, von der Mythenwelt

des antiken Griechenland über die Erzählungen

und Bücher des Alten Testaments bis zur fernöstlichen

Götterwelt.

In 26 Sprachen übersetzt, funkeln Calassos Bücher von

sprachlicher Eleganz und kommen mit ebenso unaufdringlicher

wie selbstverständlicher Gelehrtheit daher.

Ihr Autor versteht sich selbst als eine Art »Glossograph«,

als Kommentator, Überträger, Wiedererzähler dessen,

was irgendwann und irgendwo schon einmal geschrieben

oder auch nur erzählt worden ist, freilich auch

als aufmerksamer Leser und Entzifferer dessen, was

vielleicht nie geschrieben, sondern vor Urzeiten allenfalls

ins Sanskrit übersetzt wurde. Mit leichten Händen

und sirenenhaften Klangfolgen bringt Calasso sonst getrennte

Gattungen und scheinbar unvereinbare diskursive

Formen miteinander in Einklang, gewiss auch um

den Preis des Rätselhaften und bisweilen Unergründlichen.

Das Motto zu seinem Buch aller Bücher hat Calasso dem

West-östlichen Diwan Johann Wolfgang Goethes entnommen:

»Und so dürfte Buch für Buch das Buch aller

Bücher dartun, daß es uns deshalb gegeben sei, damit

wir uns daran, wie an einer zweiten Welt, versuchen,

uns darin verirren, aufklären und ausbilden mögen.«

Was für ein Programm könnte umfassender und anspruchsvoller

für eine ganze Bibliothek sein!

Die Schlange und ihr Schwanz

Über die Jahrzehnte ist unter dem Namen Adelphi eine

schier endlos lange Bücherschlange entstanden, die

sich beständig in den eigenen Schwanz beißt, getreu

dem Muster von Weltliteratur als Literatur aller Zeiten

und Sprachen, Nationen und Religionen. Der Verleger,

der sein eigener Autor ist, ließ es sich dabei nicht nehmen,

die Klappentexte sämtlicher Bücher seines Verlagshauses

eigenhändig zu formulieren. Eine lesenswerte

Auswahl solcher Mikroerzählungen ist vor Jahren

bei Hanser in der Edition Akzente seines hiesigen Verlegerfreunds

Michael Krüger unter dem Titel Hundert

Briefe an einen unbekannten Leser erschienen.

»Meine Person aber«, so mahnte mich Roberto Calasso,

als ich vor Jahren von meiner damaligen Redaktion

nach Mailand geschickt wurde, um mit einem Doppelporträt

des Autors und Verlegers zurückkehren, »meine

Person, die lassen Sie bitte im Schatten!« Und um seinen

Worten ironischen Nachdruck zu verleihen, griff

Calasso kurz hinter sich wie in einen Zauberhut und

überreichte seinem Gast auch schon den wortgetreu

dazu passenden Titel aus Adelphis Piccola Biblioteca:

Mit Per favore, mi lasci nell’ombra sind die gesammelten

Gespräche und Interviews von Carlo Emilio Gadda

betitelt. Ähnlich dem launigen Gadda, jenem schreibenden

Ingenieur, der alle persönlichen Fragen zunächst

erschrocken abwehrte, sollte auch Calasso aus

seinem Leben und von seinem Lesen, Schreiben und

Verlegen zu erzählen beginnen.

Die literarische Wiederentdeckung

des Frühjahrs

Als Toni Muhr 1916 aus

dem Krieg nach Wien

zurückkehrt, gerät seine

Welt aus den Fugen.

Im Spannungsfeld

von Kriegsgeschehen

und gesellschaftlichen

Umbrüchen kämpft er

um Gerechtigkeit –

und um sein Eheglück.

Lese probe und

weitere

Informationen

zum Buch

verleger verlegen 61

Paul Zifferer: Die Kaiserstadt

Nachwort von Katharina Prager

Mit einem Essay von Rainer Moritz

Hardcover mit Schutzumschlag,

Lesebändchen

397 S. • € (D) 28,00 / € (A) 28,80

ISBN 978-3-15-011443-8

www.reclam.de



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vielen anderen wie Fleur Jaeggy (Calassos Ehefrau),

Tommaso Landolfi, Giorgio Manganelli, Sándor Márai,

Mario Praz. Vladimir Nabokov, V. S. Naipaul, Alberto Savinio,

Muriel Spark, Wislawa Szymborska, W. G. Sebald,

Irène Nemirovsky oder Simone Weil (seiner persönlichen

»Nothelferin« in den Grenzbereichen von Philosophie,

Religion und Wissenschaft).

was der im Film vorübergehend gehbehinderte – sciancato

bedeutet im übrigen »hüftlahm« oder »wackelig« –

James Stewart von seinem Fenster aus im Hinterhof sehen

und beobachten konnte: »Eine undurchdringliche

und durchsichtige Scheibe trennt das, was ich bis Ende

des Jahres 1954 erlebt habe, von dem ganzen Rest. So

fern er auch liegt, ist dieser Rest bereits Teil des Heute.«

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Kein Weg zu Roberto Calasso also, der nicht über Bücher

führte, gleich ob die eigenen Bücher oder die

Bücher der Freunde, lebender wie verstorbener: Mit

Calasso zu reden, hieß stets, über Bücher zu reden – und

auch über Autoren, nur über den Umweg und die Vehikel

ihrer Bücher, so wie diese selbst wiederum unaufhörliche

Zwiesprache halten mit ihren Vorgängern,

Zeitgenossen, Nachfolgern und deren Werken.

Gefragt zum Beispiel nach Ingeborg Bachmann, verlässt

Calasso den Salon, verschwindet für einen Moment

im Verlies seiner großen Privatbibliothek, um mit

einem kassettierten Behältnis zurückzukehren: Es enthält

die fertigen Druckbogen zu Bachmanns Roman

Malina, mit einer liebenswürdigen persönlichen Widmung,

in Anspielung darauf, dass der gute Freund die

von letzter Korrekturhand autorisierte Druckvorlage

damals als reitender Bote dem Suhrkamp Verlag nach

Frankfurt überbringen sollte: »… begleitet … Dich begleiten

…«

Oder auf Aby Warburg angesprochen, von dem Calasso

schon 1971 einen Text über Nietzsche und Jacob Burckhardt

zu einem Zeitpunkt veröffentlichte, als kaum

ein deutscher Kunsthistoriker oder Feuilletonist diesen

heute zur veritablen akademischen Kulturindustrie gewordenen

Namen überhaupt nur vernommen hatte,

verschwindet er von neuem in seiner Bibliothek, die,

ähnlich wie die Warburg’sche, nach dem »Gesetz der

guten Nachbarschaft« geordnet ist. Bald darauf kehrt er

aus seinem Labyrinth mit einem ganzen Bündel von

Drucken zurück, die Aby Warburg in den 1920er-Jahren

qua Widmung seinen Kindern persönlich zugeeignet

hatte. Von den Nachkommen wurden sie offenbar achtlos

an Londoner Antiquariate verscherbelt, wo der bibliophile

Calasso und künftige (2008) Aby-Warburg-

Preisträger sie während seiner englischen Studienjahre

quasi aus der Grabbelkiste zog.

Calassos Philosophie des Büchermachens gemäß ist

»das Verlagshaus als Form eine Summe papierener

Objekte, die zusammengenommen durchaus auch als

ein einziges Buch aufgefasst werden können«. Oder als

Buch der Freunde nach dem Vorbild Hugo von Hofmannsthals,

der diesen Titel selbst schon von Goethe,

der den Diwan ursprünglich so nennen wollte, für sein

gleichnamiges Werk übernommen hatte, darin er Stimmen

jeder Couleur – eigene, fremde, angelesene, aphoristische,

anekdotische usw. – versammelt hatte.

Eine ganze Bibliothek im Kleinen wiederum, die Calasso

zu einer veritablen »Bibliothek der Freunde« hat

wachsen lassen, in der sich auch ein Jorge Luis Borges

hätte verlieren können. Versteht sich also beinahe von

selbst, dass Adelphi auch das schriftstellerische und poetische

Werk des großen argentinischen Bibliothekars

und Zauberers verlegt – neben den Werken von Hofmannsthal,

Kafka, Robert Walser und Joseph Roth, von

Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Elias Canetti,

Bruce Chatwin, Georges Simenon, Milan Kundera und

Nach seinem Tod ist das persönliche Gespräch abgerissen

und ganz oder endgültig zurück an die Bücher

delegiert. Doch wäre Calassso nicht Calasso gewesen,

hätte er nicht ein weiteres Vermächtnis zurückgelassen,

indem er just am Tag seines Todes zwei Bändchen mit

– erstmals – autobiografischen Texten erscheinen ließ.

In diskreter Weise rollen beide Titel noch einmal die alte

Frage auf, die schon dem entzückenden Buch von der

Hochzeit von Kadmos und Harmonia und auch wieder

dem »Buch aller Bücher« die Leitmelodie geliefert hatte:

»Aber wie hatte alles angefangen?«

Wo war der Anfang?

Und so erzählt das Bändchen der Piccola Biblioteca 767

in persönlichen Erinnerungen vom Titelhelden »Bobi«,

das ist bzw. war der Adelphi-Mitbegründer Roberto

Bazlen (1902–1965), die schillernde Figur eines mit einem

ganzen alt-mitteleuropäischen Kosmos zündender

Ideen und sprühender Sottisen ausgestatteten, mehrsprachigen

Triester Juden, der neben einem einzigen

Roman ganze Passagenwerke von Verlagsgutachten, Gedankensplittern,

Skizzen, Aufzeichnungen und Aphorismen

hinterlassen hat.

Schließlich erschien ebenfalls am Tag von Calassos Tod

ein weiteres Buch der Erinnerungen, seinen beiden noch

jungen Kindern sowohl gewidmet als auch erzählt. Es

handelt von den ersten dreizehn Jahren einer Kindheit

in Florenz, deren früheste Erinnerungen in die Schreckenszeit

der deutschen Besatzung vor der Befreiung

durch die Alliierten einsetzte: mit Schüssen durch eine

Fensterscheibe, die den Knaben haarscharf verfehlten,

mit der Angst um den Vater, der als Antifaschist zum

Tode durch Erschießen verurteilt worden war und nur

sehr knapp diesem Schicksal entging, mit dem Untertauchen

der Familie in wechselnden Wohnungen aus

der Furcht vor Geiselnahmen von Mutter und Kindern.

Natürlich ist da auch die Rede von den Lektüren und

von der éducation sentimentale des Knaben, dem man

den rätselhaften Kosenamen Memé Scianca verpasst

hatte, den das Büchlein auch als Titel führt. Es endet in

merkwürdigen Sätzen, die in frappierender Weise an die

doppelte Situation eines Zuschauers im Kino und des

Helden von Alfred Hitchcocks Rear Window erinnern,

darin alles erzählte Geschehen mit dem zusammenfällt,

Wie ein Menetekel aber schiebt sich zwischen den

Band 765 der Piccola Biblioteca Adelphi, der von den

»amerikanischen Halluzinationen« des Cineasten handelt,

und Band 767 über den Lehrmeister »Bobi« noch

ein als Band 766 erschienener Titel: Ausgerechnet Thomas

Bernhards Erzählung Ungemach über ein dem Untergang

geweihtes Patrimonium, das keiner der Erben

annehmen möchte und das deshalb der Auslöschung

anheimfällt: Una liquidazione verheißt der im deutschsprachigen

Original gar nicht vorhandene Untertitel

nur in der italienischen Ausgabe – bei Adelphi. Bleibt

zu hoffen, dass nicht auch alles enden könnte, was so

überzeugend gut einmal angefangen hat, um gleich der

Reihenzählung von Adelphis Bibliothek nicht enden zu

wollen.

Zuletzt erschien der Titel:

Roberto Calasso

Das Buch Aller Bücher

Aus dem italienischen von

Marianne Schneider,

Suhrkamp Verlag 2022,

600 Seiten, € [D] 38,–

Dr. Volker Breidecker, geb. 1952 in Mainz, Studium

der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft,

Politologie und Kunstgeschichte. Freier Autor und Journalist.

Zuletzt betreute und versah er den in der ANDEREN BIBILIOTHEK

herausgegebenen Band Joseph Roth. Rot und Weiß mit einem

biografischen Essay.

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aufgefallen, ausgefallen 64

Hacking Gutenberg

oder: Bessere Bücher für das 21. Jahrhundert

aufgefallen, ausgefallen 65

Ein Werkstattbericht

von Birgit Schmitz,

TOC Publishing Berlin

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Liebe Claire, ich schicke dir jetzt unser erstes

Buch. Schau’s dir an und sag mir, was du von der

Idee hältst, dass wir eine Letterpress-Ausgabe von

The Woman Upstairs machen.

Herzlich, Birgit

Die E-Mail an die Autorin Claire Messud schrieb ich

in den ersten Monaten nach der Gründung von »The

Other Collection«. Damals gab es noch jede Menge Verständnisschwierigkeiten,

wenn ich versuchte zu erklären,

was wir vorhatten. Was ist eigentlich Letterpress?

Wie limitiert? Warum auf Englisch, obwohl ihr in Berlin

sitzt? Und wie macht ihr das, dass die Autor*innen

jeweils 998 Exemplare signieren? Drückt man den Menschen

eines unserer Bücher in die Hand, dann verschwinden

die Fragen augenblicklich. Also schickte ich

die neugestaltete Aus gabe von Deborah Levys The Cost

of Living an Agent*in nen, Verlage und an die Autor*innen,

weil ohne deren Unterstützung, allein fürs Signieren,

alles hinfällig sein würde.

Liebe Birgit, das Buch ist eingetroffen und WOW! So

schön und elegant: dieses perfekte rotkehlchenblaue

Vorsatzpapier! Die fantastischen Illustrationen, die

rote Unterzeile, das blaue Lesebändchen, die Caslon/

William-Textschrift. Wie sich das Buch ohne Widerstand

öffnen lässt, ist eine Einladung – ich könnte

ewig so weitermachen. Es ist einfach erstaunlich.

Die Vorstellung, dass The Woman Upstairs eines Tages

in einer solchen Ausgabe vorliegt, einfach nur

wunderbar (wenn ich mich nicht um meine Kinder

kümmern müsste, würde ich mich für ein Jahr als

ein bescheidener Lehrling bewerben – ich wäre

glücklich, die Druckmaschinen zu reinigen und die

Buchstaben wieder in ihre Setzkästen zu sortieren,

und ich könnte von den Meistern bei der Arbeit

lernen).

Deine Claire

Der Anfang war gemacht, die Autorin Claire Messud war

an Bord. Jetzt musste ich mich noch um die Rechte

kümmern, mit den Verlagen verhandeln und der Agentin

Bescheid geben. Aber wer würde bei solcher Begeisterung

etwas dagegen haben?

Letterpress oder Buchhochdruck ist das, was bis in die

1960er-Jahre die gängige Form des Druckens war. Mit

beweglichen Lettern (so hatte es Gutenberg schon gemacht)

wurde direkt aufs Papier gedruckt, die Buchstaben

waren meist aus Blei (wenn sie größer wurden und

Blei zu schwer, verwandte man Holz oder Plakadur – ein

Kunstharz). Dann kam Offsetdruck, bei dem die Farbe

indirekt auf das Papier übertragen wird. Da alles auf einer

Ebene ist, die gedruckten und ungedruckten Flächen,

entsteht kein Abdruck, und da viel Wasser dafür

nötig ist, erscheint das Druckbild auch eher gräulich als

schwarz. Inzwischen geht es auch ohne diesen Zwischenschritt,

und alles kommt direkt aus dem Digitaldrucker.

Als 1985 Franz Greno mit Hans Magnus Enzensberger

»Die Andere Bibliothek« gründete, waren es noch

andere Zeiten. Greno hatte in seiner Druckerei alles, was

es brauchte, um Bücher mit klassischem Bleisatz zu machen.

Das war damals schon kostspielig, aber es gab

eben noch die Druckerpressen, Schriftgießereien und

vor allem Menschen, die das Handwerk beherrschten.

Fast 40 Jahre später sieht das anders aus: Niemand

könnte Bleisatz bezahlen. Die Pressen und Buchstaben

sind in den Museen verschwunden, und wenn sie noch

benutzt werden, dann für Postkarten, Visitenkarten und

spezielle Kunstprojekte.

Viel spricht nicht dafür, gerade jetzt wieder damit

anzufangen, auch Bücher im Buchhochdruck zu produzieren,

zumindest wenn man es ausschließlich unter

dem Kostenaspekt betrachtet. Für uns – das sind der

Typograf Erik Spiekermann, die Designerin Susanna

Dulkinys und ich, verantwortlich für das Programm –

überwiegen aber die Vorteile (und die Pandemie kam

ausnahmsweise ganz gelegen, weil niemand da war, der

mit guten Gegenargumenten uns doch noch von der

Idee hätte abbringen können). Die Qualität übertrifft

alle anderen Druckverfahren, der tiefe, satte Eindruck

sorgt für ein kontrastreicheres Druckbild und damit für

bessere Lesbarkeit, und natürlich vor allem für ein haptisches

Erlebnis. Die Bücher sind beständiger und das

Druckbild haltbarer. Und genau das wollten wir: Bücher

in der bestmöglichen Qualität, Typografie, die sich all

dessen bedient, was der Computer und die digitale Welt

bereithält, Materialien, die eine Freude sind, wenn man

sie anfasst.

Erik Spiekermann und seine Kolleg*innen hatten

sich schon eine Weile damit beschäftigt, wie man Letterpress

ins 21. Jahrhundert überführen könnte, als ich dazustieß.

Den Satz machte er digital in InDesign, schickte

dann alles an einen eigens angefertigten Laserbelichter,

der Polymer-Platten bis zu einer Größe von 50 × 70 cm

be arbeiten kann. Die Größe ist wichtig, weil damit ein

Druckbogen (darauf passen acht Buchseiten) optimal

genutzt wird. Auf den Polymer-Platten entsteht nach

der Belichtung das Relief, das es später für den Druck

braucht. Jetzt musste nur noch ein Weg gefunden werden,

alles in eine Heidelberger Zylinder-Presse einzubauen.

Ein großes Magnetfundament war die Lösung.

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Roman, 224 Seiten, ab 14 Jahren, 15,– €

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Niemand musste also mehr Bleibuchstaben sortieren

und mühsam die schweren Druckvorlagen schleppen.

Das Verfahren stand. Doch was wären die richtigen

Bücher? Klassiker, Wiederentdeckungen? Das gibt es alles

schon, und andere Verlage machen da tolle Arbeit.

Doch was ist mit den Klassikern von morgen, der großartigen

Literatur, die gerade jetzt entsteht? Wenn wir

also schon beim Druckverfahren einen neuen Weg einschlugen,

warum nicht auch bei der Auswahl der Bücher?

Klar, das war aufwendiger, Rechte mussten ge-

Jung, jüdisch

& verliebt

Hoodie Rosens Alltag ist

ziemlich unspektakulär – bis er

Anna-Marie kennenlernt und

sie gemeinsam Hakenkreuze

von einem jüdischen Grab

entfernen. Für Hoodie eine

gute Tat – für seine Familie

Verrat. Denn Anna-Marie ist

nicht nur ein nichtjüdisches

Mädchen, sondern noch dazu die

Tochter der Bürgermeisterin, die der jüdisch-orthodoxen

Gemeinschaft den Kampf angesagt hat. Plötzlich wird

Hoodies heimelige Welt sehr ungemütlich ...

© Dana Lédl

klärt, Autor*innen vom Signieren überzeugt werden.

Aber es würde auch Spaß machen, sich zu fragen, welche

Bücher jene Relevanz haben, dass sie als exklusive

Letterpress-Ausgabe erscheinen sollen. Originalausgaben

kamen erst einmal nicht infrage, weil das meinem

verlegerischen Ethos widersprach: Jeder Text sollte doch

so vielen Menschen wie möglich zugänglich sein und

nicht bloß als hochpreisige, limitierte Auflage.

Liebe Claire, so weit läuft alles gut. Inzwischen habe

ich auch die Verträge bekommen und unterschrieben.

Doch bevor wir weitermachen, brauchen wir

Papier. Vielleicht hast du schon davon gehört, dass

es weltweit eine Papierkrise gibt. Wir verwenden für

die Innenseiten ein Werkdruckpapier von Schleipen.

Und die Firma ist gerade verkauft worden. Es kann

auch sein, dass die Papiermühle insolvent ist. Jedenfalls

ist es gerade schwierig, an das entsprechende

Papier zu kommen. Bevor wir aber etwas Neues probieren,

warten wir ab, dass die Produktion doch

wieder anläuft. Das bedeutet, ich kann dir gerade

nicht sagen, wann dein Buch erscheint.

Herzlich, Birgit

Die Pandemie hatte uns von Anfang an begleitet, aber

eigentlich lief alles gut, als im Herbst 2020 das erste

Buch erschien (wenngleich die Signierseiten, die wir

Deborah Levy nach Griechenland schickten, immer

noch in der Pirate Bay Bar liegen – die Autorin war wegen

möglicher Reiseeinschränkungen hastig nach London

zurückgekehrt, während die Post noch unterwegs

war. Wir mussten die Seiten also noch mal drucken, und

in London kam dann alles gut an). Doch in den darauffolgenden

Monaten funktionierte so einiges nicht mehr

wie gewohnt. Beim Buchbinder brach Corona aus, und

die Arbeit stand fast vier Wochen still, jede Lieferung

dauerte länger, und schließlich gab es kein Papier mehr.

Bis zum Ende 2021 druckten wir noch aus den Beständen.

Es erschienen Chimamanda Ngozi Adichies Half of

a Yellow Sun und John Banvilles The Sea. Wir freuten

uns über die Auszeichnung »Schönste Deutsche Bücher«

und den »German Design Award« und nutzten die

Zeit, schon mal zu überlegen, wie wir die weiteren Bücher

gestalten wollten. Inzwischen hatte ich eine Reihe

von Autor*innen gefragt, und alle hatten zugestimmt,

sich auf dieses Abenteuer und die Extraarbeit einzulassen.

Es wurde Winter, Frühling, Sommer, und endlich

fingen wir mit The Woman Upstairs an. Vorher war alles

recht organisch entstanden. Bei Levy war Erik durch

seine eigene Zeit in London sofort bei London-Rot.

Es musste eine Caslon-Schrift sein, weil das Buch

dort spielte, wo William Caslon seine Druckerei hatte

(es wurde die Caslon-Adaption WilliamText von einer

j ungen russischen Schriftgestalterin). Adichie trug auf

einem Foto ein T-Shirt mit silbernen und goldenen

Rauten. Gold zu drucken, war eine Herausforderung.

Wir hatten uns jedoch vorgenommen, dass jedes Buch

etwas Besonders haben soll, so dass es auch für Sammler*innen

immer Neues zu entdecken gibt. Unser Drucker

Daniel Klotz besorgte die goldene Farbe in Frankreich,

wo sie größere Pigmente verwenden, damit es

mehr glitzert. Banville war klassisch wie ein Tweed-

Jacket, und das Muster des Umschlags und die feine

orange Linie ließen sich wunderbar im Innenteil aufgreifen.

Für William Boyds imaginäres Tagebuch Any

Human Heart kam nur Blau als Tintenfarbe infrage, und

bei The Sixth Extinction von Elizabeth Kolbert war es

wichtig, die Dystopie des Klimawandels, die Zerstörung

unseres Planeten abstrakt zu fassen und gleichzeitig zu

zeigen, was für eine großartige Erzählerin die Autorin

ist. Aber ein Roman wie der von Claire Messud, der davon

lebt, sich ganz in die Sprache der Autorin zu versenken?

Da wollte niemand von uns eine Interpretation

durch die Gestaltung vorgeben.

Schließlich klingelte das Telefon. Erik war dran, etwas

aufgeregt begann er zu erzählen: Er würde eine

Schrift benutzen, die FF Franziska heißt. Bei Kolbert

hatte er sich für FF Hertz entschieden, weil sie nach einem

Wissenschaftler (Heinrich Hertz, dem Entdecker

der Radiowellen) benannt war, und sich damit typografische

Karmapunkte gesichert. Warum jetzt also FF

Franziska? Entworfen hatte die Schrift Jakob Runge. Sie

ist diskret, funktionell und modern, aber mit echter Persönlichkeit.

Sie bietet eine gute Lesbarkeit im Fließtext

und gleichzeitig interessante Details: übertriebene Tintenfallen

(an verschiedenen Stellen werden Teile der

Schrift entfernt, aber beim Druck breitet sich die Farbe

dort aus und fördern dabei die Lesbarkeit) und scharf

angeschnittene Tropfenserifen. So wie Erik die Schrift

beschrieb, hätte ich auch über den Text von Claire sprechen

können. Das Umschlagsmuster sollte sich aus

gebrochenen und sich überlagernden Dreiecken entwickeln,

sodass beim Drucken noch weitere Farbabstu-



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aufgefallen, ausgefallen 68

Alle Fotos © Norman Posselt

aufgefallen, ausgefallen 69

fungen zufällig entstehen. Susanna orientierte sich dabei

ebenfalls an Details aus dem Text. Auch beim Farbschema

aus Purpur, Scharlachrot, Pink und Magenta.

Das war die Theorie. Gerade von Susanna hatte ich

gelernt, dass man solche Entscheidungen nicht am Telefon

trifft oder sich Fotos hin- und herschickt, dafür

muss man sich zusammensetzen: mit dem Drucker (Daniel

Klotz von »Die Lettertypen« druckt all unsere Bücher

in Adlershof), mit Musterbüchern, Papierproben

und dem Pantone-Fächer.

So machen wir es für jedes Buch. Für Messud entschieden

wir uns für ein purpurfarbenes Vorsatzpapier

(die Autorin müsste aber mit einem silbernen Stift unterschreiben,

sonst würde man die Signatur nicht erkennen),

ein rot-purpur schimmerndes Leinen und als zusätzliche

Farben für den Innenteil und das Cover für

Pantone 265 U (Lila) und 2385 U (Magenta), das Kapitalband

in einem matten Weiß eher neutral und das Leseband

in einem zarten Rosa.

Alles war fertig, es musste nur noch gedruckt werden.

Dann brach der Laserbelichter zusammen. Nichts

ging mehr, auch wenn Daniel erst einmal alles versuchte.

Da es sich um eine Spezialanfertigung handelte,

konnte nur der Ingenieur helfen, der das Gerät gebaut

hatte. Wertvolle Zeit verstrich, und für vier Wochen stand

alles still.

Guten Morgen, ich wollte heute mit den Farbseiten

anfangen, doch es sind die falschen Pantonetöne

– 266 U und 2395 U – gekommen. Einfach eine

Schattierung dunkler. Ich hab schon mal die richtigen

Farben bestellt, dauert aber wieder ein, zwei

Tage. Daniel

Kann passieren. Aber langsam beschlich uns ein ungutes

Gefühl, und es sollte sich bewahrheiten. Ich hatte

bei den vorangegangen Büchern oft in der Werkstatt in

Adlershof gestanden und Daniel dabei beobachtet, wie

er den Heidelberger Zylinder einrichtete, das Druckbild

mit dem Fadenzähler überprüfte, manchmal eine Stelle

mit Seidenpapier unterfütterte, Hebel und Schalter umlegte

(von denen ich bis heute nicht genau weiß, was sie

veränderten), und es konnte schon einige Zeit dauern,

bis er endlich zufrieden war. Jetzt war Daniel aber eindeutig

unzufrieden und schaute mich fragend an. Für

den Innenteil hatte er sich überlegt, die Dreiecke in unterschiedlichen

Graden zu rastern, sodass an diesen

Stellen unterschiedlich viel Farbe übertragen wird und

Abstufungen von Magenta bis Rosa entstehen würden.

Das alles mit einem Druckgang. Wir dachten: genial.

Leider sah das Ergebnis alles andere als genial aus.

In den Ecken der Dreiecke sammelten sich Farbwülste

(wir sprechen hier von Wülsten, die man unter einem

Fadenzähler erkennt), der Druck wirkte flach und die

Farben fad. Die Lösung war klar, aber ich musste über

die Mehrkosten entscheiden. »Das ist nicht TOC«, fiel

mir dazu nur ein, und ich biss in den sauren Apfel:

noch weitere Polymer-Platten belichten, die jetzt für

zwei Druckgänge mit zwei Farben eingesetzt werden

konnten, noch mal 2000 Bögen schwarz drucken, weil

beim misslungenen ersten Versuch bereits fertige Bögen

aufgebraucht worden waren. Weitere Verzögerungen.

Aber es war halt nicht TOC.

Liebe Claire, kannst du die unterschriebenen Seiten

in zwei Kartons packen? Ich würde die dann morgen

abholen lassen, und die gehen dann direkt zum

Buchbinder. Herzlich, Birgit

Zumindest ging das gut. Und auch Daniel hatte inzwischen

alle Paletten zum Buchbinder nach Leipzig geschickt.

Lieber Herr Klotz,

der bedruckte und signierte Nachsatz hat Abliegeerscheinungen

auf der ersten Seite. Offensichtlich

hat der Künstler mit Gelstift oder Ähnlichem signiert,

der war nicht trocken und hat Flecken auf

der ersten Seite des nachfolgenden Blattes hinterlassen.

Wir haben sortiert mit folgendem Ergebnis:

495 Blatt ohne Flecken, 202 Blatt mit ganz kleinen

Flecken, 342 Blatt mit mehreren Flecken und 184

mit erheblichen Flecken.

Buchbinderei Müller

Echt jetzt? Ich musste die E-Mail dreimal lesen, um zu

verstehen, was passiert war und was das bedeutete. Gut,

auf der signierten Seite wären keine Flecken zu sehen,

aber auf der Seite, die Buchblock und Einband verbindet.

Dort hatte die Unterschrift kleine silberne Punkte

hinterlassen. Einen Teil würde ich später mit einem speziellen

Glasfaserradierer entfernen können, da war sich

Daniel sicher. Und da ich sowieso jedes Exemplar in die

Hand nehmen musste, um den Umschlag umzulegen

und das Exemplar zu nummerieren, war das machbar.

Und wenn nicht, dann war das halt so, sagte ich leise

zu mir. Ist ja Handarbeit. Aber so ganz langsam wollte

ich, dass nichts mehr passiert, dass es keine Probleme

mehr gibt, sondern ich wollte das Buch in den Händen

halten: über das Gmund-Cotton-Papier des Umschlags

streichen, um den tiefen Eindruck zu fühlen,

und ich wollte fertige Bücher für unsere Abonnenten

verpacken: Schauen, wie die Dreiecke durch das Pergamin

papier leuchteten, wenn sie darin eingeschlagen in

den schwarzen Versandboxen lagen.

In den zwei Jahren, die wir jetzt TOC machen, hatten

wir einiges erlebt, und das meiste war gut, wenn

nicht sogar fantastisch: Wir waren in San Francisco auf

einer Buchmesse, wo sich noch nerdigere Büchermacher

versammeln, haben Bücher nach Hawaii und ins

nördlichste Kanada geschickt. Unsere Leser*innen haben

geschrieben, was sie an unseren Büchern mochten,

die Liebe zum Detail, die Idee hinter der Auswahl der

Bücher, und sie teilten mit uns, dass Schönheit in vielen

Formen, Farben und Mustern daherkommen kann, aber

man es nur spürt, wenn dahinter die Wertschätzung

für die Arbeit von Autor*innen, Schriftgestalter*innen,

Papierhersteller*innen, Schriftsetzer*innen, Drucker*-

innen und Buchbinder*innen steht. Das ist die simple

Idee hinter TOC.

Liebste Birgit,

Anfang dieser Woche brachte der Postbote ein

umfangreiches Paket & als ich sah, dass es aus

Berlin kam, war ich ziemlich aufgeregt – aber

nichts hätte mich auf die Schönheit der Bücher

vorbereiten können!

Claire.

Birgit Schmitz studierte Geschichte, Germanistik und

Soziologie in Köln, arbeitet als Lektorin und Programmleiterin

bei Kiepenheuer & Witsch, Berlin Verlag und leitete zuletzt

den Hoffmann und Campe Verlag. 2020 gründete sie mit Erik

Spiekermann und Susanna Dulkinys den Letterpress Verlag

TOC – The Other Collection in der Druckwerkstatt P98a in Berlin.

5 plus



70

»Wer Bücher verbrennt, verbrennt auch

Bibliotheken, bombardiert offene Städte,

schießt mit Ferngeschützen oder Fliegerbomben

Gotteshäuser ein.

Die Drohung, mit der die Fackel in den

Bücherstapel fliegt, gilt nicht dem Juden

Freud, Marx oder Einstein, sie gilt der

europäischen Kultur, sie gilt den Werten,

die die Menschheit mühsam hervorgebracht

und die der Barbar anhasst,

weil er halt barbarisch ist, unterlegen,

roh, infantil.«

Mit diesem Zitat von Arnold Zweig erinnern wir an den 90. Jahrestag

der Bücherverbrennungen überall in Deutschland.

© akg-images / TT News Agency / SVT



bleistift-notizen 72

5 plus

Bleistift-Notizen

Gesammelt, auf- und abgeschrieben

und nachgezeichnet von Hanns Zischler

Die Geschichte des Bleistifts,

wenn sie denn je geschrieben

wurde, ist voller Ausradierungen

und Überschreibungen.

Henry Petroski, The Pencil (1989)

Am Beginn der Neuzeit – der Bleistift

Schreiben und Zeichnen ist: berühren, die Berührung

verstetigen und sichtbar machen, in Bewegung versetzen,

Linie werden, beschleunigen, aussetzen, in der Luft

verweilen, wieder ansetzen, punktieren, durchstreichen,

beenden, da capo al fine.

Das Papier berühren. Der zarteste und leichteste,

der dünnste und geschmeidigste, der schummernde,

zitternde, wischende, schmierende und tupfende touch

gelingt von allen Schreibgeräten am besten dem Bleistift.

Die Kreide kratzt und benötigt ein Mineral als Unterlage,

der Tintenzug der Feder ist dezisiv, der Bleistiftstrich

hingegen lässt sich, zur Not, beheben, vergessen

machen, ausradieren.

Das Papier ist des Bleistifts wahre Heimat. Als habe

dieser sehr viel ältere Werkstoff auf ihn gewartet, ist der

Bleistift, verglichen mit anderen Schreibgeräten, eine

Entdeckung der Neuzeit, mehr noch: Sie beginnt mit ihr.

Im sechsten Kapitel seines naturkundlichen Buches

über die Formen und Gestalten von Fossilien (1564) inseriert

der schweizer Allrounder Gessner erstaunlicherweise

nicht nur die Abbildung eines Fossils, sondern

auch eine neue Art von Griffel (stylus) oder Schreibgerät,

das neben einem Fossil abgebildet ist. ( Mit »Fossilien«

wurden Mitte des 16. Jahrhunderts, anders als heute,

alle »beim Ausgraben« gefundenen Mineralien, Artefakte

etc. bezeichnet. )

Von Gessner sagte man, er sei der »deutsche Plinius«

und »mit einer Schreibfeder in der Hand zur Welt gekommen«.

1817 prägt der Geologe Abraham Gottlob Werner den

Namen Graphit für das »schreibende Mineral«. Der Chemiker

Joseph Redemt Zappe begründet Werners Namensgebung

folgendermaßen: »… wodurch man ein

Fossil bezeichnet, welches wegen seines richtigen Abfärbens

zum Schreiben benützt werden kann, daher sind

auch dessen Trivial-Benennungen Reißbley, Schreibbley

…« üblich.

«

Susanne Fischer erläutert in dem instruktiven Marbacher

Magazin Vom Schreiben 2 (69/1994): »Mit Bleischeiben

wurde bereits in der Antike Papyrus liniert;

Blei-, Zinn- und Silberstifte dienten vor allem im späten

Mittelalter zum Zeichnen und Schreiben. Den Blei- bzw.

Graphitstift in unserem Sinne gibt es dagegen erst seit

der Entdeckung von Graphitgruben 1565 in England. Da

England für nahezu zwei Jahrhunderte das weltweite

Monopol auf diesen Rohstoff besaß, waren solche in

Deutschland erst nach Mitte des 17. Jahrhunderts hergestellten

Stifte noch zu Schillers Zeiten dreimal teurer als

eine gute Feder. Mörike allerdings konnte seine Bleistifte

bereits unbekümmert kurz- und kleinschreiben:

um 1800 war der rare, brüchige und mit seinen mineralischen

Einsprengseln beim Schreiben oft kratzende Graphit

durch eine homogene Ton-Graphitmischung ersetzt

worden. Und auf dieser Grundlage hatte sich der Bleistift

zu einem erschwinglichen, robusten und schließlich

maschinell gefertigten und damit allgemein verfügbaren

Massenprodukt entwickelt, das je nach Wunsch in unterschiedlichen

Härtegraden zu haben war.« (S. 42)

«

Der Bleistift ist die ideale Prothese für einen gedanklichen

Entwurf. Dieses Gerät konzipiert auf eine wortwörtlich

herausragende und zugespitzte Weise Künftiges

auf dem Papier. Nicht endgültig, aber wegweisend.

Von dem großen Schrift- und Buchentwerfer Jan Tschichold

ist ein Arbeitsfoto überliefert, das ihn in seinem

Büro zeigt: sein konzentrierter Blick ist auf das vor ihm

liegende Blatt gerichtet, in erwartungvoller Spannung

hält die erhobene rechte Hand einen Bleistift zwischen

den Fingern: the shape of things to come.

«

Der Spitzer, die Spitze, das Spitzen

Wenn der zum Schreiben und Zeichnen animierte Bleistift

auf das Papier (s)ein Wirrwarr von Linien, Muster,

Flächen und Räume wirft, wird dieser vom navigierenden

Auge geleitete Stift ein Oszillograph der kindlichen

und künstlerischen Einbildungskraft gleichermaßen.

«

Für sein Gelingen und seine Ausdauer beim Zeichnen

und Schreiben muss der Bleistift Hilfsmittel beanspruchen.

Für den langen Weg »zur Spitze« benötigt er

Minenspitzgeräte. Das gröbste ist das Messer, mit ihm

kerbt, schnitzt und schält man den flachen Zimmermannsstift.

Feiner ist das Federmesser.

In einer Werbekampagne im Jahr 1904 ließ sich die

marktführende amerikanische Bleistiftfirma Firma Joseph

Dixon Crucible Company etwas Besonderes einfallen:

Sie nannte ihren neuen Bleistift Ti-Conderoga. Für

dieses unverzichtbare, millionenfach produzierte Gerät

wurden in den USA häufig indigene Namen mit einem

völlig willkürlichen Vergangenheitsbezug gewählt. In

diesem Fall lag die Fabrik der Company einst auf irokesischem

Land; das Wort bezeichnet den »Zusammenfluss

von Gewässern«. Nachdem es der Irokesensprache

entrissen war, konnte es ungefragt Produktname werden.

( Vladimir Nabokov in Lolita (1955) – »Is a Cream

Cougar your present craze?« – und George R. Stewart in

American Place Names (1970) belegen eine Fülle derartiger

toponymischer Überformungen). Der populäre

Maler und Werbegraphiker Norman Rockwell hat dem

Ti-Conderoga mit zwei Plakaten – His First Pencil und

Grandfather and Grandson – zum Durchbruch verholfen.

Der herkömmliche Spitzer ist aus Metall, gelegentlich

mit einem Auffangbehälter für die spiralig gekringelten

Holzkrausen, deren randverzierte Späne idealerweise

Zedernduft verströmen.

Stille Wasser sind tief –

aber manchmal nicht tief genug.

ROTRAUT SCHÖBERL (HG.)

MEER MORDE

Kriminelle Geschichten im und am Wasser

Mit zahlreichen Illustrationen.

256 Seiten, Hardcover

ISBN 978 3 7017 1771 2

bleistift-notizen 73

Kurzkrimis von: Ljuba Arnautovic, Jean-Luc

Bannalec, Alex Beer, Severin Groebner, Andreas

Gruber, Patricia Highsmith, P.D. James, Stefan

Kutzenberger, Petros Markaris,

Martina Parker, Therese Prammer,

Thomas Raab, Julya Rabinowich,

Erwin Riedesser, Claudia Rossbacher,

Eva Rossmann, Wolfgang

Salomon, Rotraut Schöberl,

Fred Vargas, Martin Walker,

Klaus-Peter Wolf, Peter Zirbs.

5 plus



bleistift-notizen 74

5 plus

Daneben gibt es, heute selten geworden, Spitzmaschinen,

in denen die Mine ins Anspitzloch einer zylindrischen

Dose gesteckt und dann in kreisförmigen Bewegungen

entlang der Schleiffläche im Innern geführt

wird. Wegen ihres beim Kurbeln entstehenden sirrenden

Geräusches wird die Spitzmaschine auch zu den sog.

Bürofolterwerkzeugen gerechnet. (Entgegen einem weit

verbreiteten Vorurteil gehört die mechanische Schreibmaschine

nicht in diese Kategorie: Ihre klappernde Mechanik

und das Klingelzeichen für den Zeilenwechsel

am Ende des Schlittens haben aufgrund ihrer Gleichförmigkeit

eine eher beruhigende Wirkung auf das Gemüt.)

Aufgeklebte Filz – oder Schwämmchenstücke dienen

dazu, den beim Spitzen freigesetzten Graphitstaub von

der Mine abzustreifen, bevor er die Arbeitsfläche unerwünscht

verunreinigen kann.

Für gezieltes Abschrägen einer Minenspitze, wie

das zum Beispiel für den Zirkel notwendig ist, gibt es

das Sandpapierbrettchen, das mit zwei unterschiedlich

gekörnten Schleifpapieren bespannt ist, auf denen die

Mine hin- und hergeführt wird. Mit einiger Übung kann

durch systematisch gleichmäßiges Drehen auch rund

gespitzt werden.

Lebendig, leicht und lebensfroh –

das außergewöhnliche Debüt

aus Frankreich

Emmanuelle

Fournier-Lorentz

Villa Royale

Roman

Deutsch von Sula Textor

288 Seiten

Fadenheftung. Leseband

€ [D] 25.– / € [A] 25.70 /

SFr. 34.– (UVP)

ISBN 978-3-03820-121-2

«

www.doerlemann.ch

DÖRLEMANN

Die Erscheinung und der Kern

Bleistifte sollen, wie Automobile und Brücken, mehr als

bloß bewunderte Objekte sein, solange sie neu sind. Im

Entwurf des Bleistifts ist dessen unaufhaltsamer Verbrauch

und Zerstörung angelegt: sein Holz wird weggeschnitten

und seine Mine unaufhaltsam aufgebraucht.

Im Gebrauch des Bleistifts treten, mehr als in seiner Erscheinung,

seine Mängel und Unvollkommenheiten zutage.

Während der Bleistift anders als der Federkiel auf

ein Tintenfass in seiner Nähe verzichten kann, woraus er

ständig schöpfen muss, kommt er nicht ohne gelegentliches

Spitzen aus, und die Hand hat sich der ständigen

Verkleinerung anzupassen. Es wäre schön, wenn der

Bleistift während seiner Schrumpfung seine Erscheinung

beibehalten könnte (für viele Schreiber scheint selbst noch

der Bleistiftstummel attraktiv zu sein); in diesem Sinn

haben die funktionalen Mängel beachtliche Ingenieursleistungen

(wie den Druckminenstift) gezeitigt. Ohne Mängel

keine Innovation.

Henry Petroski, The Pencil (318)

«

Randnotizen

Zu ebenso unvorhersehbaren wie bemerkenswerten

Begegnungen – Berührungen, Überlappungen, Entgrenzungen

– zwischen dem lediglich in molekularen

Splittern auftragenden Graphit und der unverwischbaren

Druckerschwärze des Buches kommt es, sobald

der Bleistift über den gedruckten Text herfällt, diesen

am Rand des Satzspiegels benagt oder mit Randnotizen

(Kürzeln, Frage-, Ausrufe- und Korrekturzeichen) bekritzelt.

Die meist blassere Handschrift schmiegt sich

dem gedruckten Text an. Gelegentlich ähneln die Wucherungen

und Ballungen der Handschrift den wunderlichen

Ausblühungen und Auslaugungen, wie wir sie

von Ziegeln kennen.

Wenn Walter Benjamin die Fußnoten in einem Buch

als »Wegelagerer« bezeichnet, so könnte man die Randnotizen

und Vermerke als »Wiedergänger« oder »Ghostwriting«

begreifen, deren geisterhaftes Grau den Druck

entweder erneut bestätigt und weiterschreibt oder rigoros

hinterfragt, ohne aber in der Regel die formale Gültigkeit

des Buches (unabhängig von dessen Inhalt) zu

verletzen.

Der Bleistift garniert das Gedruckte, er lockert, verletzt

und onduliert die schöne starre Form, er beglaubigt

und privatisiert die Lektüre, und in seiner diskreten

Fort-Schreibung (und mitunter heftigen Unterstreichung)

lockt er den Text aus der Reserve des Satzspiegels.

Stellenweise schwingt sich der Bleistift zu einem

zweiten Text auf, er wird zu einem Sub- oder besser gesagt

Ultra-Text. Die Blässe der Randnotiz hat Züge eines

ins Graphische (und Graphitische) übertragenen flüsternden

Lesers. Sobald aber diese meist behutsam aufgetragenen

Lesespuren als Druckbild wiedergegeben

werden (wie es in historisch-kritischen Ausgaben der

Fall ist), wirken sie wie dürre Fremdkörper.

So heißt es in dem 1992 von Ulrich Joost herausgegebenen

transkribierten Notizbuch Noctes von Georg

Christoph Lichtenberg: »Angaben über den Schreibstoff

erfolgen nur ausnahmsweise, nämlich dort, wo auf dem

Faksimile nicht sofort erkennbar ist, wo Lichtenberg

Blei, wo Tinte, wo Rötel verwendet hat.«

«

Zart wie Versuchsballone schweben Paul Celans in gut

leserlicher Handschrift mit Bleistift geschriebene Wörter

über ausgedruckten Gedichten: erste Markierungen

für künftige Übersetzungen.

«

Als ich vor Jahren dem Nibelungen-Forscher Peter Wapnewski

den von der Germanistik (bis heute!) ignorierten,

fächersprengenden Essay des Altslawisten Heinrich

Kunstmann Vorläufige Untersuchungen über den

bairischen Bulgarenmord von 631 / 632: der Tatbestand –

Nachklänge im Nibelungenlied (1982) mit einer kleinen

tintengeschriebenen Widmung überreichte, bedankte

er sich mit der schelmisch gemeinten Bemerkung: »Doch

nicht mit Tinte! Nur Bleistift! Wie soll ich das weiterverkaufen!«

«

Aus dem Bleistiftgebiet

In dem editorischen Nachwort zu Robert Walsers Aus

dem Bleistiftgebiet (1985) – eine Pioniertat der Entzifferungsphilologie

– beschreiben Bernhard Echte und

Werner Morlang die Schwierigkeiten, diese »unentzifferbare

Geheimschrift« (wie der Freund und Nachlassverwalter

Carl Selig sie nannte) Jahrzehnte nach Walsers

Tod zu enthüllen. Die durchschnittliche Größe der

Buchstaben betrage »zwei bis drei Millimeter; bei den

später folgenden Manuskriptsorten erreicht Walser

sogar Werte von einem bis zwei Millimetern. Bei solchen

»Größen«-Ordnungen fällt die Möglichkeit, einzelne

Buchstaben zu identifizieren oder von anderen zweifelsfrei

zu unterscheiden, in sehr vielen Fällen weg.«

Erschwert wurde die Entzifferung dadurch, »dass

der Bleistift stumpfer und damit das Suchbild immer

abstrakter wurde. Hinzu kommen punktuelle Entstellungen

der Schrift, die durch eine Verkrampfung der

Hand, innere Unruhe oder Unkonzentriertheit bei solch

diffizilem Schreiben sowie durch Unebenheiten der Unterlage

hervorgerufen sein können.«

© Andreas Reiberg

«

Die führende Hand oder Go ask Alice!

Im ersten Kapitel von Alice hinter den Spiegeln begegnet

das Mädchen den Schachfiguren aus dem diesseitigen

Zimmer in der Asche des Kamins wieder, darunter

dem Schwarzen König und der Weißen Königin. Im Verlauf

einer mehr turbulenten als regulären Schach-Partie

greift Alice als eine Art Dea ex machina ein und ver-

»Geschichten schreiben

heißt misstrauisch sein.

Lesen heißt, sich

darauf einzulassen.«

bleistift-notizen 75

Judith

Hermann

5 plus



bleistift-notizen 76

schimmernd Stumpfe des Auftrags entfaltet sich auf

dem Blatt zu einer graphischen Oberfläche, die wir in

der Optik bzw. der Fotografie als Unschärfe wahrnehmen.

«

Was schlimm ist

Wenn der Bleistift der Hand entgleitet, zu Boden fällt

und mit hellem Aufprall liegen bleibt: Die Mine zerbricht,

die innere Fraktur kommt der unvermeidlichen

äußeren zuvor. Der Klang des Aufpralls schmerzt umso

mehr, weil wir es sind, die ihn verursacht haben. Im

Grund wird mit dieser Zerbröselung genau jene schöne

Erscheinung gewahrt, vor der Petroski gewarnt hat. Die

ebenso verzweifelt wie wütend spitzende Hand kann

den Bruch nicht mehr heil machen und zeigt uns die

Augenblicksunachtsamkeit mit jedem gebrochenen

Minenspitzchen von neuem.

Fotograf: Ulrich Weichert,

© Hanns Zischler

bleistift-notizen 77

«

Die Grenzen des Bleistifts

Mit Bleistift geschriebene Briefe wirken seltsam unwirklich,

als wären sie etwas Vorläufiges, das wieder ausradiert

werden kann. Es sind uneigentliche Briefe, sodass

man sich unwillkürlich fragt, ob der Absender den Brief

wirklich schreiben wollte.

Hanns Zischler, Schriftsteller, Fotograf und Schauspieler.

Der zerrissene Brief, Roman, 2021 bei Galiani Berlin; Bann und

Befreiung – über Lesen und Schreiben. Katalog zur gleichnamigen

Ausstellung im Wallraf-Richartz Museum Köln, 2022

5 plus

Gerhard Faulhaber, o. T. (fliegender Händler am Strand), 2017,

Bleistift auf Karton, 50 × 70 cm, Courtesy Zwinger Galerie

größert das Chaos, als sie zu spät bemerkt, dass ihre

Figuren zwar auf ihre Versetzungen reagieren, aber das

Mädchen nicht hören und nicht sehen können. Der

König bemüht sich, kaum hat er sich von seinem Sturz

erholt, das gerade Erlebte festzuhalten, wozu ihm die

Königin dringend rät:

Gespannt sah Alice zu, wie der Schwarze König ein riesiges

Notizbuch aus der Tasche zog und zu schreiben

anfing. Einem plötzlichen Einfall folgend, fasste sie den

Bleistift dort, wo er dem König über die Schulter ragte,

und führte ihm beim Schreiben die Hand.

Der arme König sah verwirrt und niedergeschlagen

drein und kämpfte eine Weile stumm mit dem Bleistift;

aber Alice war einfach zu stark für ihn, und zuletzt

keuchte er: »Liebe Frau, ich muss mir wirklich einen dünneren

Bleistift besorgen. Mit diesem hier komme ich überhaupt

nicht zurecht; er schreibt alle möglichen Dinge, die

ich gar nicht möchte.«

»Was für Dinge denn?«, fragte die Königin und sah

ihm in das Buch (und da hatte Alice hineingeschrieben:

›Der weiße Ritter rutscht den Schürhaken hinunter. Er

kommt dauernd aus dem Gleichgewicht.‹) »Deine Empfindungen

sind da nicht aufnotiert.«

«

Das einzige Papier weit und breit

Der ungarisch-jüdische Filmemacher und Publizist

Stefan Lorant – Anfang der 30er-Jahre erfolgreicher

Chefredakteur der Münchner Nachrichten – wurde unmittelbar

nach Hitlers Staatsstreich im Frühjahr 1933

verhaftet. Er schrieb noch in der Untersuchungshaft in

Stadelheim die Geschichte seiner Verfolgung und Verhaftung

nieder. Seine Notizen kritzelte er, wie er fünfzig

Jahre später in einem Interview erzählte, mit Bleistift

auf das relativ weiche Klopapier: etwas anderes hatte

er nicht. Als er aufgrund einer ungarischen Intervention

nach kurzer Haft freikam, veröffentlichte er noch

im selben Jahr bei Penguin Books seinen Bericht: I Was

Hitler’s Prisoner. Ein Bestseller.

«

Gerhard Faulhaber

Was ein Bleistift vermag, der nicht zeichnet, keine Linien

zieht, nicht strichelt und schummert, sondern tupft

und zart punktiert, lässt sich an den Blättern von Gerhard

Faulhaber erkennen. Ihm gelingt es, die »unbunte

Farbe« Grau des Graphits so auf das Blatt aufzutragen,

dass am Ende die Illusion einer Fotografie vor uns erscheint.

Seine empfindsame Hand entlockt dem Bleistift

eine ungewohnte Wirkung: Das weich Gleitende,

«

PS: Eine Leseauforderung!

Ulrich Holbein, über den Radiergummi:

Der stets verneinende Radiergummi. Am Beginn seiner

zusammenschnurrenden Laufbahn sieht jeder Bleistift

lang aus. Spitz wird er unterwegs mehrmals aufs Neue,

lang nie wieder. Er könnte von vornherein nur etwa

halb so lang sein oder doppelt so lang dauern, wenn er

nicht den lauernden Radiergummi miternähren müsste.

Der steht überall bereit, wo es Verworfenes zu beseitigen

gibt, Verworfenes in Gestalt von Bleistiftaufstrich,

die Überschussproduktion im Tierreich der Wörter. Der

Radiergummi vertilgt alles – ohne allerdings länger zu

leben. Je dickleibiger er werden müsste, desto kleiner

wird er. Stift und Gummi wetzen sich aneinander zunichte,

über den Umweg der Schrift, die dem einen entfließt,

die der andere zu schwarzen Würstchen macht.

Die werden von oben her weggepustet.

Samthase und Odradek, Frankfurt am Main 1990,

S. 54–55.

Textauszug aus dem 2025 erscheinenden Buch von

Hanns Zischler über den Bleistift.

© Hanns Zischler

«

De fuckto ein

sensationelles Debüt

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aus der buchhandlung 78

aus der buchhandlung

Verbalgestrüpp und

»Vorlese-Scheiße«

Bommi Baumann, neulich in Regensburg

Komm mit nach

ELFEN-

HEIM!

Ulrich Dombrowsky

5 plus

Mit dem Buch Wie alles anfing schrieb das einzige

nicht-studentische Mitglied der Berliner

Kommune 1 in den 70er-Jahren ein Bekenntnis,

das dem Münchner Trikont-Verlag einen großen

Verkaufserfolg, mehrere Razzien, ein Veröffentlichungsverbot

und in Zeiten von RAF und heißem Herbst ein

fragwürdiges Renommee verschaffte. Zehn Jahre später

versuchte er es in einem großen Publikumsverlag noch

einmal: In Hi Ho – Wer nicht weggeht, kommt nicht wieder

schreibt der proletarische Berliner und Revoluzzer

über seine Abenteuer, die er auf der Flucht vor dem BKA

in Afghanistan, Indien, dem Nahen Osten und Großbritannien

erlebt hatte.

Zur Vorstellung dieses Buches hatte ich Bommi ins

Regensburger »Einhorn«, eine Kultkneipe mit studentischem

und widerständigem Publikum, eingeladen –

damals kämpften die Regensburger Linken und ökologisch

Gesinnten gerade gegen den Bau der Wiederaufarbeitungsanlage

in Wackersdorf. Die Lesung sollte

um 20 Uhr beginnen, die Kneipe platzte aus den Nähten.

Wer um 20 Uhr nicht da war, war Bommi Baumann.

Ich hatte ihn am Hauptbahnhof abholen sollen, aber er

war nicht im Zug. Ich hatte also die schwere Aufgabe,

das wartende Publikum zu vertrösten – aber auf was?

Handys gab es noch nicht, ich konnte ihn nicht anrufen.

Ich konnte nur darauf hoffen, dass er nur den Zug verpasst

hatte, und fuhr um 20.45 Uhr noch mal zum Bahnhof.

Tatsächlich: Er war in Nürnberg aufgehalten worden,

sprich: Das dortige Interview hatte sich in die Länge

gezogen. Bommi wirkte auf mich fahrig, er lallte leicht,

aber ich konnte doch wenigstens gemeinsam mit ihm

die Veranstaltung starten.

Ging auch gleich los. Bommi bestellte sich Bier und

Wodka und kam sofort zum Punkt. Er wolle hier nicht

den linken Polit-Clown spielen und diese bürgerliche

Vor lese-Scheiße bieten. Das Buch könne sich schließlich

jeder irgendwo in ’ner Buchhandlung klauen.

Er wolle viel lieber über die Isolationsfolter der RAF-

Gefangenen diskutieren und eigentlich gleich am liebsten

eine Spontan-Demo in die Innenstadt initiieren.

Dagegen regte sich sogleich Widerstand: Mindestens

zwei Besucher der Lesung bestanden auf »Lesung«.

Bommi gab dem Murren nach, pulverisierte das bürgerliche

Leseritual aber umgehend, indem er ein paar Worte

mit dem Zeigefinger von den Zeilen wegbuchstabierte

um schließlich kopfschüttelnd mit den Worten »Wat’n

det hier? Ick bin ja selber erstaunt!« sein eigenes Buch zu

schreddern.

»Wer jetzt noch nicht gegangen war, der war wohl

auch zu folgendem bereit. In einem allgemeinen Sprachund

Denk-Chaos ohnegleichen, in einem Verbalgestrüpp

aus Mißverständnissen, Aggressionen, geistigen

Kreisbewegungen und politischer Ratlosigkeit trug

Bommi mit persönlicher Verve, mit verhangenen Augenwinkeln

und gar nicht mal ohne subjektive Glaubwürdigkeit

sein »politisches« Programm vor. Und das

heißt: ›Wie wir die Scheiße hier überwinden können.‹«

(Manfred Stuber in der Mittelbayerischen Zeitung vom

2. November 1987)

Die Diskussion ging hoch her, manche solidarisierten

sich mit ihm, die meisten nahmen ihn einfach nicht

mehr ernst. Zum Glück endete die Veranstaltung friedlich.

Im Wesentlichen zumindest. Denn Bommi hatte

während der zwei Stunden versuchter Debatte weitere

Biere und Wodkas bestellt, die nicht spurlos an seiner

Haltung vorbeigingen. Eigentlich war vereinbart gewesen,

dass er privat bei mir unterkommen könne. Wie

dankbar war ich dem erfahrenen Wirt, dass er den völlig

zugedröhnten Bommi mit zu sich nach Hause nahm – in

dessen WG konnte der Aktivist seinen Rausch ausschlafen.

Zumindest ein Gutes hatte diese Veranstaltung: Die

Mittelbayerische Zeitung betitelte ihren – oben schon

kurz zitierten – Artikel mit: Die verrücktest Lesung in der

Geschichte Regensburgs. Dabei war es damals erst die

siebte von inzwischen mehr als eintausend Veranstaltungen,

die wir im Lauf der Zeit auf die verschiedenen

Bühnen Regensburgs gebracht haben.

Ulrich Dombrowsky ist Gründer und Inhaber der

seit 1983 in Regensburg ansässigen Buchhandlung Dombrowsky.

In den beiden literarischen Saisons Literarischer Frühling und

Literarischer Herbst veranstaltet Dombrowsky Lesungen, Konzerte

und Verlagsabende.

432 Seiten | € 22,00 [D]

Motiv-Farbschnitt limitiert für Erstauflage

Der 17-jährige Bruder von Jude, Königin

von Elfenheim, ist ein enigmatischer

und widerstrebender Thronfolger. Schon

als Kind stand er im Mittelpunkt eines

brutalen Machtkampfs um den Thron und

kennt die Höhen und Tiefen seiner

Position. Als er gemeinsam mit Suren, der

wilden und unberechenbaren Königin

des Hofs der Zähne, auf eine Quest geht,

verbergen beide ihre wahren Motive

voreinander …

www.cbj-verlag.de

5 plus



5 plus wo ein anfang ist, muß auch ein ende sein? 80

© Lars Hammer



In seinem neuen Roman nähert sich Bestsellerautor Karl Ove

Knausgård zärtlich, aber bestimmt den ganz großen Fragen:

Woher kommt das Leben, und was ist es eigentlich?

Ein Lesefest der besonderen Art und das Prequel zum

SPIEGEL-Bestseller Der Morgenstern.

Eine epische Saga, die vom ländlichen Indien ins

energiegeladene Neu Delhi führt; ein mitreißender Roman

über Gangster und Liebhaber, falsche Freunde, verbotene

Liebe und die zerstörerische Kraft von Familienbanden in

einem indischen Mafia-Clan.

Bücher, die das Lesen lohnen

Hardcover mit Schutzumschlag, 720 Seiten · € 23,— [D] · C.Bertelsmann

Hardcover mit Schutzumschlag, 608 Seiten · € 26,— [D] · Blanvalet

Hardcover mit Schutzumschlag, 1056 Seiten · € 30,— [D] · Luchterhand

Hardcover mit Schutzumschlag, 688 Seiten · € 28,— [D] · Blessing

Ein schillernder Roman voller Wärme und Witz über eine

ebenso eigensinnige wie faszinierende junge Heldin, die für das

kämpft, was sie im Herzen trägt: Eine Bühne zu errichten für

all die Geschichten, denen sie im Verborgenen gelauscht hat.

Wenn Sie das Klima beeinflussen könnten, wen würden Sie

vor der Erderwärmung retten? Ihre Heimat? Grönland? Afrika?

Das neue faszinierende Zukunftsszenario von SPIEGEL-

Bestsellerautor Marc Elsberg.

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