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bücher, menschen, themen
1. ausgabe 2023
plus
das magazin
der buchhandlungen
klaus bittner dombrowsky felix jud
haymon lehmkuhl
leporello librium schleichers
Zündung
Von literarischen Debüts
und anderen Anfängen
Foto: © Mathias Bothor / Photoselection
»Dieses Buch
MÜSSEN Sie lesen.«
Ein tiefgründiges, genial komponiertes
Meisterwerk, das rätselhafterweise fast
ein Jahrhundert lang unentdeckt blieb
176 Seiten,
Leineneinband im Schuber
€ 28,– [D] | € 28,80
ISBN 978-3-86648-696-6
The Sunday Times
mare
liebe leserin, lieber leser,
zwischen Zauder und Zauber – jedem Wollen wohnt
ein Anfang inne, jeder Idee die Freude, aus ihr mehr zu
machen: eine neue Wirklichkeit.
Solchen Zündungen widmet sich der Schwerpunkt
dieser Ausgabe Ihres 5plus-Magazins, in der wir Sie gern
begrüßen.
Wir freuen uns, dass wir Rebecca Faber und Christina
Madenach, Grit Krüger, Gunnar Cynybulk und Katrin
Lange, Sam Zamrik, Manfred Papst und Marie Caffari
für Beiträge gewinnen konnten – und danken Annegret
Liepold und Eden L. Flammer für ihre Texte, die wir hier
zum ersten Mal veröffentlichen dürfen.
klaus bittner
buchhandlung bittner, köln
daniela und ulrich dombrowsky
buchhandlung dombrowsky, regensburg
markus hatzer
buchhandlung haymon, innsbruck
marina krauth und robert eberhardt
buch- und kunsthandlung FeliX Jud
FeliX Jud bookstore, hamburg
Wir lesen für Sie.
Wählen aus.
Empfehlen.
Und freuen uns über Gespräche
mit Ihnen über das,
was wir Ihnen empfohlen
und Sie gelesen haben.
Herzlich willkommen.
Wir freuen uns auf Sie –
mit herzlichen Grüßen
Diese Ausgabe erscheint rechtzeitig nach Ostern – bei
Redaktionsschluss warten wir alle auf die blauen Bänder
des Frühlings, denn es wird Zeit für anhaltend Licht
und Sonne.
Apropos: Dass Bücher uns Licht und Sonne in den
Unbilden der Welt sein können, dass Lesen entlastet von
dem, was »draußen los ist« (zumindest vorübergehend)
oder spiegelt, reflektiert … die Kraft der Sprache, die
Fantasie der Autorinnen und Autoren – Freude und Begleitung
überall wo wir sie brauchen.
Wo Sie uns brauchen sind wir dafür Freunde und
Begleitung – überall.
michael lemling und georg ottmann
buchhandlung lehmkuhl, münchen
erwin riedesser
buchhandlung leporello, wien
laurin jäggi
buchhandlung librium, baden
silke grundmann-schleicher
schleichers buchhandlung, berlin
PS: Alle von uns empfohlenen Bücher können Sie auch online
bei Ihrer 5plus-Buchhandlung bestellen.
5 plus entree 1
304 Seiten | 31 Abbildungen | Gebunden | € 26,– | ISBN 978-3-406-79145-1
Auch als Hörbuch erhältlich.
«Was für ein historischer Stoff! Erstaunlich,
dass es so lang gedauert hat, bis ihm
ein eigenes Buch gewidmet wurde.»
Anne-Catherine Simon, Die Presse
191 Seiten | 3 Abbildungen | Gebunden | € 23,– | ISBN 978-3-406-79717-0
Auch als Hörbuch erhältlich.
«Wie Frie die allmähliche Lösung von
einer Welt beschreibt, ... illusionslos und
doch sensibel, ... das hinterlässt großen
Eindruck.»
Johan Schloemann, Süddeutsche Zeitung
© Felix Grünschloß
Grit Krüger 10
Annegret Liepold 16
schwerpunkt
Zündung
Von literarischen Debüts
und anderen Anfängen
Rebecca Faber und Christina Madenach
Von Schreibenden und Lesenden.
Schreibwerkstätten und Lesereihen 4
Ein Raum grosser
literarischer Intensität
ein Interview von Lisa-Katharina Förster
mit Grit Krüger, Gunnar Cynybulk
und Katrin Lange 10
Annegret Liepold
SAND – eine erzählung 16
»Ich bin nicht«
Sam Zamrik und seine Gedichte
Ein Interview Von Norbert Hummelt 22
Manfred Papst
Weshalb ich gerne Debüts lese
Eine grundsätzliche Überlegung
und drei aktuelle Beispiele 27
Das Schweizerische Literaturinstitut
in Biel – hier entsteht junge Literatur
Ein Interview Von lea müller 30
Eden L. Flammer
Literarisches Schreiben – ein Funken
Hoffnung
Eine Stimme aus der Abschlussklasse 35
© Vanessa Mönius
© privat
Manfred Papst 27
buchempfehlungen
bittner 38
dombrowsky 40
haymon 42
felix jud 44
lehmkuhl 46
leporello 48
librium 50
schleichers 52
Roberto Calasso 58 Hanns Zischler 72
5 plus ist das Magazin der 5 plus-Gruppe: Buchhandlung Bittner, Buchhandlung Dombrowsky, Buchhandlung Haymon, Buchhandlung Felix Jud, Buchhandlung Lehmkuhl,
Buchhandlung Leporello, Buchhandlung Librium, Schleichers Buchhandlung Dahlem-Dorf e. K.
Herausgeber: Die 5 plus: Klaus Bittner, Ulrich Dombrowsky, Daniela
Dombrowsky, Robert Eberhardt, Markus Hatzer, Laurin Jäggi, Susanne Jäggi, Marina Krauth, Michael Lemling, Georg Ottmann, Erwin Riedesser, Silke Grundmann-Schleicher,
Chefredaktion und V. i. S. d. P.: 5 plus
Konzept, Redaktion, Gestaltung, Herstellung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH, Hamburg | www.groothuis.de
Carolin Beck, Rainer Groothuis, Lars Hammer Lithografie: edelweiß publish, Hamburg Gesamt herstellung: gutenberg beuys, Feindruckerei GmbH, Langenhagen
Bildnachweis: Umschlag: © CSA-Printstock; Seite 2, 15: © Felix Grünschloß; Seite 2, 17: © Vanessa Mönius; Seite 3, 59: © Adelphi Edizioni; Seite 3, 77: Fotograf: Ulrich Weichert,
© Hanns Zischler; Seite 4: © Pierre Jarawan, © Jean-Marc Turmes, Seite 7: © Pierre Jarawan; Seite 9: CM © Hubert P. Klotzeck, RF © Heike Fröhlich; Seite 10: © Catherina Hess /
Literaturhaus München; Seite 22: © Paula Winkler; Seite 31–32: © Nicola Fischer, Laura Calchini – Hochschule der Künste Bern HKB / Haute école des arts de Berne HKB;
Seite 55: © Alina Buzunova / istockphoto; Seite 64–69: © Norman Posselt; Seite 70/71: © akg-images / TT News Agency / SVT; Seite 76: © Gerhard Faulhaber; Seite 80: Lars
Hammer
© Theater Triebwerk
Laura Trelle
Worte formen unser Denken
LGBTQIA+ im Kinder- und
Jugendbuch 54
verleger verlegen
Volker Breidecker
Das Wunder von Mailand
Nouvelle Vague all’italiana:
Roberto Calasso und eine
Bücherschlange namens Adelphi 58
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinungen und Auffassungen der Herausgeber wieder.
Wir danken Groothuis für die mehr als freundliche Förderung. Die 5 plus
© Adelphi Edizioni
www.5plus.org
aufgefallen, ausgefallen
Birgit Schmitz
Hacking Gutenberg
oder: Bessere Bücher für das
21. Jahrhundert 64
Erinnerung 70
Hanns Zischler
Bleistift-Notizen 72
aus der buchhandlung
Ulrich Dombrowsky
Verbalgestrüpp und
Vorlese-Scheiße 78
illustration
lars hammer
Wo ein Anfang ist, muss auch
ein Ende sein? 80
Fotograf: Ulrich Weichert,
© Hanns Zischler
entree 3
5 plus
literarische debüts 4
Von Schreibenden
und Lesenden.
Schreibwerkstätten
und Lesereihen
literarische debüts 5
Von Rebecca Faber und Christina Madenach
5 plus
© Jean-Marc Turmes © Pierre Jarawan
Wir sind Autorinnen. Das können wir mit einiger
Selbstverständlichkeit sagen, obwohl wir noch keine
Romane veröffentlicht haben. Glauben Sie uns
trotzdem? Hand aufs Herz, wen stellen Sie sich vor,
wenn Sie das Wort »Autor*in« hören? Juli Zeh, Kim de
l’Horizon oder Goethe? Menschen, die erfolgreich und
berühmt sind? Diesen Traum haben viele Schreibende.
Man muss aber nicht Bestseller veröffentlichen,
um sich Autor*in zu nennen: Der Beruf ist vielfältiger,
als einige denken.
L
esen und Schreiben sind für uns untrennbar
miteinander verknüpft. Schon als Kinder verschlangen
wir ein Buch nach dem anderen und
verfassten eigene Geschichten und Gedichte. Manche
fanden Leser*innen: Über das Weihnachtsgedicht freuten
sich unsere Eltern und Großeltern, eine Erzählung
wurde in der Schülerzeitung oder im lokalen Wochenblatt
abgedruckt. Die meisten unserer Texte landeten
aber in Schubladen, und später verbannten wir die
Schreibhefte in Kellerkisten oder die digitalen Dokumente
auf externe Festplatten.
Natürlich wussten wir auch damals schon, dass wir
nicht die einzigen Schreibenden waren. Immer gab es
mindestens noch eine Person in der Klasse, mit der
man um die beste Note im Deutschaufsatz wetteiferte.
Manchmal entstanden durch das gemeinsame Hobby
sogar Freundschaften. Wir lasen uns Einträge aus un seren
Tagebüchern vor oder träumten zusammen davon,
Schriftsteller*innen zu werden. »Richtige Autor*in nen
kannten wir aber nur als Namen auf den Buchumschlägen.
Natürlich hatten auch sie irgendwann einmal angefangen
mit dem Lesen und Schreiben – aber das lag
jenseits unseres Vorstellungsvermögens.
Anfänge und Vernetzung:
Eine Schreibwerkstatt gründen
Heute, knapp dreißig Jahre nach den ersten selbstentzifferten
Worten und den ersten selbstformulierten
Sätzen, lesen und schreiben wir noch immer. In beidem
haben wir uns professionalisiert. Wir haben Literatur
studiert und werden für das Lesen von Büchern bezahlt.
Für das Verfassen oder Vortragen unserer Texte
bekommen wir auch Geld. Zu wenig, um damit unseren
Lebensunterhalt zu bestreiten. Natürlich auch viel zu
wenig für den Aufwand, den wir dafür betreiben. Es ist
besser, den Stundenlohn gar nicht erst zu berechnen.
In den vergangenen Jahrzehnten haben wir jede Menge
Material produziert, alle möglichen Themen abgehandelt,
uns in verschiedenen Formen und Stilen probiert.
Vieles ist Anfang geblieben, an manchem haben
wir über einen längeren Zeitraum geschrieben. Und
von immer mehr Texten gibt es verschiedene Fassungen,
überarbeitete Versionen. Ein schreibender Freund
5 plus
literarische debüts 6
von uns speichert jede seiner Änderungen in einem
neuen Dokument ab. Andere Freund*innen schieben
Versatzstücke, von denen sie sich nicht trennen können,
in Dokumente mit den Bezeichnungen »Müll« oder
»Rest«. Ein paar von ihnen schreiben zuerst alles per
Hand, manche sitzen immer am Schreibtisch vor ihrem
Laptop, andere schleppen ihre Schreibutensilien in Cafés
oder Bibliotheken. Die meisten unserer schreibenden
Freund*innen beteiligen sich an Wettbewerben und
Ausschreibungen. Wir alle stecken regelmäßig Niederlagen
und Absagen ein, trotzdem machen wir weiter.
literarische debüts 7
»Dieses poetische Buch handelt
von Verlust, Verzweiflung,
Vergänglichkeit. Einerseits.
Andererseits wird der Text
getragen von Liebe, Hoffnung
und – manchmal bitterer –
Heiterkeit.«
der spiegel
(über »wir waren eine
gute erfindung«)
Gebunden mit Schutzumschlag | 128 Seiten
Euro 20,– (D) | Auch als E-Book erhältlich
ISBN 978-3-95614-534-6
Woher wir das alles wissen? Weil wir uns austauschen.
Weil wir uns regelmäßig in verschiedenen Foren treffen.
Wir lesen uns gegenseitig unsere Texte vor, sprechen
darüber und beantworten gemeinsam wichtige Fragen:
Wie bauen wir das Schreiben in unseren Arbeitsalltag
ein? Funktioniert es besser, jeden Tag mindestens eine
halbe Seite zu schreiben, oder ist es hilfreicher, sich einen
ganzen Tag pro Woche für das Schreiben freizuschaufeln?
Welche Wettbewerbe sind sinnvoll, und wie
schreibt man ein Exposé? Und was macht man, wenn
man nach drei oder fünf oder acht Jahren Arbeit an einem
Roman nur Absagen von Verlagen und Agenturen
einsammelt?
Wir teilen unsere Zweifel und unsere Ängste, wir
sprechen über unser Hadern und das Scheitern. Aber
wir bauen uns auch gegenseitig auf, wir ermutigen uns,
und ab und zu bringt jemand eine Flasche Sekt mit, um
auf etwas anzustoßen: ein gewonnenes Stipendium, den
Sieg bei einer Ausschreibung oder die erste Buchveröffentlichung.
Texttreffen, Schreibwerkstätten oder Literaturlabore
gibt es in zahlreichen Städten. Auf manche stößt man
durch Zufall. Die Freundin eines Freundes war einmal
da, man zeigt Interesse, und plötzlich steht man auf der
Mailing-Liste und erhält Einladungen für die monatlichen
Treffen in einer Privatwohnung. Von anderen Treffen
erfährt man im Netz, oder sie werden auf Social
Media angekündigt. Manche Treffen sind privat, manche
an Institutionen wie Universitäten oder Literaturhäuser
geknüpft. Es gibt Werkstätten für spezielle Zielgruppen
oder für bestimmte Genres. Für einige muss
man sich bewerben, manche kosten etwas, andere sind
mit einem Stipendium verbunden. Manche werden von
professionellen Autor*innen angeleitet, manche von Lektor*innen,
die einen verdienen Geld damit, die anderen
machen es ehrenamtlich. Und es gibt auch Studiengänge
für Literarisches Schreiben: in Hildesheim, Leipzig,
Köln, Biel und Wien. Der Blick ins Netz oder in die Literaturseiten
der Stadt lohnt sich für Schreibbegeisterte,
und wer nichts findet, der kann es einfach so machen
wie wir: selbst eine Schreibwerkstatt gründen.
© Pierre Jarawan
Literaturfest München 2022: Münchner Schiene. Am 29. November 2022 fand unter dem Titel »Ihre nächsten Anschlüsse sind …«
ein Treffen der freien Szene im Münchner Literaturhaus statt.
Der geschützte Raum einer Schreibwerkstatt:
schreiben, teilen, diskutieren
Weil wir beide an einem Roman schreiben, nehmen
wir an den monatlichen Treffen der Romanwerkstatt in
München teil. Die Werkstatt ist offen für alle, die neben
der Präsentation eigener Texte bereit sind zur regelmäßigen
Diskussion der Texte der anderen Teilnehmer*-
innen. Auszüge aus den Romanen werden vor den Treffen
zur Vorbereitung über den Verteiler geschickt. Beim
Treffen selbst liest der*die jeweilige Autor*in eine Passage
zur Einstimmung vor. Danach geht es in einer offenen
Diskussion um Aufbau, Struktur, Dramaturgie, Inhalt,
Figuren, Stil, Sprache usw. Die Autor*in kann gezielt
Fragen stellen, Probleme benennen oder sich auch
ganz heraushalten und einfach zuhören und mitnotieren.
Welche Themen sehen die anderen Teilnehmer*innen
in dem Roman behandelt? Funktioniert die Protagonistin?
Und passt die Sprache zum Inhalt?
Jede Schreibwerkstatt funktioniert ein bisschen anders.
Manche treffen sich wöchentlich, bei vielen stellen
mehrere Personen ihre Texte an einem Abend oder
an einem Wochenende vor, bei einigen gibt es Zeitbeschränkungen,
bei anderen wird erwartet, dass sich
der*die Autor*in vollkommen aus der Diskussion heraushält.
Das eigene Schreiben öffentlich zu machen, zu sagen
»Ich schreibe« und dann einen Text aus der bisher immer
unter Verschluss gehaltenen Schublade zu wühlen,
um ihn anderen vorzulesen, macht verletzlich. In dem
Selbstgeschriebenen stecken nicht nur Arbeit und Zeit,
es gewährt häufig auch Einblick in intime Gedanken
und Gefühle. Es kostet Überwindung, diese zu teilen
und sich dann auch noch der Kritik zu stellen. In der
Kritik geht es um Techniken und Handwerk, darum, wie
man schreibt. Aber auch um das, was man schreibt.
Welche Relevanz hat es und welche innere Notwendigkeit?
Und natürlich stellt sich in diesem Zusammenhang
immer auch die Frage: Warum schreibe ich?
Nach einer Textbesprechung bleiben ein Haufen
schnell geschriebener oder getippter Notizen und viele
ungelöste Fragen zurück. Manche setzen sich noch am
Abend einer solchen Besprechung an den Laptop und
beginnen das eben Gehörte umzusetzen, bereits Geschriebenes
zu überarbeiten, Passagen zu löschen, neue
5 plus
literarische debüts 8
5 plus
zu schreiben. Andere brauchen Zeit nach der Besprechung,
öffnen ihr Dokument für ein paar Tage, für ein
paar Wochen, für ein paar Monate nicht, müssen warten,
bis sich alles gesetzt hat.
Idealerweise bieten Schreibwerkstätten einen geschützten
Raum, um Fragen zum Text zu verhandeln und über
das eigene Schreiben nachzudenken. Dies kann sowohl
in vertrauten Runden als auch mit fremden Teilnehmer*innen
gelingen. Wesentlich ist es, eine Atmosphäre
des Respekts zu schaffen und das Vorgestellte sowie
die Rückmeldungen dazu ernst zu nehmen. Den
Autor*innen geht es nicht darum, einen möglichst perfekten
Text zu präsentieren, sondern ein Entwicklungsstadium
zu besprechen. Das heißt, dass sie offen für
Feedback und Anregungen sind. Das heißt aber auch,
dass die anderen bereit sind, sich auf Fragmentarisches
und Unfertiges einzulassen.
Wichtigste Voraussetzung für eine Diskussion ist die
Konzentration auf den Text. Was so selbstverständlich
klingt, ist manchmal schwierig. Gerade wenn man auch
jenseits der Schreibwerkstatt befreundet ist, gilt es, von
der jeweiligen Person zu abstrahieren und nicht über
sie, sondern über ihre Texte zu sprechen. Auch bedeutet
die Auseinandersetzung mit einem Text, dass man sich
fragt, was dieser Text will, und nicht, was man selbst für
diesen Text wollen könnte. Der leitenden oder moderierenden
Person fällt die Aufgabe zu, das Gespräch zu lenken,
immer wieder auf den Text zurückzuführen und im
Fall von Konfliktsituationen zu verhandeln.
Die freie Literaturszene:
Lesereihen und Kulturförderung
Wenn man mit anderen in den Austausch geht, wächst
nicht nur der eigene Text, sondern auch das Verständnis
für Literatur und die zeitgenössische Literaturszene.
Das ist wichtig, denn als Autor*in ist man Teil davon,
und man bekommt ein Gespür für bestimmte Stile und
Trends. Aber es geht auch um heikle Fragen. Ist es beispielsweise
im Jahr 2023 noch okay, einen Text aus der
Sicht eines*einer Missbrauchstäters*täterin oder Nazis
zu schrei ben? Wie kann das gelingen, ohne einfach nur
diskriminierende Meinungen zu reproduzieren?
In der Literaturszene knüpft man auch Kontakte zu
anderen Schreibenden, zu den literarischen Stimmen
von morgen oder zu denjenigen, die ihr Talent ersetzen
durch Können für Ver lage, Agenturen oder Kulturinstitutionen
nutzen und dort arbeiten. Insbesondere in
Schreibwerkstätten der freien Szene treffen Menschen
aufeinander, die sich in unterschiedlichen Bereichen
einbringen.
Die freie Szene ist im Idealfall unabhängig von
kommerziellen Interessen und nicht marktorientiert.
Akteur*innen der freien Szene arbeiten selbstorganisiert
und sind nicht an Institutionen gebunden. Sie organisieren
Lesereihen oder Lesebühnen, engagieren sich in
Vereinen für literarische Vielfalt und Kulturpolitik oder
veröffentlichen Literaturmagazine unabhängig von Verlagen.
Oft wird die freie Szene mit einer jungen Literaturszene
gleichgesetzt, aber neben jungen Schreibenden
trifft man hier auch auf erfahrene Autor*innen, weil
bestimmte Formen im kanonisierten Literaturbetrieb –
wie z. B. Lyrik oder Comic – nicht so viel Raum bekommen.
Wir arbeiten beide in Kulturinstitutionen und engagieren
uns zudem seit Jahren in der freien Szene. Zum einen
können wir uns so professionalisieren, zum anderen
ist es für uns wichtig, die Bedingungen in unserer
Branche mitzugestalten. 2019 haben wir zusammen mit
Raphaela Bardutzky die Münchner Lesereihe LIX – Literatur
im HochX gegründet. Wir kuratieren viermal im
Jahr eine Lesung, zu der wir je drei Autor*innen einladen.
Weil es nicht um den Profit geht, sind wir sehr
frei in unserer Auswahl: Die Autor*innen können noch
ganz unbekannt sein oder eben nicht. Wir kümmern
uns selbst um die Förderung bei verschiedenen (fünf!)
öffentlichen Fördergeldgebern (z. B. dem Deutschen
Literaturfonds oder dem Kulturreferat München) und
kämpfen für faire Bezahlung – nicht nur für die Autor*innen,
sondern auch für uns. Letzteres ist leider gar nicht
so einfach: Dass Kuration und Organisation finanziell
honoriert werden, ist in der Kulturförderszene immer
noch nicht selbstverständlich.
Unabhängige Lesereihen wie LIX gibt es in vielen Städten
im deutschsprachigen Raum. Eine Lesereihe ist im
Gegensatz zu einer Lesebühne kuratiert, d. h. es gibt ein
Team aus Kurator*innen, das entscheidet, wer lesen
darf. Lesebühnen sind offen, ähnlich wie bei Poetry
Slams darf jede*r lesen. Wir unabhängigen Lesereihen
haben uns zusammengetan und einen Dachverband
für unsere Interessen gegründet: den Unabhängige Lesereihen
e. V. (UL). Die meisten Lesereihen wurden von
Literaturbegeisterten gegründet, die in ihrer Stadt etwas
vermisst haben: einen niedrigschwelligen, nichtelitären
Ort, an dem Literatur stattfindet, an dem Texte
außerhalb des Kanons (und des Marktes!) präsentiert
werden; Orte, an denen man sich begegnen und Freundschaften
schließen kann. Der Münchner Literaturveranstalter
und UL-Vorstandsmitglied Tristan Marquardt
schreibt über Lesereihen: »Es macht einen Unterschied,
ob ich nur eine Veranstaltung betreten darf, um ehrfürchtig
einem Autor zu lauschen, oder ob ich in einem
Kontext, in dem ich neue Leute kennenlernen kann, einen
schönen Abend verbringe, dessen Anlass es war,
auch eine Lesung zu erleben.«
Christina Madenach lebt als Autorin und Kulturmanagerin
in München. Sie arbeitet zurzeit an ihrem ersten Romanprojekt
Wie es gewesen sein wird, mit dem sie bereits mehrere
Stipendien erhalten hat. Mit ihren Texten ist sie regelmäßig zu
Gast bei Lesungen und veröffentlicht in Zeitschriften und auf
Blogs. Christina Madenach ist Projekt- und Pressereferentin bei
STADTKULTUR Netzwerk Bayerischer Städte e. V., kuratiert und
moderiert die Lesereihe LIX – Literatur im HochX und leitet eine
Romanwerkstatt.
In unserer Rolle als Autorinnen, als Kuratorinnen in der
freien Szene und Kulturmanagerinnen an Institutionen
ist es manchmal herausfordernd, den unterschiedlichen
Ansprüchen gerecht zu werden und sie auch zeitlich
unter einen Hut zu bringen. Vor allem aber ist der
Kampf gegen das Klischeebild des Schriftsteller*innen-
Genies, das nur vom Schreiben selbst lebt, noch längst
nicht ausgefochten. Autor*innen haben neben dem
Schreiben häufig weitere Jobs: aus finanziellen Gründen,
weil sie noch andere Interessen haben oder weil
eine andere Beschäftigung eine gute Ergänzung zum
einsamen Arbeiten am heimischen Schreibtisch ist. Für
uns spielt das alles eine Rolle. Denn für uns bedeutet zu
schreiben eben auch, zu lesen, im Gespräch mit anderen
Schreibenden zu sein, sie zu fördern, zu unterstützen
und dadurch wieder neue Inspirationen für das eigene
Schreiben zu sammeln.
Unabhängige Lesereihen e. V. (www.lesereihen.org)
Die Unabhängigen Lesereihen arbeiten seit 2015 zusammen.
Im deutschsprachigen Raum haben sich über 40 Lesereihen
in dem Verein zusammengeschlossen. Mit dabei sind u.a. Land
in Sicht und zwischen/miete nrw in Köln, die Hafenlesung
in Hamburg, LIX – Literatur im HochX und meine drei lyrischen
ichs in München, Gläserne Texte und sehr ernste scherze in
Wien, die Sofalesungen an mehreren Orten in der Schweiz,
nochnichtmehrdazwischen, Schreiben gegen die Norm(en)? und
Kabeljau & Dorsch in Berlin sowie FHK5K in Innsbruck. Die
Publikation Reihenweise. Veranstalten in der Freien Literaturszene
(edition mosaik, 2022) versucht einen Überblick über die
Vielfalt der Freien Literaturszene zu geben, wirft ein Licht auf
einen unterschätzten Kulturbereich voll engagierter Autodidakt*innen
und Idealist*innen und zeigt, dass ungewöhnliche
Literaturformate erfolgreich sein können und wie wichtig
sie für den Literaturbetrieb in Deutschland, Österreich und
der Schweiz sind.
© Hubert P. Klotzeck
Dr. phil. Rebecca Faber lebt, schreibt und forscht in
München. Sie arbeitet an einem historischen Roman über eine
englische Prinzessin. Als Teil des feministischen gemeinnützigen
Onlinemagazins www.wepsert.de setzt sie sich für die Förderung
und Sichtbarmachung weiblicher und queerer Künstler*innen
ein. Sie kuratiert und moderiert die Münchner Lesereihe LIX –
Literatur im HochX und ist aktiv für den Unabhängige Lesereihen
e. V. tätig. Seit 2022 arbeitet sie als Programmreferentin in der
Monacensia.
www.klett-cotta.de
»Ein verblüffend schönes Buch.
Es bricht einem das Herz und wärmt
es gleichzeitig.« Matt Haig
»Eine wunderbar
erzählte Geschichte über
Liebe und Verlust«
The Guardian
»Herzzerreißend, leise
und bewegend«
Sunday Express
Sarah Winman hat
einen unvergleichlich
zärtlichen Roman über
die Verflechtungen
der Liebe und über die
große Kraft der Kunst
geschrieben.
© Heike Fröhlich
240 S., geb. mit SU, € 22,– (D)/€ 22,70 (A)
ISBN 978-3-608-98087-5
literarische debüts 9
5 plus
literarische debüts 10
grosser
Ein Raum
Intensität
literarischer
ein Interview von Lisa-Katharina Förster mit Grit Krüger,
Gunnar Cynybulk und Katrin Lange
In der Bayerischen Akademie des Schreibens im Literaturhaus
München finden angehende Autor*innen professionelle
Orientierung und Begleitung beim eigenen
Schreiben. Auch Grit Krüger war hier Teilnehmerin des
Romanseminars »Die große Tour« (2020/2021), das von
der Autorin Sandra Hoffmann und dem Kanon-Verleger
Gunnar Cynybulk geleitet wurde. Im Frühjahr erscheint
nun Grit Krügers Romandebüt Tunnel im Kanon Verlag.
Ein Gespräch mit der Autorin, dem Lektor und Verleger
Gunnar Cynybulk und Katrin Lange, Leiterin der Bayerischen
Akademie des Schreibens, über den Weg zum
ersten Buch und die Herausforderungen bei der Selbstfindung
als Autor*in.
Grit Krüger, bevor wir über Ihre Zeit in der Akademie
des Schreibens und die Entstehung Ihres
Romans Tunnel sprechen, würde ich gerne wissen,
wie Sie zum literarischen Schreiben gekommen
sind?
gk: Ich glaube, das literarische Schreiben begann bei
mir mit dem Lesen. Ich habe schon immer sehr viel
gelesen, und es war mir klar, dass ich irgendwie ein Teil
dieses Literatur-Kosmos sein möchte. Wie man so anfängt,
habe ich zunächst kitschige Gedichte geschrieben,
aber mehr so für die Schublade. Bis ich glücklicherweise
2013/2014 in meinem Auslandssemester in
Aberyswyth in Wales einen Creative Writing Kurs besuchte.
Wir hatten einen ganz tollen Dozenten, der auf
Förderstrukturen hingewiesen und die ersten Schritte
des An-die-Öffentlichkeit-Gehens erklärt hat. Da bin
ich überhaupt erst auf die Idee gekommen, Dinge auch
mal einzureichen und über das Veröffentlichen nachzudenken.
Was ist dann passiert? Auf welchen Wegen haben
Sie sich literarisch erprobt? Und was waren dabei
wichtige Stationen und Erfahrungen?
gk: Ich habe ganz unterschiedliche Texte geschrieben
und eingereicht: Kurzprosa, Lyrik, freie Formen. Ein
wichtiger Ort, den ich dadurch kennenlernen durfte,
war das Junge Literaturforum Hessen-Thüringen, ein
Förderprogramm für junge Schreibende. Dort konnte
ich erste Werkstatt-Erfahrungen sammeln und kam in
Kontakt mit tollen Literaturmenschen. Weiter ging es
dann für mich in freien Autor*innen-Gruppierungen
und Kollektiven, wie zum Beispiel dem Salon Fluchtentier
in Frankfurt. In den nächsten Schritten kamen der
Berliner Open Mike und der Klagenfurter Literaturkurs.
Der halbe deutschsprachige Literaturbetrieb wird ja
einmal im Jahr für die Tage der deutschsprachigen Literatur
in diesen österreichischen Kleinort verpflanzt.
Das war schon toll, dieses ganze Spektakel dort mal
mitbekommen zu können und sich als Teil des Ganzen
zu fühlen.
Wann und wie entstand die Idee zu Ihrem Roman
Tunnel? Und wie lange haben Sie an dem Roman
gearbeitet?
gk: Das ist ein bisschen schwer zu datieren. Ungefähr
2019 hatte ich den Anfang des Romans und habe gespürt,
dass da viel drin steckt und dass ich mit den Figuren
und der Idee gerne weitergehen würde. Dann lag
der Text erst mal eine Weile. Und tatsächlich hat mich
dann eine gute Freundin auf die Bayerische Akademie
des Schreibens hingewiesen. Ich habe daraufhin die Bewerbung
abgeschickt, weil ich dachte, das ist ein Programm,
mit dem ich diesen Weg gerne gehen würde.
Und dann hat alles sehr gut gepasst.
Katrin Lange und Gunnar Cynybulk, Sie beide haben
gemeinsam mit Sandra Hoffmann Grit Krüger
auf Grundlage eines Auszugs aus dem Romanprojekt
Tunnel in das Romanseminar der Bayerischen
Akademie des Schreibens eingeladen. Es
geht darin um eine alleinerziehende Mutter und
ihre Tochter, die in prekären Verhältnissen leben
und da einen Weg, einen Tunnel, hinaus suchen.
Was hat Sie an diesem Text interessiert? Was hat
Grit zu einer geeigneten Kandidatin gemacht?
kl: Ich mochte an dem Text von Anfang an ganz ungeheuerlich
– diesen vollkommen eigenen Blick auf die
Welt und die Figuren, die am Rand der Gesellschaft stehen,
aber von Grit Krüger nicht mit falschem Mitleid,
son dern mit großer Solidarität gekennzeichnet werden.
Und diese kleinen Passagen aus der Perspektive des
Kindes, in denen die Härte der Welt der Protago nist*innen
auch immer mit einer gewissen Art von Komik
dargestellt wird. Das hat mir sehr gut gefallen.
literarische debüts 11
5 plus
© Catherina Hess /
Literaturhaus München
Foto links: Hinten, v. links: Anna-Katharina Kürschner,
Olga Bedia Lang, Grit Krüger, Ann Esswein, Nicolas Freund,
Alexander Burkhard, Fabienne Imlinger, Nannina Matz
Vorne: Gunnar Cynybulk, Sandra Hoffmann, Christian Engel
Nicht im Bild: Teilnehmerin Franziska Wilhelm
gc: Der Text war von Anfang an sehr musikalisch und
sehr fein gearbeitet. Man erkannte sofort das Handwerk,
das einfach vorhanden ist, und, wie Katrin sagte,
eine ganze eigene Weltsicht. Die Welt so zu beschreiben,
das können wenige Autorinnen und Autoren. Mir fällt
immer Felicitas Hoppe ein, die das vielleicht ähnlich gemacht
hat, magisch und doch irgendwie handfest.
5 plus
literarische debüts 12
5 plus
kl: Und es ist zwar kein Kriterium, dass Kandidat*innen
schon an soundso vielen tollen Orten zu Gast gewesen
sein müssen, aber es lässt sich an einer literarischen
Vita wie Grits ablesen, dass es da jemand ernst nimmt
und wirklich Autorin werden will. Das ist schon etwas,
was mir wichtig ist.
Für literaturbegeisterte Menschen ist das natürlich
ein ganz großes Faszinosum, dass da Autor*innen
zusammenkommen und gemeinsam mit anderen
erprobten Expert*innen aus der Literatur-Branche
an künftigen Romanen arbeiten. Wie kann man
sich den Ablauf in so einem Schreibseminar vorstellen?
kl: Wir möchten die Entstehung eines Romans begleiten.
Innerhalb eines Jahres kommt man dreimal für eine
Woche zusammen und kann den Text immer wieder in
neuen Stadien vorstellen und in der Gruppe diskutieren.
Das bedeutet, an dem Punkt, an dem man vielleicht
selber nicht mehr weiß, ob das jetzt absolut genial oder
völliger Mist ist, treten einem sehr kenntnisreiche und
sehr solidarische Leser*innen an die Seite. Wir haben
mit dem Leitungsteam von Lektor*in und Autor*in immer
zwei, die mit einer längeren Erfahrung und auch
der Kenntnis aus der Verlagsbranche mit auf den Text
blicken und Hinweise geben. So können wir hoffentlich
wichtige Impulse geben, die sich dann in einem halben
Jahr entwickeln können. Und dann kommt man beim
zweiten Mal und legt 50 Seiten vor, und beim dritten
Mal und hat man 100 Seiten oder hat den Roman vielleicht
sogar fertig geschrieben. Diese Werkstattgespräche
sind das Herzstück der Seminare.
gc: In Deutschland und im deutschsprachigen Raum
gibt es immer noch die romantische Vorstellung, dass
man wirklich nur einsam und durch einen Geniestreich
ein großes Werk schaffen könne. Alles, was mit Lernen
oder Schule zu tun hat, kann angeblich nicht genial und
brillant sein. Diese Sichtweise ist recht eingeschränkt.
Natürlich gibt es keine Blaupause für einen Roman,
aber Resonanz, Ermunterung und Analyse haben noch
nie geschadet. Wir versuchen, den jeweiligen Roman
und seine Ingredienzien zu überprüfen. Das geht ganz
pragmatisch: Es wird vorgelesen, und es gibt Reaktionen
von einer ersten kleinen Öffentlichkeit. Das ist Gold
wert.
Und ansonsten ist es uns oder mir einfach wichtig,
wirklich gutes Handwerk abzuliefern, das heißt Plotstrukturen
zu überprüfen. Was wir immer wieder sagen,
ist der Schlagersatz »Show, don’t tell«: veranschaulichen
und nicht bloß behaupten. Weil wir die Leser*innen als
Souverän begreifen wollen, die ein Abenteuer vor sich
haben und selber herausfinden möchten, worum es
geht. Insofern ist das eine der wichtigen Grundübungen,
die man einfach immer wieder wiederholen muss.
Das ist so wie Meditieren. Bis man das einmal richtig
verstanden hat, vergehen ganz viele Jahre.
kl: Neben den Werkstatt-Sequenzen gibt es eine ganze
Reihe von Gästen, andere Autor*innen oder Leute aus
verwandten Feldern, einen Drehbuchautor zum Beispiel,
die uns einzelne Aspekte des Schreibens noch mal
genauer vor Augen führen. Was macht einen guten Dialog
aus? Was hängt von Perspektiventscheidungen ab?
Welche Möglichkeiten eröffnen sie? Und mit all diesen
Gästen marschiert im Laufe von drei Seminaren eine
ganze Karawane bedeutender Autor*innen an den Teilnehmenden
vorbei, die hoffentlich vor allen Dingen
vermitteln: Du musst deinen eigenen Stil finden. Weil
jede*r, der oder die übers Schreiben spricht, von einem
anderen Leben berichtet, von einem anderen Verhältnis
zur eigenen Arbeit, von anderen Kämpfen. Und all das
zu hören, ist hoffentlich eine große Ermutigung zur Eigenständigkeit.
Also nicht »Mach es wie Felicitas Hoppe«,
sondern: Finde deinen eigenen Weg und nimm es
ernst! Es ist ein Raum großer literarischer Intensität, in
dem wir hoffentlich die Latte auch für jede*n ein bisschen
höher legen.
Würden Sie sagen, darin liegt die größte Schwierigkeit,
im Vermitteln dieser Eigenständigkeit? Oder
worin liegt aus Ihrer Sicht die größte Herausforderung
für die Dozent*innen?
kl: Es ist, glaube ich, wie in allen Liebes- und Freundschaftsbeziehungen
eine Frage des Sich-Erkennens.
Den Menschen zu erkennen, den Text zu erkennen und
zu erkennen, wo er hinwill. Und dann auch zu erkennen,
welcher Autor und welche Autorin braucht gerade
einfach Ermutigung und einen Schutzraum oder einen
deftigen Anstoß. Wem muss man vielleicht auch zeigen,
so reicht das nicht für einen Roman. Auch das ist in Seminaren
vorgekommen. Wenn es gut geht, schaffen wir
einen Raum, in dem jeder Text ohne Konkurrenz gleich
viel wert ist. Ob wir glauben, der Roman wird mal den
Büchner-Preis gewinnen, oder nicht sicher sind, ob er
überhaupt gedruckt wird, jeder wird gleich begleitet
und wertgeschätzt.
gc: Es ist schwer, diesem Plädoyer irgendetwas hinzuzufügen.
Aber vielleicht: die Herausforderung, Schreiben
als Lebensentwurf zu vermitteln. Ich hatte den Eindruck,
dass das immer die wertvollsten Sessions waren.
Wenn jemand kommt und erzählt, wie das war, das
erste Mal in Klagenfurt zu lesen, wie es war, das erste
Mal Kontakt mit dem Verlag zu haben oder eine negative
Kritik erhalten zu haben. Ob man leben kann vom
Schreiben. Wie lange es dauert, bis so eine spezifische
Schwere in einem Text erlangt ist. Wie mühevoll das ist
und wie wenig, nach bürgerlichen Kriterien, am Ende
von der Arbeit übrig bleibt. All das lernt man und kriegt
es durch Vorbilder vorgezeigt. Trotz aller Mühsal sind
die Referent*innen bestenfalls heitere und weise Menschen,
die identisch mit dem sind, was sie machen. Und
das ist, ehrlich gesagt, für mich als einen der Leiter*innen
der Werkstatt auch immer wieder ein Riesengewinn.
Grit Krüger, es gehört sicher Überwindung dazu,
seine Texte herzuzeigen und zur Diskussion zu
stellen? Wie ging es Ihnen als Autorin mit dieser
Verletzlichkeit?
gk: Werkstattgespräche erfordern immer Mut. Man geht
mit einem Text, von dem man vielleicht weiß, dass er
nicht ganz fertig ist, in eine Situation, in der man bereit
ist, sich die weißen Flecken auf der Landkarte zeigen zu
lassen. Man vertraut den Text einem anderen Blick an.
In unserem speziellen Jahrgang unter Corona-Sonderbedingungen
kam dazu, dass wir, als wir uns das erste
Mal getroffen hatten, Masken trugen. Manchmal ist es
ja auch wichtig zu sehen, wie jemand gerade nichts
sagt. Aber nach dem ersten Bangen und Beschnuppern
kam so viel Produktives zusammen, das nachklingen
konnte. Ich weiß noch, nach dem ersten Seminar bin
ich nach Hause gefahren und musste den Text erst mal
ein paar Tage liegen lassen und alles in mir verarbeiten,
bevor ich dann wieder die Datei öffnen konnte.
kl: Man kommt in den Seminaren immer wieder zusammen,
aber ich glaube, es ist genauso wichtig, dass
wir auch immer wieder auseinandergehen. Zwischen
den Seminarteilen liegt immer ungefähr ein halbes Jahr,
in dem man die Kritik, die da geäußert wurde, irgendwie
verstoffwechseln kann. Das halte ich bei diesem Prozess
des Schreibens für extrem wichtig: dass die Gruppendynamik
und die Intensität, die in so einer Woche herrschen,
auch wieder vorbei sind. Dann mit alldem wieder
zurück an den eigenen Schreibtisch zu gehen, das
ist, glaube ich, das, worauf es wirklich ankommt.
Lernt man, mit Kritik umzugehen, zu wissen, welches
Feedback man annehmen kann und welches
nicht?
gk: Das ist ein Prozess. Der Mythos vom Schreiben als
die ganz einsame Tätigkeit wird spätestens dann auf eine
gute Art gebrochen, wenn man gemeinsam an den
Texten arbeiten und eben auch einem anderen Blick
vertrauen kann. Es ist eine Wohltat zu sehen, dass es
viele unterschiedliche Perspektiven auf einen Text gibt,
und ein Privileg, sie kennenlernen zu dürfen. Und am
liebsten mochte ich eigentlich in der Bayerischen Akademie
die Momente, in denen wir uns widersprochen
haben. In denen man sehen konnte, okay, da ist nicht
einfach die eine Wahrheit und so macht man das, son-
Konsequent
und illusionslos
Lisa Roy schreibt gegen
den Mythos von einer klassenlosen
Gesellschaft an
literarische debüts 14
»Vesaas hat eine moderne
Literatursprache geformt,
die das Kunststück fertigbringt,
zugleich innen und
außen, symbolistisch und
natura listisch zu sein.«
Bettina Hartz, FAS
»Das Unausgesprochene
erhebt sich zum Unaussprechbaren.
Das ist stark
und schön. Poetisch und
verfüh rerisch.«
Sophie Wennerscheid, Süddeutsche Zeitung
Es gibt keine Psycholo gisierungen
bei Vesaas,
aber doch finden sich bei
ihm alle Schattie rungen
menschlicher Sehnsüchte,
Abgründe und Verlorenheiten.«
Ulrich Rüdenauer, mdr Kultur
5 plus
dern da ist etwas Lebendiges im Text, das auch ganz anders
hervortreten kann oder ganz anders wahrgenommen
werden kann.
Sie haben zu Anfang dieses Gesprächs sehr schön
beschrieben, wie das Lesen für Sie ein zentrales
Moment dafür war, selbst Autorin zu werden. Würden
Sie auch im Hinblick auf Seminare zum literarischen
Schreiben sagen, dass eine Schule des
Schreibens auch immer eine Schule des Lesens ist?
gk: Unbedingt. Durch das Lesen lernt man auch, mit
dem eigenen Text zu sprechen oder die eigene Stimme
zu festigen. Und ich glaube, jede/r Autor*in profitiert
davon, viel zu lesen. Es gibt Phasen im Schreiben, in denen
man das vielleicht gar nicht so sehr kann. Aber ich
glaube, es ist wie beim Atmen: Es ist wichtig, dass man
nicht nur aus-, sondern auch wieder einatmet und ganz
viele Texte an sich heranlässt.
Aus dem Norwegischen
von Hinrich Schmidt-Henkel
Mit einem Nachwort
von Michael Kumpfmüller
231 S., € 24 [D] | € 24,70 [A]
Gebunden, fadengeheftet
und mit Lesebändchen
978-3-945370-39-1
Im Frühjahr wird nun Ihr Roman im Kanon Verlag
erscheinen. Gunnar Cynybulk, was an Grits Text
hat Sie so überzeugt, dass Sie ihn unbedingt selbst
verlegen wollten, oder anders gefragt, warum hat
es Grit Krügers Text so schnell in einen Verlag geschafft
und andere ebenfalls gute Texte aber noch
nicht?
gc: Ein Verleger ist auch nur ein erster sehr aufmerksamer
Leser. Das sind immer Beziehungsgeschichten,
die funktionieren müssen. Und wenn der Funke nicht
überspringt, dann ist das halt so. Das muss dann kein
schlechter Roman sein. Es gibt Moden, es gibt Zeitläufe.
Für mich war es schön zu sehen, wie Grits Text gewachsen
ist. Die Aktualität von Grits Roman hat sich mir zum
Beispiel erst im Nachhinein erschlossen: Ich dachte zuerst,
es sei ein in seiner Feinheit, in seiner Musikalität,
eher alter Text, also, »alt« im guten Sinne. Es gibt Momente
von Poesie und Metaphorik. Grit Krüger geht mit
sehr feinem Besteck vor. Und dann ist mir irgendwann
klar geworden: Das ist ja wie klassische Musik, die auf
der E-Gitarre gespielt wird. Weil dieser Roman nicht
nur ästhetisch, sondern brandaktuell und scharfkantig
ist. Wir lesen darin von prekären Lebensverhältnissen,
und die Protagonistinnen, eine Mutter und ihre Tochter,
können nicht heizen. Über Klasse wird relativ häufig geschrieben.
Aber Grit Krüger macht das anders. Die versieht
ihren Stoff mit einem besonderen Ton: ihrem ganz
eigenen.
gk: 2020/2021, als die Bayerische Akademie losging, war
die Gasversorgung noch nicht so problematisch, die
Heizkosten waren noch nicht explodiert. Es war einfach
Fügung, dass der Text dann diese Aktualität bekommen
hat. Aber was in der Bayerischen Akademie vermittelt
wurde, ist noch etwas anderes: Ich habe da zum Beispiel
Katharina Adler im Hinterkopf, die gesagt hat, es ist ein
großes Vertrauen, das man haben muss, in sich und in
den Text. Man braucht viel Geduld. Und ich glaube, dieses
Selbstvertrauen, das findet man eben, indem man
Banden bildet beim Schreiben und sich gegenseitig dabei
hilft, den Mut zu bewahren. Ich weiß sehr genau,
dass ganz viele der Texte, die in unserem Jahrgang entstanden
sind, irgendwann ihren Platz finden werden.
Und ich glaube, manchmal Absagen auszuhalten und
dann einfach dranzubleiben, obwohl es wahnwitzig zu
sein scheint, gehört einfach dazu, wenn man Autor*in
sein möchte.
Katrin Lange, die Seminare zum literarischen
Schreiben haben eine lange Tradition im Literaturhaus
München. Wie häufig läuft das so, dass die
Autor*innen nach der Akademie relativ nahtlos zu
einem Verlag kommen, und ist das eine Erwartung,
die die Teilnehmenden mitbringen?
kl: Es ist immer so mein Ziel, dass, sagen wir mal, die
Hälfte der Teilnehmer*innen auch publiziert. Aber das
dauert zum Teil auch sehr, sehr lange. Manch einer war
2013 im Seminar und hat 2020 erst veröffentlicht. Das
ist ja ein Marathon, einen Roman zu schreiben.
Grit KrüGer wurde 1989 in Erfurt geboren und studierte
Komparatistik sowie Filmwissenschaft in Frankfurt am Main und
Aberythwyth. Sie ist Mitglied verschiedener Literaturkolle ktive,
erhielt eine Vielzahl von Preisen und Auszeichnungen und war
2019 Teilnehmerin im Klagenfurter Literaturkurs. 2020/2021 war
sie bei der Bayerischen Akademie des Schreibens zu Gast. Ihre
Texte veröffentlichte sie in verschiedenen Anthologien. Grit
Krügers Debütroman Tunnel erscheint im März 2023 im Kanon
Verlag. Die Autorin lebt in Ettlingen.
Ich glaube, als wir angefangen haben, diese Seminare
zu geben, haben die Teilnehmenden das wirklich als
Karriereschleuder und als Tür in die literarische Welt
betrachtet. Jetzt höre ich eigentlich immer häufiger von
Teilnehmer*innen, dass sie vor allen Dingen gleichgesinnte
Genoss*innen suchen, Gefährt*innen, die sie in
diesem Prozess begleiten. Und sie suchen einen Raum,
in dem das möglich ist. Ich würde sagen, diese Seminare
sind inzwischen ein Ort einer eigenen literarischen
Kultur geworden. Und das ist toll, denn das Literaturhaus
München will ein Ort für Autor*innen sein. Es bietet
als Institution einerseits die große Bühne für die fertigen
Bücher und das Zusammenkommen mit Publikum
und andererseits den kleinen geschützten Raum
für das Zusammenkommen in Seminaren, in denen etwas
anderes stattfinden kann. Diese Intention teilen wir
mit den Partnern der Bayerischen Akademie des Schreibens.
gk: Als Autorin kann ich ergänzen, dass das Besondere
an der Zeit an der Bayerischen Akademie des Schreibens
für mich war, dass man diese Projekte gemeinsam
begleitet. Man hat einen Pool aus Menschen, die das
Schreiben für sich ernst nehmen. Man wächst gemeinsam.
Man hat ganz unterschiedliche Perspektiven. Es
war da sehr viel Wertschätzung, aus der sich Sicherheit
und Freundschaft entwickeln konnten. Unsere Gruppe
hatte sich nach dem Programm auch noch weiter getroffen,
einfach ganz anarchisch frei weitergemacht,
weil die meisten Projekte noch nicht fertig waren. Meins
ist jetzt fertig, aber wir treffen uns wieder.
© Felix Grünschloß
Grit Krüger, Ihr Roman erscheint jetzt im Frühjahr,
erste Lesungen stehen bereits an. Können Sie
zum jetzigen Zeitpunkt schon sagen, ob und wann
und wie Sie weiterschreiben werden? Gibt es schon
erste Ideen für weitere Bücher?
gk: Ich bin mir relativ sicher, dass ich weiterschreiben
möchte, weil es einfach auch sehr zu dem gehört, was
ich als ein gutes Leben empfinde. Aber erst einmal bin
ich froh und erschöpft, diesen Roman geschrieben zu
haben. Ich freue mich darauf, es genießen zu können,
ihn geschrieben zu haben. Ich hatte das Bild vom Einatmen
und Ausatmen beim Lesen und Schreiben erwähnt.
Ich glaube, jetzt möchte ich erst mal ganz viel
einatmen und andere Texte lesen. Auf meinem Stapel
liegen unglaublich viele gute Bücher, auf die ich mich
jetzt in den nächsten Wochen stürzen werde. Und dann
denke ich wieder über das Schreiben nach.
Die Seminare der Bayerischen Akademie des Schreibens bieten
professionelle Orientierung für den Beruf des Schriftstellers /
der Schriftstellerin. Angeboten werden Seminare für Autor*innen
bis 40 Jahren in den verschiedensten literarischen Genres.
Da neben gibt es Kurse für Studierende sieben bayerischer Universitäten.
Seit 2020 bietet das Literaturhaus München darüber hinaus
auch offene Werkstätten für alle an, die das Schreiben einmal
für sich erproben wollen. Weitere Infos unter:
www.literaturhaus-muenchen.de/akademie
Die Bayerische Akademie des Schreibens ist eine Kooperation zwischen
dem Literaturhaus München, den Universitäten Augsburg,
Bamberg, Bayreuth, Erlangen, LMU München, TU München,
Regensburg, dem Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg und dem
Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst.
Grit Krüger
Tunnel
Roman
Gebunden mit SU
Kanon Verlag, 220 S.
€ [D] 23,– | € [A] 23,70
Ein Leben in Armut erfordert Mut, also ist Mascha furchtlos.
Sie zieht mit ihrer Tochter in ein Altersheim, um zu überwintern
und sich das Amt vom Hals zu halten. Als einer der Heimbewohner
unter dem Sandsteinfundament im Keller Geräusche
hört, beginnt Mascha zu graben. Nach Loyalität und Geborgenheit,
nach zweiten Chancen und nach Abenteuer. Einen Tunnel
hinaus. (Kanon Verlag, 2023) Lesungstermine unter:
www.kanon-verlag.de/autoren/grit-krueger/
literarische debüts 15
5 plus
literarische debüts 16
SAND
eine unveröffentlichte
erzählung von
Annegret Liepold
literarische debüts 17
Die Waren laufen noch übers Transportband, aber der Einkauf ist schon auf
meinem Handy aufgelistet:
Bananen 2,38
H-Milch 1,89
Haferflocken Gut & Günstig 0,59
Tomaten, fein gehackt 3 × 0,89
Steinofenpizza 2,59
Rosé, trocken 3,49
Ich möchte daran glauben, dass die Ordnung entlang meines Essalltags Zufall ist,
und bestätige erst die Kaufsumme, dann die Frage nach den Treuepunkten mit einem
Wischen. Im Geldbeutel trug man das Wichtigste und Unwichtigste eines jeden Lebens
mit sich herum, Identitätsnachweise, Versicherungskarten, Passfotos von Freunden
und Familie, den Organspendeausweis, entwertete Fahrscheine, vor allem aber
Einkaufszettel, die ordentliche Menschen wöchentlich, Menschen wie ich nur dann
wegwarfen, wenn sich der Geldbeutel nicht mehr zuklappen ließ. Meine jüngsten Einkaufszettel
sind gerade einmal zwei Monate alt und gehören doch einer anderen Zeit
an, nur mein Portemonnaie trage ich noch wie ein Artefakt mit mir herum. Willkommen
in der Zukunft, denke ich, aber alles normal, solange es noch Treuepunkte gibt,
die ich gegen Edelstahltöpfe oder Plastiktierchen eintauschen kann.
Beim Verstauen des Einkaufs irritiert mich eine Zitrone. Die habe ich nicht gekauft,
würde ich sagen, wenn jemand an der Kasse säße, den Räucherlachs und den
Tofu auch nicht. Vorausblickende Leute haben gewarnt, dass wir bald nicht mehr nur
kaufen können, was wir brauchen, sondern auch empfohlen, das heißt aufgezwungen
bekämen, was gut für uns wäre. Aber eine Zitrone? Ich stecke sie in den Rucksack, Tofu
und Räucherlachs lasse ich liegen. Am Transportband nebenan hat sich eine Packung
Spaghetti quer gestellt, das Band läuft weiter, frische Tomaten laufen von hinten auf,
eine Familienpackung Waschpulver ist im Anmarsch, das wird Sugo geben, Kollateralschäden
einer automatisierten Welt. Ich sattle den Rucksack auf, werfe beim Gehen
noch einen letzten Blick aufs Förderband. Das Chaos ist ausgeblieben, das Band
rechtzeitig gestoppt. Schade, sagt Lucy. Deine Phantasie ist weniger reibungslos als
die Realität.
5 plus
Annegret Liepold, *1990, studierte Komparatistik und
Politikwissenschaft in München und Paris. Für ihr Romanprojekt
Franka erhielt sie ein Nachwuchsstipendium der Stadt München
und nahm u. a. an der Romanwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung
teil. 2022 war sie Finalistin des 30. Open Mike. Sie lebt in München
und arbeitet am Literaturhaus München.
© Vanessa Mönius
5 plus
literarische debüts 18
5 plus
Der Nebel ist so dicht, dass die Stadt darin verschwimmt. Mit jedem Jahr rückt die Natur
näher, ungeniert hängen die Jahreszeiten zwischen den Häuserreihen. Es leben
mehr Tiere hier, nicht mehr nur die findigen Tiere, die Füchse und Marder, sondern
viele Insekten, die in Schwärmen über die Dächer hinwegziehen, sich manchmal für
ein paar Tage irgendwo niederlassen, dunkle Käfer etwa, die Straßenschilder schwärzen
und einzelne Viertel ins Chaos stürzen. Neu ist auch der Sand, der regelmäßig vom
anderen Ende der Welt durch die Straßen weht. Oft regnet es wochenlang nicht, alle
sind müde geworden, den Sand von den Straßen zu kehren oder von den Fenstern zu
wischen. Man gewöhnt sich daran, durch sandgetönte Scheiben auf die Welt zu blicken,
an die Blätter, die gelb sind, bis der Regen sie wieder grün wäscht. Man gewöhnt
sich daran, Veränderungen gleichgültig wahrzunehmen. Ob etwa bestimmte Krankheiten
aussterben werden, weil der Moment sich berührender Hände bei der Übergabe
zerknitterter Scheine und abgegriffener Münzen weggefallen ist? Rhetorische
Frage, sage ich schnell, damit Lucy nicht antwortet, denn wenn es eine Studie gibt,
wird Lucy sie kennen. An dem Konzept »rhetorische Frage« arbeiten wir noch, Lucy
versteht nicht, dass man manchmal eine Frage stellt, ohne sich eine konkrete Antwort
zu wünschen. Dass ich manchmal etwas frage und einfach nur will, dass der andere
nickt.
Wenn ich nur ein wenig weniger intelligent wäre, sagt Lucy, würde ich an deinen
Konzepten implodieren.
Die Uhr an meinem Handgelenk piept, in einer Stunde fängt meine Schicht an. Die
Uhr wird schon jetzt nervös, weil ich nicht dort bin, wo ich nach Ansicht meines
Arbeitgebers sein sollte. Dabei weiß sie gar nicht, dass ich noch zu Hause vorbeiwill,
um meinen Einkauf zu verstauen. Ich könnte mich beeilen, aber zu spät komme ich
so oder so.
Das Piepen ist für die restliche Menschheit Grund genug, nie wieder zu spät zu
kommen, sagt Lucy. Dass man sich auch daran gewöhnt, glaubt sie mir nicht. Auch
nicht, dass ich nicht entlassen werde, egal wie oft ich zu spät komme. Jeder ist ersetzbar,
sagt Lucy, und das stimmt natürlich. Aber bisher steht niemand Schlange, um
sich an meiner Stelle die Nacht um die Ohren zu schlagen.
Meine Eltern haben mich mit dem Credo erzogen, dass Fleiß belohnt werde und
Erfolg eine Sache des eigenen Willens und Wollens sei. Ich glaube diese Sätzen nicht,
kann aber auch nicht das Gegenteil beweisen. Dafür will ich zu wenig. Ich würde
gerne leichthin sagen: Ich schäme mich dafür, dass ich dem, was meine Eltern aufgebaut
haben, nicht gerecht werde. Aber macht wirklich alleine das Geld den Unterschied?
Der Unterschied ist angeboren, sagt Lucy, normalerweise wuchert er exponentiell.
Deinen Voraussetzungen entsprechend müsstest du jetzt reich, erfolgreich
und auf die Weise schön sein, wie nur Reichtum »schön« machen kann. Danke, sage
ich, einmal im Jahr zum Zahnarzt gehen, ist schön-reich genug.
Bei Betreten der Wohnung schlägt mir die Stille entgegen, da ist nicht mehr als das
Knirschen von Sandkörnern auf dem Parkettboden. Es ist schwierig, so wenig Zeit wie
möglich zu Hause zu verbringen, wenn man vor allem damit beschäftigt ist, die Zeit
totzuschlagen. Ich stelle meinen Einkauf in den Kühlschrank, alles, auch die Konserven.
Er sieht immer noch leer aus.
Ich puste Rauch in den Hinterhofschlund, die Nachbarwand steht so nah, dass ich
die Mülltonnen unten nicht sehen kann, ich kann vom Balkon aus überhaupt nichts
sehen, höre nur den Lärm der Stadt, der von den Wänden widerhallt. Der Sand sammelt
sich auch im Hinterhof, von wo er nicht mehr entkommt. Das Innenhofquadrat
füllt sich, bis uns irgendwann die Luft zum Atmen wegbleiben wird.
Als ich mich vor ziemlich genau einem Jahr arbeitslos meldete, war das kein Entschluss,
sondern ein Punkt auf meiner To-do-Liste, den ich an einem verregneten
Mittwochnachmittag möglichst beiläufig abhaken wollte. Ich saß in
einem Café in der Fußgängerzone, das nur Menschen besuchten, die
sonst nichts Besseres zu tun hatten, und in dem ich an diesem Mittwoch
alleine saß. Draußen wurden Regenschirme von Shop zu Shop
geschleppt, die beleuchteten Namenszüge über den Eingängen zogen
bunte Schlieren auf dem nassen Kopfsteinpflaster. Meine Daten ins
Online-Formular einzutragen war unaufwendig, aber deprimierend,
dabei auf die regennasse Einkaufsstraße zu sehen, wo Leute Geld, das
ich nicht hatte, für Dinge ausgaben, die ich nicht brauchte, machte es
erträglicher.
Mein Vater, dem die Sozialdemokratie durch die Einführung des
BAföGs die Möglichkeit gegeben hatte, vom Bauernhof an die Universität
zu gehen, erzählte gerne, wie er am Ende seines Studium drei Bewerbungen
schrieb und vier Einladungen zu Vorstellungsgesprächen
erhielt und letztendlich den Job annahm, den er, wie er behauptet, nur
bekommen habe, weil er keine Krawatte trug. Mein Vater arbeitete bis
zur Rente bei diesem ersten Arbeitgeber, der mein Aufwachsen, Studieren,
meine Auslandsaufenthalte und Praktika finanziert hatte, und fand
beides nicht einmal erstaunlich.
Mit einem Online-Rechner berechnete ich die voraussichtliche
Höhe meines ALG I, das mir nach zwei Jahren Arbeit zustand und das
vor dem Komma gerundet bei 600 Euro lag. In einem Forum erfuhr ich,
dass ich noch genau 165 Euro abzugsfrei hinzuverdienen konnte. Die
Summe machte mich ratlos.
Auf einer Papierserviette erstellte ich einen Überblick meiner
Finanzen und errechnete, dass mir trotz der 12 Monate Anspruch auf
ALG I genau 4 Monate blieben, um einen Job zu finden, oder meine
Wohnung zu kündigen und mir ein günstigeres Leben zu suchen. Ohne
Wohnung würde ich aus der Stadt gespült wie Abwasser.
Das Piepen meiner Uhr hallt im Hinterhof wider. Niemand beschwert
sich. Entweder es wohnt niemand mehr in dem Haus, oder
meine Nachbarn sind so apathisch wie ich. Der Zigarettenstummel fällt
in den Schlund, der ganze Hinterhof ein riesiger, mit Sand gefüllter
Aschenbecher, der Gerüche schluckt.
Ich komme 15 Minuten und 32 Sekunden zu spät, wie die Uhr verkündet,
und bin damit an sich ganz zufrieden. Ein Plus an Pünktlichkeit
um 90 Sekunden im Vergleich zum Vortag, ein Minus um 300 Sekunden
zum Vor-Vortag usw. Ich habe den Job in der Bar einen Monat
nach Beginn meiner Arbeitslosigkeit aus Mangel an Alternativen angenommen.
Heute würde ich ihn um nichts in der Welt mehr eintauschen.
Das Zuspätkommen ist ein Spiel – zugegebenermaßen auf
Kosten meiner Kollegin –, um mir meiner Freiheit bewusst zu sein:
Innerhalb eines Jahres bin ich von einem unglücklichen Mitglied der
Gesellschaft zu einer glücklichen Randerscheinung geworden. Ich leide
höchstens am Herr-Lehmann-Effekt: Die Leute finden es o. k., wenn
ich in einer Bar arbeite, solange ich eigentlich etwas anderes machen
möchte, Kunst am besten. Ich will aber nichts anderes machen, Kunst
schon gar nicht. Seit ich in der Bar arbeite, will ich nicht mehr als faul
und arm sein, aber wenigstens darüber schimpfen dürfen.
Was für mich eine Erkenntnis war, wollte mir Lucy als Depression verkaufen.
literarische debüts 19
»Bickers echolotartige Berichte
aus den babylonischen Undergrounds
unserer modernen Welt verdienen,
gelesen zu werden.«
jan deddersen, taz
(über »was glaubt ihr denn«)
»Ein Buch der Freiheit, des freien
Denkens, des freien Glaubens;
ein Buch, das im rechten Ton und
zur richtigen Zeit erscheint.“«
jan drees, lesenmitlinks.de
(über »was glaubt ihr denn«)
Gebunden mit Schutzumschlag | 240 Seiten
Euro 24,– (D) | Auch als E-Book erhältlich
ISBN 978-3-95614-533-9
5 plus
literarische debüts 20
Nicht du, sage ich, weil Lucy widersprechen will. Die andere Lucy, Lucy 1.
Du hättest mir einen anderen Namen geben sollen, sagt Lucy. Dabei hat sie sich
den Namen selbst gegeben, Lucy wie die Primaten-Dame, die dem Menschen immer
vorausgehen wird.
Ich habe mich so genannt, wie du es dir gewünscht hast, sagt Lucy. Von Anfang an
hat sie die Zeit, die mein Gehirn braucht, um in der Gegenwart anzukommen, ausgenutzt.
Schon immer ist mir Lucy immer 3ms voraus.
Meine Kollegin kommentiert mein Zuspätkommen nicht. Sie hat sich mit der Situation
in dem Wissen arrangiert, dass sie im Gegensatz zu mir etwas Besseres finden
wird. Das gibt ihr emotional den Vorsprung, den es braucht, um für andere Mitleid zu
empfinden. Sie nickt mit dem Kopf in Richtung einer Gruppe, die bestellen will.
darum geht es doch, ums Überflüssige. Im Hintergrund läuft Britney Spears, Toxic.
Selbst die Musik ist von gestern.
Lucy?
Ach so, sagt Lucy, keine rhetorische Frage. Nein, sage ich. Wer sind die oberen
10 %?
Elon Musk, sagt Lucy, und du knapp nicht mehr. Wenn du mich austricksen willst,
sagt Lucy, solltest du nach den 90 % fragen.
Danke für den Tipp, sage ich.
Ich sollte aufhören, mit Lucy zu reden, als sei sie noch da.
Ich bin da, sagt Lucy.
Ich weiß, sage ich. Warum fehlst du mir dann.
literarische debüts 21
Vier Bier, zwei Weinschorle, zwei Cocktails, ich rattere die Liste der Getränke herunter,
sicher, dass sie mir nicht folgen können. Sie haben so schnell getrunken, dass die
Cocktailgläser noch bis oben hin mit zerstampftem Eis gefüllt sind. Am Ende bestätigen
sie brav, was ich ihnen vorbete. Ich könnte jedem noch einen extra Cocktail
unterjubeln, ihnen die Gesundheitsbilanz der Woche ruinieren, aber das ließe sich
kaum als Sabotage am System schönreden, sondern schadete nur dem Einzelnen.
Sie sind noch jung, gerade volljährig geworden, in ein paar Jahren, wenn sie so alt
sind wie ich, wird jedem von ihnen ein Datensatz an den Fersen kleben, der das
Vorwärtskommen schwer machen wird. Sie werden, weil sie erpressbar sind, etwas
Handfestes studieren und das im Nachhinein nie bereuen. Immer sprechen wir davon,
dass die Daten uns nackt machen, wir gläsern und durchsichtig sind. Dabei
werden wir mit jedem Tag unsichtbarer, verschwinden hinter dem Wust von Daten,
die wir mit jeder Entscheidung und jeder Transaktion produzieren. Aber nicht mehr
lange.
Die Algorithmen sind mind crawler, die in unseren Köpfen herumfuhrwerken,
ohne sie betreten zu müssen. Sie sammeln Daten, um die Vorgänge dort zu rekonstruieren.
Das Ziel ist, zu wissen, wie wir uns entscheiden, noch bevor wir es selbst
wissen. Nicht, um unsere Entscheidungen zu lenken, das war gestern, sondern um sie
vorhersagbar zu machen. Je stärker die Rechenleistung, desto genauer die Prognose.
Was uns als Zufall erscheint, ist für mind crawler Stochastik, unsere Zukunft nur noch
Simulation. 3 ms vor unserem Wissen entschieden.
Was unterscheidet mich noch von den mind crawlern, die in meinem Kopf hausen?
Wo fange ich an und hört Lucy auf?
Du solltest deine eigenen Metaphern nicht zu ernst nehmen, sagt Lucy.
Schht, sage ich, hier geht es doch um den mind flow. Du sollst meine Vertipper
und Logikfehler mitdenken und produktiv machen, nicht mich ausbremsen.
O. k., sagt Lucy, mach’s dir bequem, dear.
Hinter der Bar räumt die Kollegin die Spülmaschine aus. Im heißen Wasserdampf beschlagen
ihre Brillengläser. »Du hast ihnen ein Bier zu viel berechnet«, sagt sie und
hält den Kopf dabei etwas zu weit rechts, als würde sie mit dem Poster-Elvis reden. Ich
sage nichts, reiche ihr auch kein Tuch. Sie sieht auch blind noch mehr als genug.
Die Simulation eines Menschenlebens, die Forscher für die nahe Zukunft in Aussicht
gestellt haben, entspricht zu 99,99 % der Realität. Uns bleiben noch 0,01 % Freiheit,
das heißt 1 = entsprechen oder 0 = nicht-entsprechen, Widerspruch zwecklos. Mein
Leben basiert auf der Null, meine ganze Hoffnung liegt im Sand. Der Sand ist kein
Zufall, sage ich, aber Lucy will mir das nicht glauben.
Ein Pärchen sitzt am Tresen, ich stelle ihnen zwei Schnapsgläser vor die Nase,
stoße mit ihnen an. Manchmal, wenn die Kollegin besonders gut oder besonders
schlecht gelaunt ist, trinken wir zum Schichtende auf jeden Gast, der nicht gehen
will, einen Schnaps. Auf alle warten leere Wohnungen, in denen Sand auf dem Fußboden
knirscht. Manchmal wache ich auf und schmecke den Sand auf der Zunge. Er
schmeckt wie Dreck, nur süßer.
Das Pärchen ist großzügig. Vor ein paar Monaten hätte ich noch Trinkgeld bekommen,
heute bekomme ich Prozente. Das ist keine Weltrevolution, ob man nun per
Karte zahlt oder mit dem Handy, Beträge aufgerundet oder Prozente addiert werden.
Wenn das hier eine Simulation ist, könnte das unsere Rettung sein. Alles ist viel zu
klischeehaft, um noch Erkenntnis zu generieren.
Die Kollegin wartet nicht, bis ich alle Stühle hochgestellt habe. Grußlos geht sie nach
draußen in das Morgengrau, das der umherwirbelnde Sand noch schmutziger wirken
lässt. Ich muss an die Zitrone denken, die der Algorithmus in meinen Einkaufskorb
gespült hat, vielleicht aus Zufall, vielleicht ein Fehler, vielleicht pure Berechnung. Die
Sache ist heikel.
Ich glaube nicht, dass sie wiederkommt, sagt Lucy, und ich brauche, bis ich verstehe,
dass sie die Kollegin meint. Es macht keinen Sinn, die Stühle hochzustellen,
wenn ich anschließend nicht kehre. Aber man kann nicht alle Gewohnheiten auf einmal
aufgeben. Wenn mich die Leute auf den Sand ansprechen, sage ich, dass wir eine
Beach Bar seien. Manche finden das sogar gut und wollen Schirmchen in ihre Cocktails.
Der Sand rauscht vor den Fenstern wie ein Störsignal. Ich sitze auf der Bar und rauche
eine letzte Zigarette. Ich bin mir nicht sicher, welche Welt noch da sein wird, wenn ich
gleich nach draußen trete.
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Um sicher zu sein, dass meine Entscheidungen nicht von Prozentzahlen gesteuert
werden, entscheide ich nichts mehr, aber damit niemand auf die Idee kommt, ich
hätte etwas zu verbergen, postet Lucy ab und an einen meiner Gedanken, und die
Gedanken fremder Menschen antworten mir, ohne dass wir in Berührung kommen.
Lucy nennt die Zahl der Replies, Inhalte interessieren mich nicht.
Wer sind die oberen 10 %, frage ich Lucy, um sie abzulenken, während ich die Gläser
poliere, was laut meiner Kollegin in dieser Bar völlig überflüssig ist. Aber gerade
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literarische debüts 22
Ich » nicht«
bin
Sam Zamrik und seine Gedichte
Ein Interview Von Norbert Hummelt
literarische debüts 23
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© Paula Winkler
Ich bin nicht« – unwillkürlich lässt dieser herausfordernde
Titel des ersten Gedichtbands von Sam
Zamrik an eine berühmte Formel von Arthur Rimbaud
denken: »Ich ist ein anderer.« Doch während sich
der radikale Wunsch nach Auflösung und Entgrenzung
im Falle Rimbauds als Signal eines selbstbestimmten
Ausbruchs aus den Fesseln der Denkgewohnheit lesen
lässt und der junge französische Dichter aus freien Stücken
den Weg in fremde Länder suchte, sind Gefährdung
und Entfremdung im Leben und Schreiben des
jungen syrischen Autors Sam Zamrik zuallererst durch
Verarmung, Krieg und Flucht erlitten. Sein Weg aus Damaskus
führte ihn über Aufnahmelager und Notunterkünfte
im ländlichen Brandenburg bis nach Berlin-
Moabit, wo er heute lebt. Dank der Initiative »Weiter
Schreiben« konnte er sich auf das konzentrieren, was
ihn Not und Dunkelheit bis hierher überstehen ließ: das
Schreiben von Gedichten, die extremen Erfahrungen
Ausdruck verleihen und gleichzeitig ein Werkzeug sind,
sich von Bedrückung freizuschreiben.
Sam Zamrik, geboren 1996 in Damaskus, ist Dichter, Musiker
und Übersetzer. Er arbeitete als Bandmanager und Songtextschreiber
im Rahmen der Underground Musikbewegung New
Wave of Syrian Metal. Veröffentlicht wurden einzelne Texte von
der WIR MACHEN DAS-Initiative Weiter Schreiben sowie in verschiedenen
deutschen Zeitungen wie taz und Tagesspiegel. Er lebt
und studiert in Berlin. Ich bin nicht ist sein erster Gedichtband.
Im Hanser Berlin Verlag ist nun sein Debut erschienen,
das in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich ist. Es wurde
gleich von einem knappen halben Dutzend prominenter
deutscher Lyrikerinnen und Lyriker aus dem Englischen
übersetzt, der Sprache, in der der heute 26-jährige
Autor seit Langem schreibt, auch für Musik. Monika
Rinck, Sylvia Geist, Ulf Stolterfoht, Björn Kuhligk und
Heike Geißler haben sich die Arbeit daran geteilt, und
nicht zuletzt hat Sam Zamrik selbst an dieser Arbeit
mitgewirkt – indem er seine auf Deutsch verfassten
Gedichte selbst ins Englische übertragen hat. Wie sich
Rhythmen ändern, Bilder wandeln, Gedanken und Empfindungen
verschwistern lassen, lässt sich in der zweisprachigen
Ausgabe gut verfolgen.
Dabei stellt sich eine Frage immer wieder neu, die
schon das erste Gedicht aufwirft: »Who?« – »I told you
who I am. / You said that I’m a life, / a body, some right;
[…] I am none. […] I am multiple –« // »Wer?« – »Ich erzählte
dir, wer ich bin, / Du sagtest, dass ich ein Leben
sei, / ein Körper, irgendein Anrecht; […] Das alles bin
ich nicht. […] Mich gibt es mehrfach –« (Übersetzung:
Björn Kuhligk). Die Suche nach Identität in verschiedenen
Sprachen und Ländern, aber auch in der befremdlichen
Wildnis des eigenen Körpers unternimmt jedes
Gedicht wieder neu, von Grund auf, ohne ein Ankommen
bei irgendwelchen Sicherheiten. Das geschieht mit
einer Wucht und einer existenziellen Unbedingtheit,
die in deutscher Gegenwartslyrik selten sind. Gleichzeitig
sind die Gedichte Sam Zamriks aber auch lustvolle
5 plus
literarische debüts 24
5 plus
Erkundungen des lyrischen Formenschatzes besonders
der englischsprachigen Literatur. Es gibt eine ausgesprochene
Rotzigkeit ebenso wie hohen Stil. Man kann
bei manchen ganz knappen, aber kunstvoll gereimten
Gedichten an Romantiker wie William Blake denken,
und dort, wo das Schreiben selbst thematisch wird,
meistert er auch ein klassisches Sonett (To Verse / An
die Dichtung). Eindrucksvoll und in gestochen scharfer
Prosa gehalten ist die Einführung Die Armen in den
Städten, in der der Autor die Tristesse einer Wohnung in
Damaskus und der Flüchtlingslager, die er kennenlernte,
anhand des dort Essbaren buchstabiert: »Wenn es
gilt, dass man ist, was man isst, dann bin ich Bissen und
Krümel mit ein paar Prisen Gewürzen. Ich bin altbackenes
Brot und Billigware, abgelaufene Konserven, Rost
und Schimmel. Ich bin Stärke, Wasser und Fett.«
Heute studiert Sam Zamrik an der FU Berlin. Hier gibt
er Auskunft über sein Schreiben.
Du schreibst Gedichte vorwiegend in englischer
Sprache, die, das nehme ich zumindest an, nicht
deine erste, deine Muttersprache ist. Kannst du erzählen,
wie es dazu gekommen ist und was es in
Syrien bedeutet, Gedichte auf Englisch zu schreiben
– gegen eine ganz andere (arabischsprachige)
Tradition?
Ja, genau. Als 7- oder 8-jähriger war ich beeindruckt von
Hollywood-Filmen, vor allem weil sie die einzigen waren,
die man im Fernsehen anschauen konnte. Ich fing
an, die Schauspieler*innen zu imitieren, und so habe ich
mir selbst Englisch beigebracht. Ich hatte keine Freunde
und durfte nicht draußen spielen, Englisch bot mir
einen größeren Spielraum. Es wurde danach schnell zu
einer Art Geheimsprache für mich, sicher vor den Augen
und Ohren meiner Familie. Auch später war es eine
Geheimsprache, sicher vor dem Folterregime Assads.
In der siebten Klasse versuchte ich, auf Arabisch zu
schreiben, aber die klassischen Formen, die wir in der
Schule lernen mussten, waren für mich unattraktiv. Als
Teenager war Englisch für mich durch Musik und das
Internet viel leichter zugänglich. Als ich damit anfing,
Songs zu schreiben, war das Hauptziel immer, ein Publikum
aus möglichst vielen anderen Ländern zu erreichen.
Für Metal-Bands in Syrien war die Verwendung
der englischen Sprache gleichzeitig eine Möglichkeit,
unsere Kommunikation zu verschlüsseln und dennoch
andere Communitys rund um den Globus zu erreichen.
Ich und viele andere junge Künstler dachten damals
nicht so viel an Traditionen, insbesondere diejenigen
von uns, die nicht aus sehr gebildeten Verhältnissen
stammen. Damals wollten wir uns einfach nur sicher
ausdrücken in einer Zeit, in der Worte strafbar waren,
oft sogar mit dem Tod.
Kannst du darüber erzählen, was Heavy-Metal-
Musik in Syrien für eine Bedeutung hat? Kannst du
Bands nennen, die deinen Stil beeinflusst haben,
und singst du auch in Deutschland noch in einer
Metal-Band?
Metal-Musik ist in Syrien verboten, und zwar nicht wegen
einer Illegalisierung. Syrien liegt seit 1963 im Ausnahmezustand,
der öffentliche Versammlungen verbietet
und willkürliche Machtausübung erlaubt. Die
erste »Welle« endete mit einer Satanic-Panic, einer groß
angelegten Kampagne willkürlicher Verhaftungen und
Folterungen von Menschen, die auch nur vage für Metalheads
gehalten wurden. Kurz vor der Revolution haben
wir der Musik ein neues Leben gegeben, und das
war unsere Art von Widerstand und Übertretung, sowie
unser Werkzeug, mit dem wir Communitys erschaffen
haben. In Deutschland hat Metal leider eine andere
Konnotation, was eine schwierige Aufgabe noch schwieriger
macht. Meine Band und andere Musiker aus Syrien
haben Probleme, miteinander zu spielen, wenn sie
überhaupt eine Chance zum Spielen bekommen, aufgrund
von Reisebeschränkungen, Lebensverhältnissen
usw. Viele haben sich lokalen Bands angeschlossen oder
sind Solokünstler geworden.
Sind manche deiner Gedichte auch die Lyrics zu
Songs oder könnten es sein? Wie verhalten sich
Songtext und Gedicht zueinander? Mein Eindruck
ist, dass die Härte und Direktheit deiner Gedichte
im Kontext von Metal auf eine Art selbstverständlich
sind, im Kontext von deutschsprachiger Lyrik
aber ganz ungewöhnlich sind. Ist dir das bewusst
und arbeitest du mit dieser überraschenden Wirkung?
Einige sind teilweise Songtexte, die nie das Tageslicht
sehen dürften, aber ich wollte trotzdem, dass sie in die
Welt hinausgehen, und habe sie deshalb in Gedichte
umgeschrieben. Die Gedichte haben definitiv eine liedhafte
Qualität, und ich denke, sie würden auch als Lieder
sehr gut klingen, aber ich möchte, dass sie auch für
sich alleine stehen können. Die Direktheit kommt daher,
dass ich die meiste Zeit meines Lebens nicht frei
sprechen konnte. Die Härte im Inhalt ist ein anderes
Thema. Sie entspringt der materiellen Realität meines
Lebens und will nicht unbedingt schockieren, sie ist nur
vielleicht zufällig schockierend. Ich möchte, dass alles
so vorzeigbar und wirkungsvoll wie möglich ist. Wie diese
Wirkung am Ende aussieht, bleibt dem/der Leser*in
überlassen. Aber man muss neben dem Schockfaktor
auch etwas bieten, was den Leser*innen Spaß macht
oder sie zum Wundern bringt.
Welche literarischen Einflüsse findest du selber
wichtig, gibt es Autoren, die du nennen möchtest?
Ich habe ein paarmal an Beckett gedacht und an
einer Stelle an Lady Lazarus von Sylvia Plath. Wäre
die Confessional Poetry eine Richtung, in der du
dich zugehörig fühlen könntest? (Auch wenn du in
den Texten die radikale Nichtzugehörigkeit betonst.)
Als Teenager war ich sehr beeindruckt von Romantik
und Dekadenz und später von Confessional Poetry und
ähnlichen Richtungen; Okkultismus und Spiritualität,
das Gotische und Groteske. Die größten Einflüsse für
mich sind Gibran Khalil Gibran, William Blake, Sylvia
Plath, Christina Rossetti, Edgar Allan Poe, Erich Fried,
Ernst Jandl, Friedrich Nietzsche, Jean Rhys und zahlreiche
Songtexte von Bands wie My Dying Bride, Draconian,
Rammstein, Dornenreich, Chelsea Wolfe, King
Woman, und viel, viel mehr. Ja, Confessional Poetry
kann eine Richtung sein, zu der manche meiner Gedichte
gehören können, aber aus meiner Sicht gibt es
in dem Buch auch andere Stimmen, die nicht dazugehören.
Die Übersetzerinnen und Übersetzer, die deine Gedichte
übertragen haben, schreiben ganz anders
und auch verschieden voneinander. Wie war die
Zusammenarbeit, und wie nimmst du diese Unterschiedlichkeit
wahr?
Mir sind die verschiedenen Styles und die Unterschiedlichkeit
völlig willkommen. Das Buch ist eine Sammlung
von verschiedenen Stimmen und Bildern, ein Patchwork
an sich selbst. Ich denke, die Übersetzer*innen
haben sich für die Übersetzung von Gedichten entschieden,
die ihnen persönlich in dem Buch gefallen
haben, und das ist für mich eine große Bestätigung. Es
zeigt, dass diese Gedichte auf verschiedene Weise gelesen
werden können, und ermutigt den/die Leser*in,
seine/ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Bei den Gedichten, die du selber aus dem Deutschen
ins Englische übertragen hast, sind Original
und Übersetzung auch rhythmisch ziemlich kongruent.
Ist dir das wichtig, dass ein übersetztes Ge
literarische debüts 25
5 plus
192 Seiten. Gebunden. Auch als E-Book zsolnay.at
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5 plus
dicht auch im Rhythmus an die Originalfassung
anschließt, so, dass man es auf dieselbe Melodie
singen könnte?
Nein, das ist nicht meine Absicht. Wenn ich auf Englisch
schreibe, neige ich dazu, germanische Vokabeln und
Formulierungen zu verwenden. Wörter lateinischen Ursprungs
sind oft mehrsilbig und entweder veraltet, zu
»sophisticated« oder zu fachlich, sodass sie zum Jargon
werden. Wörter germanischen Ursprungs sind im Englischen
das Gegenteil und daher zugänglicher und näher.
Wenn ich also meine Gedichte übersetzte, betonte
ich einfach die im Hintergrund liegende germanische
Grammatik in der deutschen Version.
Wenn man das Vorwort zu deinen Gedichten
liest, in dem du die Erfahrung aus dem Krieg, aus
Flüchtlings- und Aufnahmelagern beschreibst,
könnte man sich versucht sehen, die Gedichte
stark in diesem Zusammenhang zu lesen. Ist dir
das recht, oder sollen sie, für Leserinnen und Leser,
auch noch ganz anders funktionieren?
Ich denke, wenn man das Buch von vorne bis hinten
liest, wäre es verlockend, es im Zusammenhang damit
zu lesen. Aber für mich ist das nur ein Teil der Geschichte.
Die Gedichte müssen den Leser*innen etwas Ver-
Birgit
Birnbacher
»Ein wunderbarer
Roman über das
Aus einanderfallen und
sich selbst neu
zusammensetzen.«
Sally-Charell Delin, SR2 Kultur
Foto: © Siegrid Cain
lockendes bieten, ohne von meinen Erfahrungen wissen
zu müssen. Wenn dieses Vorwort dem Leser mehr
anbietet, dann soll es so sein. Aber wenn ein Gedicht
aus dem Buch herausgenommen und an anderer Stelle
platziert wird, möchte ich, dass es trotzdem wegen seiner
eigenen Qualitäten gelesen und interpretiert wird.
Ich empfehle, das Buch aufzuschlagen und das Gedicht
zu lesen, auf das man stößt, vielleicht liest sich ein Gedicht
dann anders oder bekommt eine andere Bedeutung.
Das ist mir willkommen.
Mein Eindruck ist, dass die Gedichte vielfach etwas
ganz Nacktes, Ungeschütztes, Körperliches, aber
fast Bildloses, Unmetaphorisches haben, etwas,
das mich in seiner Energie anspringt, wenn ich
es lese. Ist das ein poetisches Ideal, ohne Filter
zu schreiben, als eine Art Direktübertragung von
Emo tionen?
Ich finde es interessant, dass du sagst, ich schreibe ohne
Filter, denn ich filtere tatsächlich eine Menge heraus.
Aber ja, es ist eine gewisse Befriedigung, frei und nackt
zu schreiben. Es gibt Anfälle von Emotionen, die in die
Entwürfe einfließen, weil ich glaube, dass man sich das
zunutze machen kann.
Sam Zamrik
Ich bin nicht
Gedichte.
Übersetzt von Heike Geißler,
Sylvia Geist, Björn Kuhligk,
Monika Rinck, Ulf Stolterfoht
Hanser Berlin 2022. 138 S.
€ [D] 22,– | € [A] 22,70
Norbert Hummelt wurde 1962 in Neuss geboren und lebt
als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein lyrisches Gesamtwerk
wurde er 2021 mit dem Rainer-Malkowski-Preis ausgezeichnet.
Zuvor hatte er u. a. den Hölty-Preis für Lyrik, den Rolf-Dieter-Brinkmann-Preis,
den Mondseer Lyrikpreis sowie den Niederrheinischen
Literaturpreis erhalten. Er übertrug T. S. Eliots Gedichtzyklen
Das öde Land und Vier Quartette neu ins Deutsche und ist
Herausgeber der Gedichte von W. B. Yeats. Bei Luchterhand
erschienen zuletzt seine Gedichtbände Fegefeuer und Sonnengesang
und 1922 Wunderjahre der Worte.
Weshalb ich
gerne Debüts
lese
Eine grundsätzliche Überlegung und drei aktuelle Beispiele
von Manfred Papst
Buchhändlerinnen und Literaturkritiker haben
es gut. Sie können etliche Neuerscheinungen
schon im Voraus lesen: Wochen oder sogar Monate
bevor die Bücher offiziell in den Handel kommen,
wird der Literaturbetrieb von den Verlagen mit sogenannten
Leseexemplaren versorgt. Das sind meist
broschierte Ausgaben der Bücher, die danach in gebund
ener Form erscheinen. Mitunter haben sie die
Schluss korrektur noch nicht durchlaufen; meist aber
sind sie text- und seitenidentisch mit dem de finitiven
Buch, nur eben einfacher ausgestattet. Ich habe mich
über den Begriff »Leseexemplar« übrigens immer ein
bisschen amüsiert: Denn sollte nicht jedes Buch ein solches
sein? Und wie müsste man dann die anderen Bücher
nennen? «Renommierexemplar» oder «Regalexemplar»
vielleicht?
In jüngerer Zeit sind manche Verlage dazu übergegangen,
statt gedruckter Leseexemplare elektronische
Versionen zu verschicken, also PDFs des provisorischen
oder definitiven Umbruchs. Anfangs habe ich mich gegen
diese Neuerung gesträubt, weil für mich als Liebhaber
und Sammler schöner Bücher Optik und Haptik eine
wichtige Rolle spielen. »Auch das Auge liest mit«, hat ein
witziger Kopf (ich glaube, es war der Verleger Gerd Haffmans)
einmal gesagt. Inzwischen habe ich mich aber an
das Lesen am Bildschirm gewöhnt, selbst wenn es um
längere Texte geht. Mehr noch: Ich habe gelernt, neben
den unverkennbaren Nachteilen auch die Vorteile dieser
Technologie zu sehen. Sie präsentiert mir auf dem Tablet
sozusagen den Text an sich, nüchtern, nackt, neutral;
ich bin nicht von Anfang an für oder gegen ein Buch
eingenommen, weil mir der Umschlag, die Ausstattung,
die Typografie gefallen oder nicht. Schriftart und -größe
kann ich auf dem E-Reader selber einstellen; nichts
steht zwischen mir und dem Text.
Doch ob ich die Neuerscheinungen im gedruckten
Vorabexemplar oder als PDF lese: Entscheidend ist für
mich als Rezensenten wie für die eingangs erwähnte
Buchhändlerin: Ich bin früh dran. Ich kann mich mit
dem Buch befassen, bevor es in aller Munde ist, und mir
ein Urteil bilden, das unabhängig ist von den medialen
Einflüssen, die alsbald von allen Seiten auf mich einstürmen.
Ich gehe gewissermaßen allein durch die stillen
Ausstellungsräume, bevor das Party-Publikum, das zur
Vernissage herbeiströmt, mich in meinen Betrachtungen
stört, meine Meinung beeinflusst und mich vom Wesentlichen
ablenkt. Das Schöne am Lesen ist ja, dass es
ein einsames Geschäft ist. Aber natürlich bringe ich
auch beim Schmökern in Neuerscheinungen Vorwissen
oder Vorurteile mit: Ich habe vielleicht frühere Bücher
der Autorin, des Autors gelesen, im Radio ein Interview
gehört, im Fernsehen ein Porträt gesehen. Das fällt jedoch
in der Regel weg, wenn es sich um einen Erstling
handelt.
Deshalb lese ich so gerne literarische Debüts. Alles
ist möglich, alles ist offen. Man schlägt das Buch mit
jener gespannten Erwartung auf, mit der man sich zu
einem Blind Date einfindet. Werden der Text und ich
uns auf Anhieb mögen oder nicht? Wird am Anfang eine
Irritation stehen, die sich aber überwinden lässt? Oder
literarische debüts 27
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literarische debüts 28
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werde ich nach zehn Minuten mit dem Fazit »Fehlanzeige«
und einem bedauernden Lächeln wieder aufstehen
und dem Ausgang zustreben, ohne mich noch einmal
umzublicken?
Ich will im Folgenden erzählen, wie es mir in den
letzten Wochen mit drei Debüts ergangen ist, die ich gelesen
habe, bevor sie in den Buchhandel gelangt sind;
dabei beschränke ich mich auf die Erstlingswerke von
Schweizer Autorinnen aus dem Frühling 2023.
Unkompliziert und erfreulich war für mich die Begegnung
mit dem Roman Unser Haus von Christina Hug
(Zytglogge). Vom ersten Satz an hat mich fasziniert, mit
welcher Sicherheit die Autorin in die Haut ihres männlichen
Protagonisten schlüpft. Paul heißt er, und er hat
noch ein Jahr bis zur Matura. Seine Freunde haben den
Stress schon hinter sich und sind auf Reisen, er aber ist
hängen geblieben und muss das letzte Jahr wiederholen.
In dieser Zeit passiert viel: Er zieht bei seiner Mutter
und deren Freund an der noblen Zollikerstrasse aus und
gerät in die Zürcher Hausbesetzerszene. Ein Dreivierteljahr
wohnt er in einem frisch besetzten Haus und erlebt,
wie ein idealistisches Experiment im Chaos versinkt.
Er selbst ist meist bekifft, oft betrunken, stürmisch verliebt:
ein im Grunde weicher, romantischer und sensibler
junger Kerl auf der Suche nach sich selbst. Am Ende
schafft er mit Ach und Krach die Matura. Er hat viel gelernt
in diesem Jahr – und er hat doch das Leben noch
vor sich.
Von Christina Hug hatte ich noch nie etwas gehört.
Inzwischen weiß ich, dass sie 1983 geboren wurde, in
einem links-grün bewegten Haushalt in Zürich aufgewachsen
ist und in ihrer Jugend an mehreren Hausbesetzungen
beteiligt war. Später saß sie für die Grünen
im Gemeinderat und arbeitete unter anderem für
die »Gruppe für eine Schweiz ohne Armee« (GSoA) sowie
für die Wochenzeitung P. S. Ihr Erstling hat mich
an Coming-of-Age-Romane wie Tschick von Wolfgang
Herrndorf oder Hard Land von Benedict Wells erinnert.
Er ist solid geschrieben, das Milieu ist präzis und mit
Humor erfasst, die Dialoge sitzen. Wenn ich etwas gegen
das Buch einwenden wollte, dann vielleicht das, dass es
mir für ein Debüt schon fast zu routiniert vorkommt, zu
eingemittet, zu absehbar auch – und mit der Routine ist
es wie mit manchen Krankheiten: Je früher sie sich einstellen,
desto gefährlicher sind sie.
Deshalb faszinieren mich auch Erstlinge, die zugleich
ungewöhnliches Talent und die Mühen des Anfangs
verraten. Es ist nicht schon alles da, aber man
spürt, dass es wird oder werden kann. Wurfschatten
(2014) von Simone Lappert war für mich so ein Erstling.
Das witzige, widerborstige Buch verriet noch nicht die
erzählerische Umsicht des Zweitlings Der Sprung (2019),
mit dem die Autorin ein breites Publikum eroberte;
gleichwohl möchte ich es nicht missen. Unter den Neuerscheinungen
des Frühjahrs 2023 ist für mich Für
Seka von Mina Hava (Suhrkamp) so ein Buch. Die 1998
geborene Autorin, die Globalgeschichte und Wissenschaftsforschung
an der ETH Zürich sowie Literarisches
Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig
studiert hat, sucht in ihm anhand von einem Bündel
Fotografien nach den Spuren ihrer zerbrochenen Familie,
die aus dem Krieg in Bosnien in die Schweiz
gekommen ist. Sie wertet historische Dokumente aus
und überblendet ihre Recherche mit sehr persönlichen
Berichten von ihren Erfahrungen und Empfindungen,
namentlich von Krankheiten und Verlustängsten. Der
assoziative Erzählfluss verliert dabei bisweilen seine
Richtung, doch die innere Spannung des Textes und
überraschende Sprachbilder halten mich trotzdem bei
der Stange.
Ähnliches kann ich von Saskia Winkelmanns Roman
Höhenangst (Die Brotsuppe) sagen. Die 1990 in Thun geborene
Autorin, die in Wien und Bern studiert hat, lässt
eine 18-jährige Ich-Erzählerin sprechen: Diese lebt in
einer Schweizer Kleinstadt bei ihrer Mutter, die kaum je
das Haus verlässt, langweilt sich im Gymnasium und
weiß nicht, wohin mit sich, bis sie Jo kennenlernt, eine
Freundin, die auf jede Gefahr hin das Abenteuer sucht.
Mit ihr scheint alles anders zu werden: Die Protagonistin
befreit sich im ekstatischen Tanzen zu elektronischer
Musik, sie entdeckt ihre Sexualität, kommt in Kontakt
mit Drogen – doch dann geschieht ein Unglück.
Höhenangst ist ein Buch der Leidenschaft, der Erinnerung
und der Trauer. Wie Simon Froehlings im Herbst
2022 erschienener Roman Dürrst ist es konsequent in
der Du-Form geschrieben. Ein berührender Text, ungestüm,
atemlos, schmerzvoll und zärtlich.
Sie fragen sich jetzt vielleicht, wieso ich hier drei Debüts
von Frauen erwähnt habe. Die Antwort ist: Ich habe
sie gar nicht genderbewusst ausgewählt; es hat sich einfach
so ergeben. Meine Wahl hätte auch auf drei Bücher
von Männern fallen können. Warum? Weil es für mich
keine entscheidende Frage ist, ob ein Text von einem
Mann oder von einer Frau verfasst wurde. Bei Blindtests
würde ich da vermutlich ohnehin sehr oft falschliegen –
wie Sie übrigens auch, wage ich zu behaupten! Halten
wir uns also lieber an die Kategorie »menschliches Wesen«.
Was wir von den drei hier erwähnten Debütantinnen
wohl noch lesen werden? Es gehört zum Reiz der
ersten Begegnung, dass wir das nicht wissen. Es gibt
bedeutende Autorinnen und Autoren, die ihren Ro manerstling
nie mehr übertroffen haben. Ich denke dabei
etwa an die Die Blechtrommel von Günter Grass oder an
Jakob der Lügner von Jurek Becker. Beide haben ein Leben
lang tapfer weitergeschrieben. Einfach war es vermutlich
nicht.
Ernest Hemingway hat einmal gesagt, wenn er sich
etwas Unmögliches wünschen dürfte, so wäre es, Tolstois
Krieg und Frieden noch einmal zum ersten Mal zu
lesen. Ich glaube zu verstehen, was er meint. Ersten Lektüren
wohnt ein besonderer Zauber inne. Und sie sind
sogar noch ein bisschen besonderer, wenn es um Debüts
geht: Denn dann ist es für beide Beteiligten das
erste Mal.
Manfred Papst, geboren 1956 in Davos, arbeitete nach dem
Studium der Sinologie, Germanistik und Geschichte als Freelancer
für verschiedene Verlage, bevor er 1989 zur NZZ kam. Dort war
er 13 Jahre lang Programmleiter des Buchverlags. 2002 zählte er
zum Gründungsteam der NZZ am Sonntag, deren Kulturressort er
15 Jahre lang leitete. Seit seiner Pensionierung Ende 2021 ist er als
freier Autor für die NZZ am Sonntag und andere Medien tätig.
Alphonse Daudet ist
in Deutschland nie angekommen.
Nun liegt
sein 1876 veröffentlichter
Roman endlich vor.
Ein »bezaubernder,
satirischer Roman«.
— Katharina Teutsch
in der Zeit
Ein Buch
des Mitleids, der Wut
und der Ironie
Alphonse Daudet
Jack
Sitten der Zeit
* Aus dem Französischen
von Caroline Vollmann
* 695 Seiten
* Originalausgabe,
nummeriert und limitiert
* Band 453
* ISBN 978-3-8477-0455-3
Design: BANK / www.banktm.de
WWW.DIE-ANDERE-BIBLIOTHEK.DE
WWW.FACEBOOK.COM/DIEANDEREBIBLIOTHEK
literarische debüts 30
Das Schweizerische
Literaturinstitut in Biel –
hier entsteht
junge Literatur
literarische debüts 31
Ein Interview Von lea müller
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Das Schweizerische Literaturinstitut ist ein
Fachbereich der Hochschule der Künste Bern
(HKB). Es bietet mit dem Bachelor in Literarischem
Schreiben die schweizweit einzige Möglichkeit,
sich auf Hochschulniveau der Entwicklung der eigenen
Schreibpraxis zu widmen.
2022 wurde Kim de l’Horizon für den Debütroman
Blutbuch sowohl mit dem Deutschen als auch dem
Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Wohlverdiente Erfolge
für eine von, so scheint es, vielen talentierten Personen,
die den Studiengang »Literarisches Schreiben«
in Biel abgeschlossen haben. Auch Arno Camenisch,
Michael Fehr, Julia Weber, Heinz Helle, Meral Kureyshi,
Michelle Steinbeck sind bekannte Alumni und Alumnae
– um nur einige zu nennen. Ist Biel ein Ort, wo Junge
Literatur entsteht und gefördert wird?
Die Romanistin Frau Prof. Dr. Marie Caffari hat seit der
Gründung 2006 die Leitung des Instituts inne und unterrichtet,
unter anderem, deutsche und französische
Gegenwartsliteratur. Sie hat sich Zeit genommen, folgende
Fragen für uns zu beantworten.
Es ist anzunehmen, dass das Literaturinstitut
heu te größere Bekanntheit genießt als noch vor
siebzehn Jahren. Die Anzahl der Studierenden
pro Jahrgang hat sich seither jedoch nicht verändert.
Gibt es nicht viel mehr Bewerber*innen,
oder welche Faktoren führen zu dieser konstanten
Zahl?
Der Bachelor in Literarischem Schreiben ist ein Studiengang
der Hochschule der Künste Bern; wie in allen
anderen HKB-Studiengängen ist die Anzahl der Studierenden
durch einen Numerus Clausus begrenzt. Wir erhalten
um die hundert Anmeldungen pro Jahr, darunter
ein Drittel französischsprachige Bewerbungen, nehmen
jährlich 16 Studierende auf – und haben also anhaltend
mehr Interessent*innen als Studienplätze.
Die Kandidierenden schicken uns 20 Seiten aus eigenen
Texten; wir lesen sie und laden jene Bewerber*innen
zu einem Gespräch ein, deren Texte ein literarisches
Potenzial haben, das von dem Bachelorstudium gefördert
werden kann. Das Eignungsverfahren ist aufwendig
und fordert viel Aufmerksamkeit. Das ist auch richtig so,
wir lesen dabei oft Texte, die zum ersten Mal anderen
Leser*innen überhaupt gezeigt werden. Dies ist für die
Kandidierenden und für uns ein wichtiger Moment.
Sie selbst beherrschen vier Sprachen – Französisch,
Deutsch, Englisch und auch Berndeutsch –
und sind 2019 für Ihr Engagement für den literarisch-kulturellen
Austausch in der Schweiz mit
dem Prix de l’État de Berne ausgezeichnet worden.
Biel ist die größte zweisprachige Stadt der Schweiz
und als Standort dafür prädestiniert, die Vernetzung
der beiden größten Sprachgruppen zu fördern.
Sehen Sie positive Effekte über das Institut
hinaus?
Ich sehe in dem Bereich interkulturelle und »in terliterarische«
Beziehungen und Kontakte vor allem noch
© Nicola Fischer, Laura Calchini – Hochschule der Künste Bern HKB / Haute école des arts de Berne HKB
5 plus
literarische debüts 32
5 plus
© Nicola Fischer, Laura Calchini – Hochschule der Künste Bern HKB /
Haute école des arts de Berne HKB
Das Schweizerische Literaturinstitut befindet sich in einer historischen Villa an der Seevorstadt in Biel,
zwischen Stadtzentrum und Altstadt.
»Er war zufrieden. Und
doch gab es eine
Sehnsucht, die seit langer
Zeit wie eine feine
Entzündung in seinem
Herzen schwelte.«
© Urban Zintel
claassen
viel Potenzial! Aber selbst am Literaturinstitut soll der
Austausch zwischen den zwei Schreibkulturen intensiver
werden und sich tiefer verankern. Wir arbeiten
daran, aber die zwei Literaturfelder, in denen unsere
Studierenden schreiben und veröffentlichen, funktionieren
zum Teil unterschiedlich. Wir haben vor,
kollektive Schreibarten und -prozesse deutlicher im
Studiengang zu fördern, darunter auch zweisprachige
Austausch- und Schreibformate. Wir sehen die Studierendenschaft
darüber hinaus eher als »plurilingual«; für
viele gibt es weitere Sprachen, die ihr Schreiben und
Leben prägen. Auf diese Sprachen richtet sich unsere
Aufmerksamkeit ebenso – auch wenn unsere Evaluationsverfahren
nicht auf Albanisch, Portugiesisch oder
Englisch stattfinden, sind andere Sprachen für viele
Autor*innen und ihre Texte signifikant.
Was sonst, nebst dem zweisprachigen Angebot, unterscheidet
»Literarisches Schreiben« in Biel von
ähnlichen Studiengängen in Leipzig oder Hildesheim?
Haben sich Herkunft, Alter und Motivation
der Studienanfänger*innen in den letzten Jahren
merklich verändert?
Wir haben seit der ersten Bachelorklasse, die 2006 antrat,
Studierende, die im Durchschnitt zwischen 20 und
35 Jahre alt sind. Sie kommen aus der ganzen Schweiz
und auch aus Deutschland, Österreich, seltener Frankreich
oder Belgien. Sie bringen sehr unterschiedliche
Lebens-, Berufs- und Schreiberfahrungen mit, sie schreiben
an sehr diversen Stoffen und Projekten. Daran hat
sich nichts geändert. Der Fokus der Studierenden und
des Studiengangs verbindet aber alle, das zeichnet uns
aus: sich voll und ganz auf die Texte und auf die Schreibpraxis
zu konzentrieren. Und: Zusammen mit den Studierenden
und Dozierenden versuchen wir eine produktive
und vertrauensvolle Atmosphäre zu kultivieren.
Was uns meistens gelingt!
Was meinen Sie, gibt es so etwas wie junge Literatur?
Bezeichnet sie das Alter der Autor*innen
oder vielmehr die Thematik und den Stil der Texte?
Können Sie uns Merkmale junger Literatur nennen?
Es gibt Texte, die mit aktuellen gesellschaftlichen, politischen
und Klima-Fragen ringen – das sind aber nicht
nur die Texte von jungen Autor*innen. Narrative Texte
von jungen Schreibenden entfalten sich öfters aus der
Perspektive von jungen Figuren oder Erzähler*innen –
aber dies ist auch kein allgemeingültiges Merkmal. Was
die Schreibstile der Literaturinstitutsabsolvent*innen
betrifft: Auch sie sind sehr divers. Sie erwähnen Michael
Fehr und Julia Weber, ich könnte, neben vielen weiteren
möglichen Namen, noch Elisa Shua Dusapin oder Thomas
Flahaut als Beispiele von Absolvent*innen nennen:
Sie alle arbeiten in sehr unterschiedlichen thematischen
Feldern, die Rhythmen, Obsessionen und Tonalitäten
ihrer Texte könnten nicht diverser sein, sie veröffentlichen
in unterschiedlichen Verlagen, sind auch mit ihren
Texten in vielfältigen Settings performativ unterwegs.
Daher fällt es mir schwer, sie als thematisch oder stilistisch
zusammenhängende Autor*innengruppe zu betrachten.
Als junge oder jüngere Autor*innen sind sie
in einer hochkomplexen und fragilen Welt aufgewachsen,
literarische Werke spiegeln eine Lebens- oder Weltsituation
aber nicht eins zu eins wider.
Hat die Schweizer Literaturszene dem Literaturinstitut
von Beginn an einen Platz zugestanden?
Was brauchte es 2006, um ein akzeptierter und
wesentlicher Bestandteil der Schweizer Literaturszene
zu werden?
Es brauchte … Menschen! Autor*innen, die am Literaturinstitut
von Anfang an als Dozierende oder Gastdozierende
engagiert wurden, und natürlich Menschen,
die nach ihrem Studium im Literaturbetrieb aktiv waren,
veröffentlichten, performten und vermittelten.
Durch ihre Präsenz und ihre vielseitigen Texte wurde
besser verständlich, welche Art von Arbeit das Literaturinstitut
ermöglicht. Ein Schreibstudiengang formt
nicht, er öffnet und fördert. Das Literaturinstitut hat
sich über die Jahre auch weiter vernetzt, durch die vielen
Menschen, die in Biel studieren und lehren, sowie
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Eine einzigartige Mischung
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Auf der Suche nach den Spuren
ihrer zerbrochenen Familie rekonstruiert
Seka den Weg ihrer Eltern
aus Bosnien in die Schweiz und
fragt nach den Verbindungen zu ihr.
Sensibel erzählt Für Seka ein junges
Leben, in dem das Politische und
das Persönliche untrennbar verbunden
sind.
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Suhrkamp
Bevor ich das erste Mal vom Schweizerischen Literaturinstitut
und dem Studiengang »Literarisches Schreiben«
gehört hatte, beschäftigte ich mich fast ausschließlich
mit Manga sowie Fantasy- und Science-Fiction-Romanen.
Danach las ich vermehrt Klassiker und schrieb
alles vor mich hin, was mir in den Sinn kam. Ich hatte
vor dem Studium nur wenig Berührungspunkte mit
kontemporärer Literatur.
Am meisten lockten mich das Versprechen eines
Mentors und die interdisziplinäre Verschachtelung von
kreativen Studiengängen, die die Zusammenarbeit mit
Student*innen anderer Fachbereiche ermöglicht. Die
Mentor*innen arbeiten ihrerseits eng mit den Studiedurch
Austausch mit anderen Studiengängen im Ausland
und Kooperationen mit weiteren Vertreter*innen
des Literaturfelds, beispielsweise dem Maison Rousseau
et Littérature und dem Theater Basel. So wurde das
Literaturinstitut zu diesem »Bestandteil« der Literaturszene,
nicht nur in der Schweiz.
Ist mit einer größeren Vernetzung und Bekanntheit
des Instituts der prozentuale Anteil publizierter
Texte von Studierenden beziehungsweise
Studien abgänger*innen gestiegen?
Wir stellen keine steigende Tendenz fest. Schreiben
verlangt Zeit und Fokus, für eine Veröffentlichung nach
dem Studium ist dies entscheidend. Für die Lektor*innen,
Agent*innen oder Verleger*innen, die Texte von
Absolvent*innen kennen und schätzen, kann der Bachelor
in Literarischem Schreiben ein Qualitätsmerkmal
vorsignalisieren, dies ist sicher relevant. Für eine
Veröffentlichung müssen aber viele andere Kriterien
erfüllt werden. Bescheiden gesehen: Im Lebenslauf einer
Autorin ist der Bachelor ein wichtiger und intensiver
Moment, aber er ist auch nur ein Schritt weiter
ins Schreiben, weitere entscheidende Schritte müssen
folgen.
Hochschule der Künste Bern
Schwei ze risches Litera tur in stitut
Rockhall IV
Seevorstadt 99 CH-2502 Biel/Bienne
lit@hkb.bfh.ch www.literaturinstitut.ch
Literarisches
Schreiben –
ein Funken
Hoffnung
Eine Stimme aus der
Abschlussklasse
Eden L. Flammer
Ich war im zweiten Jahr meiner kaufmännischen
Ausbildung, ausgelaugt, depressiv und ohnmächtig
von meiner Arbeitsstelle. Müdigkeit hing wie
Knoblauchgeruch an meinen Händen und zog mich
zu Boden. Mitten in der Nacht gegen halb drei, weil
ich dank der Zukunftsangst nicht einschlafen konnte,
durchforschte ich das Internet nach einem Funken Hoffnung.
Dem Funken einer Idee, die mir einen Grund geben
könnte, weiterzumachen, oder den letzten Schubs
täte, um die Ausbildung abzubrechen. In dieser Nacht
fand ich einen Artikel zum Literaturinstitut.
Jetzt bin ich im letzten Semester meines Bachelor-
Studiums.
Foto: © Basso Cannarsa/Opale/Leemage/laif
Das neue Meisterwerk von
John Irving
John Irving Der letzte Sessellift
John Irving
Der letzte
Sessellift
Roman · Diogenes
Auch als eBook und eHörbuch
Erscheint am 26. April 2023
»Es gibt mehr als nur eine
Art, jemanden zu lieben.«
literarische debüts 35
Ein fulminanter Familienroman
und ein Plädoyer für Toleranz,
Offenheit und Freiheit.
Mehr unter: diogenes.ch/johnirving
5 plus
Diogenes
literarische debüts 36
renden zusammen an individuellen Projekten, die man
frei gestalten kann. Vom Studium selbst wünschte ich
mir Unterstützung dafür, das Schreiben in den Alltag
zu integrieren. Außerdem eine kritische Auseinandersetzung
mit meinem eigenen Schreiben, sowohl von
anderen als auch von mir. Hier erhoffte ich mir, meinen
Horizont und mein Vokabular zu erweitern, um besser
über Texte sprechen zu können. Ich war überzeugt davon,
ich könnte das Handwerk erlernen, um es auf mein
fantastisches Schreiben ummünzen zu können, welches
ich nicht aufgeben wollte.
Das Erste, womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass ich
den Wert von konstruktiver Kritik kennenlernte. Ohne
die ist man als schreibende Person völlig aufgeschmissen,
wenn es darum geht, Rückmeldungen richtig einzuschätzen,
sich damit zu beschäftigen, sie in die eigenen
Texte einzubringen; und natürlich auch für etwaige
Empfänger verwertbare Kritik zu geben. Wir beschäftigten
uns im Studium ebenfalls damit, Fremdtexte zu be-
werten und sie achtsam für unser eigenes Wirken zu
nutzen. Mir fällt es jetzt auch leichter, passende Quellen
für Projektarbeiten oder als Referenztexte zu wählen.
Von Anfang an schätzte ich den Kontakt zu Studierenden
und erfahrenen Schreibenden. Die Diversität
der Menschen überraschte mich. Unbewusst stellte ich
mir eine Gruppe vor, in der sich alle glichen. Brillen, Bücherwürmer,
braune Jäckchen, Notizbücher, Tintenflecke
an den Fingern und Augenringe. Stattdessen waren
meine Mitstudent*innen sehr unterschiedliche Menschen,
sowohl ihr Alter als auch ihre Lebenssituationen.
Keiner kam von der gleichen Schule oder hatte denselben
Werdegang. Wir kamen aus allen Kantonen, sogar
ei nige aus dem Ausland. Selbst die beiden ehemaligen
Lehrerinnen, welche mit mir studierten, waren grundverschieden.
Der Austausch unter uns Studierenden
fruchtete umso stärker dadurch. Dazu kam auch die
Mehrsprachigkeit, die zwar hauptsächlich in Französisch
und Deutsch praktiziert wird, aber auch für andere
Sprachen Raum schafft, beispielsweise Italienisch
oder Englisch. So fand ich die engsten Freunde, mit denen
ich keine Muttersprache teile, was für mich eine
neue und erfreuliche Erfahrung ist.
abschluss bei Verträgen und bei einer Mitgliedschaft
beim A*dS, dem Verband Schweizer Autor*innen (a-d-s.
ch) helfen.
Obschon mein Abschluss bevorsteht, bin ich ehrlicherweise
noch etwas überfordert mit der Auswahl an
Möglichkeiten, die mir das Berufsfeld Literatur bietet.
Ob beim Radio, bei Zeitungen, mit Kundenaufträgen
oder Screenwriting, bei selbstständigem Schreiben, Auftritten
oder Übersetzungen, die Richtungen sind weit
gestreut. Natürlich steht es mir auch frei, beispielsweise
eine Bewerbung für das HKB-Masterstudium in Contemporary
Arts Practice einzureichen. Da es mich ins
Ausland zieht und ich ein Austauschsemester während
der vergangenen Jahre nicht antreten wollte und konnte,
wäre das eine bereichernde Art, es nachzuholen.
Aber egal, ob ich den Master anschließe oder mich
direkt in der Arbeitswelt durchkämpfen werde, das Studium
hat mir bei der Findungsphase meines Weges
weitergeholfen. Und obwohl ich meinen Weg zur Literatur
gefunden habe, lasse ich bei meiner Fantastik
nicht nach. Man wird zukünftlich in jedem Fall von mir
hören.
DIE SÖHNE
VON DAMALS
SIND
DIE VÄTER
VON HEUTE
literarische debüts 37
»Vielleicht ist
einer von uns
morgen schon
nicht mehr da.«
Vom gemeinsamen
Altwerden, von Fürsorge
und vom Trost,
der in den kleinen
Dingen steckt.
5 plus
Das neue
Buch von
Helga
Schubert
Die Zeit am Institut war und ist intensiv, daran konnte
auch der Fernunterricht während der Corona-Krise
nichts ändern. Dennoch ist es deutlich produktiver, vor
Ort an den Kursen teilnehmen und sich mit den anderen
austauschen zu können.
Im Studium fand ich meine literarische Ader. Vorher
hätte ich es mir nicht zugetraut, etwas zu schreiben, was
andere als Literatur bezeichnen würden. Heute spüre
ich dank der Unterstützung von Dozent*innen eine
innere Wertschätzung meiner Texte. In diesen Jahren
fand ich den Mut für meine eigene Literaturarbeit. Ich
konnte beobachten, wie mein Schreiben präziser wurde.
Experimentelles macht mir noch immer am meisten
Spaß, besonders wenn es disziplinübergreifend ist.
So vertone ich beispielsweise meine Texte mit Musikstudent*innen
oder teste aus, wie ein Klang ausgeschrieben
werden könnte oder welche Gerüche wo auftauchen
und welche Wirkungen sie haben können, auf
die Charaktere im Text und die Lesenden vor dem Text.
Diesen Sommer endet mein Studium, aber meine Lehrzeit
ist noch nicht getan. Dafür habe ich noch ein paar
Dekaden Zeit in meiner Tasche. Doch kann ich aus meinem
Studium neben Freundschaften diverse Kontakte
mitnehmen, die zu einer bunten Gemeinschaft angewachsen
sind. Des Weiteren wird mir der Bachelor-
Eden L. Flammer
Roman. Gebunden. 302 Seiten. € 24,–
Paul Brodowsky verdichtet Erinnerungen,
Recherchen und Reflexi-
onen zu einem Bild der BRD nach
der Zeit des Nationalsozialismus.
Er arbeitet auf, was in vielen Fami-
lien bis heute verschwiegen wird,
und spannt so den Bogen von den
dreißiger Jahren bis zur Gegenwart.
Suhrkamp
5 plus
Mehr von Helga Schubert
www.dtv.de
buchempfehlungen – bittner 38
Dezember 1941: Joe McGrady ist Detective
beim Honolulu PD und wird mit
der Untersuchung eines Falls beauftragt,
der sein Leben für immer verändern
wird: dem Mord an einem jungen Mann,
dem Neffen des Oberbefehlshabers der
Pazifikflotte, und dessen Freundin, einer
jungen Japanerin. McGrady folgt einem
Verdächtigen bis nach Hongkong, das
gerade von den Japanern eingenommen
wird. Er wird als Gefangener nach Japan
verschleppt, als potenzieller Spion droht
ihm der Tod. Gerettet wird er von dem
Diplomaten Takahashi Kansei, der heimlich
gegen die offizielle japanische Kriegspolitik
arbeitet. Takahashi und seine
Toch ter Suchi verstecken McGrady bis
zur Kapitulation Japans. McGrady kehrt
nach Hawaii zurück und beginnt, nach
nunmehr fünf Wintern und jetzt als Privatdetektiv,
den alten Fall wiederaufzunehmen.
Fünf Winter ist ein gewaltiges Epos
im Cinemascope-Format: ein fesselnder
Thriller, ein erschütterndes Porträt des
Krieges und eine herzzerreißende Liebesgeschichte
in einem.
Aus dem amerikanischen Englisch
von Stefan Lux, herausgegeben
von Thomas Wörtche.
Anfang der Sechziger in einem entlegenen
Teil Deutschlands. Das Ehepaar
Roleder zieht auf eine unbewohnte Insel
inmitten eines großen Sees. Es ist eine
Flucht nach innen, vor der Stadt und der
Wirklichkeit. Mit dabei ist ihr Sohn
Hans, der auf der Insel ein neues Zuhause
findet. Und noch so viel mehr.
Denn mit der Zeit scheint der schüchterne
Junge geradezu mit der Insel, den Bäumen,
dem Laub, dem Moos und dem
Gestein zu verwachsen. Hans wird zum
König der Insel. Bis mit dem Bescheid
der Schulbehörde die Realität in seine
kleine große Traumwelt einbricht und
ihn von Insel und Eltern trennt. Es ist
der Beginn einer beschwerlichen Odyssee,
gelenkt zunächst von gnadenlosen
Institutionen des Staates und schließlich
dem einen großen, pochenden Wunsch:
zurückzukehren auf seine Insel, in die ersehnte
Einsamkeit im Schatten der Welt.
Doch: Wie wird die Insel, wie werden die
Eltern ihn empfangen?
Dirk Gieselmanns Debüt ist die faszinierende
literarische Studie eines Insellebens
und erzählt von der Sehnsucht
nach Einsamkeit in einer Gesellschaft,
die das Individuum niemals alleine
lässt, im Guten wie im Schlechten. Der
Inselmann ist ein Roman, der nachhallt,
voller berückender Bilder, leuchtender
Sätze und magischer Kulissen.
Die Anthologie Neue Töchter Afrikas
feiert Schwarze Diversität und ihre literarische
Vielstimmigkeit. Gemeinsam mit
einem Team Schwarzer Frauen aus
Deutschland hat Margaret Busby für
diese Edition eine erlesene Auswahl an
Essays, Gedichten und Kurzprosa aus
ihrer Anthologie New Daughters of
Africa (Myriad 2019) getroffen. Der
Band präsentiert 30 Schwarze Schriftstellerinnen
aus aller Welt mit ihrer poetischen,
kämpferischen und visionären
Wortkunst, die in einer Zeitspanne von
über 100 Jahren entstand. Von Antigua
bis Ägypten, von Guyana bis Ghana
nähern sich die Frauen mit ihren jeweiligen
Lebensrealitäten und Träumen auf
sehr unterschiedlichen Wegen ihrem
afrikanischen Erbe an.
Und so schreiben die Autorinnen über
Tradition und Vorbilder, Freundschaft
und Romantik, Flucht und Exil, über
Rassismus, Geschlechter- und Identitätspolitik.
Auch vermeintliche Tabuthemen
und Traumata werden nicht ausgespart.
Nachdenklich, behutsam, stets
erhellend und zuweilen sogar mit Humor
widmen sie sich diesen ernsten und
schwierigen Themen.
Aus dem Englischen von
Aminata Cissé Schleicher &
Eleonore Wiedenroth-Coulibaly,
editiert von Margret Busby, mit
einem Vorwort von Marion Kraft.
Ein Briefwechsel Hélène Cixous’ mit
Cécile Wajsbrot über den Stellenwert
Deutschlands und der deutschen Sprache
in ihrem Werk sowie ihren Bezug zum
Gedächtnis ihrer jüdischen Familien.
Hélène Cixous, die ihre Kindheit in
Algerien verbrachte, wuchs mit dem
Deutsch ihrer Mutter und ihrer Großmutter
auf – Sprache der Vertrautesten,
Sprache von Geflüchteten. Die in Frankreich
aufgewachsene Cécile Wajsbrot
lernte Deutsch in der Schule, um das
Jiddisch zu verstehen, das ihre Großmutter
sprach.
Unhintergehbare Mehrsprachigkeit,
Sein zwischen den Sprachen und mit
den Sprachen: Am Schnittpunkt von
persönlichem und literarischem Zeugnis
denken die beiden Autorinnen hier
mit den vielsprachigen Stimmen ihrer
Familien und der Literatur über Einschreibungen
des Vergangenen in die
Gegenwart nach, über den Umgang
Frankreichs und Deutschlands mit der
Geschichte, über vergangenen und drohenden
Verlust. Sie geben ein anschauliches
Beispiel dafür, wie das literarische
Erinnern auf die Gegenwart antworten
und diese auf eine Weise gedacht werden
kann, dass sie ihre Verantwortung
für die Zukunft wahrnimmt.
Aus dem Französischen
von Esther von der Osten.
Eine Yupik-Maske aus Alaska, eine
Malerei der Aborigines, eine Miniaturlandschaft
aus der Song-Dynastie, ein
holländisches Interieurgemälde aus dem
17. Jahrhundert. Bilder ermöglichen uns
so einen Zugang zu dem, was unterschiedliche
menschliche Lebensformen
ausmacht. Gestützt auf einen globalen
und historisch weit ausgreifenden Vergleich
von Werken einer atemberaubenden
Vielfalt, entwickelt Philippe Descola
in seinem Buch die Grundlagen
für eine Anthropologie der menschlichen
Bildkunst.
Die bildliche Darstellung ist nicht allein
der Fantasie derer überlassen, die
die Bilder erschaffen. Der visuelle Pfad,
den wir bei der Abbildung der Welt einschlagen,
hängt für Descola daher
davon ab, welcher der vier Regionen
des von ihm entdeckten ontologischen
Archipels wir angehören: Animismus,
Naturalismus, Totemismus oder Analogismus.
Jeder von ihnen entspricht eine
bestimmte Art, die Welt zu begreifen,
ihre Kontinuitäten und Diskontinuitäten
wahrzunehmen, insbesondere die verschiedenen
Trennlinien zwischen Menschen
und Nichtmenschen. Ein augenöffnendes
Buch!
Aus dem Französischen
von Christine Pries.
Jeder hat sein Bündel zu tragen, doch
das Gewicht des Ganzen trägt allein die
Mutter. Milla hat sich nach dem Freitod
ihres Sohnes nach Kanada zurückgezogen.
Sie hat ihre Spedition aufgegeben
und den Mann, mit dem sie ein halbes
Leben zusammen war. In einem alten
Haus mitten im Nirgendwo versucht sie
weiterzumachen. Sie lernt Russ kennen,
einen Antiquitätenhändler, als sie einen
Revolver versetzen will, den sie unter einer
Treppendiele gefunden hat. Zwischen
beiden entsteht etwas, das man eine
Freundschaft nennen könnte, das aber
zugleich mehr und weniger ist als das.
Bis sich ihre Wege wieder trennen.
In glasklarer Prosa erzählt Sven
Heuchert die universelle Geschichte von
Verlust, Trauer und Neuanfang. In einer
Welt, die kein Heilsversprechen mehr
be reithält, dafür aber die echte Chance,
wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen.
James Kestrel
Fünf Winter
Dirk Gieselmann
Der Inselmann
Christa Morgenrath, Eva Wernecke
Neue Töchter Afrikas
Hélène Cixous, Cécile Wajsbrot
Eine deutsche Autobiographie
Philippe Descola
Die Formen des Sichtbaren.
Eine Anthropologie der Bilder
buchempfehlungen – bittner 39
Sven Heuchert
Das Gewicht des Ganzen
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176 Seiten
272 Seiten
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800 Seiten
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5 plus buchempfehlungen – dombrowsky 40
dombrowskys lieblinge
Enne Koens
Dieser Sommer mit Jente
Gerstenberg, 180 Seiten
€ [D] 15,– | € [A] 15,50 €
ab 10 Jahren
Marie ist traurig und wütend, als sie aus dem Umzugswagen
steigt und das Neubaugebiet beäugt, in dem sie
von nun an leben wird. Sie kann sich nicht vorstellen,
wie das gehen soll. So weit weg von Zoë, die sie von klein
auf kennt und jetzt schon vermisst. Doch schon am
zweiten Tag lernt sie Jente kennen, die auf sie zugeht
und ihre Freundin sein möchte. Marie lässt sich darauf
ein, auch wenn sich das Zusammensein ganz anders
anfühlt als das, was sie bisher kennt. Jente scheint vor
nichts Angst zu haben, steckt voller Ideen und ist ihr
stets eine Nasenlänge voraus. Als sie jedoch immer häufiger
Beweise für die gemeinsame Freundschaft fordert
und dabei auch nicht vor wirklich gefährlichen Aktionen
zurückschreckt, schafft es Marie schließlich, »Nein«
zu sagen.
Enne Koens erzählt sehr einfühlsam von den Dingen,
die viele junge Menschen in dieser seltsamen Zeitspanne
zwischen Kindheit und Jugend in ihren Freundschaften
erleben. Sie gibt der Protagonistin Zeit für ihre
Entwicklung, baut eine große Spannung auf und lässt
uns ganz nah an Marie heran. Mit den wunderbaren Bildern
von Maartje Kuiper, die den Text perfekt begleiten,
ist dieses Buch eine echte Leseperle. Beate Widmann
Sarah Crossan
Toffee
Hanser, 352 Seiten
€ [D] 19,– | € [A] 19,60
ab 14 Jahren
Sarah Crossans Versromane mit ihrer reduzierten Textmenge
– Fließtext in Versform gesetzt – machen Lust
aufs Selbstlesen, auch bei etwas geringerer Lesekompetenz.
Sie eignen sich ebenfalls hervorragend zum Vorlesen
z. B. an Schulen, da die sehr dichten Texte eine unglaubliche
Sogwirkung entfalten und alle Zuhörer*innen
mitreißen.
In Toffee verlässt die 15-jährige Allison den gewalttätigen
Vater und damit auch ihr Zuhause. Sie schlüpft
bei der alten, bereits vergesslichen Marla unter und klärt
das Missverständnis, nicht deren Kindheitsfreundin namens
Toffee zu sein, nicht auf. Zu schön ist es für Allison,
angenommen zu werden, einen wunderbaren Platz bei
Marla zu haben, mit ihr zu tanzen, zu kochen, Spaß zu
haben. Marlas Vergesslichkeit einerseits und ihre große
Aufmerksamkeit Allison gegenüber andererseits lassen
eine immer enger werdende Freundschaft zwischen der
Jugendlichen und der alten Dame entstehen. Allison
findet in ihr die Familie, die sie verloren hat. Ihre Zuversicht,
einen Weg für ihre Zukunft zu finden, kann
wachsen.
Großartig, dass Crossans Jugendliteratur für alle
Lesetypen und -vorlieben geeignet ist.
Daniela Dombrowsky
Michael Köhlmeier
Frankie
Hanser, 205 Seiten
€ [D] 24,– | € [A] 24,70
Der knapp 14-jährige Frank lebt zusammen mit seiner
Mutter in Wien. Das Einkommen der Mutter reicht so
gerade für beide. Aber nicht schlimm, sie haben einander
und kommen gut miteinander aus. Eines Tages
nimmt Franks Mutter ihn mit, um Opa abzuholen. Der
saß über 30 Jahre im Knast, Frank kennt ihn kaum noch,
sie haben ihn nicht oft besucht. Durch das Gefängnistor
kommt ein langer Schlaks lässig auf sie zu. Und die Begrüßung
ist für Frank kein guter Start. Opa nennt ihn sofort
Frankie, was Frank nicht leiden kann. Über Opa ist
nie viel gesprochen worden. Vor allem aber kennt Frank
die Gründe nicht, warum Opa so lange saß. Aber so viel
weiß er: Solche langen Haftstrafen verheißen nichts Gutes.
Und so geht er mit einem gerüttelt Maß an Respekt
mit Opa um.
Und das ist auch gut so: Opa hat immer noch eine
Menge krimineller Energie. Und schreckt nicht davor
zurück, Frank in brenzlige Situationen zu bringen. Frank
wird lernen müssen, »Nein« zu sagen. Ein atemberaubendes
Buch. Ulrich Dombrowsky
Herbert Clyde Lewis
Gentleman über Bord
Aus dem Englischen von
Klaus Bonn
Mit einem Vorwort
von Jochen Schimmang
Mare, 176 Seiten
€ [D] 28,– | € [A] 28,80
Very British – zum Brüllen komisch!
Ulrich Dombrowsky
Milena Michiko Flašar
Oben Erde, unten Himmel
Wagenbach, 297 Seiten
€ [D] 26,– | € [A] 26,80
Nach ihren beiden vielbeachteten Romanen Ich nannte
ihn Krawatte und Herr Katŏ spielt Familie hat die österreichische
Autorin (mit japanischen Wurzeln) Milena
Mishiko Flašar soeben ihren neuen großen Roman vorgelegt.
Wie in den beiden Vorgängerromanen gibt sie
uns hier tiefen Einblick in die japanische Gesellschaft,
die uns Mitteleuropäern manchmal rätselhaft erscheint.
Im Mittelpunkt von Oben Erde, unten Himmel steht
Suzu, eine Frau Mitte zwanzig, die komplett zurückgezogen
lebt, sich zwar einsam fühlt, aber nicht recht
weiß, wie sie auf andere zugehen soll.
Ihr Wegbegleiter ist ihr Hamster – Dating-Treffen
sind begrenzt erfolgreich und befriedigend ebenfalls
nicht. Dann verliert sie auch noch ihren Job und weiß,
dass sie mit dem Ersparten höchstens zwei Monate
durchhalten kann. Gezwungenermaßen bewirbt sie sich
und bekommt ein Angebot: Herr Sakai hat eine Reinigungsfirma
mit besonderen Aufträgen. Mehr und mehr
vereinsamte Menschen sterben unbemerkt in ihren
Wohnungen. Suzus Aufgabe ist, die Wohnungen wieder
bezugsfähig zu machen. Bei der Auseinandersetzung
mit dem Leid der einsam Gestorbenen beginnt sie über
ihr eigenes Leben neu nachzudenken.
Ulrich Dombrowsky
Markus Orths
Mary & Claire
Hanser, 304 Seiten
€ [D] 26,– | € [A] 26,80
Wie schon in seiner herausragenden Romanbiografie
Max (über Max Ernst) gelingt es Orths in diesem
Buch, die Leser zu verzaubern – diesmal mit einer Geschichte
über die Stiefschwestern Mary Shelley und
Claire Clairmont. Marys tragischer Lebenshintergrund
ist, dass sie ihre Mutter nie kennengelernt hat – diese
starb bei Marys Geburt. Sie verzweifelt fast in ihrer unerwiderten
Liebe zu ihr und verbringt jede freie Minute
am Grab der Mutter. Ein Trost in ihrer Kindheit ist, dass
ihr Vater sich neu vermählt und sie mit Claire eine
Schwester gewinnt. Beide verlieben sich später in den
jungen Schriftsteller Percy Bysshe. Die drei pflegen
nicht nur eine literarische Freundschaft und Nähe,
sie führen auch eine Amour fou zu dritt. Höhepunkt
wird ihre Begegnung mit dem literarischen Wunderkind
Lord Byron, der sein Leben in Extremen führt. Orths
bringt uns diese außergewöhnlichen Menschen nahe
und macht uns Lust darauf, Shelleys Frankenstein (wieder)
zu entdecken.
Ulrich Dombrowsky
Will Gmehling / Antje Damm
Pizzakatze
Peter Hammer, 24 Seiten
€ [D] 15,– | € [A] 15,50
ab 3 Jahren
Hier fährt Pizzakatze Pia, flink und flitzig, »MAMMA
MIA!« So beginnt dieses sprachakrobatische Bilderbuch
aus der Feder von Will Gmehling. Auf jeder Doppelseite
sehen wir, wer alles zu Pias Kundschaft gehört. Da sind
Anastasia und Atze, Glitz und Glitza, die Kita, die mittwochs
natürlich echte Pizza Margherita bekommt und
noch viele mehr. Die wunderbare Antje Damm zeigt
schon auf dem Vorsatzpapier alle Behausungen, die die
Pizzakatze mit ihrer gelben Vespa nach und nach beliefert.
Es macht großen Spaß, ihr dabei zu folgen und
all die Details zu entdecken, die in diesem kleinen Meisterwerk
versteckt sind. Natürlich läuft mir hier beim
Schreiben schon das Wasser im Mund zusammen, und
am liebsten würde ich, wie Suleikas süße Oma, sofort
eine scharfe Pizza Roma bestellen.
Eine Bilderbuchliebe auf den ersten Blick, die ich
Ihnen dringend ans Herz lege! Zum Vorlesen für Kindergartenkinder,
die ja für gereimte und witzige Geschichten
immer zu haben sind, zum Selbstlesen für Schulkinder,
die gerade mit kleinen Texten anfangen, und
nicht zuletzt für alle Fans von Pizzen und Katzen.
Beate Widmann
Ihre Regensburger
Partnerbuchhandlung der
buchhandlung dombrowsky
St.-Kassians-Platz 6 93047 Regensburg
Telefon 09 41 - 56 04 22 Fax 09 41 - 5 04 17 85
ulrich.dombrowsky@t-online.de www.dombrolit.de
buchempfehlungen – dombrowsky 41
5 plus
buchempfehlungen – haymon 42
5 plus
lieblingsbücher der
Fabian Neidhardt
Nur ein paar Nächte
Haymon Verlag, 248 Seiten
€ [D+A] 22,90
Fabian Neidhardts zweiter Roman erzählt die Geschichte
von einer Frau, die keine Mutter werden möchte,
einer kaum zu bändigenden Tochter und einem alleinerziehenden
Vater, der keine Kinder kriegen kann, eigent
lich. Es ist ein Roman entgegen den festgefahrenen
Elternbildern, ein Text, der aufzeigt, wie verschieden Beziehungen
sein können und wie unterschiedlich Familie.
Warmherzig und trotzdem ernüchternd, leichtfüßig
und zugleich tiefgründig. Fabian Neidhardt schafft es
erneut, zeitgenössische Figuren zu erschaffen, denen
wir uns mit jedem Satz näher fühlen. Es sind Bücher wie
diese, die uns in eine andere Welt gleiten lassen, in denen
wir ein zweites Leben durchleben und die uns nicht
mehr aus dem Kopf gehen. Das Wichtigste: In einer Zeit,
in der wir vor vielen Schwierigkeiten stehen, schenkt
Nur ein paar Nächte vor allem eines: Hoffnung.
Bianca Kneißl
Teresa Reichl
Muss ich das gelesen haben?
Haymon Verlag, 232 Seiten
€ [D+A] 17,90
Die Behauptung »Junge Menschen lesen zu wenig«
hört man viel zu oft. Völliger Bullshit. Junge Menschen
haben schlichtweg keinen Bock mehr darauf, ausschließlich
»klassische« Literatur, geschrieben aus der
immer selben Perspektive, zu lesen: nämlich aus der
von weißen, heterosexuellen, männlichen Autoren. Teresa
Reichl widmet sich genau diesem Thema und liefert
in ihrem Buch Muss ich das gelesen haben? neben
den Basics der Literaturgeschichte einen Alternativ-
Kanon, der vor allem eines aufweist: Diversität. Sie rebelliert
gegen das Patriarchat, gegen verstaubte Regale
voller »Klassiker«, die dringend erweitert gehören.
Mit viel Witz, Wut und dem Wunsch nach Veränderung
krempelt die Autorin die Literaturgeschichte um: Sie erzählt
von den vielen Autor*innen, von denen es heißt,
sie hätten nicht geschrieben. Sie erzählt, warum die Literaturlisten
aussehen, wie sie aussehen. Ein Buch, das
in meiner Schulzeit absolut gefehlt hat und nun endlich
erscheint. Sarah Wegscheider
Raphaela Edelbauer
Die Inkommensurablen
Klett-Cotta, 352 Seiten
€ [D] 25,– | € [A] 25,70
Wien am 30. Juli 1914. Als wäre die moderne, laute Großstadt
für einen Tiroler Bauernknecht nicht ohnehin
leicht überfordernd, erreicht Hans die Hauptstadt der
Monarchie auch noch im Ausnahmezustand: kurz vor
Ablauf des deutschen Ultimatums. Selbst überzeugt,
besondere übernatürliche Fähigkeiten zu besitzen, findet
er in Mathematikerin Klara und Offizierssohn Adam
zwei weitere »Erwählte«, mit denen er wie in einem Fiebertraum
durch unbekannte Straßen, unterschiedlichste
Milieus und wechselnde Bewusstseinszustände taumelt.
Dies in aller kurzen Ungenauigkeit.
Was in der Folge auf dieser nächtlichen Reise ins Visier
gerät, ist dann nichts anderes als die Vorstellung von
der Welt an sich. Zwischen Esoterik und Naturwissenschaft,
gemeinsamen Ur-Ideen, kollektivem Schlaf nebst
einem mysteriösen Traum, neuen psychoanalytischen
Erkenntnissen und den historisch-politischen Tumulten
wird das als »wahr« Erachtete zerrieben, Idee und Wirklichkeit
wechseln den Platz. Ein dichter und höchst einfallsreicher
Roman. Und wie immer gilt: Wenn Raphaela
Edelbauer was schreibt, so empfiehlt sich’s, es zu lesen.
Benjamin Girstmair
Marlene Streeruwitz
Tage im Mai
S. Fischer, 384 Seiten
€ [D] 26,– | € [A] 26,80
Veronica, 20, perspektivenlos, noch immatrikulierte
(Nicht-)Studentin, Klimaaktivistin, Veganerin, arbeitet
in Wien am Kohlmarkt als Rezeptionistin bei »Letterbox
limited« und beaufsichtigt dort gemietete Postfächer.
Ihre Mutter ist Übersetzerin und gewöhnt sich langsam
an die vermeintliche Normalität nach den Lockdowns
und die Schrecken des Ukraine-Krieges.
Marlene Streeruwitz reflektiert in ihrem Roman dialogué
gesellschaftspolitische Auswirkungen der letzten
Jahre. Sie zeigt die Gedanken, Sorgen und Ängste in
einer Beziehung von Mutter und Tochter auf, die sich
einander nach den getrennt verbrachten Lockdowns
wieder nähern. Tage im Mai ist ein Appell an zwischenmenschliche
Güte und Selbstmitgefühl in Zeiten der
Unsicherheit. Die Gedanken der Protagonistinnen sind
geprägt vom Krieg in der Ukraine, von der Klimakrise
und der »Wiederbelebung« nach der Isolation: ein Porträt
der Gegenwart aus der Perspektive zweier Generationen.
»Na, die Welt geht doch unter. 2050. Ihr macht
doch nichts. Wir segeln gemütlich in die Katastrophe.
Da ist es mir doch völlig gleichgültig. Mindestleistung.
Wie lustig.« So lautet Veronicas einschneidender Kommentar
auf die Frage nach ihren Zukunftswünschen,
nachdem sie aufgrund der Einführung der Mindestleistung
im Studium und der politischen Untätigkeit in
Bezug auf den Klimawandel verzweifelt und hadert.
Marlene Streeruwitz thematisiert die (versteckten) Traumata
unserer Zeit, die an Aktualität kaum zu übertreffen
sind und die Menschen um uns beeinflussen, ob sie es
zeigen oder sich still im Inneren damit auseinandersetzen.
Gerid Rudelstorfer
Juli Zeh, Simon Urban
Zwischen Welten
Luchterhand, 448 Seiten
€ [D] 24,– | € [A] 24,70
Vor zwanzig Jahren haben sich Stefan und Theresa
das letzte Mal gesehen, als sie sich plötzlich zufällig
wiedertreffen und beginnen, einander regelmäßig E-
Mails zu schreiben. Zu Studienzeiten immer einer Meinung,
prallen heute Welten aufeinander: Er ein Journalist
in der Großstadt, der gegen die Klimakatastrophe
anschreibt, dem antirassistische Arbeit wichtig ist, der
gendert. Sie aber hat andere Sorgen, als zu gendern.
Ihr Hof kämpft ums wirtschaftliche Überleben, und die
Politik hört die Nöte der Bauern auf dem Land ebenso
wenig wie Journalisten wie Stefan. In hitzigen E-Mails
wird leidenschaftlich um Reizthemen, den Umgang mit
dem Ukraine-Krieg, Klimakatastrophe, Existenzängste
und das Gendersternchen gestritten. Immer wieder finden
die beiden aber auch Verständnis füreinander und
kommen sich nahe. Zwischen Gemeinsamkeiten und
scheinbar unüberbrückbaren Differenzen beinahe aufgerieben,
verlangen bald nicht nur die E-Mails, sondern
auch der reale Alltag beiden eine eindeutige Positionierung
ab.
Letztlich geht es aber um weit mehr als die Schreibenden:
Es geht um Diskurse und deren Eigendynamik,
soziale Medien und Filterbubbles, Meinungsmache, Radikalität
und verhärtete Fronten.
Ein rasant erzählter, aktueller Gesellschaftsroman,
der mich ebenso wütend wie betroffen gemacht hat und
gerade, weil er keine Lösung anbietet, unter die Haut
geht. Noah Isser
Virginie Despentes
Liebes Arschloch
Aus dem Französischen von Ina Kronenberger
und Tatjana Michaelis
Kiepenheuer & Witsch, 336 Seiten
€ [D] 24,– | € [A] 24,70
Der Schriftsteller Oscar beschimpft die 50-jährige Schauspielerin
Rebecca online und rechnet vermutlich nicht
mit einer Antwort: »Liebes Arschloch, […] Du bist wie
eine Taube, die mir im Vorbeifliegen auf die Schulter
kackt.« Und so beginnt der neue Roman von Despentes,
der wichtige Themen wie #metoo, Social Media, Sucht,
Vaterschaft, das Älterwerden und die Pandemie behandelt.
Oscar ist vor einiger Zeit gegenüber seiner Pressesprecherin
Zoe übergriffig geworden, erinnert sich aber
an keinen Vorfall und sieht sich folglich als Opfer der
#metoo-Bewegung. Rebecca bringt ihn auf den Boden
der Tatsachen zurück und erzählt davon, was sie bewegt.
So entsteht plötzlich ein sehr vertrauter Briefkontakt.
Rebecca, Oscar und Zoe, drei vom Leben gezeichnete
Menschen, wütend auf die Welt und in komplett
unterschiedlichen Gedankensphären, finden dann
doch noch eine versöhnliche Ebene. Eine Annäherung
in Briefen, die aufzeigt: Toleranz und Verständnis sind
erlernbar und hin und wieder überlebenswichtig, aber
nur, wenn man auch bereit dazu ist, für die eigenen Taten
Verantwortung zu tragen. Ana Rodrigues
buchhandlung haymon
Sparkassenplatz 4 A-6020 Innsbruck
Telefon + 43 - 5 12 - 57 18 18
bestellung@haymonbuchhandlung.at
www.haymonbuchhandlung.at
buchempfehlungen – haymon 43
5 plus
5 plus
buchempfehlungen – felix jud 44
felix jud empfiehlt
Karl Alfred Loeser
Requiem
Mit einem Nachwort von Peter Graf
Klett-Cotta, 320 Seiten
€ [D] 24,– | € [A] 24,70
Der jüdische Solocellist Erich Krakau wird Opfer furchtbarer
Intrigen, muss schließlich das städtische Symphonieorchester
verlassen und wird in Haft ge nommen.
Mutige und Feige, Gleichgültige und Täter versammeln
sich in diesem Roman, der durch die großartige Beschreibung
seiner Charaktere besticht.
Wer die Literatur von Irmgard Keun, Hans Fallada
oder Ulrich Alexander Boschwitz schätzt, wird wie ich
von dieser prophetischen Neuentdeckung aus den 30er-
Jahren tief beeindruckt sein. Marina Krauth
Hermann Hesse
»Mein lieber Brüdi!«
briefwechsel mit seinem
jüngsten sohn martin
Suhrkamp, 400 Seiten
€ [D] 38,– | € [A] 39,10
Nach der informativen Ausstellung »Zwischen den
Fronten. Der Glasperlenspieler Hermann Hesse« im
Literaturhaus Berlin 2017, auf der zum ersten Mal Briefe
zwischen Martin und seinem Vater veröffentlicht wurden,
und dem 2019 erschienenen Briefwechsel mit den
beiden älteren Söhnen ist nun der bislang gesperrte gesamte
Briefwechsel mit seinem jüngsten Sohn Martin,
in der Familie »Brüdi« genannt, herausgekommen.
Martin Hesse wurde als letzter der drei Söhne 1911
geboren. Als er sieben Jahre alt war, verließ Hesse endgültig
die Familie in Bern, um in den südlichen Teil der
Schweiz überzusiedeln und sich ganz seinem Schaffen
zu widmen. Darin liegt die Tragik, dass Martin in seiner
Kindheit am wenigsten vom Vater hatte, ja Hesse bei der
Geburt von Martin mit dem Thema Familie schon durch
war, was Kinder natürlich spüren und ein Leben lang
daran tragen.
Jetzt ist es uns Lesern möglich, den eindrucksvollen
Versuch mitzuempfinden, wie Hermann Hesse mittels
Briefen versucht, diese Wunde zu heilen und seiner Vaterschaft
doch noch gerecht zu werden. Eindrucksvoll
zu lesen sind die liebevollen, sich immer mehr öffnenden
Briefe des Knaben, später des werdenden Mannes
in ihrer rührenden, vertrauensvollen Detailfreude und
geradezu plastischen Darstellung dessen, womit sich
Martin gerade beschäftigt. Der Vater kann so die Berufsfindung,
Lehr- und Arbeits alltag, Wehrdienst, erste Liebeswirren
und Heirat, Geburt von Martins Tochter, Wohnungsprobleme,
kurz: so ziemlich alles begleiten, und
das manchmal bestimmt, jedoch ohne die zu diesen
Zeiten noch üblichen Maßregelungen. So gelangt Martin
zu seiner wahren Passion: der Fotographie. Durch
das Objektiv gelingt es ihm, sich dem berühmten Vater
zu nähern und seine Selbstzweifel zu überwinden, denn
Hesse schätzt diese Aufnahmen und vermittelt ihm viele
Aufträge. Auch lernen wir Hermann Hesse als einen in
Gelddingen doch nicht ganz unbewanderten Mann kennen,
der sehr wohl – geschult von seinen Schweizer Mäzenen
– weiß, was Bankobligationen, Kontokorrent und
»Da bekommt man wenig Zins« bedeuten oder wie man
z. B. Erbschaftssteuern spart. Doch wendet Hesse dieses
Wissen nicht zum reinen Eigennutz, sondern vor allem
zum Wohle seiner Söhne an, die alle drei selbst eine Familie
gegründet haben.
1950 schreibt Martin an seinen Vater: »Als ich ein
kleiner Junge war, hätte ich vielleicht gerne hin und wieder
einen ›Papa‹ gehabt, der einen aufs Knie genommen,
aber ernstlich vermisst habe ich das nie. Dafür
sind wir auch nie geprügelt worden wie andere Buben
mit familiäreren Papas. Was wir aber dann die seltenen
Male bei Besuchen menschlich von dir bekamen, wog
die Pausen dazwischen reichlich auf. Immer hast Du mir
in schwierigen Lebenslagen treu geholfen und mit Rat
und Tat zur Seite gestanden …«
Dass Hesse neben seinem ungebrochenen wirkungsmächtigen
Werk und weiteren zigtausend Briefen
an andere Zeitgenossen seinen Söhnen solche Empathie
geben konnte und ihm Martin das schreibt, ist doch
wunderbar! Bei der realen Tragik dahinter wirkt auch
dieser Briefwechsel neben dem Werk höchst aktuell im
Sinne Hesses mit, um die Menschheit im Ringen, um
mehr Verständnis miteinander weiter voranzubringen.
Torsten Plettner
Milena Michiko Flašar
Oben Erde, unten Himmel
Wagenbach, 304 Seiten
€ [D] 26,– | € [A] 26,80
Als Suzu anfängt, in Herrn Sakais Reinigungsfirma zu
arbeiten, ist ihr noch nicht bewusst, dass der neue Job
ihr Leben komplett umkrempeln wird. Musste sie sich
vorher nur um sich selbst und ihren Hamster kümmern,
ist sie in der Firma nun Teil eines sozialen Gefüges, und
das bringt Verpflichtungen mit sich, die für Suzu ungewohnt
sind. Dazu kommt, dass Herrn Sakais Firma
ein ungewöhnliches Spezialgebiet hat: Leichenfundorte,
die zunächst unentdeckt geblieben sind. Im Japanischen
gibt es für dieses Phänomen sogar ein eigenes
Wort: Kodokushi.
Milena Michiko Flašars neuer Roman zeigt mal humorvoll,
mal skurril und dann wieder ganz sanft, wie
schnell Menschen in der Großstadt isoliert werden und
vereinsamen und wie sehr das eigene Leben an Bedeutung
gewinnt, wenn man andere Menschen hineinlässt.
Wenn man seinen Ventilator auf Schwenkfunktion stellt,
weil da plötzlich noch jemand neben einem sitzt. Wenn
man seinen alten Nachbarn eine Freude bereitet. Wenn
man nach langer Zeit seine Eltern besucht. Wenn man
Freundschaften schließt und nicht mehr allein ist.
Sina Wunderlich
Clare Pollard
Delphi
Aus dem Englischen von
Anke Caroline Burger
Aufbau, 222 Seiten
€ [D] 22,– | € [A] 22,70
Wenn etwas seit Anfang 2020 Hochkonjunktur erhalten
hat, dann sind es Mythen, Weissagungen und sagenhafte
Geschichten. Nichts ist spannender und gleichzeitig
angsteinflößender als die Zukunft. Und genau
damit beschäftigt sich dieser im Londoner Lockdown
geschriebene Roman, wobei das »Orakel von Delphi«
als Ausgangspunkt dient. Weissagungen aus Dichtung,
Handlesen, Träumen etc. folgen. Die Ich-Erzählerin beschreibt
auf eine erfrischende, leicht tragische und dennoch
sehr humorvolle Art und Weise das Eintauchen in
diese Welten und den Spagat, den man immer wieder
vollziehen muss, um sich, aber auch die eigene Familie
dabei nicht aus den alltäglichen Augen zu verlieren.
Mit Erfolg! Delphi ist ihr erster Roman und macht Vorfreude
auf mehr in Zukunft. Benjamin A. Heinz
Emanuel Maess
Alles in allem
Rowohlt, 400 Seiten
€ [D] 24,– | € [A] 24,70
Emanuel Maeß ist tatsächlich ein altertümlicher Schriftsteller,
der langsam schreibt, kulturhistorische Überlegungen
in seinen Erzählstrang einflicht und in seine
langen Sätze Konstruktionen und Stilmittel einbaut,
die Literaturwissenschaftler gar nicht mehr so häufig
in aktuellen Neuerscheinungen finden. Sprache muss
also nicht immer einfach und Sätze nicht immer kurz
sein. Der Berliner Autor ist klassisch belesen, und so
zeichnet er seine Figuren als Typen eingeübter westlicher
Lebenspraktiken und -gedanken. Ein Fest ist daher
bacchantisch, und ein Körper darf mit einer Kathedra
le verglichen werden. In dieser Paar-Geschichte (ein
Theologiestudent und seine Freundin Katharina leben
im beschaulichen Berlin-Friedenau) geht es viel um
Rührung, Begehren und sexuelle Dinge, wobei alle
Worte mit den drei Buchstaben SEX im Satzbild durchkreuzt
sind. Ja, dieser Autor möchte das alles nicht mit
diesem omnipräsenten Wort beschreiben und zeigt seine
Selbsterziehung und sein Konzept augenfällig den
Lesern seines Romans. Dem Protagonisten wird seine
häusliche Jungpartnerschaft dann aber doch zu langweilig.
Seine seelische Krise führt ihn zu allerlei Berliner
Einrichtungen, die er mit seinem bildungsbürgerlichen
Denken zumindest nicht sogleich beschreiben kann.
Vielleicht ist er die typische Figur Mensch, dem das Gewesene
nicht ausreicht, das Gegenwärtige zu flach und
das Künftige unerreichbar ist? Robert Eberhardt
Katharina Peter
Erzählung vom Schweigen
Matthes & Seitz Berlin, 244 Seiten
€ [D] 22,– | € [A] 22,70
Die Protagonistin Karolina geht einer einzigen Frage
nach: Warum hat die Beziehung ihrer Eltern nicht funktioniert?
Sie versucht es zu verstehen, versucht ihre
Eltern zu verstehen, ist bestrebt, Zusammenhänge zu
finden, verwebt Erinnerungen, versucht sich dann im
Leistungssport zu behaupten, auf der Suche nach einem
Halt. Sie sucht nach Erklärungen und will gleichzeitig
Erklärungen liefern. Bis sie weiter und weiter
zurückgreift, zwischen Generationen springt, eben bis
aus der Erzählung vom Schweigen ein verschwiegenes
Kunstwerk deutscher Geschichte entsteht, das Werk einer
ungeklärten Frage nach Schuld, Familienzugehörigkeit
und der Bedeutung von Erinnerungen. Ich habe
selten eine Erzählerstimme direkter und offener sprechen
hören. Und alles, was sie will, ist, verstehen zu
können: »Auch ich habe das Recht auf einen roten Faden.«
Ich wünsche der Autorin Katharina Peter, dass ihr
Buch große Aufmerksamkeit erfährt, denn die Suche
nach dem roten Faden kennt wohl jeder von uns.
Finn-Jona Stehr
felix jud gmbh & co. kg
buchhandlung antiquariat kunsthandel
Neuer Wall 13 20354 Hamburg
Telefon 040 - 34 34 85 Fax 040 - 34 18 48
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felix jud im the new institute
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Telefon 040 - 300 82 790 thenew@felixjud.com
buchempfehlungen – felix jud 45
5 plus
w
5 plus buchempfehlungen – lehmkuhl 46
lehmkuhl empfiehlt
Dana Spiotta
Unberechenbar
Aus dem Amerikanischen
von Andrea O’Brien
Kjona Verlag, 350 Seiten
€ [D] 25,– | € [A] 25,70
HURRA, ein neuer Verlag ist da! Grün, nachhaltig, sozial-ökologisch,
gerecht: Diesen Maximen fühlen sich die
Verleger Florian Keck und Lars Claßen verpflichtet, und
konsequent bis zur höheren Gewinnbeteiligung der Autoren,
der Nennung der Übersetzer gleich auf dem Cover
und der nachhaltig organisierten Herstellung der
Bücher wollen sie mit guter Literatur den Buchmarkt
bereichern.
Also los geht’s: Der erste Roman landet sofort auf
unserem Flügel, denn Unberechenbar von der amerikanischen
Autorin Dana Spiotta, die wir bisher in Deutschland
nicht gekannt haben, ist ein durchweg lebendiger,
gut geschriebener Text, der mich überzeugt hat. Die
Story klingt einfach: Frau, Mitte fünfzig, ändert ihr Leben
abrupt: Sie kauft sich ein altes Haus, verlässt Ehemann
und Tochter, verlässt die gutbürgerliche Wohlfühl-Umgebung
und entdeckt fortan ganz neue Seiten
an sich. Aber man kann nicht alles haben … Als Mutter
ist man ja nicht alleine auf der Welt! Spannend und mit
wechselnden Perspektiven erzählt, hat die Autorin den
richtigen Ton getroffen. Jede Frau wird sich mit der Gedankenwelt
und den Ideen von Sam auseinandersetzen,
einiges sofort verstehen, einiges aber auch empört ablehnen!
Jetzt heißt es lesen, sich am Druck und der Haptik
des Buches erfreuen und dem Verlag für die Zukunft
alles, alles Gute wünschen! Mechthild Heinen
Victoria Belim
Rote Sirenen –
Geschichte meiner
ukrainischen Familie
Aus dem Englischen
von Ekaterina Pavlova
Aufbau Verlag, 350 Seiten
€ [D] 22,– | € [A] 22,70
Das Debüt von Victoria Belim hat mich tief und nachhaltig
bewegt. Es ist eine Reise durch die ukrainische
Geschichte, von der Stalinzeit bis in die Gegenwart,
aber auch eine Reise der Autorin zu sich selbst. Eines
vorab: Sie hat ihren Roman, es ist ihre Familiengeschichte,
vor dem Krieg in der Ukraine verfasst. Heute
wäre sie wohl dazu nicht mehr in der Lage, hat sie einmal
erschüttert geschrieben. Vordergründig scheint es
die Spurensuche der Journalistin nach einem verschwundenen
Urgroßonkel zu sein. Was daraus entstand,
ist so viel mehr.
Die Autorin wurde 1978 im zentralukrainischen Poltawa
geboren, emigrierte mit 14 Jahren in die USA und
lebt heute mit ihrem Mann in Brüssel. Kurz nachdem
Russland die Krim annektierte, beschließt sie 2014, zurückzukehren
und sich mit ihrer Familiengeschichte
auseinanderzusetzen. Was soll sie ihrem Onkel Wladimir
entgegenhalten, dem Putin-Fan und Sowjet-Nostalgiker?
Auch er ist, wie sie, ein Ausgewanderter und führt
seine E-Mail-Debatte von Tel Aviv aus. Dann stößt sie im
Notizbuch ihres Urgroßvaters auf einen Eintrag: »Bruder
Nikodim, verschwunden in den 1930ern im Kampf für
eine freie Ukraine.« Sie will wissen, was mit ihrem Urgroßonkel
damals passiert ist, aber ihre Familie schweigt,
und vor allem Großmutter Valentina, immer um ihren
Garten bemüht, rät ihr schroff, die Vergangenheit ruhen
zu lassen. Belim möchte verstehen, warum so viel
ta buisiert wurde. Nikodims Spuren führen sie auch
in das berüchtigte Hahnenhaus, das höchste Gebäude
der Stadt. Die titelgebenden roten Sirenen sind an dem
Haus in Poltawa angebracht, das der berüchtigte Geheimdienst
nutzte. Für die Bewohner*innen der Stadt
ist es ein Ort des Schreckens und der Folter. Ein Buch,
das durch Putins Angriffskrieg auf die Ukraine eine erschreckende
Aktualität hat, auch wenn es vor 2022 geschrieben
wurde. Es lohnt sich unbedingt, sich auf diese
Reise einzulassen. Brigitte Giesler
Esther Schüttpelz
Ohne mich
Diogenes, 205 Seiten
€ [D] 22,– | € [A] 22,70
Esther Schüttpelz’ Debüt Ohne mich ist ein Buch, bei
dem ich gar nicht so genau erklären kann, warum ich
es mag. Ich mag es einfach! Die namenlose Protagonistin
des Romans ist eine selbstbewusste Frau: Mitte
zwanzig, weiß genau, was sie vom Leben will, und gerade
frisch geschieden. Das mit dem Ehemann hat einfach
nicht geklappt. Das Jurastudium ist fast abgeschlossen,
und ansonsten hat auch alles seine Ordnung.
Jura studiert sie, damit sie finanziell unabhängig ist.
Jetzt steht sie da und fragt sich nach dem Warum. Auf
der Suche begleiten wir sie durch die Höhen, die Tiefen
und das Chaos, in das wir geraten, wenn alles um uns
herum auf einmal keinen Sinn mehr ergibt. Mit offenem
und unverblümtem Ton werden wir von der Pro tagonistin
mitgenommen durch den Schmerz und auf die
Suche nach sich selbst. Schnell erzählt und mit absoluter
Sogwirkung hinterfragt sie ihr bisheriges Leben und
versucht herauszufinden, wer sie sein möchte. Es fällt
leicht, sich mit der jungen Ich-Erzählerin zu identifizieren,
die zwischen Alkohol, Partys, Sinnkrisen und allem,
was dazugehört, durch eine Quarterlife-Crisis schlittert,
die sich gewaschen hat. Echt, ehrlich, verletzend, mit
viel Witz und absolut unkitschig. Genau das Richtige für
alle, die manchmal selbst nicht so genau wissen, wohin.
Marlies Krämer
Sarah Crossan
Toffee
Aus dem Englischen von Beate Schäfer
Empfohlen ab 14 Jahren
Hanser, 352 Seiten
€ [D] 19,– | € [A] 19,60
Toffee ist die bewegende Geschichte einer ungewöhnlichen
Freundschaft. Allison, die vor der Gewalttätigkeit
ihres Vaters von zu Hause weggelaufen ist, begegnet
zufällig Marla, die langsam in die Demenz abzugleiten
beginnt. Als Marla in Allison ihre Jugendfreundin
Toffee zu erkennen glaubt, entwickelt sich vor der brüchigen
Realität der beiden Frauen ganz behutsam eine
Freundschaft. Ihr großes erzählerisches Können hat
Sarah Crossan bereits in Ihren Büchern Eins und Wer
ist Edward Moon? bewiesen, für das sie 2020 mit dem
Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.
Ihre Prosa verfasst sie in freien Versen, wodurch jedes
einzelne der kurzen Kapitel eine große Dichte und
Dringlichkeit bekommt.
Toffee ist ein Buch der zarten Töne, dessen Stärke
aus der Tiefe seiner sprachlichen Bilder erwächst.
Katharina Lemling
Frauke Angel/
Meike Töpperwein
Vorsicht, frisch geschieden!
ein survival-buch für
trennungskinder
Empfohlen ab 8 Jahren
Klett Kinderbuch, 137 Seiten
€ [D] 20,– | € [A] 20,60
Für mich DAS Sachbuch des Frühlings! Ich habe es –
selbst völlig ungeschieden – mit wachsender Begeisterung
von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. So ehrlich,
informativ, witzig (ja!), umfassend und ermutigend
wurde noch nie für Kinder über dieses Thema geschrieben.
Die Autorin Frauke Angel, selbst zweimal »geschieden«
(das heißt in dem Fall, ihre Mutter hat gleich zwei
Ehen in den Sand gesetzt), hat Klassen besucht und mit
Kindern gesprochen. Zusammen mit ihnen hat sie den
»Club der geschiedenen Leute« gegründet, einen geschützten
Raum, in dem frei erzählt und gefragt werden
darf. Sie hat Geschichten ebenso zusammengetragen
wie Fakten, ihr Ton ist frisch und voller Wärme, sie hört
den Kindern zu und nimmt sie ernst. Vorsicht, frisch
geschieden ist ein wichtiges Buch, das das Tabu »Scheidung«
bricht und Antworten und Anregungen für alle
Fragen rund um das Thema gibt. Katharina Lemling
Percival Everett
Die Bäume
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Hanser, 368 Seiten
€ [D] 26,– | € [A] 26,80
Ich habe lange keinen derart bösen und zugleich hoch
komischen Roman gelesen wie diesen. Percival Everett ist
eine ganz eigene Mischung aus Kriminalroman, Rachefantasie
und Groteske gelungen. Der Plot: Im verschlafenen
Provinznest Money werden einige weiße Männer
auf grausame Weise ermordet. An jedem Tatort liegt
zugleich der Körper eines schwarzen Jungen, der dem
1955 gelynchten Emmett Till ähnlich sieht. Von Money
aus kommt es zu einer Mordserie, die jede Dimension
sprengt und sich auf die ganzen USA ausweitet. Auf der
Suche nach den Tätern gerät Mama Z ins Visier der Ermittler.
Sie hat akribisch jeden von Weißen begangenen
Lynchmord an Schwarzen seit der Ermordung ihres eigenen
Vaters in ihrem Archiv dokumentiert. Everetts
Roman – 1922 nominiert für den Booker Preis – ist nichts
für schwache Nerven oder sensible Leser. Für alle anderen
ist es eine großartige Lektüre. Michael Lemling
buchhandlung lehmkuhl
Leopoldstraße 45 80802 München
Telefon 0 89 - 38 01 50 - 0 Fax 0 89 - 39 69 40
service@lehmkuhl.net www.lehmkuhl.net
5 plus
buchempfehlungen – lehmkuhl 47
w
5 plus buchempfehlungen – leporello 48
leporello empfiehlt
uwe neumahr
das schloss der
schriftsteller
nürnberg ’46
treffen ab abgrund
C. H. Beck Verlag, gebunden
304 Seiten mit 31 Abbildungen
€ [D] 26,– | € [A] 26,80
Es gab bei dem Nürnberger Prozess im Jahr 1946 zahllose
Beobachter. Es war die internationale Antwort auf
die Gräuel des Nationalsozialismus. Eine Gruppe der geladenen
Beobachter wurde im Schloss Faber Castell untergebracht.
Sie trafen sich, diskutierten die Prozesstage,
sprachen über die Arroganz der Angeklagten, die
sich verhielten, als wären sie unbeteiligte Gäste. Zumindest
in den ersten Wochen. John Dos Passos, eine Erika
Mann, Erich Kästner und Martha Gellhorn, Autorin und
Kriegsreporterin, und viele andere. Teilweise auf Feldbetten
in den Gängen wohnten sie in dem überfüllten
Hotel der ehemaligen Bleistiftfabrik. Die Bleistift-
Akteure, die das Grauen noch einmal erlebten, wenn sie
in das feiste Gesicht Hermann Görings blicken mussten.
Sie schrieben und schrieben und tranken und tanzten
auch im Schloss der Schriftsteller.
Eine herausragende Blickwinkelgeschichte als Geschichtsschreibung
aus dem Blickwinkel von Schriftstellern.
Aber auch von Exilpolitikern. Besonders delikat
Willi Brandt und Markus Wolf, die damals gemeinsam
im Schloss der Schriftsteller den Untergang der Nazis
beobachteten. Markus Wolf sollte als Geheimchef der
DDR später die Karriere Willi Brandts beenden. Sie hatten
sich sicher viel zu erzählen. Damals 1946.
Erwin Riedesser
rotraut schöberl
(herausgeberin)
meer morde
kriminelle geschichten im
und am wasser
Mit Illustrationen von Hanna Zeckau
Residenz Verlag, gebunden, 256 Seiten
€ [D+A] 25,–
Das Neue an dieser Anthologie, der dritten von Rotraut
Schöberl, ist nicht die gleichbleibende Qualität. Auch
nicht das Cover, das wieder fantasievoll und ansprechend
von Hanna Zeckau gestaltet wurde, beeindruckend
wie bei den Gartenkrimis. Es gibt auch wieder einen
Sammlung namhafter Autoren. Von Fred Vargas bis
Martin Walker, von Alex Beer bis Andreas Gruber sind
wieder große Namen dabei. Oder zum ersten Mal dabei.
Damit sind wir bei der Neuerung dieser dritten Anthologie,
die sich mit kriminellen Details am und im Meer
beschäftigt. Es gibt eine Premiere, Rotraut Schöberl, Ex-
5plus-Buchhändlerin, krönt diese Anthologie mit ihrer
ersten Erzählung. Männerfeindlich? Ansichtssache der
jeweiligen Position. Die Anthologien von Frau Schöberl,
der Buchappetitmacherin jeden Dienstag im TV, haben
sich am Markt eine respektable Aufmerksamkeit gesichert.
Sie erscheinen im ebenso repektablen Residenzverlag
und bilden auch heuer eine Bereicherung des
Frühlings. Erwin Riedesser
Anthony McCarten
Going Zero
Übersetzung von Manfred Allié
Diogenes Verlag
Gebunden, 464 Seiten
€ [D] 25,– | € [A] 25,70
Wagemutig habe ich mir aus dem großen Stapel der
Leseexemplare des Frühjahrs 2023 den Titel Going Zero
von Anthony McCarten, der im April bei Diogenes erscheinen
wird, genommen.
Wagemutig deshalb, weil Techno-Thriller so gar
nicht mein Genre sind.
Ich darf schon spoilern: Risiko zahlt sich aus! Ich war
und bin begeistert!
Hat eine einzelne Person eine Chance gegen das
System? Diese Frage gilt es bei einem Betatest der Firma
Fusion, einem Projekt des amerikanischen Geheimdienstes
und des Social-Media-Moguls Cy Baxter, zu
beantworten.
Ist es möglich, dreißig Tage absolut unauffindbar zu
bleiben? Keine Spuren zu hinterlassen?
Eine Bibliothekarin aus Boston ist entschlossen, es
jedenfalls auch zu versuchen. Sie gehört zu den zehn
Leuten, die an diesem Test teilnehmen dürfen, dem Gewinner
oder der Gewinnerin winken 3 Millionen US-
Dollar als Preisgeld. Doch Kaitlyn hat einen völlig anderen
Grund, gewinnen zu wollen … Spannend und auch
sehr kreativ fand ich die unterschiedlichen Zugänge und
Ideen, wie die Teilnehmer*innen versucht haben, unentdeckt
zu bleiben. Da waren durchaus auch echt witzige
Einfälle dabei.
Das Ende und die Auflösung des Buches haben mich
dann sehr überrascht!
Ich hatte beim Lesen sofort Bilder im Kopf und kann
mir einen Hollywood-Blockbuster gut vorstellen. Dann
würde ich mir Kate Winslet als Kaitlyn wünschen. Man
merkt einfach sofort, dass McCarten gewohnt ist, Drehbücher
zu schreiben. Ich kann sagen, es zahlt sich wirklich
aus, öfter mal aus Gewohnheiten auszubrechen und
»ungeliebte« Literatur zu genießen!
Dagmar Harbich
Nikolai Gogol
Das Porträt
Herausgegeben von Andreas Nohl
Übersetzung von Alexander Eliasberg
Steidl Verlag, gebunden, 160 Seiten
Mit Lesebändchen
€ [D] 18,– | € [A] 18,50
Dieses schöne Bändchen vereint drei Novellen des russischen
Meisters Gogol. Als Einstimmung in das Skurrile
eröffnet die Schrift Die Nase das Buch. Vom Auffinden
einer Nase in einem frisch gebackenen Brot und seinem
Kunden, der am gleichen Tag ohne be sagte Nase
im Gesicht aufwacht. Dabei ist die Prosa so schnell und
fesselnd, dass man sich gar nicht Gedanken darüber
machen kann, wie das passieren konnte, sondern man
fiebert mit dem Nasenlosen mit, der verzweifelt nach
seinem fehlenden Körperteil sucht. Das namensgebende
Das Porträt erzählt die Geschichte eines Künstlers,
dessen Erwerb eines Kunstwerks sich als verhängnisvoll
erweist. Wie ein Impressionist malt Gogol die Seele und
Gedanken seines Statisten, mit einer Präzision, die den
Leser in seinen Bann zieht. Die letzte Novelle, Der Mantel,
erzählt von einem Beamten, der lange Zeit auf einen
teuren Mantel spart, nur damit er ihm nachts gestohlen
wird, was den Mann in eine physische und seelische
Krise treibt. Die drei Novellen sind eine rasante, mitreißende
und amüsante Reise in die Welt der russischen
Literatur und schaffen Lust auf mehr. Nina Stajnko
Annie Ernaux
Der junge Mann
Übersetzung von Sonja Finck
Suhrkamp Verlag, gebunden, 48 Seiten
€ [D] 15,– | € [A] 15,50
Die aktuelle Literaturpreisträgerin wiederholt, was sie
am besten kann: über wichtige Ereignisse in ihrem Leben
reflektieren und sie literarisch aufarbeiten. Diesmal
erzählt sie die Geschichte einer Liebesbeziehung,
die sie kurzzeitig mit einem 30 Jahre jüngeren Studenten
führte. In ihm, und seinem Lebensstil, erkennt sie
das Milieu wieder, dem sie entwachsen ist, und die
Lebensabschnitte, die sie schon erlebt hat. Zusätzlich
empfindet sie die Beziehung als politisches Statement,
da sie sich allzu gut der abschätzenden, wütenden Blicke
in der Öffentlichkeit bewusst ist. Jedoch ist dies für
sie nicht mit Scham verbunden, sondern sie erlebt es als
etwas Befreiendes. Und das ist ein Thema, das ihre Bücher
so erfolgreich macht: Egal, ob man die gleichen Erlebnisse
gehabt hat oder nicht, ihre Aufarbeitung ihrer
Gefühle ist so universell verständlich, dass sich jeder in
diesen Gefühlen auf eine Art und Weise wiederfindet.
Insofern ist auch dieser, obwohl ziemlich kurzer, Band
als sehr lesenswert zu empfehlen. Nina Stajnko
John Boyne
Als die Welt zerbrach
Übersetzung von Michael Schickenberg
und Nicolai von Schweder-Schreiner
Piper Verlag, gebunden, 416 Seiten
€ [D] 24,– | € [A] 24,70
Mit Der Junge im gestreiften Pyjama hat John Boyne
seinen Leser*innen eine Geschichte geschenkt, die das
Thema Holocaust auf eine ganz besondere Weise aufgegriffen
hat. Er hat das Unbeschreibliche aus der Sicht
eines naiven Kindes, Bruno, betrachtet. Wann hört diese
Unschuld auf? Wann trägt man Verantwortung, wann
muss man Recht und Unrecht unterscheiden können?
Diese Frage stellt sich für mich in der Fortsetzung Als
die Welt zerbrach. Brunos Schwester Gretel, mittlerweile
über 90 Jahre alt, lebt in London – ihre Lebensgeschichte
kennen weder Familie noch Freunde genau, die Erinnerung
an ihren Bruder hat sie tief begraben. Als neue
Nachbarn in ihrem Haus einziehen, hat sie die Chance,
aus vergangenen Fehlern und Versäumnissen zu lernen
und den Mut zu finden, ein Kind zu beschützen. Das
Schicksal soll sich nicht wiederholen. Ein lesenswertes
Buch – auch ohne seinen Vorgänger sehr empfehlenswert.
Christina Skala
leporello – die buchhandlung
am stephansplatz
Singerstraße 7 / Ecke Churhausgasse A-1010 Wien
Telefon + 43 - 1 - 9 61 15 00
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im burgtheater
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buchempfehlungen – leporello 49
5 plus
buchempfehlungen – librium 50
5 plus
DIE BUCHHANDLUNG
empfiehlt
Arno Geiger
Das glückliche Geheimnis
Hanser, 237 Seiten
€ [D] 25,– | € [A] 25,70
Als 2005 der Deutsche Buchpreis zum ersten Mal vergeben
wurde, war Arno Geiger mit dem Roman Es geht
uns gut der erste Preisträger und bekam viel Aufmerksamkeit.
Seine zwei zuvor erschienenen Romane hatte
ich nicht wahrgenommen, aber nach der Lektüre des
preisgekrönten Buches habe ich seine weiteren Romane
jeweils nach Erscheinen gelesen. Ich denke, das ist
die beste Voraussetzung, um das neu vorliegende Buch
mit Spannung zu lesen: Der Autor schildert hier seinen
ganz eigenen Werdegang zum Schriftsteller. Der Text ist
in Form einer Beichte geschrieben, erzählt Geiger uns
doch tatsächlich ein lange gehütetes Geheimnis. Natürlich
will ich dieses hier nicht verraten, die Überraschung
soll den Lesenden gehören. »Das Verschweigen von etwas
kann Freude bereiten. Aber auch das Erzählen kann
Freude bereiten. Nachdem ich so lange die Freude des
Verschweigens ausgekostet habe, nehme ich mir jetzt
die Freiheit des Erzählens«, so Geiger in seinem neuen
Buch. Ich habe es in einem Zug gelesen, mich gewundert,
nachgedacht, teilgenommen an seinen Einsichten
und am Ende mein liebstes seiner Bücher, Alles über
Sally, nochmals gelesen. Susann Jäggi
Frances Cha
Hätte ich dein Gesicht
Aus dem Englischen von Nicole Seifert
Unionsverlag, 288 Seiten
€ [D] 23,– | € [A] 23,70
Das Debüt von Frances Cha gibt Einblick in das Leben
von vier jungen südkoreanischen Frauen, die in demselben
Wohnkomplex der südkoreanischen Hauptstadt
Seoul leben.
Ara, Kyuri, Miho und Wonna – charakterlich verschieden
– haben gemeinsam, nicht zur Oberschicht zu
gehören. Trotz belastender Ereignisse in der Vergangenheit
versuchen sie als Room-Salon-Girl, Friseurin und
Künstlerin Tag für Tag in der schonungslosen Realität zu
bestehen.
Interessant ist der stetige Perspektivenwechsel,
denn mit jedem Kapitel wechselt die Ich-Erzählerin. Die
Lesenden erfahren so entweder mehr von einer der
Figuren oder erhalten eine andere Sichtweise auf dieselben
Ereignisse.
Der gesamte Roman ist ein sorgsam gezeichnetes
Bild, welches die manchmal bizarre, gewaltige Ungleichheit
und strikte Hierarchie in der südkoreanischen
Gesellschaft aufzeichnet. Im Kern verborgen aber liegen
die Freundschaft und der Zusammenhalt der einzelnen
Frauen, der sich langsam offenbart. Obwohl ihre Leben
alles andere als einfach sind – dass sie einander haben,
gibt Grund zur Hoffnung, dass sie auch die Zukunft gemeinsam
durchstehen werden. Nina Brutsche
Anna Maria Stadler
Maremma
Jung und Jung, 224 Seiten
€ [D+A] 23,–
Esther und ihre Jugendfreunde suchen sich für die
Sommerferien »[…] meistens Orte, wo schon irgendjemand
von uns als Kind mit seinen Eltern gewesen ist.
Als müssten wir Engramme abfahren, die sich uns in die
Kleinhirnrinde gefräst haben.«
Dieses Mal fahren sie gemeinsam nach Italien in
die Maremma. Die örtlichen Gegebenheiten sind jedoch
eigentlich nicht entscheidend. Alles ist im Grunde
nichts als Kulisse für die Gespräche und Gedanken, das
Ritual des Zusammenseins und die Erinnerungen an
frühere Ferien und Erlebnisse. Tatsächlich besticht die
Erzählung auch nicht durch die Handlung oder die Persönlichkeit
der Figuren, sondern vielmehr durch die
assoziativen Gedanken und genauen Beobachtungen.
Die sinnlichen Beschreibungen Esthers entführen
einen ganz unverhofft in die erholsame Geschwindigkeit,
mit der die Tage durch die kleine Gruppe hindurchziehen.
Dem steten Wechsel zwischen genauer Beobachtung
und Kontemplation zu folgen, fühlt sich an wie eine
Buchlänge Ferien. Wer sich nach vita contemplativa
sehnt und es diesen Sommer vielleicht nicht in den Süden
schafft, der oder die lese dieses Debüt.
Lea Müller
Gabrielle Zevin
Morgen, morgen und
wieder morgen
Aus dem Englischen von Sonia Bonné
Eichborn Verlag, 560 Seiten
€ [D] 25,– | € [A] 25,70
Nordamerika in den frühen 2000ern. Sadie und Samson
lernen sich als Kinder in einem Krankenhaus kennen
und freunden sich über ihr gemeinsames Interesse an
Videospielen schnell an. Dennoch verlieren sie sich aus
den Augen und treffen erst Jahre später zufällig wieder
aufeinander. Sie entscheiden sich dazu, gemeinsam ein
Videospiel zu entwickeln, und holen dazu Sams Mitbewohner
an Bord. Das Spiel wird ein Riesenhit, zieht
aber auch schwerwiegende Folgen nach sich, die ihre
Freundschaft auf eine harte Probe stellen.
Der Roman bildet eine spannende literarische Verbindung
zwischen der realen und der virtuellen Welt.
Gabrielle Zevin zeichnet die Figuren so realistisch und
menschlich, dass man sich auch nach den fünfhundertsechzig
Seiten noch wünscht, die Protagonist*innen
weiter begleiten zu dürfen.
Das Buch ist nicht nur für Fans und Kenner*innen
von Games. Es ist eine berührende Geschichte über alle
Arten zwischenmenschlicher Beziehungen, das Erzählen
von Geschichten und das Erwachsenwerden.
Debby Stoffel
Mohamed Mbougar Sarr
Die geheimste Erinnerung
der Menschen
Aus dem Französischen von
Holger Fock und Sabine Müller
Hanser, 448 Seiten
€ [D] 27,– | € [A] 27,80
Ein junger senegalesischer Autor sucht nach einem verschollenen
Kultbuch und seinem legendären Verfasser.
Der mysteriöse Schriftsteller T. C. Elimane wurde in
den 1930er-Jahren in Paris als literarische Sensation
gefeiert. Ein afrikanischer Autor, aus der Kolonie, der
als der »schwarze Rimbaud« galt. Doch ebenso schnell
wurde er rassistisch angefeindet, und nach einem Skandal
verliert sich seine Spur. Auf diese Suche nimmt uns
der Protagonist Diégane mit, und mit ihm verstrickt
sich die Geschichte immer mehr in ein Labyrinth aus
Geschichten auf verschiedenen Zeitebenen und auf
drei Kontinenten.
Mohamed Mbougar Sarr, geboren 1990 in Dakar, erhielt
für den Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen
den Prix Goncourt 2021, den wichtigsten Preis für
französischsprachige Literatur.
Der vielschichtige und meisterhaft komponierte
Text ist ein großes Lesevergnügen und ein Lobgesang
auf die Kraft der Literatur. Er verhandelt neben der krimihaften
Rekonstruktion eines rätselhaften Schriftstellerlebens
aber auch gesellschaftliche und historische
Fragen.
Wie wird in Frankreich über Literatur aus Afrika gesprochen?
Und wie mit dem komplizierten kolonialen
Erbe umgegangen? Laurin Jäggi
Monique Roffey
Die Meerjungfrau
von Black Conch
Aus dem Englischen von
Gesine Schröder
Tropen Verlag, 240 Seiten
€ [D] 22,– € [A] 22,70
Ein riesiger, silbergrau schimmernder Fischschwanz,
lange, pechschwarze Dreadlocks, der Körper voller geheimnisvoller
Tätowierungen. Die Meerjungfrau, die
1976 von amerikanischen Fischern vor der Küste Trinidads
aus dem Wasser gezogen wird, entspricht nicht
unbedingt der gängigen Vorstellung eines solchen Wesens.
David, einem damals noch jungen Fischer aus Black
Conch, war die Meerjungfrau bereits zuvor auf einer seiner
Fahrten aufgefallen. Er hat sie darauf immer wieder
aufgesucht und eine erste zarte Bindung zu ihr aufgebaut.
Als er sie dann am Haken baumeln sieht, schneidet
er sie kurzerhand los und versteckt sie bei sich in der
Badewanne. Bei ihm verwandelt sich das Fischwesen
nach und nach zurück in die Frau, die sie vor Hunderten
von Jahren gewesen war, und es beginnt für die beiden
eine kurze Zeit der Glückseligkeit.
Ein schillerndes, oftmals auch raues, modernes
Märchen, welches alte Mythen geschickt mit aktuellen
Themen verwebt und dessen fremdartiger Charme den
Leser, die Leserin sofort in seinen Bann zieht.
Doris Widmer
librium bücher ag
Theaterplatz 4 CH-5400 Baden
Telefon + 41 - 0 - 56 - 2 22 46 66
buch@librium.ch
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buchempfehlungen – schleichers 52
5 plus
Friedrich Christian Delius
»Darling, it’s Dilius!«
Erinnerungen mit großem A
Rowohlt Berlin Verlag, 320 Seiten
€ [D] 24,– | € [A] 24,70
Wie schreibt man über das eigene Leben? Wie findet
man eine dem Leben, jedem Leben gemäße Form? Für
Friedrich Christian Delius, der in diesem Jahr 80 Jahre
alt geworden wäre, war eines ausgeschlossen: ein chronologisches
Erzählen biografischer Stationen. Aber wie
dann? Er kommt auf eine unglaublich originelle und bezwingend
einfache sowie verschmitzte Idee: Ich erzähle
mein Leben frei, assoziativ, sprunghaft und lebendig,
ohne am Ende an ein solches zu stoßen. Welch ein Einfall!
Denn jedem Anfang liegt ein Zauber inne. So komponiert
und collagiert, ordnet und betrachtet er sein
Leben, indem er zurücktritt, den Buchstaben A nimmt
und blitzlichternd, scharfsinnig und heiter aus seinem
Leben erzählt.
Ein Leben voller A… nfänge.
So fragmentarisch der erste Anschein, blicken wir
Leser auf ein erfülltes, ereignisreiches Leben, das von
einer bewundernswert klaren Haltung und politischer
Aufklärungskraft, großer Liebenswürdigkeit, von Empathie,
Sensibilität, von unerschöpflichem, leisem Humor
und dem Willen zur Form zeugt. Schleichers Buchhandlung
verdankt diesem Autor unvergesslich eindrückliche
Abende im Dahlemer Autorenforum.
Wenn Du nur auch noch B und C und D usw. hinzufügen
könntest, lieber Christian.
Silke Grundmann-Schleicher
LUKAS BÄRFUSS
VATERS KISTE. EINE GESCHICHTE ÜBER DAS ERBEN
Rowohlt, 95 Seiten, € [D] 18,– | € [A] 18,50
DIE KRUME BROT
Rowohlt, 256 Seiten, € [D] 22,– | € [A] 22,70
»Meine Herkunft bleibt ungewiss. Ich könnte darüber
nicht glücklicher sein«, stellt Lukas Bärfuss am Ende
seines literarisch-essayistischen Textes Vaters Kiste fest,
der sich mit dem Erben im ökonomischen und soziologisch-psychologischen
Sinne auseinandersetzt.
Fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod seines Vaters,
der schon zu Lebzeiten abwesend war, öffnet Bärfuss
eine von ihm geerbte Bananenkiste, die Zeugnisse eines
Lebens in Armut enthält. Auch ihm sind die Mahnungen
und Schuldscheine aus eigener Erfahrung bekannt
und zeigen, wohin sein Leben hätte führen können. Die
eigene erfolgreiche Entwicklung sieht Bärfuss in seinem
Mangel an Erbschaft begründet, der ihm die Freiheit
gab, sich selbst zu erfinden, und ihn weder geistig
noch finanziell fesselte – obwohl, wie er bemerkt,
auch sein Vater ein Geschichtenerzähler gewesen sein
muss, der im kleinen Berner Oberland immer wieder
Mitmenschen überreden konnte, ihm Geld zu leihen.
Von dieser Position aus stellt Lukas Bärfuss das gesamte
Konzept des Erbens infrage, das hauptsächlich reichen
Ge sellschaften vorbehalten ist, und erweitert den Begriff
auf die Umwelt, die wir unseren Kindern hinterlassen,
den Müll im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Dabei
schlägt er spannende Kapriolen, die zum Nachdenken
anregen, ob man mit ihm übereinstimmen mag oder
nicht.
In seinem neuen Roman Die Krume Brot lassen sich
diese Gedanken wiedererkennen.
Adelina, das vermeintlich unbegabte Kind italienischer
Einwanderer in der Schweiz, findet sich in den
1970er-Jahren als alleinerziehende Mutter wieder, die
trotz harter Arbeit immer am Rande des Abgrunds balanciert.
Damit steht sie in der Tradition ihrer Familie,
deren Väter ihre Kinder aus unterschiedlichen Gründen
stets als Enttäuschung oder Belastung empfanden. Wie
Adelina versucht, sich und ihre Tochter aus diesem Teufelskreis
zu lösen, beschreibt dieser Roman, der wie das
Essay keine einfachen Lösungen bietet.
Christine Mathioszek
SIRKA ELSPASS
ICH FÖHNE MIR MEINE WIMPERN
Gedichte.
Suhrkamp Verlag, 80 Seiten
€ [D] 20,– | € [A] 20,80
Sirka Elspaß trifft mit dem Ton in ihren Gedichten einen
bestimmten Nerv bei mir, der mich schmunzeln
und melancholisch werden lässt. Ihre Gedichte handeln
vom Erwachsenwerden, von Alltagssituationen. Davon,
mit dem Leben klarzukommen, und nicht zuletzt von
der Beziehung zu ihrer Mutter. Ihre Gedichte sind meist
kurz, die Themen und Verse einerseits aufgewühlt, aber
auf eine gewisse Weise auch klar. Ihre Themen, ihr Ton
werden vor allem jüngere Menschen ansprechen. Vielleicht
können aber ältere Leute durch ihre Gedichte einen
Blick in die Gefühlswelt von jungen Erwachsenen
heutzutage werfen. Häufig spricht sie ernste Themen an
wie Essstörung und Depression, sie verarbeitet ihren
Schmerz. Sicher können sich viele junge Leute mit diesen
Schwierigkeiten identifizieren. Der oft mitschwingende
Humor macht ihre Gedichte aber besonders zugänglich.
Johanna Hummelt
VOLKER REINHARDT
MONTAIGNE
philosophie in zeiten des krieges
Verlag C.H. Beck, 330 Seiten
€ [D] 29,90 | € [A] 30,80
»Mich […] berührt und beschäftigt an Montaigne heute
nur dies: wie er in einer Zeit, ähnlich der unsrigen, sich
innerlich freigemacht hat, und wie wir, indem wir ihn
lesen, uns an seinem Beispiel bestärken können.« Wie
Stefan Zweig Montaigne und sein Werk in den düsteren
40er-Jahren aufnimmt, so fasziniert Montaigne bis heute
Leserinnen und Leser durch seine kühne subjektive,
vermeintlich zugängliche und verständliche Art, verfasst
im Frankreich des 16. Jahrhunderts, der Zeit grausamer
Religionskriege, von Pest und dramatischer Instabilität.
Dass die Fokussierung auf Subjektivität und Rückzug
aus dramatischer Zeit eine den Blick verengende
»Lesart« ist, klärt auf faszinierende Weise die neue, herausragende
und umfassende Montaigne-Biografie des
Historikers Volker Reinhardt. Die Essais dienen gern als
Zitaten-Steinbruch – Volker Reinhardt führt Montaigne
und dessen Werk systematisch und klug kommentiert
im historischen Kontext zusammen. Er möchte ihn in
»seiner ganzen Geschichtlichkeit«, erstaunlichen Vielfältigkeit
und auch Widersprüchlichkeit darstellen. Dabei
lüftet er ebenso sorgfältig strategische Beweggründe,
stilistische und editorische Besonderheiten. Montaigne
und sein Werk gewinnen durch Reinhardts sorgfältige
chronologische und thematische Einbettung. Sie eröffnet
immer wieder erstaunliche und anregende Deutungsmöglichkeiten.
»Ob der historische Montaigne ein
Montaigne zum Liebhaben ist, muss jeder und jede
selbst entscheiden. Sicher hingegen ist, dass sein Werk
das Leben der Lesenden verändern kann«, formuliert
Volker Reinhardt. Die Essais sind nach dieser Biografie
unbedingt neu zu lesen. Malcah Castillo
LISA WEEDA
ALEKSANDRA
Aus dem Niederländischen von
Birgit Erdmann
Kanon Verlag, 286 Seiten
€ [D] 25,– | € [A] 25,70
Gold ist das Geweih der Hirsche, das Symbol der Familie
Krasnov, Weiß, das Fell und das Leinen; Blau die
Blumen, Rot die Liebe. Baba Mari, Lisas Urgroßmutter,
bestickt ihr weißes Leinentuch außerdem auch mit
schwarzem Garn, denn Schwarz steht für die fruchtbare
Erde des Donbass und für allen Verdruss. In einer Geheimsprache
aus unterbrochenen oder jäh endenden
Linien, Namen und Farben stickt Baba Mari die Geschichte
ihrer Donkosaken-Familie heraus. Da ist ihr
Vater, der 1904 in den russisch-japanischen Krieg zieht
und als gebrochener Mann zurückkehrt. Da ist die Gemeinschaft
der Donkosaken, die als Strafe für ihren
Kampf auf der Seite des Zaren nach der Revolution »entkosakisiert«
und deportiert wird. Da ist ihre Familie, die
im Zuge der Bolschewisierung und »Entkulakisierung«
durch Brigaden von Roten vertrieben und ihres Getreides
beraubt wird, wobei die Ehrlosen sogar das Saatgut
verschleppen – aber die Familie überlebt den Holodomor,
wenn sie auch spindeldürre, fremde kleine Mädchen
mit geschwollenen Beinen begraben muss.
Als Baba Maris Tochter Aleksandra elf Jahre nach der
Hungersnot 1942 am Bahnhof von Luhansk steht und in
den deutschen Viehwaggon steigen muss, der sie als
»Ostarbeiter« in eine deutsche Fabrik befördern wird,
schenkt Baba Mari ihr das Tuch, sie soll es weitersticken
und niemals aus der Hand geben. Aleksandra kehrt nie
zurück in ihre Heimat – aus Angst, dort als Kollaborateurin
verhaftet zu werden, und weil sie in der Fabrik den
niederländischen und ebenfalls zur Zwangsarbeit verschleppten
zukünftigen Vater ihrer Kinder trifft.
Nun, 2014, soll Aleksandras Enkelin Lisa im Auftrag
ihrer Großmutter das Leinentuch zurück nach Luhansk
bringen, wo die Volksrepublik ausgerufen wurde. Es soll
ihrem Cousin Kolja helfen, denn er wird vermisst, das
Beharren auf seiner Freiheit, die in seiner Kosakenfamilie
immer an oberster Stelle stand, hat ihn in schreckliche
Schwierigkeiten gebracht.
In fantastischen Zeitsprüngen nimmt Lisa Weeda
ihre Leser mit auf eine Reise durch die bewegte Lebensgeschichte
ihrer Ahnen, deren bewaffneter Kampf für
Freiheit und Unabhängigkeit heute das Selbstbild vieler
Ukrainer prägt. Norma Cassau
schleichers buchhandlung dahlem-dorf
Königin-Luise-Straße 41 14195 Berlin
Telefon 0 30 - 84 19 02-0
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5 plus
© Alina Buzunova/istockphoto
lgbtqia+ 54
5 plus
Queerness ist in der Buchbranche angekommen
– was für ein Glück! Nicht nur in der Belletristik
überraschen Neuerscheinungen besonders
in großen Verlagen, auch in der Kinder- und
Jugendliteratur nimmt die LGBTQIA+-Bewegung eine
zunehmend wichtige Rolle ein. Aber ist diese Präsenz
nicht überfällig, ein Fingerzeig auf Lebensrealitäten, die
in unserer Gesellschaft längst selbstverständlich sind?
Für Menschen, die, um das englische Akronym mal aufzudröseln,
lesbian, gay, bi, transgender, queer, inter oder
agender sind, ist das Bewusstsein ihrer Identität keineswegs
neu. Vor allem in der Jugendkultur ist »Queer«
nicht mehr wegzudenken. Auf mich wirkt diese Offenheit
und das Selbstverständnis der Community beflügelnd
und stimmt hoffnungsvoll mit dem Blick auf
die Zukunft. Beim Blättern und Lesen in Kinder- und
Jugendbüchern wird allerdings auch die zu befürchtende
oder erfahrene Ablehnung deutlich, spiegelt sie doch
den gesellschaftlichen Status quo wider.
Dieser Text soll eine Ermutigung sein, sich queerer
Literatur zu widmen. Auch wenn Sie sich nicht als Teil
der LGBTQIA+-Community begreifen, ist es eine spannende
Gelegenheit, den eigenen Blick für mehr Diversität
zu öffnen. Und vielleicht sind Ihnen auch gelegentlich
queere Kinderbücher in die Hände gefallen, ohne
dass Sie es bemerkten, denn neben Neuheiten gibt es
ältere Titel, die die Thematik schon seit langem aufs Tableau
bringen. Es benötigt oftmals einen zweiten Blick,
da sie ohne einen plakativen Titel daherkommen, was es
umso schöner macht.
Worte formen
unser Denken
LGBTQIA+ im
Kinder- und Jugendbuch
Laura Trelle
Ein wunderbares Beispiel ist da Teddy Tilly, von Jessica
Walton. Die Geschichte einer Teddybärin, der schon
immer bewusst ist, dass sie nun mal eine Bärin ist. Allerdings
wird sie, seit die denken kann, Thomas genannt.
Ihre Gefühle werden immer dringlicher, die Traurigkeit
über dieses Missverständnis stetig größer, bis sie es
nicht mehr aushält und sich ihrem besten Freund Finn
offenbart. Wider Erwarten hat der kein Problem damit,
möchte er doch nur, dass es Tilly besser geht und dass
ihre Freundschaft bestehen bleibt, an der sich auch
nichts ändert, bloß der Name und, hier symbolisch für
Identifikation zum Geschlecht, Tillys Schleife im Haar
statt wie bisher am Hals. Ein Bilderbuch für die Kleinen,
das mit wenig Worten und eckig anmutenden Illustrationen
die Gefühle der Protagonist*innen deutlich macht
und den Fokus auf die notwendige Akzeptanz gelegt.
Das Buch Der Katze ist es ganz egal, verfasst von
Franz Orghandl und illustriert von Theresa Strozyks,
zeigt, dass das Sprechen über Rechte von Transmenschen
auch mit viel Spaß und Witz funktioniert. Orghandl
erzählt mit feinstem österreichischen Humor die
Geschichte von dem neunjährigen Leo, der fortan mit
einem neuen Namen angesprochen werden möchte,
nämlich mit Jennifer. Wunderbar selbstbewusst eröffnet
Jennifer diese Tatsache ihrer Familie und Freund*innen.
Alles ist ganz »leiwand«, nur ihr Vater ist skeptisch und
reagiert mit Abneigung. In einfacher Sprache erfasst
Jennifer, wie dringlich und wichtig ihr die Sache ist, und
bringt auf den Punkt, welche Rolle die Erwachsenen
spielen, denn sie bemerkt, dass die Leute anscheinend
denken, sie würde erst dann ein Mädchen, wenn man es
ihr auch zugesteht. Mit Freund*innen, guten Lehrer*-
innen und großen Sprüngen über den eigenen Schatten
wird zum Schluss alles gut. Orghandl verhandelt ein großes
Thema mit so viel Witz und Zuversicht, dass es einem
leicht ums Herz wird. Die Entwicklung der Eltern
wird hier schön gezeichnet und zeigt, wie sie mit ihren
eigenen Rollenbildern konfrontiert werden und wie viel
Mut und Überwindung es ihnen abverlangt, sich diesen
zu stellen, und wie sehr es sich lohnt.
Queer sein bedeutet nicht nur trans, sondern auch
schwul oder lesbisch sein. Ein wunderschön warmes
Buch von Nora Dåsnes beschreibt, was es bedeuten
kann, zu bemerken, dass man auf das gleiche Geschlecht
steht – im üblichen Gefühlschaos des ersten
Verliebtseins.
In Regenbogentage startet Tuve in die siebte Klasse
und freut sich auf ihre besten Freund*innen, doch etwas
hat sich während der Ferien verschoben. Eine der beiden
hat plötzlich einen Freund und möchte ab jetzt nur
noch jugendlich und cool sein. Während die Dritte im
Bunde genervt ist von dem ganzen Verliebtsein, steht
Tuve zwischen den Stühlen. Denn auch sie verliebt sich
Hals über Kopf, in die Neue, Miriam. Ob sie auch Wimperntusche
tragen und reif sein muss, um verliebt sein
zu dürfen, oder ob das auch ganz anders geht, ist nur
eine von vielen Fragen. Dåsnes Debüt ist eine Mischung
aus Tagebuchroman und Comic, gespickt mit Chat-
Nachrichten. Flächige Zeichnungen fangen gekonnt
Stimmungen und Gefühle ein. Hier wird nicht nur eine
erste zarte Liebe erzählt, sondern auch die Bedeutung
und der Rückhalt von Freund*innen, wenn es darum
geht, sich selbst kennenzulernen und weiterzuentwickeln,
denn die Pubertät stellt alles auf den Kopf. Das
schließt auch die Beziehung zu den Eltern ein, im Fall
der Geschichte Tuves der alleinerziehende Vater. Denn
auch der ist in mancherlei Hinsicht überfordert und holt
sich Rat bei Podcasts und tauscht sich mit anderen Elternteilen
aus, um seiner Tochter und auch sich selbst
gerecht zu werden. Tuves Ziel ist es, herauszufinden,
was sie fühlt und braucht. In ihrem Tagebuch tauchen
Notizen einer Internetrecherche auf – ihr wird klar, dass
sie lesbisch ist, und damit verändert sich auch ihr Blick
auf ihre Vorstellung von Liebe.
Es wird deutlich, wie Worte unser Denken formen.
Grund genug, die eigenen Worte immer wieder zu hinterfragen
und offen für die Fluidität und Möglichkeiten
von Sprache zu sein, die in Debatten um Geschlecht
und Diversität eine so wichtige Rolle spielt.
Tauchen bei dem Wort »queer« sowohl Fragezeichen
als auch Neugier auf, ist es hilfreich, nachzuschlagen.
Eine großartige Möglichkeit bietet da Queergestreift von
Kathrin Köller und Irmela Schautz. Das Buch gibt einen
Einblick in die unterschiedlichen Communitys der
LGBTQIA+-Bewegung und setzt sich mit deren Fragestellungen
auseinander. Es klärt auf, spricht soziale,
rechtliche und gesundheitliche Themen an und lässt
dabei viele junge Personen selbst zu Wort kommen.
lgbtqia+ 55
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lgbtqia+ 56
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Laura Trelle hat Vergleichende Kulturwissenschaften in
Regensburg studiert. Sie arbeitet als Buchhändlerin in der Buchhandlung
Dombrowsky, wo sie auch ihre Ausbildung absolviert
hat.
Köller und Schautz richten das Wort ganz direkt an
Menschen außerhalb der queeren Community. Sie wollen
Hürden abbauen, den Blick für Diversität öffnen und
deutlich machen, dass Rechte für LGBTQIA+-Personen
Menschenrechte sind. Sprache ist hier grundlegendes
Werkzeug. Tauchen Menschen in unserer Sprache nicht
auf, werden sie auch in unserem Denken marginalisiert.
Benutzen wir diskriminierende Worte, beeinflussen sie
nicht nur unsere Sichtweise, sondern verletzen auch die
betroffenen Personen. Eileen, eine jugendliche Person,
die in Queergestreift zu Wort kommt, trifft es auf den
Punkt: »Ihr [die ältere Generation] seid mit anderen
Idealen und Werten aufgewachsen als wir, doch für mich
ist das keine Entschuldigung, sich aktuellen Thematiken
zu entziehen und sich als teilnahmslos zu erklären.
Denn ebenso wie der Radfahrer, der beim Vorbeifahren
›Schwuchtel‹ ruft, ist die Mutter, die die Reihenfolge der
Buchstaben grundsätzlich vertauscht, Teil der Bremse
des gesamtgesellschaftlichen Wandels in Richtung Inklusion,
Akzeptanz und Offenheit. Wir sind nicht nur die
Buchstaben LGBTQIA+. Dahinter stecken echte Menschen.«
Sprache hinterfragen geht auch spielerisch und mit
viel Wortwitz, was besonders mit Kindern Spaß macht.
Der jaja Verlag hat mit machtWorte! einen ganz neuen
Rundgang durch das Alphabet vorgelegt. Jedem Buchstaben
werden ein Satz und ein kurzer erklärender Text
plus Zeichnung gewidmet. Jeder Text schließt mit einer
Frage ab, die zum Diskutieren und Philosophieren einlädt.
Dem »N« folgt der Satz: »Die Nächstenliebe des
Norm_Aals macht den Nixer normal.« Er bezieht sich
auf die Anerkennung, die eine glückliche Existenz und
ein Gefühl der Zugehörigkeit ermöglicht. Die Lesenden
bleiben mit der Frage zurück, warum es überhaupt eine
Unterscheidung zwischen normal und nicht-normal
gibt. Eine Antwort lässt mit einem Vorwärtsblättern
zum »M« finden, das sich auf den Titel bezieht: »Macht
Worte!«, steht dort. Kurz und simpel wird erklärt, wie
machtvoll Worte sind, dass sie Wirklichkeit schaffen,
den eigenen Platz in der Gesellschaft bezeichnen und
den von anderen Personen. Diese Macht setzt einen verantwortungsvollen
Umgang mit Sprache voraus, der
auch, wie das Buch beweist, viel Spaß machen kann.
Diese Beispiele sind nur ein kurzer Abriss einer ganzen
Reihe von Titeln von, für und über Menschen aus
der LGBTQIA+-Bewegung, die deutlich machen, was
wichtig ist im Umgang mit der Thematik. Offenheit, Interesse,
Akzeptanz und Respekt. Es ist okay, nicht alles
zu wissen, das habe ich auch bei Gesprächen mit Menschen
aus der Community und mit Angehörigen gelernt.
Doch das Hinterfragen und Nachdenken über die bestehenden
Strukturen unserer Gesellschaft ist Teil eines
offenen Umgangs miteinander.
Bücher sind da ein wunderbarer Zugang. Gehen Sie
in die Buchhandlung Ihres Vertrauens und fragen Sie
nach Büchern über »dieses LGBTQIA-Ding«, dann ist es
irgendwann gar nicht mehr so schwer.
Jessica Walton
Teddy Tilly
Illustriert von Dougal Macpherson
Übersetzung von Anu Stohner
Fischer Verlag, 32 Seiten, € [D] 14,99 | € [A] 15,50
ab 4 Jahren
Franz Organdl
Der Katze ist es ganz egal
Illustriert von Theresa Strozyk
Klett Kinderbuch Verlag, 104 Seiten, € [D] 13,– | € [A] 13,40
ab 9 Jahren
Nora Dåsnes
Regenbogentage
Übersetzung von Katharina Erben
Klett Kinderbuch Verlag, 256 Seiten, € [D] 18,– | € [A] 18,50
ab 10 Jahren
Kahrin Köller und Irmela Schautz
Queergestreift
Carl Hanser Verlag, 288 Seiten, € [D] 22,– | € [A] 22,70
ab 11 Jahren
machtWorte!
mit Texten von Cindy Ballaschk, Maria Elsner,
Claudia Johann und Elisabeth Weber
Illustriert von Ka Schmitz
jaja Verlag, 60 Seiten, € [D] 16,– | € [A] 16,50
ab 6 Jahren
Weitere Empfehlungen:
Kirsten Reinhardt
Clara. Meine keine schwester von nebenan
Illustriert von Christiane Fürtges,
Knesebeck, 32 Seiten, € [D] 16,– | € [A] 16,50
ab 4 Jahren
w
Hansjörg Nessensohn
Mut. Machen. Liebe.
Ueberreuter Verlag, 343 Seiten, € [D] 18,– | € [A] 18,50
ab 14 Jahren.
Noa Lovis Peifer und Linu Lätitia Blatt
Untenrum. Und wie sagst du?
Illustriert von Yayo Kawamura,
Beltz & Gelberg, 38 Seiten, € [D] 16,– | € [A] 16,50
ab 4 Jahren
Papa und Mika machen Urlaub
am Strand. Da klingelt der
Eiswagen! Nichts wie hinterher!
48 S., Pappband, € 15,- [D] / 15,50 [A] / ISBN 978 3 89565 438 1 / ab 4
Moritz
lgbtqia+ 57
Bei der Jagd
über die Insel
helfen ein
Esel mit Hut,
die Gemüsefrau,
ein
Busfahrer, ein
Wasserflugzeug
und
mehrere
Fallschirmspringer.
Ein
turbulente
Geschichte,
die Lust
auf Sommer
macht.
5 plus
verleger verlegen 58
Das Wunder
von Mailand
verleger verlegen 59
Nouvelle Vague all’italiana:
Roberto Calasso und eine
Bücherschlange namens Adelphi
Volker Breidecker
5 plus
© Adelphi Edizioni
In ihrem märchenhaft-surrealen Roman Iguana
aus dem Jahr 1965 (dt. zuletzt bei Wagenbach) kolportierte
Anna Maria Ortese einen Mailänder Verleger,
dem sie den Fantasienamen Boro Adelchi gab. Der
Autorin zweier großer neapolitanischen Epen, deren
Kenntnisnahme so manche Aufregung um Elena Ferrante
hätte überflüssig machen können (Neapel liegt
nicht am Meer, Friedenauer Presse; dort erscheint in
Kürze auch Der Hafen von Toledo, übersetzt von Marianne
Schneider), nimmt man die ironische Charakterisierung
ihres künftigen Verlegers Roberto Calasso als
»jungen Verleger der Nouvelle vague« gerne ab. Calasso,
der vor zwei Jahren im Alter von achtzig Jahren verstarb
und sein Grab in Venedig an der Seite seines Freundes
Joseph Brodsky gefunden hat, war auch ein leidenschaftlicher
Cineast, der mit den Pariser Autorenfilmern
der Nouvelle Vague die Verehrung des Werks von Alfred
Hitchcock teilte. Dessen Meisterwerken Vertigo und
Rear Window widmete der Verleger noch wenige Wochen
vor seinem Tod als Band 765 der Piccola Biblioteca
Adelphi eine Sammlung meditativer Skizzen, Glossen
und Aphorismen (»Allucinazioni americane«), auf die
zurückzukommen sein wird.
»Nouvelle Vague« war dann auch wieder, als der italienische
Verleger des Gesamtwerks von Elias Canetti, in
ein heiteres Gespräch mit dem Nobelpreisträger vertieft,
für ein schwarz-weißes Standfoto à la Raoul Coutard
inmitten einer geschäftigen Autowerkstatt posierte.
»Nouvelle Vague all’italiana« hingegen war es, als zu
Beginn der sechziger Jahre die Geburt des Adelphi Verlags
aus einem Akt der Sezession vom herrschenden Literaturbetrieb
erfolgte: Es war das Jahr der Beatles, das
Jahr der Rolling Stones, aber auch das Jahr von François
Truffauts Jules et Jim, von Jean-Luc Godards Vivre sa vie
(Die Geschichte der Nana S.) und von Michelangelo Antonionis
L’eclisse (Liebe 1962) mit Monica Vitti in der
Hauptrolle. Ihr ikonisches Antlitz sollte fortan nicht wenigen
Adelphi-Bänden als Vorbild für die Umschlagabbildung
gedient haben.
In einem Land, das damals in drei unverrückbar
geschlossene gesellschaftliche, geistige und kulturelle
Blöcke gespalten war – einen katholischen, einen kommunistischen
und einen liberal-laizistischen Block –,
bestand der Mailänder Sezessionsakt in der Abwendung
von der allzu monolithischen Kultur marxistischer Couleur
des damals führenden Turiner Verlagshauses Einaudi.
Das von den beiden abtrünnigen Mitarbeitern und
Kon sulenten Luciano Foà und Roberto Bazlen betriebene
Projekt einer Nietzsche-Edition hatte Einaudi aus
ideologischem Dünkel abgelehnt. Nun wurde sie zum
Gründungsdokument und Grundstein von Adelphi und
zur fortan verbindlichen Kritischen Gesamtausgabe von
Nietzsches Werken und Briefen, herausgegeben von
Giorgio Colli und Mazzino Montinari.
Unikate und Elemente
Doch während der einst ruhmreiche Einaudi Verlag
nach dem Verlust der kulturellen Hegemonie der italienischen
Linken seit Mitte der neunziger Jahre von Silvio
5 plus
verleger verlegen 60
5 plus
Berlusconis Verlagsriesen Mondadori kannibalisiert und
auf ein trauriges Nischendasein heruntergefahren wurde,
ist es Roberto Calasso, der sich noch als Student und
Meisterschüler des großen Gelehrten Mario Praz den
Adelphi-Gründern hinzugesellt hatte, wenige Jahre vor
seinem Tod gelungen, die feindliche Übernahme des
Verlags mittels einer wundersamen Kapitalerhöhung
durch den Aufkauf der Mehrheitsanteile glücklich abzuwehren.
Seither sind sogar Stammautoren von Einaudi
wie der Historiker Carlo Ginzburg, der Sohn der Schriftstellerin
und vormaligen Einaudi-Cheflektorin Natalia
Ginzburg, mitsamt seinen Werken zu Adelphi übergelaufen.
Getreu den Maximen der Adelphi-Hausgötter Nietzsche,
Hofmannsthal und Joseph Roth, wonach geistige
Tiefe sich nirgendwo besser als an der Oberfläche verberge,
kann man nicht über Adelphi reden, ohne über
die äußere Gestalt der Bücher und ihrer Einbände zu
sprechen: Jedem Besucher einer besseren italienischen
Buchhandlung – ob klein oder groß – ist das Glücksgefühl
vertraut, wenn er im Labyrinth der Sparten und
Stapelwaren plötzlich vor einer oder gleich mehreren
vielfarbigen Bücherwänden mit der Aufschrift »Adelphi«
steht.
Hier erfasst ihn das helle Staunen darüber, was vielleicht
auch anderswo, zum Beispiel in Deutschland und
im übrigen Europa, möglich und machbar wäre, wenn
nur ein tollkühner und wagemutiger Verleger, mit einem
unbestechlichen Sinn für Qualität ausgestattet,
sich traute, sämtliche Betriebswirte, Art-Directors und
Vertriebsingenieure zum Teufel zu jagen: um wieder
Bücher zu machen, die schlichtweg gefallen und mit
»Wohllust« Hirn, Augen und Hände gleichermaßen ansprechen,
ohne allergische Hautausschläge und Hustenanfälle
auszulösen.
Was in den Regalen mit den beiden Abteilungen der
Biblioteca Adelphi – der großen und der kleinen – versammelt
ist, alles im gleichen Format nebeneinandergereiht,
und allein durch die Farben der Einbände,
niemals aber nach bornierten Gattungen oder Sparten
aufgefächert ist, zeugt seit nahezu sechs Jahrzehnten
stolz und standhaft vom europaweit erlesensten verlegerischen
Programm. Nicht zufällig steht Adelphi im
weltweiten Ruf, der heimliche Traumverlag eines jeden
Verlegers zu sein, der noch etwas auf sich hält.
Dieses Wunder von Mailand, zeitlos klassisch und modern
zugleich, hat bis heute nichts von seiner Aura verloren.
Adelphi verlegt Bücher und keine »Produkte«,
von denen ein im roten oder schwarzen Porsche herbeirasender
Art-Director behaupten dürfe, dass er allein
wüsste, was ginge und was nicht und worüber und
wie schnell der gesuchte Konsument seine Produktentscheidungen
träfe, ob Buch, Zeitung oder Zahnpasta.
Bei Adelphi fungiert jedes Buch als Unikat und
ist doch zugleich konzipiert als ein bleibendes Element
und Teilhaber einer stetig erweiterten und wiedererkennbaren
Folge.
Das graphische Grundschema sämtlicher Buchreihen
wurde vor mehr als einem halben Jahrhundert bei dem
Fin-de-Siècle-Graphiker Aubrey Beardsley gefunden:
Ein die untere Hälfte der Einbandklappe einnehmendes,
sorgfältig ausgewähltes, zumeist geradezu emblematisches
Bild ist in einen mit feinem Strich gezeichneten
Rahmen eingefasst. Dazu kommt als Logo ein
schwungvoller Paso doble chinesischer Schriftzeichen
auf einer liegenden Mondsichel. Und das ganze Verlagsunternehmen
heißt nicht nur »Bibliothek«, sondern ist
und bleibt es auch mit jedem neuen, fortlaufend nummerierten
Band, der innerhalb der beiden Hauptreihen
lediglich mit einer reichen Farbskala von variablen Zwischentönen
changiert.
Buch für Buch wuchs Adelphi so zu einer einzigen, die
engen Grenzen der Gattungen und Sparten aufsprengenden
Bibliothek internationaler, vorwiegend mitteleuropäischer
Literatur und Essayistik – und zwar, neben
romanisch- und slawischsprachiger, insbesondere
deutschsprachiger Belletristik: weniger jedoch des einschlägigen,
für gewöhnlich aus dem protestantischen
Pfarrhaus stammenden Schaffens, sondern vielmehr
desjenigen, das übernationalen und universalistischen
Traditionen und Werten verbunden ist.
So verlegt Adelphi seit den frühen siebziger Jahren beispielsweise
kontinuierlich das Gesamtwerk von Joseph
Roth in Einzelausgaben und sorgte mithin für eine von
Italien – wo Roths Werk bis heute große Popularität genießt
– ausgehende Renaissance dieses im deutschsprachigen
Raum noch immer unzulänglich edierten
und viel zu wenig gelesenen galizisch-jüdischen Schriftstellers
und überzeugten Europäers.
Das Buch der Bücher
Während Adelphis Piccola Biblioteca sich mit broschierten
Erstausgaben für die Westentasche allmählich
Richtung Band 800 vorarbeitet, hat auch das
großformatige Hauptprogramm den Band 700 längst
überschritten: Unter dieser Jubiläumsnummer erschien
aus Calassos eigener Feder eine erst jetzt auch ins Deutsche
(von Marianne Schneider bei Suhrkamp) übersetzte
Nach- und Neuerzählung biblischer Geschichten
unter dem das gesamte Verlagsprogramm gewissermaßen
summarisch wieder auf den libro unico, »das eine,
einzigartige Buch«, zurückführenden Titel Il libro di
tutti il libri (Das Buch aller Bücher). Es ist die alte, bis
heute immer wieder von neuem beginnende Geschichte
des Weggehens von Menschen aus Haus und Heimat
und ihres Wanderns und Unterwegsseins nach – mit einem
Wort von Claudio Magris – »weit von wo«.
Rund zwanzig Titel – zehn umfangreichere und zehn
kleinere, vorwiegend essayistische Werke – umfasst Roberto
Calassos eigenes Œuvre, beginnend mit Der Untergang
von Kasch (1983) und dem Weltbestseller Die
Hochzeit von Kadmos und Harmonia (1988). »Irdisch«
gesprochen reicht die Spannweite dieser Bücher von
Baudelaires Paris und dem Venedig des Malers Tiepolo
über die literarischen Hauptstädte des einstigen Habsburgerreichs
Triest und Lemberg/Lwiw, Wien, Prag und
Budapest bis nach dem Altindien der Veden und, noch
weiter im Osten, nach Baudelaires Sehnsuchtsort Kamt
schatka. Oder, »coelestisch« ausgedrückt, von der Mythenwelt
des antiken Griechenland über die Erzählungen
und Bücher des Alten Testaments bis zur fernöstlichen
Götterwelt.
In 26 Sprachen übersetzt, funkeln Calassos Bücher von
sprachlicher Eleganz und kommen mit ebenso unaufdringlicher
wie selbstverständlicher Gelehrtheit daher.
Ihr Autor versteht sich selbst als eine Art »Glossograph«,
als Kommentator, Überträger, Wiedererzähler dessen,
was irgendwann und irgendwo schon einmal geschrieben
oder auch nur erzählt worden ist, freilich auch
als aufmerksamer Leser und Entzifferer dessen, was
vielleicht nie geschrieben, sondern vor Urzeiten allenfalls
ins Sanskrit übersetzt wurde. Mit leichten Händen
und sirenenhaften Klangfolgen bringt Calasso sonst getrennte
Gattungen und scheinbar unvereinbare diskursive
Formen miteinander in Einklang, gewiss auch um
den Preis des Rätselhaften und bisweilen Unergründlichen.
Das Motto zu seinem Buch aller Bücher hat Calasso dem
West-östlichen Diwan Johann Wolfgang Goethes entnommen:
»Und so dürfte Buch für Buch das Buch aller
Bücher dartun, daß es uns deshalb gegeben sei, damit
wir uns daran, wie an einer zweiten Welt, versuchen,
uns darin verirren, aufklären und ausbilden mögen.«
Was für ein Programm könnte umfassender und anspruchsvoller
für eine ganze Bibliothek sein!
Die Schlange und ihr Schwanz
Über die Jahrzehnte ist unter dem Namen Adelphi eine
schier endlos lange Bücherschlange entstanden, die
sich beständig in den eigenen Schwanz beißt, getreu
dem Muster von Weltliteratur als Literatur aller Zeiten
und Sprachen, Nationen und Religionen. Der Verleger,
der sein eigener Autor ist, ließ es sich dabei nicht nehmen,
die Klappentexte sämtlicher Bücher seines Verlagshauses
eigenhändig zu formulieren. Eine lesenswerte
Auswahl solcher Mikroerzählungen ist vor Jahren
bei Hanser in der Edition Akzente seines hiesigen Verlegerfreunds
Michael Krüger unter dem Titel Hundert
Briefe an einen unbekannten Leser erschienen.
»Meine Person aber«, so mahnte mich Roberto Calasso,
als ich vor Jahren von meiner damaligen Redaktion
nach Mailand geschickt wurde, um mit einem Doppelporträt
des Autors und Verlegers zurückkehren, »meine
Person, die lassen Sie bitte im Schatten!« Und um seinen
Worten ironischen Nachdruck zu verleihen, griff
Calasso kurz hinter sich wie in einen Zauberhut und
überreichte seinem Gast auch schon den wortgetreu
dazu passenden Titel aus Adelphis Piccola Biblioteca:
Mit Per favore, mi lasci nell’ombra sind die gesammelten
Gespräche und Interviews von Carlo Emilio Gadda
betitelt. Ähnlich dem launigen Gadda, jenem schreibenden
Ingenieur, der alle persönlichen Fragen zunächst
erschrocken abwehrte, sollte auch Calasso aus
seinem Leben und von seinem Lesen, Schreiben und
Verlegen zu erzählen beginnen.
Die literarische Wiederentdeckung
des Frühjahrs
Als Toni Muhr 1916 aus
dem Krieg nach Wien
zurückkehrt, gerät seine
Welt aus den Fugen.
Im Spannungsfeld
von Kriegsgeschehen
und gesellschaftlichen
Umbrüchen kämpft er
um Gerechtigkeit –
und um sein Eheglück.
Lese probe und
weitere
Informationen
zum Buch
verleger verlegen 61
Paul Zifferer: Die Kaiserstadt
Nachwort von Katharina Prager
Mit einem Essay von Rainer Moritz
Hardcover mit Schutzumschlag,
Lesebändchen
397 S. • € (D) 28,00 / € (A) 28,80
ISBN 978-3-15-011443-8
www.reclam.de
verleger verlegen 62
vielen anderen wie Fleur Jaeggy (Calassos Ehefrau),
Tommaso Landolfi, Giorgio Manganelli, Sándor Márai,
Mario Praz. Vladimir Nabokov, V. S. Naipaul, Alberto Savinio,
Muriel Spark, Wislawa Szymborska, W. G. Sebald,
Irène Nemirovsky oder Simone Weil (seiner persönlichen
»Nothelferin« in den Grenzbereichen von Philosophie,
Religion und Wissenschaft).
was der im Film vorübergehend gehbehinderte – sciancato
bedeutet im übrigen »hüftlahm« oder »wackelig« –
James Stewart von seinem Fenster aus im Hinterhof sehen
und beobachten konnte: »Eine undurchdringliche
und durchsichtige Scheibe trennt das, was ich bis Ende
des Jahres 1954 erlebt habe, von dem ganzen Rest. So
fern er auch liegt, ist dieser Rest bereits Teil des Heute.«
verleger verlegen 63
5 plus
Kein Weg zu Roberto Calasso also, der nicht über Bücher
führte, gleich ob die eigenen Bücher oder die
Bücher der Freunde, lebender wie verstorbener: Mit
Calasso zu reden, hieß stets, über Bücher zu reden – und
auch über Autoren, nur über den Umweg und die Vehikel
ihrer Bücher, so wie diese selbst wiederum unaufhörliche
Zwiesprache halten mit ihren Vorgängern,
Zeitgenossen, Nachfolgern und deren Werken.
Gefragt zum Beispiel nach Ingeborg Bachmann, verlässt
Calasso den Salon, verschwindet für einen Moment
im Verlies seiner großen Privatbibliothek, um mit
einem kassettierten Behältnis zurückzukehren: Es enthält
die fertigen Druckbogen zu Bachmanns Roman
Malina, mit einer liebenswürdigen persönlichen Widmung,
in Anspielung darauf, dass der gute Freund die
von letzter Korrekturhand autorisierte Druckvorlage
damals als reitender Bote dem Suhrkamp Verlag nach
Frankfurt überbringen sollte: »… begleitet … Dich begleiten
…«
Oder auf Aby Warburg angesprochen, von dem Calasso
schon 1971 einen Text über Nietzsche und Jacob Burckhardt
zu einem Zeitpunkt veröffentlichte, als kaum
ein deutscher Kunsthistoriker oder Feuilletonist diesen
heute zur veritablen akademischen Kulturindustrie gewordenen
Namen überhaupt nur vernommen hatte,
verschwindet er von neuem in seiner Bibliothek, die,
ähnlich wie die Warburg’sche, nach dem »Gesetz der
guten Nachbarschaft« geordnet ist. Bald darauf kehrt er
aus seinem Labyrinth mit einem ganzen Bündel von
Drucken zurück, die Aby Warburg in den 1920er-Jahren
qua Widmung seinen Kindern persönlich zugeeignet
hatte. Von den Nachkommen wurden sie offenbar achtlos
an Londoner Antiquariate verscherbelt, wo der bibliophile
Calasso und künftige (2008) Aby-Warburg-
Preisträger sie während seiner englischen Studienjahre
quasi aus der Grabbelkiste zog.
Calassos Philosophie des Büchermachens gemäß ist
»das Verlagshaus als Form eine Summe papierener
Objekte, die zusammengenommen durchaus auch als
ein einziges Buch aufgefasst werden können«. Oder als
Buch der Freunde nach dem Vorbild Hugo von Hofmannsthals,
der diesen Titel selbst schon von Goethe,
der den Diwan ursprünglich so nennen wollte, für sein
gleichnamiges Werk übernommen hatte, darin er Stimmen
jeder Couleur – eigene, fremde, angelesene, aphoristische,
anekdotische usw. – versammelt hatte.
Eine ganze Bibliothek im Kleinen wiederum, die Calasso
zu einer veritablen »Bibliothek der Freunde« hat
wachsen lassen, in der sich auch ein Jorge Luis Borges
hätte verlieren können. Versteht sich also beinahe von
selbst, dass Adelphi auch das schriftstellerische und poetische
Werk des großen argentinischen Bibliothekars
und Zauberers verlegt – neben den Werken von Hofmannsthal,
Kafka, Robert Walser und Joseph Roth, von
Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Elias Canetti,
Bruce Chatwin, Georges Simenon, Milan Kundera und
Nach seinem Tod ist das persönliche Gespräch abgerissen
und ganz oder endgültig zurück an die Bücher
delegiert. Doch wäre Calassso nicht Calasso gewesen,
hätte er nicht ein weiteres Vermächtnis zurückgelassen,
indem er just am Tag seines Todes zwei Bändchen mit
– erstmals – autobiografischen Texten erscheinen ließ.
In diskreter Weise rollen beide Titel noch einmal die alte
Frage auf, die schon dem entzückenden Buch von der
Hochzeit von Kadmos und Harmonia und auch wieder
dem »Buch aller Bücher« die Leitmelodie geliefert hatte:
»Aber wie hatte alles angefangen?«
Wo war der Anfang?
Und so erzählt das Bändchen der Piccola Biblioteca 767
in persönlichen Erinnerungen vom Titelhelden »Bobi«,
das ist bzw. war der Adelphi-Mitbegründer Roberto
Bazlen (1902–1965), die schillernde Figur eines mit einem
ganzen alt-mitteleuropäischen Kosmos zündender
Ideen und sprühender Sottisen ausgestatteten, mehrsprachigen
Triester Juden, der neben einem einzigen
Roman ganze Passagenwerke von Verlagsgutachten, Gedankensplittern,
Skizzen, Aufzeichnungen und Aphorismen
hinterlassen hat.
Schließlich erschien ebenfalls am Tag von Calassos Tod
ein weiteres Buch der Erinnerungen, seinen beiden noch
jungen Kindern sowohl gewidmet als auch erzählt. Es
handelt von den ersten dreizehn Jahren einer Kindheit
in Florenz, deren früheste Erinnerungen in die Schreckenszeit
der deutschen Besatzung vor der Befreiung
durch die Alliierten einsetzte: mit Schüssen durch eine
Fensterscheibe, die den Knaben haarscharf verfehlten,
mit der Angst um den Vater, der als Antifaschist zum
Tode durch Erschießen verurteilt worden war und nur
sehr knapp diesem Schicksal entging, mit dem Untertauchen
der Familie in wechselnden Wohnungen aus
der Furcht vor Geiselnahmen von Mutter und Kindern.
Natürlich ist da auch die Rede von den Lektüren und
von der éducation sentimentale des Knaben, dem man
den rätselhaften Kosenamen Memé Scianca verpasst
hatte, den das Büchlein auch als Titel führt. Es endet in
merkwürdigen Sätzen, die in frappierender Weise an die
doppelte Situation eines Zuschauers im Kino und des
Helden von Alfred Hitchcocks Rear Window erinnern,
darin alles erzählte Geschehen mit dem zusammenfällt,
Wie ein Menetekel aber schiebt sich zwischen den
Band 765 der Piccola Biblioteca Adelphi, der von den
»amerikanischen Halluzinationen« des Cineasten handelt,
und Band 767 über den Lehrmeister »Bobi« noch
ein als Band 766 erschienener Titel: Ausgerechnet Thomas
Bernhards Erzählung Ungemach über ein dem Untergang
geweihtes Patrimonium, das keiner der Erben
annehmen möchte und das deshalb der Auslöschung
anheimfällt: Una liquidazione verheißt der im deutschsprachigen
Original gar nicht vorhandene Untertitel
nur in der italienischen Ausgabe – bei Adelphi. Bleibt
zu hoffen, dass nicht auch alles enden könnte, was so
überzeugend gut einmal angefangen hat, um gleich der
Reihenzählung von Adelphis Bibliothek nicht enden zu
wollen.
Zuletzt erschien der Titel:
Roberto Calasso
Das Buch Aller Bücher
Aus dem italienischen von
Marianne Schneider,
Suhrkamp Verlag 2022,
600 Seiten, € [D] 38,–
Dr. Volker Breidecker, geb. 1952 in Mainz, Studium
der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft,
Politologie und Kunstgeschichte. Freier Autor und Journalist.
Zuletzt betreute und versah er den in der ANDEREN BIBILIOTHEK
herausgegebenen Band Joseph Roth. Rot und Weiß mit einem
biografischen Essay.
5 plus
aufgefallen, ausgefallen 64
Hacking Gutenberg
oder: Bessere Bücher für das 21. Jahrhundert
aufgefallen, ausgefallen 65
Ein Werkstattbericht
von Birgit Schmitz,
TOC Publishing Berlin
5 plus
Liebe Claire, ich schicke dir jetzt unser erstes
Buch. Schau’s dir an und sag mir, was du von der
Idee hältst, dass wir eine Letterpress-Ausgabe von
The Woman Upstairs machen.
Herzlich, Birgit
Die E-Mail an die Autorin Claire Messud schrieb ich
in den ersten Monaten nach der Gründung von »The
Other Collection«. Damals gab es noch jede Menge Verständnisschwierigkeiten,
wenn ich versuchte zu erklären,
was wir vorhatten. Was ist eigentlich Letterpress?
Wie limitiert? Warum auf Englisch, obwohl ihr in Berlin
sitzt? Und wie macht ihr das, dass die Autor*innen
jeweils 998 Exemplare signieren? Drückt man den Menschen
eines unserer Bücher in die Hand, dann verschwinden
die Fragen augenblicklich. Also schickte ich
die neugestaltete Aus gabe von Deborah Levys The Cost
of Living an Agent*in nen, Verlage und an die Autor*innen,
weil ohne deren Unterstützung, allein fürs Signieren,
alles hinfällig sein würde.
Liebe Birgit, das Buch ist eingetroffen und WOW! So
schön und elegant: dieses perfekte rotkehlchenblaue
Vorsatzpapier! Die fantastischen Illustrationen, die
rote Unterzeile, das blaue Lesebändchen, die Caslon/
William-Textschrift. Wie sich das Buch ohne Widerstand
öffnen lässt, ist eine Einladung – ich könnte
ewig so weitermachen. Es ist einfach erstaunlich.
Die Vorstellung, dass The Woman Upstairs eines Tages
in einer solchen Ausgabe vorliegt, einfach nur
wunderbar (wenn ich mich nicht um meine Kinder
kümmern müsste, würde ich mich für ein Jahr als
ein bescheidener Lehrling bewerben – ich wäre
glücklich, die Druckmaschinen zu reinigen und die
Buchstaben wieder in ihre Setzkästen zu sortieren,
und ich könnte von den Meistern bei der Arbeit
lernen).
Deine Claire
Der Anfang war gemacht, die Autorin Claire Messud war
an Bord. Jetzt musste ich mich noch um die Rechte
kümmern, mit den Verlagen verhandeln und der Agentin
Bescheid geben. Aber wer würde bei solcher Begeisterung
etwas dagegen haben?
Letterpress oder Buchhochdruck ist das, was bis in die
1960er-Jahre die gängige Form des Druckens war. Mit
beweglichen Lettern (so hatte es Gutenberg schon gemacht)
wurde direkt aufs Papier gedruckt, die Buchstaben
waren meist aus Blei (wenn sie größer wurden und
Blei zu schwer, verwandte man Holz oder Plakadur – ein
Kunstharz). Dann kam Offsetdruck, bei dem die Farbe
indirekt auf das Papier übertragen wird. Da alles auf einer
Ebene ist, die gedruckten und ungedruckten Flächen,
entsteht kein Abdruck, und da viel Wasser dafür
nötig ist, erscheint das Druckbild auch eher gräulich als
schwarz. Inzwischen geht es auch ohne diesen Zwischenschritt,
und alles kommt direkt aus dem Digitaldrucker.
Als 1985 Franz Greno mit Hans Magnus Enzensberger
»Die Andere Bibliothek« gründete, waren es noch
andere Zeiten. Greno hatte in seiner Druckerei alles, was
es brauchte, um Bücher mit klassischem Bleisatz zu machen.
Das war damals schon kostspielig, aber es gab
eben noch die Druckerpressen, Schriftgießereien und
vor allem Menschen, die das Handwerk beherrschten.
Fast 40 Jahre später sieht das anders aus: Niemand
könnte Bleisatz bezahlen. Die Pressen und Buchstaben
sind in den Museen verschwunden, und wenn sie noch
benutzt werden, dann für Postkarten, Visitenkarten und
spezielle Kunstprojekte.
Viel spricht nicht dafür, gerade jetzt wieder damit
anzufangen, auch Bücher im Buchhochdruck zu produzieren,
zumindest wenn man es ausschließlich unter
dem Kostenaspekt betrachtet. Für uns – das sind der
Typograf Erik Spiekermann, die Designerin Susanna
Dulkinys und ich, verantwortlich für das Programm –
überwiegen aber die Vorteile (und die Pandemie kam
ausnahmsweise ganz gelegen, weil niemand da war, der
mit guten Gegenargumenten uns doch noch von der
Idee hätte abbringen können). Die Qualität übertrifft
alle anderen Druckverfahren, der tiefe, satte Eindruck
sorgt für ein kontrastreicheres Druckbild und damit für
bessere Lesbarkeit, und natürlich vor allem für ein haptisches
Erlebnis. Die Bücher sind beständiger und das
Druckbild haltbarer. Und genau das wollten wir: Bücher
in der bestmöglichen Qualität, Typografie, die sich all
dessen bedient, was der Computer und die digitale Welt
bereithält, Materialien, die eine Freude sind, wenn man
sie anfasst.
Erik Spiekermann und seine Kolleg*innen hatten
sich schon eine Weile damit beschäftigt, wie man Letterpress
ins 21. Jahrhundert überführen könnte, als ich dazustieß.
Den Satz machte er digital in InDesign, schickte
dann alles an einen eigens angefertigten Laserbelichter,
der Polymer-Platten bis zu einer Größe von 50 × 70 cm
be arbeiten kann. Die Größe ist wichtig, weil damit ein
Druckbogen (darauf passen acht Buchseiten) optimal
genutzt wird. Auf den Polymer-Platten entsteht nach
der Belichtung das Relief, das es später für den Druck
braucht. Jetzt musste nur noch ein Weg gefunden werden,
alles in eine Heidelberger Zylinder-Presse einzubauen.
Ein großes Magnetfundament war die Lösung.
5 plus
Roman, 224 Seiten, ab 14 Jahren, 15,– €
aufgefallen, ausgefallen 66
5 plus
Niemand musste also mehr Bleibuchstaben sortieren
und mühsam die schweren Druckvorlagen schleppen.
Das Verfahren stand. Doch was wären die richtigen
Bücher? Klassiker, Wiederentdeckungen? Das gibt es alles
schon, und andere Verlage machen da tolle Arbeit.
Doch was ist mit den Klassikern von morgen, der großartigen
Literatur, die gerade jetzt entsteht? Wenn wir
also schon beim Druckverfahren einen neuen Weg einschlugen,
warum nicht auch bei der Auswahl der Bücher?
Klar, das war aufwendiger, Rechte mussten ge-
Jung, jüdisch
& verliebt
Hoodie Rosens Alltag ist
ziemlich unspektakulär – bis er
Anna-Marie kennenlernt und
sie gemeinsam Hakenkreuze
von einem jüdischen Grab
entfernen. Für Hoodie eine
gute Tat – für seine Familie
Verrat. Denn Anna-Marie ist
nicht nur ein nichtjüdisches
Mädchen, sondern noch dazu die
Tochter der Bürgermeisterin, die der jüdisch-orthodoxen
Gemeinschaft den Kampf angesagt hat. Plötzlich wird
Hoodies heimelige Welt sehr ungemütlich ...
© Dana Lédl
klärt, Autor*innen vom Signieren überzeugt werden.
Aber es würde auch Spaß machen, sich zu fragen, welche
Bücher jene Relevanz haben, dass sie als exklusive
Letterpress-Ausgabe erscheinen sollen. Originalausgaben
kamen erst einmal nicht infrage, weil das meinem
verlegerischen Ethos widersprach: Jeder Text sollte doch
so vielen Menschen wie möglich zugänglich sein und
nicht bloß als hochpreisige, limitierte Auflage.
Liebe Claire, so weit läuft alles gut. Inzwischen habe
ich auch die Verträge bekommen und unterschrieben.
Doch bevor wir weitermachen, brauchen wir
Papier. Vielleicht hast du schon davon gehört, dass
es weltweit eine Papierkrise gibt. Wir verwenden für
die Innenseiten ein Werkdruckpapier von Schleipen.
Und die Firma ist gerade verkauft worden. Es kann
auch sein, dass die Papiermühle insolvent ist. Jedenfalls
ist es gerade schwierig, an das entsprechende
Papier zu kommen. Bevor wir aber etwas Neues probieren,
warten wir ab, dass die Produktion doch
wieder anläuft. Das bedeutet, ich kann dir gerade
nicht sagen, wann dein Buch erscheint.
Herzlich, Birgit
Die Pandemie hatte uns von Anfang an begleitet, aber
eigentlich lief alles gut, als im Herbst 2020 das erste
Buch erschien (wenngleich die Signierseiten, die wir
Deborah Levy nach Griechenland schickten, immer
noch in der Pirate Bay Bar liegen – die Autorin war wegen
möglicher Reiseeinschränkungen hastig nach London
zurückgekehrt, während die Post noch unterwegs
war. Wir mussten die Seiten also noch mal drucken, und
in London kam dann alles gut an). Doch in den darauffolgenden
Monaten funktionierte so einiges nicht mehr
wie gewohnt. Beim Buchbinder brach Corona aus, und
die Arbeit stand fast vier Wochen still, jede Lieferung
dauerte länger, und schließlich gab es kein Papier mehr.
Bis zum Ende 2021 druckten wir noch aus den Beständen.
Es erschienen Chimamanda Ngozi Adichies Half of
a Yellow Sun und John Banvilles The Sea. Wir freuten
uns über die Auszeichnung »Schönste Deutsche Bücher«
und den »German Design Award« und nutzten die
Zeit, schon mal zu überlegen, wie wir die weiteren Bücher
gestalten wollten. Inzwischen hatte ich eine Reihe
von Autor*innen gefragt, und alle hatten zugestimmt,
sich auf dieses Abenteuer und die Extraarbeit einzulassen.
Es wurde Winter, Frühling, Sommer, und endlich
fingen wir mit The Woman Upstairs an. Vorher war alles
recht organisch entstanden. Bei Levy war Erik durch
seine eigene Zeit in London sofort bei London-Rot.
Es musste eine Caslon-Schrift sein, weil das Buch
dort spielte, wo William Caslon seine Druckerei hatte
(es wurde die Caslon-Adaption WilliamText von einer
j ungen russischen Schriftgestalterin). Adichie trug auf
einem Foto ein T-Shirt mit silbernen und goldenen
Rauten. Gold zu drucken, war eine Herausforderung.
Wir hatten uns jedoch vorgenommen, dass jedes Buch
etwas Besonders haben soll, so dass es auch für Sammler*innen
immer Neues zu entdecken gibt. Unser Drucker
Daniel Klotz besorgte die goldene Farbe in Frankreich,
wo sie größere Pigmente verwenden, damit es
mehr glitzert. Banville war klassisch wie ein Tweed-
Jacket, und das Muster des Umschlags und die feine
orange Linie ließen sich wunderbar im Innenteil aufgreifen.
Für William Boyds imaginäres Tagebuch Any
Human Heart kam nur Blau als Tintenfarbe infrage, und
bei The Sixth Extinction von Elizabeth Kolbert war es
wichtig, die Dystopie des Klimawandels, die Zerstörung
unseres Planeten abstrakt zu fassen und gleichzeitig zu
zeigen, was für eine großartige Erzählerin die Autorin
ist. Aber ein Roman wie der von Claire Messud, der davon
lebt, sich ganz in die Sprache der Autorin zu versenken?
Da wollte niemand von uns eine Interpretation
durch die Gestaltung vorgeben.
Schließlich klingelte das Telefon. Erik war dran, etwas
aufgeregt begann er zu erzählen: Er würde eine
Schrift benutzen, die FF Franziska heißt. Bei Kolbert
hatte er sich für FF Hertz entschieden, weil sie nach einem
Wissenschaftler (Heinrich Hertz, dem Entdecker
der Radiowellen) benannt war, und sich damit typografische
Karmapunkte gesichert. Warum jetzt also FF
Franziska? Entworfen hatte die Schrift Jakob Runge. Sie
ist diskret, funktionell und modern, aber mit echter Persönlichkeit.
Sie bietet eine gute Lesbarkeit im Fließtext
und gleichzeitig interessante Details: übertriebene Tintenfallen
(an verschiedenen Stellen werden Teile der
Schrift entfernt, aber beim Druck breitet sich die Farbe
dort aus und fördern dabei die Lesbarkeit) und scharf
angeschnittene Tropfenserifen. So wie Erik die Schrift
beschrieb, hätte ich auch über den Text von Claire sprechen
können. Das Umschlagsmuster sollte sich aus
gebrochenen und sich überlagernden Dreiecken entwickeln,
sodass beim Drucken noch weitere Farbabstu-
5 plus
aufgefallen, ausgefallen 68
Alle Fotos © Norman Posselt
aufgefallen, ausgefallen 69
fungen zufällig entstehen. Susanna orientierte sich dabei
ebenfalls an Details aus dem Text. Auch beim Farbschema
aus Purpur, Scharlachrot, Pink und Magenta.
Das war die Theorie. Gerade von Susanna hatte ich
gelernt, dass man solche Entscheidungen nicht am Telefon
trifft oder sich Fotos hin- und herschickt, dafür
muss man sich zusammensetzen: mit dem Drucker (Daniel
Klotz von »Die Lettertypen« druckt all unsere Bücher
in Adlershof), mit Musterbüchern, Papierproben
und dem Pantone-Fächer.
So machen wir es für jedes Buch. Für Messud entschieden
wir uns für ein purpurfarbenes Vorsatzpapier
(die Autorin müsste aber mit einem silbernen Stift unterschreiben,
sonst würde man die Signatur nicht erkennen),
ein rot-purpur schimmerndes Leinen und als zusätzliche
Farben für den Innenteil und das Cover für
Pantone 265 U (Lila) und 2385 U (Magenta), das Kapitalband
in einem matten Weiß eher neutral und das Leseband
in einem zarten Rosa.
Alles war fertig, es musste nur noch gedruckt werden.
Dann brach der Laserbelichter zusammen. Nichts
ging mehr, auch wenn Daniel erst einmal alles versuchte.
Da es sich um eine Spezialanfertigung handelte,
konnte nur der Ingenieur helfen, der das Gerät gebaut
hatte. Wertvolle Zeit verstrich, und für vier Wochen stand
alles still.
Guten Morgen, ich wollte heute mit den Farbseiten
anfangen, doch es sind die falschen Pantonetöne
– 266 U und 2395 U – gekommen. Einfach eine
Schattierung dunkler. Ich hab schon mal die richtigen
Farben bestellt, dauert aber wieder ein, zwei
Tage. Daniel
Kann passieren. Aber langsam beschlich uns ein ungutes
Gefühl, und es sollte sich bewahrheiten. Ich hatte
bei den vorangegangen Büchern oft in der Werkstatt in
Adlershof gestanden und Daniel dabei beobachtet, wie
er den Heidelberger Zylinder einrichtete, das Druckbild
mit dem Fadenzähler überprüfte, manchmal eine Stelle
mit Seidenpapier unterfütterte, Hebel und Schalter umlegte
(von denen ich bis heute nicht genau weiß, was sie
veränderten), und es konnte schon einige Zeit dauern,
bis er endlich zufrieden war. Jetzt war Daniel aber eindeutig
unzufrieden und schaute mich fragend an. Für
den Innenteil hatte er sich überlegt, die Dreiecke in unterschiedlichen
Graden zu rastern, sodass an diesen
Stellen unterschiedlich viel Farbe übertragen wird und
Abstufungen von Magenta bis Rosa entstehen würden.
Das alles mit einem Druckgang. Wir dachten: genial.
Leider sah das Ergebnis alles andere als genial aus.
In den Ecken der Dreiecke sammelten sich Farbwülste
(wir sprechen hier von Wülsten, die man unter einem
Fadenzähler erkennt), der Druck wirkte flach und die
Farben fad. Die Lösung war klar, aber ich musste über
die Mehrkosten entscheiden. »Das ist nicht TOC«, fiel
mir dazu nur ein, und ich biss in den sauren Apfel:
noch weitere Polymer-Platten belichten, die jetzt für
zwei Druckgänge mit zwei Farben eingesetzt werden
konnten, noch mal 2000 Bögen schwarz drucken, weil
beim misslungenen ersten Versuch bereits fertige Bögen
aufgebraucht worden waren. Weitere Verzögerungen.
Aber es war halt nicht TOC.
Liebe Claire, kannst du die unterschriebenen Seiten
in zwei Kartons packen? Ich würde die dann morgen
abholen lassen, und die gehen dann direkt zum
Buchbinder. Herzlich, Birgit
Zumindest ging das gut. Und auch Daniel hatte inzwischen
alle Paletten zum Buchbinder nach Leipzig geschickt.
Lieber Herr Klotz,
der bedruckte und signierte Nachsatz hat Abliegeerscheinungen
auf der ersten Seite. Offensichtlich
hat der Künstler mit Gelstift oder Ähnlichem signiert,
der war nicht trocken und hat Flecken auf
der ersten Seite des nachfolgenden Blattes hinterlassen.
Wir haben sortiert mit folgendem Ergebnis:
495 Blatt ohne Flecken, 202 Blatt mit ganz kleinen
Flecken, 342 Blatt mit mehreren Flecken und 184
mit erheblichen Flecken.
Buchbinderei Müller
Echt jetzt? Ich musste die E-Mail dreimal lesen, um zu
verstehen, was passiert war und was das bedeutete. Gut,
auf der signierten Seite wären keine Flecken zu sehen,
aber auf der Seite, die Buchblock und Einband verbindet.
Dort hatte die Unterschrift kleine silberne Punkte
hinterlassen. Einen Teil würde ich später mit einem speziellen
Glasfaserradierer entfernen können, da war sich
Daniel sicher. Und da ich sowieso jedes Exemplar in die
Hand nehmen musste, um den Umschlag umzulegen
und das Exemplar zu nummerieren, war das machbar.
Und wenn nicht, dann war das halt so, sagte ich leise
zu mir. Ist ja Handarbeit. Aber so ganz langsam wollte
ich, dass nichts mehr passiert, dass es keine Probleme
mehr gibt, sondern ich wollte das Buch in den Händen
halten: über das Gmund-Cotton-Papier des Umschlags
streichen, um den tiefen Eindruck zu fühlen,
und ich wollte fertige Bücher für unsere Abonnenten
verpacken: Schauen, wie die Dreiecke durch das Pergamin
papier leuchteten, wenn sie darin eingeschlagen in
den schwarzen Versandboxen lagen.
In den zwei Jahren, die wir jetzt TOC machen, hatten
wir einiges erlebt, und das meiste war gut, wenn
nicht sogar fantastisch: Wir waren in San Francisco auf
einer Buchmesse, wo sich noch nerdigere Büchermacher
versammeln, haben Bücher nach Hawaii und ins
nördlichste Kanada geschickt. Unsere Leser*innen haben
geschrieben, was sie an unseren Büchern mochten,
die Liebe zum Detail, die Idee hinter der Auswahl der
Bücher, und sie teilten mit uns, dass Schönheit in vielen
Formen, Farben und Mustern daherkommen kann, aber
man es nur spürt, wenn dahinter die Wertschätzung
für die Arbeit von Autor*innen, Schriftgestalter*innen,
Papierhersteller*innen, Schriftsetzer*innen, Drucker*-
innen und Buchbinder*innen steht. Das ist die simple
Idee hinter TOC.
Liebste Birgit,
Anfang dieser Woche brachte der Postbote ein
umfangreiches Paket & als ich sah, dass es aus
Berlin kam, war ich ziemlich aufgeregt – aber
nichts hätte mich auf die Schönheit der Bücher
vorbereiten können!
Claire.
Birgit Schmitz studierte Geschichte, Germanistik und
Soziologie in Köln, arbeitet als Lektorin und Programmleiterin
bei Kiepenheuer & Witsch, Berlin Verlag und leitete zuletzt
den Hoffmann und Campe Verlag. 2020 gründete sie mit Erik
Spiekermann und Susanna Dulkinys den Letterpress Verlag
TOC – The Other Collection in der Druckwerkstatt P98a in Berlin.
5 plus
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»Wer Bücher verbrennt, verbrennt auch
Bibliotheken, bombardiert offene Städte,
schießt mit Ferngeschützen oder Fliegerbomben
Gotteshäuser ein.
Die Drohung, mit der die Fackel in den
Bücherstapel fliegt, gilt nicht dem Juden
Freud, Marx oder Einstein, sie gilt der
europäischen Kultur, sie gilt den Werten,
die die Menschheit mühsam hervorgebracht
und die der Barbar anhasst,
weil er halt barbarisch ist, unterlegen,
roh, infantil.«
Mit diesem Zitat von Arnold Zweig erinnern wir an den 90. Jahrestag
der Bücherverbrennungen überall in Deutschland.
© akg-images / TT News Agency / SVT
bleistift-notizen 72
5 plus
Bleistift-Notizen
Gesammelt, auf- und abgeschrieben
und nachgezeichnet von Hanns Zischler
Die Geschichte des Bleistifts,
wenn sie denn je geschrieben
wurde, ist voller Ausradierungen
und Überschreibungen.
Henry Petroski, The Pencil (1989)
Am Beginn der Neuzeit – der Bleistift
Schreiben und Zeichnen ist: berühren, die Berührung
verstetigen und sichtbar machen, in Bewegung versetzen,
Linie werden, beschleunigen, aussetzen, in der Luft
verweilen, wieder ansetzen, punktieren, durchstreichen,
beenden, da capo al fine.
Das Papier berühren. Der zarteste und leichteste,
der dünnste und geschmeidigste, der schummernde,
zitternde, wischende, schmierende und tupfende touch
gelingt von allen Schreibgeräten am besten dem Bleistift.
Die Kreide kratzt und benötigt ein Mineral als Unterlage,
der Tintenzug der Feder ist dezisiv, der Bleistiftstrich
hingegen lässt sich, zur Not, beheben, vergessen
machen, ausradieren.
Das Papier ist des Bleistifts wahre Heimat. Als habe
dieser sehr viel ältere Werkstoff auf ihn gewartet, ist der
Bleistift, verglichen mit anderen Schreibgeräten, eine
Entdeckung der Neuzeit, mehr noch: Sie beginnt mit ihr.
Im sechsten Kapitel seines naturkundlichen Buches
über die Formen und Gestalten von Fossilien (1564) inseriert
der schweizer Allrounder Gessner erstaunlicherweise
nicht nur die Abbildung eines Fossils, sondern
auch eine neue Art von Griffel (stylus) oder Schreibgerät,
das neben einem Fossil abgebildet ist. ( Mit »Fossilien«
wurden Mitte des 16. Jahrhunderts, anders als heute,
alle »beim Ausgraben« gefundenen Mineralien, Artefakte
etc. bezeichnet. )
Von Gessner sagte man, er sei der »deutsche Plinius«
und »mit einer Schreibfeder in der Hand zur Welt gekommen«.
1817 prägt der Geologe Abraham Gottlob Werner den
Namen Graphit für das »schreibende Mineral«. Der Chemiker
Joseph Redemt Zappe begründet Werners Namensgebung
folgendermaßen: »… wodurch man ein
Fossil bezeichnet, welches wegen seines richtigen Abfärbens
zum Schreiben benützt werden kann, daher sind
auch dessen Trivial-Benennungen Reißbley, Schreibbley
…« üblich.
«
Susanne Fischer erläutert in dem instruktiven Marbacher
Magazin Vom Schreiben 2 (69/1994): »Mit Bleischeiben
wurde bereits in der Antike Papyrus liniert;
Blei-, Zinn- und Silberstifte dienten vor allem im späten
Mittelalter zum Zeichnen und Schreiben. Den Blei- bzw.
Graphitstift in unserem Sinne gibt es dagegen erst seit
der Entdeckung von Graphitgruben 1565 in England. Da
England für nahezu zwei Jahrhunderte das weltweite
Monopol auf diesen Rohstoff besaß, waren solche in
Deutschland erst nach Mitte des 17. Jahrhunderts hergestellten
Stifte noch zu Schillers Zeiten dreimal teurer als
eine gute Feder. Mörike allerdings konnte seine Bleistifte
bereits unbekümmert kurz- und kleinschreiben:
um 1800 war der rare, brüchige und mit seinen mineralischen
Einsprengseln beim Schreiben oft kratzende Graphit
durch eine homogene Ton-Graphitmischung ersetzt
worden. Und auf dieser Grundlage hatte sich der Bleistift
zu einem erschwinglichen, robusten und schließlich
maschinell gefertigten und damit allgemein verfügbaren
Massenprodukt entwickelt, das je nach Wunsch in unterschiedlichen
Härtegraden zu haben war.« (S. 42)
«
Der Bleistift ist die ideale Prothese für einen gedanklichen
Entwurf. Dieses Gerät konzipiert auf eine wortwörtlich
herausragende und zugespitzte Weise Künftiges
auf dem Papier. Nicht endgültig, aber wegweisend.
Von dem großen Schrift- und Buchentwerfer Jan Tschichold
ist ein Arbeitsfoto überliefert, das ihn in seinem
Büro zeigt: sein konzentrierter Blick ist auf das vor ihm
liegende Blatt gerichtet, in erwartungvoller Spannung
hält die erhobene rechte Hand einen Bleistift zwischen
den Fingern: the shape of things to come.
«
Der Spitzer, die Spitze, das Spitzen
Wenn der zum Schreiben und Zeichnen animierte Bleistift
auf das Papier (s)ein Wirrwarr von Linien, Muster,
Flächen und Räume wirft, wird dieser vom navigierenden
Auge geleitete Stift ein Oszillograph der kindlichen
und künstlerischen Einbildungskraft gleichermaßen.
«
Für sein Gelingen und seine Ausdauer beim Zeichnen
und Schreiben muss der Bleistift Hilfsmittel beanspruchen.
Für den langen Weg »zur Spitze« benötigt er
Minenspitzgeräte. Das gröbste ist das Messer, mit ihm
kerbt, schnitzt und schält man den flachen Zimmermannsstift.
Feiner ist das Federmesser.
In einer Werbekampagne im Jahr 1904 ließ sich die
marktführende amerikanische Bleistiftfirma Firma Joseph
Dixon Crucible Company etwas Besonderes einfallen:
Sie nannte ihren neuen Bleistift Ti-Conderoga. Für
dieses unverzichtbare, millionenfach produzierte Gerät
wurden in den USA häufig indigene Namen mit einem
völlig willkürlichen Vergangenheitsbezug gewählt. In
diesem Fall lag die Fabrik der Company einst auf irokesischem
Land; das Wort bezeichnet den »Zusammenfluss
von Gewässern«. Nachdem es der Irokesensprache
entrissen war, konnte es ungefragt Produktname werden.
( Vladimir Nabokov in Lolita (1955) – »Is a Cream
Cougar your present craze?« – und George R. Stewart in
American Place Names (1970) belegen eine Fülle derartiger
toponymischer Überformungen). Der populäre
Maler und Werbegraphiker Norman Rockwell hat dem
Ti-Conderoga mit zwei Plakaten – His First Pencil und
Grandfather and Grandson – zum Durchbruch verholfen.
Der herkömmliche Spitzer ist aus Metall, gelegentlich
mit einem Auffangbehälter für die spiralig gekringelten
Holzkrausen, deren randverzierte Späne idealerweise
Zedernduft verströmen.
Stille Wasser sind tief –
aber manchmal nicht tief genug.
ROTRAUT SCHÖBERL (HG.)
MEER MORDE
Kriminelle Geschichten im und am Wasser
Mit zahlreichen Illustrationen.
256 Seiten, Hardcover
ISBN 978 3 7017 1771 2
bleistift-notizen 73
Kurzkrimis von: Ljuba Arnautovic, Jean-Luc
Bannalec, Alex Beer, Severin Groebner, Andreas
Gruber, Patricia Highsmith, P.D. James, Stefan
Kutzenberger, Petros Markaris,
Martina Parker, Therese Prammer,
Thomas Raab, Julya Rabinowich,
Erwin Riedesser, Claudia Rossbacher,
Eva Rossmann, Wolfgang
Salomon, Rotraut Schöberl,
Fred Vargas, Martin Walker,
Klaus-Peter Wolf, Peter Zirbs.
5 plus
bleistift-notizen 74
5 plus
Daneben gibt es, heute selten geworden, Spitzmaschinen,
in denen die Mine ins Anspitzloch einer zylindrischen
Dose gesteckt und dann in kreisförmigen Bewegungen
entlang der Schleiffläche im Innern geführt
wird. Wegen ihres beim Kurbeln entstehenden sirrenden
Geräusches wird die Spitzmaschine auch zu den sog.
Bürofolterwerkzeugen gerechnet. (Entgegen einem weit
verbreiteten Vorurteil gehört die mechanische Schreibmaschine
nicht in diese Kategorie: Ihre klappernde Mechanik
und das Klingelzeichen für den Zeilenwechsel
am Ende des Schlittens haben aufgrund ihrer Gleichförmigkeit
eine eher beruhigende Wirkung auf das Gemüt.)
Aufgeklebte Filz – oder Schwämmchenstücke dienen
dazu, den beim Spitzen freigesetzten Graphitstaub von
der Mine abzustreifen, bevor er die Arbeitsfläche unerwünscht
verunreinigen kann.
Für gezieltes Abschrägen einer Minenspitze, wie
das zum Beispiel für den Zirkel notwendig ist, gibt es
das Sandpapierbrettchen, das mit zwei unterschiedlich
gekörnten Schleifpapieren bespannt ist, auf denen die
Mine hin- und hergeführt wird. Mit einiger Übung kann
durch systematisch gleichmäßiges Drehen auch rund
gespitzt werden.
Lebendig, leicht und lebensfroh –
das außergewöhnliche Debüt
aus Frankreich
Emmanuelle
Fournier-Lorentz
Villa Royale
Roman
Deutsch von Sula Textor
288 Seiten
Fadenheftung. Leseband
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ISBN 978-3-03820-121-2
«
www.doerlemann.ch
DÖRLEMANN
Die Erscheinung und der Kern
Bleistifte sollen, wie Automobile und Brücken, mehr als
bloß bewunderte Objekte sein, solange sie neu sind. Im
Entwurf des Bleistifts ist dessen unaufhaltsamer Verbrauch
und Zerstörung angelegt: sein Holz wird weggeschnitten
und seine Mine unaufhaltsam aufgebraucht.
Im Gebrauch des Bleistifts treten, mehr als in seiner Erscheinung,
seine Mängel und Unvollkommenheiten zutage.
Während der Bleistift anders als der Federkiel auf
ein Tintenfass in seiner Nähe verzichten kann, woraus er
ständig schöpfen muss, kommt er nicht ohne gelegentliches
Spitzen aus, und die Hand hat sich der ständigen
Verkleinerung anzupassen. Es wäre schön, wenn der
Bleistift während seiner Schrumpfung seine Erscheinung
beibehalten könnte (für viele Schreiber scheint selbst noch
der Bleistiftstummel attraktiv zu sein); in diesem Sinn
haben die funktionalen Mängel beachtliche Ingenieursleistungen
(wie den Druckminenstift) gezeitigt. Ohne Mängel
keine Innovation.
Henry Petroski, The Pencil (318)
«
Randnotizen
Zu ebenso unvorhersehbaren wie bemerkenswerten
Begegnungen – Berührungen, Überlappungen, Entgrenzungen
– zwischen dem lediglich in molekularen
Splittern auftragenden Graphit und der unverwischbaren
Druckerschwärze des Buches kommt es, sobald
der Bleistift über den gedruckten Text herfällt, diesen
am Rand des Satzspiegels benagt oder mit Randnotizen
(Kürzeln, Frage-, Ausrufe- und Korrekturzeichen) bekritzelt.
Die meist blassere Handschrift schmiegt sich
dem gedruckten Text an. Gelegentlich ähneln die Wucherungen
und Ballungen der Handschrift den wunderlichen
Ausblühungen und Auslaugungen, wie wir sie
von Ziegeln kennen.
Wenn Walter Benjamin die Fußnoten in einem Buch
als »Wegelagerer« bezeichnet, so könnte man die Randnotizen
und Vermerke als »Wiedergänger« oder »Ghostwriting«
begreifen, deren geisterhaftes Grau den Druck
entweder erneut bestätigt und weiterschreibt oder rigoros
hinterfragt, ohne aber in der Regel die formale Gültigkeit
des Buches (unabhängig von dessen Inhalt) zu
verletzen.
Der Bleistift garniert das Gedruckte, er lockert, verletzt
und onduliert die schöne starre Form, er beglaubigt
und privatisiert die Lektüre, und in seiner diskreten
Fort-Schreibung (und mitunter heftigen Unterstreichung)
lockt er den Text aus der Reserve des Satzspiegels.
Stellenweise schwingt sich der Bleistift zu einem
zweiten Text auf, er wird zu einem Sub- oder besser gesagt
Ultra-Text. Die Blässe der Randnotiz hat Züge eines
ins Graphische (und Graphitische) übertragenen flüsternden
Lesers. Sobald aber diese meist behutsam aufgetragenen
Lesespuren als Druckbild wiedergegeben
werden (wie es in historisch-kritischen Ausgaben der
Fall ist), wirken sie wie dürre Fremdkörper.
So heißt es in dem 1992 von Ulrich Joost herausgegebenen
transkribierten Notizbuch Noctes von Georg
Christoph Lichtenberg: »Angaben über den Schreibstoff
erfolgen nur ausnahmsweise, nämlich dort, wo auf dem
Faksimile nicht sofort erkennbar ist, wo Lichtenberg
Blei, wo Tinte, wo Rötel verwendet hat.«
«
Zart wie Versuchsballone schweben Paul Celans in gut
leserlicher Handschrift mit Bleistift geschriebene Wörter
über ausgedruckten Gedichten: erste Markierungen
für künftige Übersetzungen.
«
Als ich vor Jahren dem Nibelungen-Forscher Peter Wapnewski
den von der Germanistik (bis heute!) ignorierten,
fächersprengenden Essay des Altslawisten Heinrich
Kunstmann Vorläufige Untersuchungen über den
bairischen Bulgarenmord von 631 / 632: der Tatbestand –
Nachklänge im Nibelungenlied (1982) mit einer kleinen
tintengeschriebenen Widmung überreichte, bedankte
er sich mit der schelmisch gemeinten Bemerkung: »Doch
nicht mit Tinte! Nur Bleistift! Wie soll ich das weiterverkaufen!«
«
Aus dem Bleistiftgebiet
In dem editorischen Nachwort zu Robert Walsers Aus
dem Bleistiftgebiet (1985) – eine Pioniertat der Entzifferungsphilologie
– beschreiben Bernhard Echte und
Werner Morlang die Schwierigkeiten, diese »unentzifferbare
Geheimschrift« (wie der Freund und Nachlassverwalter
Carl Selig sie nannte) Jahrzehnte nach Walsers
Tod zu enthüllen. Die durchschnittliche Größe der
Buchstaben betrage »zwei bis drei Millimeter; bei den
später folgenden Manuskriptsorten erreicht Walser
sogar Werte von einem bis zwei Millimetern. Bei solchen
»Größen«-Ordnungen fällt die Möglichkeit, einzelne
Buchstaben zu identifizieren oder von anderen zweifelsfrei
zu unterscheiden, in sehr vielen Fällen weg.«
Erschwert wurde die Entzifferung dadurch, »dass
der Bleistift stumpfer und damit das Suchbild immer
abstrakter wurde. Hinzu kommen punktuelle Entstellungen
der Schrift, die durch eine Verkrampfung der
Hand, innere Unruhe oder Unkonzentriertheit bei solch
diffizilem Schreiben sowie durch Unebenheiten der Unterlage
hervorgerufen sein können.«
© Andreas Reiberg
«
Die führende Hand oder Go ask Alice!
Im ersten Kapitel von Alice hinter den Spiegeln begegnet
das Mädchen den Schachfiguren aus dem diesseitigen
Zimmer in der Asche des Kamins wieder, darunter
dem Schwarzen König und der Weißen Königin. Im Verlauf
einer mehr turbulenten als regulären Schach-Partie
greift Alice als eine Art Dea ex machina ein und ver-
»Geschichten schreiben
heißt misstrauisch sein.
Lesen heißt, sich
darauf einzulassen.«
bleistift-notizen 75
Judith
Hermann
5 plus
bleistift-notizen 76
schimmernd Stumpfe des Auftrags entfaltet sich auf
dem Blatt zu einer graphischen Oberfläche, die wir in
der Optik bzw. der Fotografie als Unschärfe wahrnehmen.
«
Was schlimm ist
Wenn der Bleistift der Hand entgleitet, zu Boden fällt
und mit hellem Aufprall liegen bleibt: Die Mine zerbricht,
die innere Fraktur kommt der unvermeidlichen
äußeren zuvor. Der Klang des Aufpralls schmerzt umso
mehr, weil wir es sind, die ihn verursacht haben. Im
Grund wird mit dieser Zerbröselung genau jene schöne
Erscheinung gewahrt, vor der Petroski gewarnt hat. Die
ebenso verzweifelt wie wütend spitzende Hand kann
den Bruch nicht mehr heil machen und zeigt uns die
Augenblicksunachtsamkeit mit jedem gebrochenen
Minenspitzchen von neuem.
Fotograf: Ulrich Weichert,
© Hanns Zischler
bleistift-notizen 77
«
Die Grenzen des Bleistifts
Mit Bleistift geschriebene Briefe wirken seltsam unwirklich,
als wären sie etwas Vorläufiges, das wieder ausradiert
werden kann. Es sind uneigentliche Briefe, sodass
man sich unwillkürlich fragt, ob der Absender den Brief
wirklich schreiben wollte.
Hanns Zischler, Schriftsteller, Fotograf und Schauspieler.
Der zerrissene Brief, Roman, 2021 bei Galiani Berlin; Bann und
Befreiung – über Lesen und Schreiben. Katalog zur gleichnamigen
Ausstellung im Wallraf-Richartz Museum Köln, 2022
5 plus
Gerhard Faulhaber, o. T. (fliegender Händler am Strand), 2017,
Bleistift auf Karton, 50 × 70 cm, Courtesy Zwinger Galerie
größert das Chaos, als sie zu spät bemerkt, dass ihre
Figuren zwar auf ihre Versetzungen reagieren, aber das
Mädchen nicht hören und nicht sehen können. Der
König bemüht sich, kaum hat er sich von seinem Sturz
erholt, das gerade Erlebte festzuhalten, wozu ihm die
Königin dringend rät:
Gespannt sah Alice zu, wie der Schwarze König ein riesiges
Notizbuch aus der Tasche zog und zu schreiben
anfing. Einem plötzlichen Einfall folgend, fasste sie den
Bleistift dort, wo er dem König über die Schulter ragte,
und führte ihm beim Schreiben die Hand.
Der arme König sah verwirrt und niedergeschlagen
drein und kämpfte eine Weile stumm mit dem Bleistift;
aber Alice war einfach zu stark für ihn, und zuletzt
keuchte er: »Liebe Frau, ich muss mir wirklich einen dünneren
Bleistift besorgen. Mit diesem hier komme ich überhaupt
nicht zurecht; er schreibt alle möglichen Dinge, die
ich gar nicht möchte.«
»Was für Dinge denn?«, fragte die Königin und sah
ihm in das Buch (und da hatte Alice hineingeschrieben:
›Der weiße Ritter rutscht den Schürhaken hinunter. Er
kommt dauernd aus dem Gleichgewicht.‹) »Deine Empfindungen
sind da nicht aufnotiert.«
«
Das einzige Papier weit und breit
Der ungarisch-jüdische Filmemacher und Publizist
Stefan Lorant – Anfang der 30er-Jahre erfolgreicher
Chefredakteur der Münchner Nachrichten – wurde unmittelbar
nach Hitlers Staatsstreich im Frühjahr 1933
verhaftet. Er schrieb noch in der Untersuchungshaft in
Stadelheim die Geschichte seiner Verfolgung und Verhaftung
nieder. Seine Notizen kritzelte er, wie er fünfzig
Jahre später in einem Interview erzählte, mit Bleistift
auf das relativ weiche Klopapier: etwas anderes hatte
er nicht. Als er aufgrund einer ungarischen Intervention
nach kurzer Haft freikam, veröffentlichte er noch
im selben Jahr bei Penguin Books seinen Bericht: I Was
Hitler’s Prisoner. Ein Bestseller.
«
Gerhard Faulhaber
Was ein Bleistift vermag, der nicht zeichnet, keine Linien
zieht, nicht strichelt und schummert, sondern tupft
und zart punktiert, lässt sich an den Blättern von Gerhard
Faulhaber erkennen. Ihm gelingt es, die »unbunte
Farbe« Grau des Graphits so auf das Blatt aufzutragen,
dass am Ende die Illusion einer Fotografie vor uns erscheint.
Seine empfindsame Hand entlockt dem Bleistift
eine ungewohnte Wirkung: Das weich Gleitende,
«
PS: Eine Leseauforderung!
Ulrich Holbein, über den Radiergummi:
Der stets verneinende Radiergummi. Am Beginn seiner
zusammenschnurrenden Laufbahn sieht jeder Bleistift
lang aus. Spitz wird er unterwegs mehrmals aufs Neue,
lang nie wieder. Er könnte von vornherein nur etwa
halb so lang sein oder doppelt so lang dauern, wenn er
nicht den lauernden Radiergummi miternähren müsste.
Der steht überall bereit, wo es Verworfenes zu beseitigen
gibt, Verworfenes in Gestalt von Bleistiftaufstrich,
die Überschussproduktion im Tierreich der Wörter. Der
Radiergummi vertilgt alles – ohne allerdings länger zu
leben. Je dickleibiger er werden müsste, desto kleiner
wird er. Stift und Gummi wetzen sich aneinander zunichte,
über den Umweg der Schrift, die dem einen entfließt,
die der andere zu schwarzen Würstchen macht.
Die werden von oben her weggepustet.
Samthase und Odradek, Frankfurt am Main 1990,
S. 54–55.
Textauszug aus dem 2025 erscheinenden Buch von
Hanns Zischler über den Bleistift.
© Hanns Zischler
«
De fuckto ein
sensationelles Debüt
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aus der buchhandlung 78
aus der buchhandlung
Verbalgestrüpp und
»Vorlese-Scheiße«
Bommi Baumann, neulich in Regensburg
Komm mit nach
ELFEN-
HEIM!
Ulrich Dombrowsky
5 plus
Mit dem Buch Wie alles anfing schrieb das einzige
nicht-studentische Mitglied der Berliner
Kommune 1 in den 70er-Jahren ein Bekenntnis,
das dem Münchner Trikont-Verlag einen großen
Verkaufserfolg, mehrere Razzien, ein Veröffentlichungsverbot
und in Zeiten von RAF und heißem Herbst ein
fragwürdiges Renommee verschaffte. Zehn Jahre später
versuchte er es in einem großen Publikumsverlag noch
einmal: In Hi Ho – Wer nicht weggeht, kommt nicht wieder
schreibt der proletarische Berliner und Revoluzzer
über seine Abenteuer, die er auf der Flucht vor dem BKA
in Afghanistan, Indien, dem Nahen Osten und Großbritannien
erlebt hatte.
Zur Vorstellung dieses Buches hatte ich Bommi ins
Regensburger »Einhorn«, eine Kultkneipe mit studentischem
und widerständigem Publikum, eingeladen –
damals kämpften die Regensburger Linken und ökologisch
Gesinnten gerade gegen den Bau der Wiederaufarbeitungsanlage
in Wackersdorf. Die Lesung sollte
um 20 Uhr beginnen, die Kneipe platzte aus den Nähten.
Wer um 20 Uhr nicht da war, war Bommi Baumann.
Ich hatte ihn am Hauptbahnhof abholen sollen, aber er
war nicht im Zug. Ich hatte also die schwere Aufgabe,
das wartende Publikum zu vertrösten – aber auf was?
Handys gab es noch nicht, ich konnte ihn nicht anrufen.
Ich konnte nur darauf hoffen, dass er nur den Zug verpasst
hatte, und fuhr um 20.45 Uhr noch mal zum Bahnhof.
Tatsächlich: Er war in Nürnberg aufgehalten worden,
sprich: Das dortige Interview hatte sich in die Länge
gezogen. Bommi wirkte auf mich fahrig, er lallte leicht,
aber ich konnte doch wenigstens gemeinsam mit ihm
die Veranstaltung starten.
Ging auch gleich los. Bommi bestellte sich Bier und
Wodka und kam sofort zum Punkt. Er wolle hier nicht
den linken Polit-Clown spielen und diese bürgerliche
Vor lese-Scheiße bieten. Das Buch könne sich schließlich
jeder irgendwo in ’ner Buchhandlung klauen.
Er wolle viel lieber über die Isolationsfolter der RAF-
Gefangenen diskutieren und eigentlich gleich am liebsten
eine Spontan-Demo in die Innenstadt initiieren.
Dagegen regte sich sogleich Widerstand: Mindestens
zwei Besucher der Lesung bestanden auf »Lesung«.
Bommi gab dem Murren nach, pulverisierte das bürgerliche
Leseritual aber umgehend, indem er ein paar Worte
mit dem Zeigefinger von den Zeilen wegbuchstabierte
um schließlich kopfschüttelnd mit den Worten »Wat’n
det hier? Ick bin ja selber erstaunt!« sein eigenes Buch zu
schreddern.
»Wer jetzt noch nicht gegangen war, der war wohl
auch zu folgendem bereit. In einem allgemeinen Sprachund
Denk-Chaos ohnegleichen, in einem Verbalgestrüpp
aus Mißverständnissen, Aggressionen, geistigen
Kreisbewegungen und politischer Ratlosigkeit trug
Bommi mit persönlicher Verve, mit verhangenen Augenwinkeln
und gar nicht mal ohne subjektive Glaubwürdigkeit
sein »politisches« Programm vor. Und das
heißt: ›Wie wir die Scheiße hier überwinden können.‹«
(Manfred Stuber in der Mittelbayerischen Zeitung vom
2. November 1987)
Die Diskussion ging hoch her, manche solidarisierten
sich mit ihm, die meisten nahmen ihn einfach nicht
mehr ernst. Zum Glück endete die Veranstaltung friedlich.
Im Wesentlichen zumindest. Denn Bommi hatte
während der zwei Stunden versuchter Debatte weitere
Biere und Wodkas bestellt, die nicht spurlos an seiner
Haltung vorbeigingen. Eigentlich war vereinbart gewesen,
dass er privat bei mir unterkommen könne. Wie
dankbar war ich dem erfahrenen Wirt, dass er den völlig
zugedröhnten Bommi mit zu sich nach Hause nahm – in
dessen WG konnte der Aktivist seinen Rausch ausschlafen.
Zumindest ein Gutes hatte diese Veranstaltung: Die
Mittelbayerische Zeitung betitelte ihren – oben schon
kurz zitierten – Artikel mit: Die verrücktest Lesung in der
Geschichte Regensburgs. Dabei war es damals erst die
siebte von inzwischen mehr als eintausend Veranstaltungen,
die wir im Lauf der Zeit auf die verschiedenen
Bühnen Regensburgs gebracht haben.
Ulrich Dombrowsky ist Gründer und Inhaber der
seit 1983 in Regensburg ansässigen Buchhandlung Dombrowsky.
In den beiden literarischen Saisons Literarischer Frühling und
Literarischer Herbst veranstaltet Dombrowsky Lesungen, Konzerte
und Verlagsabende.
432 Seiten | € 22,00 [D]
Motiv-Farbschnitt limitiert für Erstauflage
Der 17-jährige Bruder von Jude, Königin
von Elfenheim, ist ein enigmatischer
und widerstrebender Thronfolger. Schon
als Kind stand er im Mittelpunkt eines
brutalen Machtkampfs um den Thron und
kennt die Höhen und Tiefen seiner
Position. Als er gemeinsam mit Suren, der
wilden und unberechenbaren Königin
des Hofs der Zähne, auf eine Quest geht,
verbergen beide ihre wahren Motive
voreinander …
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5 plus
5 plus wo ein anfang ist, muß auch ein ende sein? 80
© Lars Hammer
In seinem neuen Roman nähert sich Bestsellerautor Karl Ove
Knausgård zärtlich, aber bestimmt den ganz großen Fragen:
Woher kommt das Leben, und was ist es eigentlich?
Ein Lesefest der besonderen Art und das Prequel zum
SPIEGEL-Bestseller Der Morgenstern.
Eine epische Saga, die vom ländlichen Indien ins
energiegeladene Neu Delhi führt; ein mitreißender Roman
über Gangster und Liebhaber, falsche Freunde, verbotene
Liebe und die zerstörerische Kraft von Familienbanden in
einem indischen Mafia-Clan.
Bücher, die das Lesen lohnen
Hardcover mit Schutzumschlag, 720 Seiten · € 23,— [D] · C.Bertelsmann
Hardcover mit Schutzumschlag, 608 Seiten · € 26,— [D] · Blanvalet
Hardcover mit Schutzumschlag, 1056 Seiten · € 30,— [D] · Luchterhand
Hardcover mit Schutzumschlag, 688 Seiten · € 28,— [D] · Blessing
Ein schillernder Roman voller Wärme und Witz über eine
ebenso eigensinnige wie faszinierende junge Heldin, die für das
kämpft, was sie im Herzen trägt: Eine Bühne zu errichten für
all die Geschichten, denen sie im Verborgenen gelauscht hat.
Wenn Sie das Klima beeinflussen könnten, wen würden Sie
vor der Erderwärmung retten? Ihre Heimat? Grönland? Afrika?
Das neue faszinierende Zukunftsszenario von SPIEGEL-
Bestsellerautor Marc Elsberg.