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Jürgen Boomgaarden | Martin Leiner | Bertram Schmitz (Hrsg.): Konfigurationen der Liebe (Leseprobe)

Liebe beschreibt ein Gefühl, eine Einstellung, einen Gedanken, eine Erfahrung, die Menschen zu dem Wichtigsten in ihrem Leben zählen. Die Liebe, zu anderen Menschen, zu Tieren, zu Gott, zu Göttern oder die von ihnen empfangene Liebe, findet sich in höchst unterschiedlicher Gestalt und Bedeutung. Hat Liebe ihren wesentlichen Ausdruck in der Freundschaft, in der geschlechtlichen Vereinigung, in einem rituellen Vollzug oder in einem göttlichen Handeln? Der vorliegende Band besitzt seinen Schwerpunkt in der Frage, wie in den Religionen Liebe verstanden wird. Gerade im Christentum haben sich verschiedene Vorstellungen entwickelt, Gott, Mensch und Liebe miteinander zu denken. Doch auch philosophische und sich mit geistlicher und weltlicher Literatur beschäftigende Beiträge eröffnen entscheidende Perspektiven auf das unerschöpfliche Phänomen der Liebe.

Liebe beschreibt ein Gefühl, eine Einstellung, einen Gedanken, eine Erfahrung, die Menschen zu dem Wichtigsten in ihrem Leben zählen. Die Liebe, zu anderen Menschen, zu Tieren, zu Gott, zu Göttern oder die von ihnen empfangene Liebe, findet sich in höchst unterschiedlicher Gestalt und Bedeutung. Hat Liebe ihren wesentlichen Ausdruck in der Freundschaft, in der geschlechtlichen Vereinigung, in einem rituellen Vollzug oder in einem göttlichen Handeln? Der vorliegende Band besitzt seinen Schwerpunkt in der Frage, wie in den Religionen Liebe verstanden wird. Gerade im Christentum haben sich verschiedene Vorstellungen entwickelt, Gott, Mensch und Liebe miteinander zu denken. Doch auch philosophische und sich mit geistlicher und weltlicher Literatur beschäftigende Beiträge eröffnen entscheidende Perspektiven auf das unerschöpfliche Phänomen der Liebe.

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<strong>Jürgen</strong> <strong>Boomgaarden</strong> | Martin <strong>Leiner</strong> | <strong>Bertram</strong> <strong>Schmitz</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

<strong>Konfigurationen</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Liebe</strong><br />

<strong>Liebe</strong>svorstellungen in Religion,<br />

Philosophie und Literatur


Vorwort<br />

Dass nur wenige Worte so abgenutzt, missbraucht und dennoch so kostbar, verheißungsvoll<br />

erscheinen wie das Wort <strong>Liebe</strong>, zeigt eine anthropologische Notwendigkeit<br />

an, eine Vorstellung von dem Inhalt dieses Wortes zu haben. Man ist auf<br />

<strong>Liebe</strong> aus und erlebt vielleicht große Enttäuschungen o<strong>der</strong> eine große Erfüllung.<br />

In beiden Fällen wird man nicht davon lassen können weiter zu lieben o<strong>der</strong> <strong>Liebe</strong><br />

zu suchen. <strong>Liebe</strong> ist in ihren unterschiedlichsten Bedeutungen und Wahrnehmungen<br />

ein Zentralbegriff des menschlichen Miteinan<strong>der</strong>s, aber auch eine wichtige<br />

o<strong>der</strong> entscheidende Verhältnisbestimmung zum Göttlichen, sei es zu einem Gott<br />

o<strong>der</strong> mehreren.<br />

Der Titel des Buches erklärt sich dadurch, dass Paul Ricœurs Theorie <strong>der</strong> Konfiguration<br />

und Refiguration in seinem Buch „Zeit und Erzählung“ (Teil 1) 1 beson<strong>der</strong>s<br />

aufschlussreich ist für die in diesem Band vereinigten Aufsätze. Begriffe und<br />

mit ihnen verbundene Erzählungen konfigurieren Menschen und ihre Beziehungen<br />

in bestimmter Weise. Wenn sie an<strong>der</strong>e <strong>Konfigurationen</strong> überschreiben, refigurieren<br />

sie diese. Insbeson<strong>der</strong>e wird durch die Bezeichnung eines bisher so nicht<br />

verstandenen Verhältnisses als „<strong>Liebe</strong>“ eine beson<strong>der</strong>e Konfiguration o<strong>der</strong> Refiguration<br />

<strong>der</strong> Personen vorgenommen. Dies wird anschaulich, wenn unter zwei Menschen<br />

<strong>der</strong> eine auf einmal davon spricht, dass er o<strong>der</strong> sie den an<strong>der</strong>en liebt. Dies<br />

öffnet häufig ein neues Selbstverständnis bei<strong>der</strong> Personen und lässt eine neue Geschichte<br />

beginnen, die zu tieferer und innigerer Gemeinsamkeit führt.<br />

Es kann aber auch sein, dass die Konfiguration des Verhältnisses als „<strong>Liebe</strong>“<br />

zu Entfremdung und Konflikten führt, etwa weil die <strong>Liebe</strong> sozial nicht anerkannt<br />

wird o<strong>der</strong> weil <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Partner die <strong>Liebe</strong> nicht erwi<strong>der</strong>t. Die Konfiguration eines<br />

Verhältnisses als „<strong>Liebe</strong>“ ruft sozial anerkannte, von religiösen, literarischen,<br />

philosophischen Texten entwickelte Bedeutungen und Normen auf. Diese Normen<br />

und ihre Diskussion sind Inhalt des vorliegenden Buches. Es hilft die Frage zu<br />

beantworten: Ist das, was ich empfinde „<strong>Liebe</strong>“ und wenn ja, ist es gut diese <strong>Liebe</strong><br />

in allen sich anbietenden Formen zu leben? In <strong>der</strong> Beantwortung dieser Frage zeigen<br />

sich Ambivalenzen. Wie je<strong>der</strong> wichtige werthaltige Begriff – man denke nur<br />

1<br />

Temps et récit. Tome I: L'intrigue et le récit historique. Le Seuil, Montrouge 1983.


6<br />

Vorwort<br />

an Freiheit o<strong>der</strong> an Glück – entstehen zahlreiche Diskussionen um wirklich o<strong>der</strong><br />

nur scheinbar ambivalente Aspekte, die als solche sowohl für das Verständnis des<br />

Menschen, als auch für die Kritik <strong>der</strong> Gesellschaft von größter Bedeutung sind.<br />

Die Zentralstellung des <strong>Liebe</strong>sbegriffes hängt neben an<strong>der</strong>em auch mit seiner<br />

ambivalenten Verortung im menschlichen Dasein zusammen. In verschiedenen<br />

Kulturen wird <strong>Liebe</strong> etwa mit <strong>der</strong> sexuellen Vereinigung zweier Menschen konnotiert.<br />

Sie erleben und leben so ihre <strong>Liebe</strong>. <strong>Liebe</strong> lässt sich als das – glückvolle –<br />

Empfinden eines leiblichen Miteinan<strong>der</strong> verstehen. Hierin liegen ihre Erfüllung<br />

und ihr ursprünglicher Sinngehalt.<br />

Doch auch die Freundschaft kann als ein bedeutsamer und manchmal „wahrer“<br />

Ort von <strong>Liebe</strong> interpretiert werden. Sie gehört zu den besten Gütern des Lebens.<br />

Eine Freundschaft, in <strong>der</strong> man nicht seine Defizite durch den an<strong>der</strong>en auszugleichen<br />

sucht, son<strong>der</strong>n das Gute im Leben teilt, kann ein hohes Glück<br />

bedeuten.<br />

Aber geschlechtliche Vereinigung o<strong>der</strong> Freundschaft sind nur zwei von vielen<br />

möglichen und teilweise sich überlagernden Ausdrucksformen von <strong>Liebe</strong>. <strong>Liebe</strong><br />

wird weithin als eine menschliche Neigung zum an<strong>der</strong>en, als ein ihm Wohlwollen,<br />

als Mitgefühl o<strong>der</strong> Mitleid angesehen, dessen Ausdrucksmöglichkeiten, von einer<br />

inneren Geisteshaltung bis zur materiellen Hilfe, unbegrenzt sind. <strong>Liebe</strong> wird in<br />

einer menschlichen Mitte verortet, die mit <strong>der</strong> Metapher des Herzens bezeichnet<br />

wird. Aber in <strong>der</strong> Vorstellung von ihr kann auch darauf verzichtet werden und<br />

Menschen gehen gleichsam in <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> selbst auf.<br />

<strong>Liebe</strong> wird von den einen als eine universale For<strong>der</strong>ung an alle Menschen, von<br />

an<strong>der</strong>n als Empfehlung an den Einzelnen verstanden. <strong>Liebe</strong> ist für die einen wie<br />

ein Geschenk, das ihnen ein Gott o<strong>der</strong> ein an<strong>der</strong>er Mensch gibt, für an<strong>der</strong>e ist es<br />

etwas, das natürlich gegeben ist und das man sich aneignen kann.<br />

Die unterschiedlichen Vorstellungen von <strong>Liebe</strong>, von denen die folgenden Beiträge<br />

handeln, gehen mit Grundannahmen über das menschliche Dasein einher,<br />

von denen die <strong>Liebe</strong> geprägt ist und die sie wie<strong>der</strong>um bestätigt.<br />

Die anthropologische Tiefe des <strong>Liebe</strong>sbegriffs stellt ihn zugleich in einen religiösen<br />

Kontext. Auch <strong>der</strong> sich als areligiös Bezeichnende wird bisweilen sich mit<br />

einem religiösen Verständnis treffen, wenn er <strong>Liebe</strong> als das höchste Glück o<strong>der</strong><br />

als Erfüllung des menschlichen Lebens betrachtet. Doch verschiedene Religionen<br />

konfigurieren o<strong>der</strong> refigurieren die <strong>Liebe</strong>, Gott und die Menschen in je eigenen<br />

Weisen. Sie gehen in ihrer <strong>Liebe</strong>svorstellung über immanente Vorstellungen hinaus<br />

und geben diesem irdischen Glück noch eine tiefere Begründung, wenn sie<br />

die <strong>Liebe</strong> von Gott o<strong>der</strong> zu Gott bzw. Göttern als die eigentliche Quelle <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong><br />

o<strong>der</strong> als eine noch höhere <strong>Liebe</strong> betrachten, als sie zwischen Menschen möglich<br />

ist.<br />

Dabei kommt es zu höchst unterschiedlichen und in sich differenzierten Verhältnisbestimmungen<br />

von göttlicher und menschlicher <strong>Liebe</strong>, die von scharfen<br />

Trennungen bis zu Identifizierungen reichen. Menschen- und Gottesliebe können<br />

zudem in einem eher als geistig zu bezeichnenden Raum zusammen- o<strong>der</strong> auseinan<strong>der</strong>gehen<br />

o<strong>der</strong> auch in einer leiblichen Vereinigung ihre Erfüllung finden.


Vorwort 7<br />

Diese Vielfalt wird in den hier versammelten Beiträgen schnell ersichtlich<br />

werden. Vom religiösen Standpunkt aus gesehen kann die <strong>Liebe</strong> gegenüber Menschen<br />

zu einer Konkurrenz gegenüber <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> zu Gott verstanden werden, o<strong>der</strong><br />

aber die religiös gebundene <strong>Liebe</strong> findet gerade in <strong>der</strong> menschlichen Verwirklichung<br />

ihre Metapher o<strong>der</strong> gar Erfüllung.<br />

In indischen Religionen kommen weiterer Faktoren hinzu: die Grenze zwischen<br />

Transzendenz und Immanenz, Gottheit und Menschlichem ist durchlässiger<br />

als in den ursprünglich im östlichen Mittelmeerraum und auf <strong>der</strong> arabischen Halbinsel<br />

entstandenen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Die <strong>Liebe</strong>sbeziehung<br />

zu einer Gottheit kann sich unbefangen in leiblich liebenden, gar in erotischen<br />

Bil<strong>der</strong>n ausdrücken, wie das Verliebtsein <strong>der</strong> menschlichen Radha zum<br />

göttlichen Krishna als Bild <strong>der</strong> Seele (Atman) zu Gott (Vishnu, Krishna o<strong>der</strong> in<br />

einer an<strong>der</strong>en Gestalt). Gott kann in einer <strong>Liebe</strong>sbeziehung Besitz von einer Person<br />

ergreifen, plastisch zum Gegenüber werden.<br />

Weiterhin wird die <strong>Liebe</strong>sbeziehung in tantrisch genannten Richtungen in<br />

Hinduismus und beson<strong>der</strong>s Buddhismus selbst zum Ausdruck <strong>der</strong> Überwindung<br />

<strong>der</strong> Trennung aller immanenten und transzendenten Wirklichkeit; die physisch<br />

erotische Vereinigung wird zur Realisierung <strong>der</strong> Vereinigung aller polaren Gegensetze.<br />

Aus diesen Verhältnisbestimmungen ergeben sich wie<strong>der</strong>um unterschiedliche<br />

Wesensbestimmungen und Eigenschaften <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>. Da gibt es die natürliche<br />

und die übernatürliche <strong>Liebe</strong>, die reine <strong>Liebe</strong> o<strong>der</strong> die selbstsüchtige <strong>Liebe</strong>. Es<br />

wird die selbstlose <strong>Liebe</strong> als Ideal angestrebt o<strong>der</strong> im Gegenteil die Erfüllung des<br />

Selbst durch die <strong>Liebe</strong> zum Leitbild erhoben. <strong>Liebe</strong> wird weiterhin als Beziehung<br />

o<strong>der</strong> als Einswerden mit dem An<strong>der</strong>en o<strong>der</strong> als innere Haltung des Einzelnen gedeutet.<br />

Die folgenden Beiträge bieten hierfür viele Beispiele.<br />

Ein Verständnis von <strong>Liebe</strong> im wissenschaftlichen Kontext könnte sich selbst<br />

im Weg stehen. <strong>Liebe</strong> aus wissenschaftlicher Distanz betrachtet, ihre Überführung<br />

in ein möglichst logisches Gedankenkonstrukt erscheint ihr unangemessen. Wer<br />

wissen will, was <strong>Liebe</strong> bedeutet, <strong>der</strong> muss sie selbst erleben o<strong>der</strong> Geschichten über<br />

<strong>Liebe</strong> lesen, hören o<strong>der</strong> sehen. Viele <strong>der</strong> hier versammelten Beiträge handeln über<br />

Geschichten von <strong>Liebe</strong>. Sie wollen den Blick schärfen für die <strong>Liebe</strong> in <strong>Liebe</strong>sgeschichten,<br />

die sich ebenso in religiösen Grundschriften wie in mo<strong>der</strong>ner Literatur<br />

finden, sei es die Geschichte des Gottes Israels mit seinem Volk, die Geschichte<br />

Jesu von Nazareth, die legendarische <strong>Liebe</strong>sgeschichte von Leylī und Mağnūn aus<br />

dem arabischen Raum o<strong>der</strong> H & A Screenplay von Anne Carson.<br />

Aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen ist <strong>der</strong> Zugang zum<br />

Phänomen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> möglich. In diesem Band überwiegen die christlich-theologischen<br />

und religionswissenschaftlichen Beiträge. 2<br />

2<br />

Weitere Sammelbände zum Thema sind Werner Schüßler, Marc Röbel (<strong>Hrsg</strong>.) <strong>Liebe</strong> –<br />

mehr als ein Gefühl: Philosophie – Theologie – Einzelwissenschaften, Pa<strong>der</strong>born u.a. 2016;<br />

Michael Hofer, Rudolf Langthaler (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Liebe</strong> und Hass: Perspektiven <strong>der</strong> Philosophie,<br />

Religion und Literatur, Wiener Jahrbuch für Philosophie Band 50 (2018).


8<br />

Vorwort<br />

Die christliche Religion sieht in <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>, die Gott in seinem Handeln am Volk<br />

Israel und leibhaftig in Jesus von Nazareth für alle Menschen geoffenbart hat, ihren<br />

zentralen Inhalt. Darin steht sie in unauflöslichem Bezug zur jüdischen Religion,<br />

mit <strong>der</strong> sie die Bücher <strong>der</strong> Hebräischen Bibel als Zeugnisse des göttlichen<br />

Willens und Handelns ansieht. In <strong>der</strong> Hebräischen Bibel findet sich ein weitgefächertes<br />

Spektrum an Aussagen über die gott-menschliche und die zwischenmenschliche<br />

<strong>Liebe</strong>. André Zempelburg gibt in seinen Beitrag einen Überblick über<br />

die nähere Gestalt, in <strong>der</strong> diese beiden Formen <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> in <strong>der</strong> Hebräischen Bibel<br />

auftreten, und zeigt <strong>der</strong>en Zusammenhang auf. Aus <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> des Menschen zu<br />

Gott folgt die <strong>Liebe</strong> <strong>der</strong> göttlichen Weisheit zum Menschen, dem grundsätzlich zu<br />

lieben geboten ist.<br />

Aus christlich-theologischer Sicht widmet sich Ansgar Moenikes dem Nächstenliebegebot<br />

im Alten Testament und macht deutlich, dass es sich hierbei um<br />

eine Zusammenfassung <strong>der</strong> Sozialgebote in <strong>der</strong> Tora handelt, die auf eine gerechte<br />

und solidarische Gesellschaft zielen. Die Gottesliebe verwirklicht sich nicht nur in<br />

<strong>der</strong> Befolgung <strong>der</strong> kultischen Gebote, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Sozialgebote.<br />

Im Neuen Testament ist das Johannesevangelium in beson<strong>der</strong>er Weise von<br />

dem <strong>Liebe</strong>sgedanken durchzogen. Manfred Lang untersucht das ‚Netz <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>‘,<br />

das in diesem Evangelium aufgespannt ist, und legt mit ihm die ureigenste Konzeption<br />

dieser Schrift frei. Ausgehend vom johanneischen Prolog, <strong>der</strong> auf den Kosmos<br />

als Objekt göttlicher <strong>Liebe</strong> gerichtet ist, spannt sich das Netz über die sich<br />

erniedrigende <strong>Liebe</strong> in <strong>der</strong> Fußwaschungserzählung hin zur ‚größeren <strong>Liebe</strong>‘ <strong>der</strong><br />

Jünger Jesu.<br />

Schon die antike Philosophie hat Vorstellungen von <strong>Liebe</strong> entwickelt, die für<br />

das abendländische Denken maßgeblich wurden. Martin F. Meyer stellt in seinem<br />

Beitrag Ciceros Hochschätzung <strong>der</strong> Freundschaftsliebe vor. Am gegenseitigen Erkennen<br />

<strong>der</strong> Tugend entzündet sich die <strong>Liebe</strong> einer Freundschaft. Sie hat ihre Motivation<br />

in <strong>der</strong> Attraktivität des Guten, die auch über den Tod des Freundes hinaus<br />

in <strong>der</strong> Erinnerung an die Freundschaft weiterwirkt.<br />

Die mo<strong>der</strong>ne Philosophie hat in ihrer Entwicklung wesentliche Impulse durch<br />

die christliche Theologie erfahren. Tatjana Schönwäl<strong>der</strong> führt aus, dass nicht nur<br />

bei Hegel sich theologische und philosophische Perspektiven im Denken über<br />

<strong>Liebe</strong> verschmelzen, son<strong>der</strong>n auch Judith Butler und Jaques Derrida den ‚semantischen<br />

Raum <strong>der</strong> Theologie‘ betreten, um dort wichtige Erkenntnisse für eine Philosophie<br />

<strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> zu gewinnen. Derridas Reflexionen zum Gebet erschließen das<br />

‚Zwischen‘ einer <strong>Liebe</strong>sbeziehung in seiner Unbestimmtheit und Offenheit.<br />

Der Freundschaftsgedanke <strong>der</strong> antiken Philosophie, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> aristotelischen,<br />

hat bei Thomas von Aquin eine bedeutsame Rezeption gefunden. Bruno<br />

Nie<strong>der</strong>bacher zeigt auf, wie <strong>der</strong> scholastische Theologe den aristotelischen Befund<br />

in ein christliches Denken integriert und den Begriff <strong>der</strong> caritas im Sinne einer<br />

Art Freundschaft zu Gott deutet. Ist für Aristoteles aufgrund des Abstandes eine<br />

Freundschaft mit einem Gott nicht möglich, sieht Thomas Gott den Menschen zu<br />

seinesgleichen zu erheben. Der Mensch wird Gottes Sohn und so Freundschaft<br />

möglich.


Vorwort 9<br />

Mit <strong>der</strong> Reformation hat Martin Luther nicht nur dem Glaubensbegriff neu in<br />

das Zentrum <strong>der</strong> christlichen Theologie gerückt, son<strong>der</strong>n mit ihm auch <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong><br />

eine gegenüber <strong>der</strong> scholastischen Tradition verän<strong>der</strong>te Bedeutung für den christlichen<br />

Glauben gegeben. <strong>Jürgen</strong> <strong>Boomgaarden</strong> entfaltet in seinem Beitrag das Beziehungsgefüge<br />

zwischen Glaube und <strong>Liebe</strong> aus lutherischer Sicht. Für den Reformator<br />

fließt die <strong>Liebe</strong> aus dem christlichen Glauben und ist darin frei, den<br />

An<strong>der</strong>en ohne Ansehen <strong>der</strong> Person zu lieben.<br />

Christliche Theologie operiert weitgehend mit dem Gegensatz von brüchiger<br />

menschlicher <strong>Liebe</strong> und heilen<strong>der</strong> Gottesliebe. Mirja Kutzer interpretiert Werke<br />

aus <strong>der</strong> gegenwärtigen und mittelalterlichen Literatur, die die Gottesliebe eher im<br />

Sinne eines Begehrens, einer Gewalterfahrung o<strong>der</strong> einer Verschleierung gebrochener<br />

menschlicher <strong>Liebe</strong> schil<strong>der</strong>n. Die <strong>Liebe</strong> Gottes ist nicht als Heilung zwischenmenschlicher<br />

Beziehungen konzipiert, son<strong>der</strong>n enthält wie die menschliche<br />

<strong>Liebe</strong> Ambivalenzen. Sie kann Schmerz, Selbstverlust und Todesnähe bedeuten.<br />

<strong>Bertram</strong> <strong>Schmitz</strong> gibt einen grundsätzlichen Überblick zum <strong>Liebe</strong>sverständnis<br />

im Islam ausgehend von verhältnismäßig wenigen Erwähnungen des Begriffs <strong>der</strong><br />

<strong>Liebe</strong> im Koran und entsprechen<strong>der</strong> Ordnungen für das zwischenmenschliche Leben<br />

bis hin zur islamischen Mystik und ihren Vorstellungen inniger Gottesliebe.<br />

Einen eigenen Punkt bildet dabei die Frage nach <strong>der</strong> medizinischen Bedeutung<br />

von geschlechtlicher <strong>Liebe</strong> in Bezug auf die Gesundheit.<br />

Naghmeh Jahan nimmt demgegenüber spezifisch die iranische Tradition in<br />

den Blick und orientiert sich dabei an dem islamischen Terminus Ishq (Eshq), <strong>der</strong><br />

beson<strong>der</strong>s für die partnerschaftlich-geschlechtliche <strong>Liebe</strong> und ihre körperliche Dimension<br />

steht. Diese behandelt sie vor allem einerseits anhand <strong>der</strong> höfischen<br />

<strong>Liebe</strong> und ihrer entsprechenden literarischen Bearbeitung, an<strong>der</strong>erseits an den –<br />

noch wenigen – Beispielen in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen von Frauen geschriebenen Poesie und<br />

ihrer Perspektive.<br />

In einem ersten Blick nach Indien wird von Katharina Klemm und <strong>Bertram</strong><br />

<strong>Schmitz</strong> die <strong>Liebe</strong> im Hinduismus behandelt. Kama ist zugleich ein Gott <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>,<br />

aber als <strong>Liebe</strong> selbst bezeichnet dieser Terminus eine Aufgabe <strong>der</strong> Vereinigung<br />

im diesseitigen Leben, die zwischen Mann und Frau erfüllt werden soll und, wie<br />

das Kamasutra exemplarisch zeigt, sogar als regelrechte Technik verstanden werden<br />

kann. Diesem steht die <strong>Liebe</strong> des Menschen zu einem Gott gegenüber, wie<br />

etwa <strong>der</strong> Seele zu Krishna, o<strong>der</strong> auch die <strong>Liebe</strong> zwischen zwei Gottheiten wie Shiva<br />

und seiner Shakti, die ebenso mythologisch verstanden werden kann, wie philosophisch,<br />

wenn etwa Shiva als die Möglichkeit allen Seins gesehen wird und<br />

Shakti als die Kraft <strong>der</strong> Verwirklichung dieser Möglichkeit.<br />

Navina Satish legt ihrem Zugang zur <strong>Liebe</strong> im Hinduismus vor allem die – in<br />

dieser Hinsicht spektakulären – Skulpturen an den Tempeln insbeson<strong>der</strong>e in<br />

Khajuraho zugrunde, die an erotischer Eindeutigkeit auf den ersten Blick nichts<br />

zu wünschen übriglassen und dennoch, o<strong>der</strong> gerade darin mehrdeutig in ihrer Intention<br />

und Interpretation sind. Da sie sich an spezifisch religiösen Bauwerken<br />

befinden, ist letztlich den auf die religiöse Befreiung (Moksha) hinzielenden


10<br />

Vorwort<br />

Deutungen <strong>der</strong> Vorrang zu geben, so als eine Variante, „dass diesen Gottheiten<br />

<strong>der</strong> Sexualakt als rituelles Opfer gebracht wird.“<br />

Bhante Devananda Rambukwelle stellt in seinen Ausführungen grundlegende<br />

Quellentexte zum Thema <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> aus buddhistischer Sicht im engeren Sinn vor<br />

und zeigt die Zentralität des <strong>Liebe</strong>sgedankens als Metta, im Sinne von Güte und<br />

Karuna als Mitgefühl für an<strong>der</strong>e, bis – im Mahayana explizit ausgesprochen – hin<br />

zu allen fühlenden Wesen, denen eine grenzenlos glückliche Existenz gewünscht<br />

wird.<br />

Demgegenüber bieten die Ausführungen von Kristin Purfürst wie<strong>der</strong>um eine<br />

spezifische Sicht, die nach einer allgemeineren Hinführung zum <strong>Liebe</strong>sbegriff im<br />

Buddhismus beson<strong>der</strong>s auf einzelne, paradigmatische <strong>Liebe</strong>sbeziehungen von<br />

Männern und Frauen untereinan<strong>der</strong> o<strong>der</strong> auch gegenüber Kin<strong>der</strong>n und an<strong>der</strong>en<br />

Wesen in <strong>der</strong> buddhistischen Literatur schaut. Daraufhin führt ihr Weg über eine<br />

differenzierte Darstellung des <strong>Liebe</strong>sbegriffs in den unterschiedlichen buddhistischen<br />

Lehrschulen hin zur <strong>Liebe</strong> als Auflösung aller Zweiheit, symbolisch auch<br />

<strong>der</strong> diesseitigen Welt in ihren Spielarten als Samsara mit <strong>der</strong> Transzendenz<br />

schlechthin, dem Nirvana.<br />

Eine religionsübergreifende Sicht nimmt <strong>der</strong> Beitrag von Stefan Herse ein, indem<br />

die fürsorgliche bis hin zum freundschaftlichen Verhältnis führende <strong>Liebe</strong><br />

des Menschen zum Tier und ihr Verständnis in unterschiedlichen Ausrichtungen<br />

diskutiert wird. Der auch in Europa zunehmende Vegetarismus ist dabei ein entscheiden<strong>der</strong><br />

Aspekt, die Frage nach dem Verhältnis von zunehmen<strong>der</strong> Tierliebe<br />

und Offenheit für den Buddhismus ein weiterer.<br />

Am Ende des Buches stellt sich die Frage: Wie bin ich, wie sind meine Beziehungen<br />

durch <strong>Liebe</strong> konfiguriert und was bedeutet dies für mein Leben?<br />

Der Band geht auf eine Tagung zurück, die im Sommer 2018 in Koblenz stattfand.<br />

Für das dort anvisierte Veröffentlichungsprojekt haben sich dann noch weitere<br />

Autorinnen und Autoren gefunden, die mit ihren Themen den vorliegenden Band<br />

wesentlich bereichert haben. Frau Miriam Sayah hat mit großem Einsatz die<br />

Druckformatsvorlage erstellt. Ihr und allen an<strong>der</strong>en, die zum Gelingen dieses <strong>Liebe</strong>s-Buches<br />

beigetragen haben, sei herzlich gedankt.<br />

Koblenz und Jena, im Mai 2023<br />

<strong>Jürgen</strong> <strong>Boomgaarden</strong> Martin <strong>Leiner</strong> <strong>Bertram</strong> <strong>Schmitz</strong>


Inhalt<br />

ZUM BIBLISCHEN LIEBESVERSTÄNDNIS<br />

André Zempelburg<br />

Relationale <strong>Liebe</strong>. Über das Vorkommen und die Verwendung von<br />

ʾhb in <strong>der</strong> hebräischen Bibel .............................................................................. 14<br />

Ansgar Moenikes<br />

Gottesliebe und Menschenliebe als For<strong>der</strong>ung des Alten<br />

Testaments ............................................................................................................... 35<br />

Manfred Lang<br />

Im Netz <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>. Zum Kommunikat einer joh. Konstruktion ............... 52<br />

ZUM PHILOSOPHISCHEN LIEBESVERSTÄNDNIS<br />

Martin F. Meyer<br />

Die Attraktivität des Guten. Cicero über die Freundschaft ....................... 71<br />

Tatjana Schönwäl<strong>der</strong>-Kuntze<br />

L(i)ebe(n) im semantischen Raum <strong>der</strong> Theologie – Anmerkungen<br />

zu Hegel, Butler und Derrida .............................................................................. 84<br />

ZUM CHRISTLICH-THEOLOGISCHEN LIEBESVERSTÄNDNIS<br />

Bruno Nie<strong>der</strong>bacher<br />

Ist Caritas eine Art Freundschaft? Die Sicht des Thomas von Aquin .. 107<br />

<strong>Jürgen</strong> <strong>Boomgaarden</strong><br />

„Eine quellende <strong>Liebe</strong>, von inwendig aus dem Herzen geflossen“.<br />

Gottes- und Menschenliebe bei Martin Luther .......................................... 127<br />

Mirja Kutzer<br />

Die Rede von Gott in <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>. Literarischtheologische<br />

Grenzgänge .................................................................................. 157<br />

ZUM LIEBESVERSTÄNDNIS IM ISLAM<br />

<strong>Bertram</strong> <strong>Schmitz</strong><br />

Gottesliebe und Menschenliebe im Islam .................................................... 181


12<br />

Inhalt<br />

Naghmeh Jahan<br />

Das maʿšūq – Konzept in <strong>der</strong> persischen klassischen Literatur und<br />

in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Poesie <strong>der</strong> iranischen Frauen ......................................... 199<br />

ZUM LIEBESVERSTÄNDNIS IM BUDDHISMUS<br />

Devananda Rambukwelle<br />

<strong>Liebe</strong> im Buddhismus ......................................................................................... 227<br />

Kristin Purfürst<br />

<strong>Liebe</strong> im Buddhismus – Illusion, Gottheit o<strong>der</strong> Essenz allen Seins? .... 243<br />

ZUM LIEBESVERSTÄNDNIS IM HINDUISMUS<br />

Katharina Klemm/ <strong>Bertram</strong> <strong>Schmitz</strong><br />

<strong>Liebe</strong> im Hinduismus – Gottesliebe und Menschenliebe ......................... 267<br />

Navina T. Satish<br />

Die körperliche <strong>Liebe</strong> als Weg <strong>der</strong> Befreiung vom Irdischen in<br />

hinduistischen Bild- und Textquellen ........................................................... 281<br />

DIE LIEBE ZUM TIER<br />

Stefan Herse<br />

Die <strong>Liebe</strong> und Zuneigung des Menschen zum Tier als äquivalente<br />

und individualisierte Ausdrucksform von Religion? – einige<br />

theoretische Überlegungen ............................................................................... 300<br />

Autorenverzeichnis ................................................................................................ 323


Zum biblischen<br />

<strong>Liebe</strong>sverständnis


André Zempelburg<br />

Relationale <strong>Liebe</strong><br />

Über das Vorkommen und die Verwendung von ʾhb in <strong>der</strong><br />

hebräischen Bibel<br />

Denkt man an <strong>Liebe</strong> im Tanaḵ 1 bzw. in <strong>der</strong> hebräischen Bibel, fallen einem vermutlich<br />

auf Anhieb zwei Dinge ein: Zum einen das überaus berühmte <strong>Liebe</strong>sgebot<br />

<strong>der</strong> Tōrāh – „und du sollst (für) deinen Genossen lieben, wie dich (selbst)“/<br />

haš-Šīrīm) Lev‏)תבהאו 19,18) – und zum an<strong>der</strong>en das Lied <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong> (Šīr ךערל<br />

bzw. Hohelied, ganz gleich wie man es deuten mag, ob als eher wörtlich zu verstehende<br />

Sammlung von <strong>Liebe</strong>slie<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> Kulturmythologie o<strong>der</strong> doch als Allegorie.<br />

2 Tatsächlich lässt sich jedoch we<strong>der</strong> <strong>der</strong> Begriff <strong>Liebe</strong> o<strong>der</strong> die Tätigkeit des<br />

<strong>Liebe</strong>ns, noch die <strong>Liebe</strong> als Thema in <strong>der</strong> hebräischen Bibel auf Lev 19,18 und das<br />

Hohelied reduzieren.<br />

Möchte man dem Begriff, sowie <strong>der</strong> Tätigkeit und dem Thema <strong>Liebe</strong> in <strong>der</strong><br />

hebräisch-biblischen Tradition nachspüren, so lässt sich dies sinnvollerweise anhand<br />

<strong>der</strong> hebräischen Wortwurzel ʾhb tun. Von diesen drei Radikalen leiten sich<br />

innerhalb <strong>der</strong> hebräischen Bibel folgende sechs Begriffe ab, nämlich 1) „lieben“<br />

(ʾhb), 2) „<strong>Liebe</strong>n<strong>der</strong>/Freund“ (ʾoheḇ), 3) „Liebschaft“ (ʾahaḇ/ʾohaḇ), 4) „<strong>Liebe</strong>“<br />

(ʾahaḇāh), 5) „Liebhaber“ (mǝʾaheḇ) und 6) „liebenswürdig“ (næʾæhāḇ).<br />

Nach einer einführenden, rein quantitativen Betrachtung <strong>der</strong> hebräischen<br />

Wortwurzel ʾhb innerhalb <strong>der</strong> hebräischen Bibel, erfährt diese eine umfassende<br />

Darstellung und wenn möglich Analyse ihrer Verwendungsweise. Die hier gewählte<br />

Betrachtungsweise ist relational. An<strong>der</strong>s als Ansgar Moenikes, welcher<br />

2012 eine höchst eindrucksvolle Darstellung von <strong>Liebe</strong> und <strong>Liebe</strong>sgebot in <strong>der</strong><br />

hebräischen Bibel vorgelegt hat, 3 wird die historisch-kritische Betrachtung <strong>der</strong> Bibel<br />

weitestgehend unberücksichtigt gelassen. Vielmehr erfolgt eine Perspektive<br />

auf den hebräisch-biblischen Endtext in seiner Dreigliedrigkeit: Tōrāh, Propheten<br />

ךומכ<br />

1<br />

Tanaḵ ist ein Akronym und steht für die drei Teile <strong>der</strong> hebräischen Bibel, nämlich 1)<br />

Tōrāh, die sogenannte „Weisung“, 2) Nǝḇīʾīm, die Propheten und 3) Kǝtūḇīm, die Schriften.<br />

Hier wird allerdings <strong>der</strong> Terminus „hebräische Bibel“ gebraucht, auch wenn sich <strong>der</strong> Autor<br />

darüber im Klaren ist, dass dieser Schriftenkorpus eine ganze Anzahl an nicht-hebräischen<br />

Begriffen, sogar ganze Teile auf Aramäisch verfasst, enthält.<br />

2<br />

Vgl. Schwienhorst-Schönberger, Das Hohelied, 389f.<br />

3<br />

Moenikes, Ansgar, <strong>Liebe</strong> / <strong>Liebe</strong>sgebot (AT).


Relationale <strong>Liebe</strong> 15<br />

(Nǝḇīʾīm) und Schriften (Kǝtūḇīm). Der hier gewählte Zugang kann folglich keinesfalls<br />

den Anspruch auf den alleinigen analytischen Zugang zur Wortwurzel ʾhb<br />

erheben. Allerdings ist es die Absicht, sämtliche Derivate von ʾhb in <strong>der</strong> hebräischen<br />

Bibel einer von vier Relationen zuzuordnen, nämlich <strong>der</strong> Gott-Mensch-Relation,<br />

<strong>der</strong> Mensch-Mensch-Relation, <strong>der</strong> Gott-Objekt/Tätigkeit-Relation und <strong>der</strong><br />

Mensch-Objekt/Tätigkeit-Relation. Die Auswertung <strong>der</strong> Zuordnung von ʾhb zu einer<br />

dieser vier Relationen wird im Zentrum <strong>der</strong> hiesigen Betrachtung stehen.<br />

Etwas simplifiziert meint dies Folgendes: Wer liebt wen o<strong>der</strong> was? In <strong>der</strong> Gott-<br />

Mensch-Relation liebt entwe<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gott Israels namens JHWH einen Menschen<br />

o<strong>der</strong> eine Menschengruppe, vornehmlich das Volk Israel; umgekehrt liebt ein einzelner<br />

Mensch o<strong>der</strong> die besagte Gruppe diesen Gott. Für die Mensch-Mensch-Relation<br />

werden eine Vielzahl <strong>Liebe</strong>n<strong>der</strong> und somit auch eine Vielzahl höchst unterschiedlicher<br />

zwischenmenschlicher Verhältnisse auszumachen sein. Die Objekte<br />

o<strong>der</strong> Tätigkeiten, welche innerhalb <strong>der</strong> Gott-Objekt/Tätigkeit-Relation und <strong>der</strong><br />

Mensch-Objekt/Tätigkeit-Relation geliebt werden, sind ebenfalls höchst divers.<br />

Gemäß ihrer jeweils inhärenten Struktur sollte intuitiv nachvollziehbar sein, dass<br />

die <strong>Liebe</strong> in diesen beiden Relationen stets von Gott o<strong>der</strong> dem Menschen ausgeht,<br />

niemals jedoch vom Objekt o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Tätigkeit. Die jeweilige charakterliche Art<br />

und Weise wie <strong>der</strong> Begriff, die Tätigkeit und das Thema <strong>Liebe</strong> gebraucht werden,<br />

wird nebenher konsequent aufgeführt.<br />

1. Quantitative Betrachtungsweise<br />

Rein quantitativ gesehen, sind diese oben angeführten sechs Begriffe, welche von<br />

<strong>der</strong> hebräischen Wortwurzel ʾhb abgeleitet werden, sehr unterschiedlich zu gewichten.<br />

So stellt das Verb „lieben“ (ʾhb) mit einhun<strong>der</strong>tzweiundvierzig von insgesamt<br />

zweihun<strong>der</strong>tzweiundfünfzig Belegen von Derivaten <strong>der</strong> Wortwurzel ʾhb<br />

den mit Abstand größten Teil aller Belege dieser Wortwurzel dar. Auf das Verb<br />

„lieben“ folgen quantitativ das feminine Abstraktum „<strong>Liebe</strong>“ (ʾahaḇāh) mit dreiundfünfzig,<br />

<strong>der</strong> „<strong>Liebe</strong>nde“ (ʾoheḇ) mit sechsunddreißig und <strong>der</strong> „Liebhaber“<br />

(mǝʾaheḇ) mit sechzehn Belegen. Der Begriff „Liebschaft“ (ʾahaḇ/ʾohaḇ) kommt<br />

lediglich viermal vor und „liebenswürdig“ (næʾæhāḇ) sogar nur ein einziges Mal<br />

in <strong>der</strong> gesamten hebräischen Bibel.<br />

Bleiben wir bei <strong>der</strong> quantitativen Betrachtung, so fällt des Weiteren auf, dass<br />

im Vergleich mit den übrigen beiden Teilen <strong>der</strong> hebräischen Bibel, sprich Propheten<br />

(Nǝḇīʾīm) und Schriften (Kǝtūḇīm), <strong>der</strong> Begriff und das Thema <strong>Liebe</strong>, sowie<br />

die Tätigkeit des <strong>Liebe</strong>ns vergleichsweise selten vorkommen, denn nur 16,67 Prozent<br />

aller Derivate von ʾhb bzw. zweiundvierzig an <strong>der</strong> Zahl entfallen auf die<br />

Tōrāh. In den Teilen <strong>der</strong> Tōrāh, welche sich primär mit den Ge- und Verboten befassen,<br />

sprich mit den in <strong>der</strong> späteren rabbinischen Tradition sogenannten sechshun<strong>der</strong>tdreizehn<br />

Miṣwōt, nämlich die Bücher Exodus, Levitikus und Numeri, kommen<br />

nur insgesamt vier Derivate von ʾhb vor. Von diesen entfallen drei auf das


16<br />

André Zempelburg<br />

Verb „lieben“ (Ex 21,5; Lev 19,18.34) und eines auf „<strong>Liebe</strong>n<strong>der</strong>“ (Ex 20,6). In Numeri<br />

kommt überhaupt kein Derivat von ʾhb vor. Die Majorität aller Derivate von<br />

ʾhb in <strong>der</strong> Tōrāh entfallen folglich auf die Bücher Genesis, fünfzehn Belege, und<br />

Deuteronomium, dreiundzwanzig Belege. <strong>Liebe</strong> scheint folglich kein prioritäres<br />

Thema in <strong>der</strong> kultischen und rechtlichen Weisung des Alten Israel gewesen zu<br />

sein.<br />

Der zweite und deutlich umfangreichste Teil <strong>der</strong> hebräischen Bibel, die Propheten<br />

(Nǝḇīʾīm), liegt was die Anzahl an Belegen von ʾhb anbelangt auf Platz<br />

zwei. So entfallen 36,90 Prozent aller Derivate von ʾhb bzw. in Zahlen ausgedrückt<br />

dreiundneunzig auf den Prophetenkorpus. Vergleichsweise viele Belege, nämlich<br />

neunzehn an <strong>der</strong> Zahl entfallen auf das eher kurze Buch Hosea, dreizehn auf Jeremia,<br />

elf auf das 1. Buch Samuel, zehn auf das 2. Buch Samuel und ebenso viele auf<br />

Jesaja, sieben auf Ezechiel, fünf auf das 1. Buch <strong>der</strong> Könige, jeweils vier auf Richter<br />

und Maleachi, drei auf Sacharja, zwei auf Josua, Amos und Micha und ein Beleg<br />

auf Zephania. Folglich weisen das 2. Buch <strong>der</strong> Könige, Joel, Obadja, Jona, Nahum,<br />

Habakuk und Haggai überhaupt keine Derivate von ʾhb auf.<br />

Der letzte Teil <strong>der</strong> hebräischen Bibel, sprich die Schriften (Kǝtūḇīm) weisen<br />

mit 46,43 Prozent die mit klarem Abstand meisten Derivate von ʾhb auf. Hier stechen<br />

vor allem das ohnehin vergleichsweise lange Buch <strong>der</strong> Psalmen mit einundvierzig<br />

und das Buch <strong>der</strong> Sprüche mit fünfunddreißig Belegen heraus. Das so häufig<br />

mit dem Thema <strong>Liebe</strong> assoziierte Hohelied (Šīr haš-Šīrīm) enthält achtzehn<br />

Belege, Kohelet und das 2. Buch <strong>der</strong> Chronik jeweils sechs, Ester vier, das Klagelied<br />

und Nehemia zwei, die Bücher Hiob, Rut und Daniel enthalten jeweils einen<br />

Beleg, Esra und das 1. Buch <strong>der</strong> Chronik hingegen gar keinen.<br />

2. <strong>Liebe</strong>n und <strong>Liebe</strong> in Relationen<br />

Gemäß dem hier verfolgten Ansatz treten <strong>der</strong> Begriff, die Tätigkeit sowie das<br />

Thema <strong>Liebe</strong> im Allgemeinen in vier Relationen auf. Diese werden hier als Gott-<br />

Mensch-Relation, Mensch-Mensch-Relation, Gott-Objekt/Tätigkeit-Relation und<br />

Mensch-Objekt/Tätigkeit-Relation bezeichnet. Da <strong>Liebe</strong> o<strong>der</strong> lieben auf Tätigkeiten<br />

bezogen in gewisser Weise einen Objektcharakter hat, wurde sich in den letzten<br />

beiden Fällen dafür entschieden, Objekt und Tätigkeit zusammenzulegen –<br />

von sechs anstelle von vier Kategorien auszugehen, wäre allerdings ebenso plausibel.<br />

Zu bemerken sei außerdem, dass gemäß <strong>der</strong> hier erfolgten Interpretation<br />

bzw. Zuordnung nicht alle sechs Derivationen von ʾhb in <strong>der</strong> hebräischen Bibel<br />

auch in allen vier Relationen vorkommen. Vielmehr entfallen nur Belege von „lieben“<br />

(ʾhb) und „<strong>Liebe</strong>“ (ʾahaḇāh) auf die vier Relationen. Dies bedeutet wie<strong>der</strong>um,<br />

dass für „<strong>Liebe</strong>n<strong>der</strong>“ (ʾoheḇ) nur die Relationen Gott-Mensch, Mensch-Mensch und<br />

Mensch-Objekt/Tätigkeit belegbar sind. Die Belege für die Derivationen „Liebschaft“<br />

(ʾahaḇ/ʾohaḇ), „Liebhaber“ (mǝʾaheḇ) und „liebenswürdig“ (næʾæhāḇ)<br />

kommen jeweils sogar nur in einer einzigen Relation vor, nämlich in <strong>der</strong> Mensch-


Relationale <strong>Liebe</strong> 17<br />

Mensch-Relation. Es mag daher auch nicht weiter verwun<strong>der</strong>n, dass die meisten<br />

Derivate von ʾhb, nämlich einhun<strong>der</strong>tsieben an <strong>der</strong> Zahl, auf die Mensch-Mensch-<br />

Relation entfallen. Zweiundsiebzig entfallen auf die Mensch-Objekt/Tätigkeit-Relation,<br />

dreiundsechzig auf die Gott-Mensch-Relation und lediglich zehn auf die<br />

Gott-Objekt/Tätigkeit-Relation.<br />

2.1 <strong>Liebe</strong>n (ʾhb)<br />

2.1.1 <strong>Liebe</strong>n in <strong>der</strong> Gott-Mensch-Relation<br />

2.1.1.1 <strong>Liebe</strong>n in <strong>der</strong> Gott-Mensch-Relation in <strong>der</strong> Tōrāh<br />

Die Tätigkeit des <strong>Liebe</strong>ns innerhalb <strong>der</strong> Gott-Mensch-Relation reduziert sich in <strong>der</strong><br />

Tōrāh vollständig auf das Deuteronomium. Insgesamt handelt es sich um sieben<br />

Belegstellen. Zu beinahe gleichen Teilen liebt entwe<strong>der</strong> Gott bestimmte Menschen<br />

o<strong>der</strong> Menschengruppen o<strong>der</strong> vice versa. Im ersten Fall, nämlich dass Gott Menschen<br />

o<strong>der</strong> Menschengruppen liebt, sind dies die Väter (Dtn 4,37), einzelne Israeliten,<br />

entwe<strong>der</strong> aufgrund <strong>der</strong> Befolgung <strong>der</strong> Rechtsbestimmungen ( !"#$%&<br />

; Dtn<br />

7,12f.) o<strong>der</strong> schlicht grundlos (Dtn 23,6) und <strong>der</strong> Fremde (Dtn 10,18), was sich an<br />

dem zeigt, was diesem zu eigen wird.<br />

Gott liebt folglich einen mehr o<strong>der</strong> weniger bestimmten Menschen aufgrund<br />

existenter kausaler Strukturen. Entwe<strong>der</strong> weil dieser Mensch in einer genealogischen<br />

Folge mit an<strong>der</strong>en Menschen steht, die Gott – warum auch immer – liebte<br />

o<strong>der</strong> weil die zuvor von Gott gegebene Weisung bzw. Satzung durch diesen Menschen<br />

erfüllt wurde. Während <strong>der</strong> Mensch, hier konkret <strong>der</strong> Israelit, sich nicht<br />

aussuchen kann in welche Familie er geboren wird und somit sozusagen <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong><br />

Gottes nur passiv teilhaftig werden kann, ist er im zweiten Fall sehr wohl am Teilhaftigwerden<br />

<strong>der</strong> göttlichen <strong>Liebe</strong> beteiligt. Die göttliche <strong>Liebe</strong> ist hier folglich zu<br />

einem nicht unerheblichen Teil Belohnung menschlicher Aktivität, allerdings<br />

nicht in einem autonomen bzw. frei-willigen Sinne, son<strong>der</strong>n im Sinne eines gewissenhaften<br />

Befolgens göttlicher Weisung und somit göttlichen Willens.<br />

Die <strong>Liebe</strong> des Menschen zu Gott ist im Deuteronomium entwe<strong>der</strong> als Anweisung<br />

zu verstehen, so nämlich als Nachsatz zum Šǝmaʿ Jiśrāʾēl (s. Dtn 6,4) in Dtn<br />

6,5: „und du sollst lieben den JHWH, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen und<br />

mit deinem ganzen Lebendigen 4 und mit deinem ganzen Vermögen“ (<br />

Men- ); und in Dtn 11,1 o<strong>der</strong> als an den ַ בתְּ‏ ָ<br />

schen implizit gestellte Erwartung, <strong>der</strong>en Erfüllung sich JHWH bzw. Gott aufgrund<br />

von Prüfungen vergewissern wird.<br />

‏ְמ־לָכְ‏ בוּ<br />

לָכְבּ ־ ‎3‎‏ְבְָב נ־לָכְ‏ בוּ<br />

אָהְו תֵא הוָהְי יֶה:ֱא ‎3‎‏ְשְׁפַ‏ 3<br />

4<br />

Der hier gebrauchte hebräische Term næfæš ( '#" ) wird häufig mit Seele übertragen.<br />

Die damit einhergehenden Implikationen werden hier allerdings nicht mitgetragen und somit<br />

auf die Übersetzung von næfæš mit Seele verzichtet.


18<br />

André Zempelburg<br />

2.1.1.2 <strong>Liebe</strong>n in <strong>der</strong> Gott-Mensch-Relation in den Propheten<br />

In den prophetischen Schriften <strong>der</strong> hebräischen Bibel, sprich in den Nǝḇīʾīm ist<br />

es nahezu in allen Fällen Gott, welcher liebt (ʾhb). Lediglich in 1Kön 3,3 ist ein<br />

Mensch <strong>der</strong>jenige, welcher liebt und zwar <strong>der</strong> israelitische König Salomo. Interessanterweise<br />

drückt sich Salomos <strong>Liebe</strong> zu JHWH im Halten <strong>der</strong> Satzungen ( ()*+ )<br />

seines Vaters David aus.<br />

Auch in den Propheten vermag es JHWH diverse Menschen zu lieben, nämlich<br />

den Jakob (Mal 1,2), bedingungslos den Salomo (2Sam 12,24), 5 die Israeliten in<br />

Hos 14,5 und Mal 1,2 – diese hinterfragen sogar die Art göttlicher <strong>Liebe</strong> – und<br />

ebenso den in Jes 43,4 adressierten Israeliten. Allerdings erscheint hier Gottes<br />

<strong>Liebe</strong> als Bedingung für seine nachfolgende Fürsorge, welche die stellvertretende<br />

Hingabe an<strong>der</strong>er Menschen meint, sprich (ungeliebte) Menschen für (geliebte)<br />

Menschen gibt. In Jer 31,3 folgt dem <strong>Liebe</strong>szuspruch das Versprechen um Fürsorge<br />

und Hilfe. Die Rettung aus Ägypten ist gemäß Hos 11,1 ebenfalls die Folge<br />

göttlicher <strong>Liebe</strong>. JHWH liebt auch den persischen König Kyros, <strong>der</strong> deshalb zu großer<br />

Eroberung befähigt sein wird (Jes 48,14).<br />

2.1.1.3 <strong>Liebe</strong>n in <strong>der</strong> Gott-Mensch-Relation in den Schriften<br />

Innerhalb <strong>der</strong> sogenannten Schriften (Kǝtūḇīm), finden sich die Belege für die Tätigkeit<br />

des <strong>Liebe</strong>ns primär in den Pslamen und den Sprüchen, nämlich acht von<br />

neun und einem weiteren in Nehemia. In wie<strong>der</strong>um sechs dieser neun Belege ist<br />

es Gott/JHWH, <strong>der</strong> liebt und zwar entwe<strong>der</strong> bestimmte Personen wie Jakob (Ps<br />

47,5) und Salomo (Neh 13,26), <strong>der</strong> aus diesem Grunde König wird. Gott liebt aber<br />

auch nicht näher bestimmte Personen (Spr 3,12), die deshalb von JHWH gezüchtigt<br />

werden o<strong>der</strong> Menschen, welche sich durch bestimmte Attribute auszeichnen.<br />

So zum einen die Gerechten (Ps 146,8) o<strong>der</strong> jene, welche Gerechtigkeit verfolgen<br />

(Spr 15,9). Eine Beson<strong>der</strong>heit stellt Spr 8,17 dar. Dort ist es nämlich die göttliche<br />

5<br />

Spätestens mit Leonard Cohens weltberühmten Stück „Hallelujah“ gilt die <strong>Liebe</strong> König<br />

Davids zu Batseba, <strong>der</strong> Frau des Hetithers Uria, als eine kulturhistorische Gegebenheit,<br />

doch erwähnt die hebräische Bibel zu keinem Zeitpunkt ein <strong>Liebe</strong>n Davids bezogen auf<br />

Batseba o<strong>der</strong> vice versa. Tatsächlich aber sah David Batseba sich auf ihrem Dach waschen<br />

und war von ihrer Schönheit überwältigt (2Sam 11,2; vgl. Leonard Cohen, Hallelujah: „Well,<br />

your faith was strong but you needed proof / You saw her bathing on the roof / Her beauty<br />

and the moonlight overthrew ya“). In <strong>der</strong> Abwesenheit ihres Mannes, legte sich David zu<br />

ihr und schwängerte sie (2Sam 11,4f.) und nahm sie nach Urias Tod, den er gemäß biblischer<br />

Darstellung auf perfide Weise intendiert hat (2Sam 11,15; 12,9), in sein Haus auf<br />

(2Sam 11,27). Nachdem dieses Kind verstorben war, tröstete David Batseba und legt sich<br />

erneut zu ihr und sie gebar ihm den Salomo (2Sam 12,24). Wie bereits erwähnt, wird zu<br />

keinem Zeitpunkt ein <strong>Liebe</strong>n Davids, welches sich auf Batseba als Objekt seiner <strong>Liebe</strong> bezieht<br />

o<strong>der</strong> umgekehrt, erwähnt. Daher wirkt die Beziehung zwischen beiden nicht nur vollkommen<br />

einseitig, da Batseba stets den passiven Teil dieser Beziehung darstellt, son<strong>der</strong>n<br />

auch vollständig auf die physisch-sexuelle Ebene menschlichen Daseins reduziert. Das einzige<br />

in diesem Kontext liebende Subjekt ist JHWH. Und dieser liebt nur eine Person, nämlich<br />

das neugeborene Kind –Salomo.


Relationale <strong>Liebe</strong> 19<br />

Weisheit, welche Menschen liebt und zwar all jene, die wie<strong>der</strong>um Gott lieben.<br />

Folglich hängt hier die <strong>Liebe</strong> <strong>der</strong> göttlichen Weisheit von <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> des jeweils<br />

Einzelnen zu eben dieser göttlichen Weisheit ab.<br />

Damit ist auch schon eine von insgesamt drei Belegstellen für menschliche<br />

<strong>Liebe</strong> zu Gott bzw. <strong>der</strong> göttlichen Weisheit in den Kǝtūḇīm benannt (Spr 8,17). Die<br />

übrigen beiden befinden sich in Ps 31,24 und Ps 116,1. Im Falle von Ps 31,24<br />

handelt es sich um eine an die Frommen JHWHs adressierte Auffor<strong>der</strong>ung und in<br />

Ps 116,1 resultiert die <strong>Liebe</strong> des Sprechers aus <strong>der</strong> Erkenntnis, dass JHWH des<br />

Sprechers Stimme und sein Flehen hört.<br />

2.1.2 <strong>Liebe</strong>n in <strong>der</strong> Mensch-Mensch-Relation<br />

2.1.2.1 <strong>Liebe</strong>n in <strong>der</strong> Mensch-Mensch-Relation in <strong>der</strong> Tōrāh<br />

Bei genauer Betrachtung <strong>der</strong> Mensch-Mensch-Relation im ersten Teil <strong>der</strong> hebräischen<br />

Bibel fällt sofort auf, dass von den neunzehn Belegen für die Wortwurzel<br />

ʾhb dreizehn auf familiäre Relationen entfallen, was nicht wirklich verwun<strong>der</strong>n<br />

muss, da wie<strong>der</strong>um die meisten von ihnen in die Stammvätergeschichten gehören.<br />

Eine dieser Relationen ist die zwischen Mutter und Sohn, nämlich Rebekka, welche<br />

ihren jüngsten Sohn Jakob liebt (Gen 25,28) und eine an<strong>der</strong>e, diejenige zwischen<br />

Vater und Sohn. In allen vier Vater-Sohn-Relationen ist es stets <strong>der</strong> Vater,<br />

<strong>der</strong> liebt. Dazu gehört das in Gen 22,2 als exklusiv deklarierte <strong>Liebe</strong>n Abrahams<br />

von seinem Sohn Isaak („nimm doch deinen Sohn, deinen einzigen, welchen du<br />

liebst, den Isaak“/<br />

) <strong>der</strong> de facto nicht ‎3‎‏ְִנ<br />

<strong>der</strong> einzige Sohn Abrahams war. In <strong>der</strong> zweiten Generation nach Abraham findet<br />

sich ein ähnliches Phänomen, allerdings geht es diesmal nicht um exklusive <strong>Liebe</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n um eine hierarchisch o<strong>der</strong> quantitativ geordnete <strong>Liebe</strong>. So liebt gemäß<br />

Gen 37,3.4 Jakob bzw. Israel seinen Sohn Josef mehr als die übrigen Söhne<br />

וֹתֹא ( begannen ), welche diesen deshalb zu hassen ויָנָ‏<br />

). In Gen 44,20 ist es nun Benjamin, <strong>der</strong> von seinem Vater geliebt wird.<br />

Noch häufiger als in <strong>der</strong> Vater-Sohn-Relation kommt die Wurzel ʾhb in Relation<br />

zwischen Eheleuten vor. So liebt <strong>der</strong> zweite Stammvater Isaak seine Frau Rebekka<br />

(Gen 24,67). Auch <strong>der</strong> dritte Stammvater Jakob liebt seine zweite Frau Rahel<br />

(Gen 29,18) sowie seine erste Frau Lea, jene allerdings mehr als diese (Gen<br />

). Dies entspricht strukturell sowie sprachlich dem בֶיַּו אֱ‏ הַ‏<br />

bereits oben angeführten Phänomen, geht <strong>der</strong> Vater-Sohn-Hierarchisierung aber<br />

aufgrund <strong>der</strong> hebräisch-biblischen Chronologie voraus. Somit spiegelt die hierarchisierte<br />

bzw. quantitativ geordnete <strong>Liebe</strong> Jakobs gegenüber seinen Söhnen die<br />

ebenso hierarchisierte bzw. quantitativ geordnete <strong>Liebe</strong> zu seinen Frauen, sprich<br />

zu den Müttern seiner Söhne. O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s ausgedrückt, liebt er die Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong>jenigen<br />

Frau mehr, die er ebenso mehr liebt als die an<strong>der</strong>e. Die Hierarchisierung<br />

von Jakobs <strong>Liebe</strong> scheint dazu zu führen, dass Lea sich letztlich gar nicht geliebt<br />

fühlt und daher erwartet, dass Jakob sie nun nach <strong>der</strong> Geburt ihres gemeinsamen<br />

ersten Kindes (überhaupt erstmal) lieben wird (Gen 29,32). Als rechtliche Antwort<br />

בֶּא ת ־ ־יֶא ת יְִֽח ‏ְד 3 הַבְתֶָּשֲׁא ר ־ אָ ־יֶא ת קָחְִצ ח־נַק ‏ָא<br />

( ־יוֹסֵףֶא<br />

ל בָּכִּמ ־ ת אָהֵאָרְשִׂיְו בַל וּ<br />

נְאִיַּו שְׂ‏ ַ ם־אֶת־רָחֵלַגּ אָ הֵלִּמ ;29,30


Zum philosophischen<br />

<strong>Liebe</strong>sverständnis


Martin F. Meyer<br />

Die Attraktivität des Guten<br />

Cicero über die Freundschaft<br />

Marcus Tullius Cicero trat als philosophischer Autor erst spät in Erscheinung. Im<br />

Alter von fünfundfünfzig verfaßte er erste Werke zur politischen Wissenschaft. In<br />

den drei letzten Lebensjahren schrieb er annährend dreißig (antike) Bücher zu<br />

fast allen Hauptthemen <strong>der</strong> damaligen Philosophie. Sein kleiner Dialog Laelius de<br />

amicitia entstand Wochen nach Cäsars Tod im Frühling des Jahres 44 v. Chr. Er<br />

zählt, wie die vorangegangen Schriften De finibus bonorum et malorum, die Dispuationes<br />

Tusculanae, Cato de senectute und die dann folgende Schrift De officiis,<br />

zu Ciceros ethischen Werken. Als Philosoph war Cicero ganz von den Griechen<br />

geprägt. Selbstbewußt (aber durchaus treffend) schreibt er, niemand habe die Römer<br />

umfassen<strong>der</strong> mit griechischer Philosophie vertraut gemacht als er selbst. Im<br />

griechischen Denken war die Freundschaft (φιλία) ein wichtiges Thema. Für Platon,<br />

Aristoteles, Epikur und die Stoiker stand fest, daß die Philia ein unabdingbarer<br />

Teil des guten Lebens ist. Platon widmet ihr den Frühdialog Lysis. Aristoteles<br />

behandelt die Philia in den Büchern VIII & IX <strong>der</strong> Nikomachischen Ethik, im VII.<br />

Buch <strong>der</strong> Eudemischen Ethik und in Rhetorik II 4 in <strong>der</strong> Emotionslehre. Der Begriff<br />

Freundschaft war im Altertum weit gefaßt. Seit <strong>der</strong> Geburt <strong>der</strong> Polisdemokratie im<br />

5. Jh. v. Chr. meinte Philia die Zugehörigkeit zu politischen Bündnissen und Seilschaften;<br />

nicht zuletzt auch intim erotische Beziehungen. Zum römischen Verständnis<br />

<strong>der</strong> amicitia bemerkt Marion Giebel: »Wer in Rom von Freundschaft<br />

spricht, meint primär nicht die gefühlsbestimmte Bindung zweier Menschen; amicitiae<br />

sind vielmehr die üblichen Zweckbündnisse, wie sie von den Angehörigen<br />

<strong>der</strong> Oberschicht geschlossen werden, um im politischen Leben voranzukommen,<br />

Unterstützung zu gewinnen bei Wahlen, vor Gericht bei Ämtern in den Provinzen.<br />

Auch Cicero war auf solche Bündnisse angewiesen«. 1 Von solch »vulgär mediokriter«<br />

Freundschaft will Cicero aber nicht reden. Das Thema seines Laelius ist die<br />

»wahre und vollkommene Freundschaft <strong>der</strong> Tugendhaften, die nur wenige pflegen«<br />

(Lael. 22). Dies ist schon in <strong>der</strong> äußeren Anlage des Dialogs ersichtlich. Cicero<br />

widmet ihn seinem Freund Atticus (»auf Deinen Wunsch hin«). Sprach im<br />

Cato <strong>der</strong> »Alte über das Alter«, so spricht im Laelius <strong>der</strong> »Freund zum Freund«. Das<br />

1<br />

Vgl. Giebel 2015, 157; so ebenfalls ausführlich Spielvogel 1993.


72<br />

Martin F. Meyer<br />

fiktive Datum des Laelius ist das Jahr 129 – das Todesjahr von Scipio Africanus d.<br />

J. Im selben Jahr spielt auch Ciceros politisches Hauptwerk De re publica (hier war<br />

Scipio 2 die Hauptfigur). Laelius und Scipio waren lebenslang engbefreundet. Laelius<br />

ist vom Verlust des amicus tiefbetroffen. Seine Mitunterredner sind die<br />

Schwiegersöhne Mucius Scaevola und Gaius Fannius. (Auch sie begegnen in De<br />

re publica. Im Laelius dominieren also wie<strong>der</strong> die Mitglie<strong>der</strong> des sog. Scipionenkreises).<br />

Erzählt wird das Gespräch von Ciceros erstem Lehrer, dem Rechtsgelehrten<br />

und Auguren Quintus Mucius Scaevola. Scaevola bildet gleichsam eine zeitliche<br />

Brücke von Laelius in Ciceros Gegenwart. Das Freundschaftsideal erfüllt die<br />

Erinnerung. Die Memoria verbindet die Generationen. Es ist ein literarischer<br />

Kunstgriff, daß Laelius an wichtigen Stellen Gespräche mit Scipio zur amicitia referiert.<br />

Diese inneren Dialoge ergänzen die Unterredung und würzen das abstrakte<br />

Thema durch konkrete Erfahrung. In formaler Hinsicht glie<strong>der</strong>t sich <strong>der</strong><br />

Dialog in zwei Teile: (a) Im Proömion schil<strong>der</strong>t Cicero die Szene (1-5). (b) Dann<br />

hält Laelius (von Fannius und Scaevola nur kurz unterbrochen) Reden zur Freundschaft<br />

(6-104). Das Gespräch beginnt mit Vorbemerkungen zur sapientia (6-15).<br />

Sie zeigen Laelius als vorbildlichen römischen Weisen, <strong>der</strong> das Ideal des stoischen<br />

Spoudaios noch übertrifft. Laelius erträgt die Wechselfälle des Schicksals und den<br />

Schmerz über Scipios Tod tugendhaft und würdig. Der Hauptteil <strong>der</strong> Unterredung<br />

widmet sich <strong>der</strong> amicitia (16-100). Eingeleitet wird er von einer Bitte des Fannius:<br />

Laelius bereite ihnen große Freude, »wenn du, wie du auch sonst bei Fragen, die<br />

dir vorgelegt werden, zu reden pflegst, einen Vortrag über die Freundschaft hieltest:<br />

über ihren Sinn, ihr Wesen, und welche Vorschriften (praecepta) du zu geben<br />

hast« (16). 3 Diese Bitte glie<strong>der</strong>t zugleich den Gedankengang. Nachstehend werden<br />

vier Aspekte hervorgehoben: (1) Grundsätze und Bestimmungen zur wahren<br />

Freundschaft; (2) Motive und Arten <strong>der</strong> amicitia; (3) Praecepta zur richtigen Freundeswahl,<br />

zu Erhaltung bzw. Beendigung von Freundschaft; (4) Anthropologische<br />

Klärung <strong>der</strong> Frage, warum <strong>der</strong> Mensch zur Freundschaft neigt.<br />

2<br />

Vgl. Büchner, 18: Scipio d. J. (185–129 v. Chr.) zerstörte Karthago. Bei Cicero spielt<br />

Scipio eine Schlüsselrolle in Roms historisch-kultureller Entwicklung. Mit ihm verbinden<br />

sich philosophische Einsicht und politische Macht: »es ist dieselbe lex naturae, die <strong>der</strong> Philosoph<br />

erkennt, <strong>der</strong> Staatsmann verwirklicht« (10). Scipio verkörpert das Selbstverständnis<br />

des neuen, an griechischer Kultur gebildeten Römers, <strong>der</strong> mit Denkern wie Panaitios und<br />

Polybios verkehrt, zu philologischen Fragen wie <strong>der</strong> nach dem historischen Sokrates Stellung<br />

bezieht, im Denken und im Handeln aber ein echter Römer geblieben ist.<br />

3<br />

Vgl. Cic. Lael. 16: [Fannius]: Istuc quidem, Laeli, ita necesse est. Sed quoniam amicitiae<br />

mentionem fecisti et sumus otiosi, pergratum mihi feceris, spero item Scaevolae, si quem ad<br />

modum soles de ceteris rebus, cum ex te quaeruntur, sic de amicitia disputaris, quid sentias,<br />

qualem existimes, quae praecepta des.


1. Grundsätze und Bestimmungen<br />

Die Attraktivität des Guten 73<br />

Die erste Kernthese des Laelius lautet: Freundschaft ist nur unter Guten möglich<br />

(18). Schon Platon 4 und Aristoteles 5 hielten diesen Grundsatz für unumstößlich.<br />

Wer aber sind diese »Guten«? Nach Laelius sind »die Guten« (boni) nicht eigentlich<br />

jene, »die diese Fragen scharfsinniger behandeln, was vielleicht richtig wäre, aber<br />

nicht recht für die Erfor<strong>der</strong>nisse des täglichen Lebens paßt […] Sie [die Stoiker] bestreiten,<br />

daß irgend jemand ein guter Mensch sein kann, <strong>der</strong> nicht zugleich weise ist«.<br />

Sie verstünden »unter Weisheit etwas, das bislang kein Sterblicher erreichte« (18).<br />

Das Ideal des stoischen Weisen tauge in praxi nicht: »Wir aber müssen das ins Auge<br />

fassen, was im Bereich <strong>der</strong> alltäglichen Lebenserfahrung liegt; nicht das, was man<br />

sich so zusammen reimt o<strong>der</strong> wünscht« (18). Der stoische Rigorismus scheint lebensfern<br />

und realitätsfremd. Römer wie Laelius wollten sich von den militärisch<br />

unterlegenen Griechen nicht vorschreiben lassen, wer als gut o<strong>der</strong> weise zu gelten<br />

habe. Im alltäglichen römischen Sprachgebrauch würden folgenden Personen als<br />

»gut« bezeichnet:<br />

»Leute, die im Leben eine solche Haltung zeigen, daß man ihre Treue, ihre Unbescholtenheit,<br />

ihren Gerechtigkeitssinn und ihre edle Gesinnung anerkennt, daß in ihnen<br />

kein Platz ist für Leidenschaft, Ausschweifung und Frechheit, und sie starke Charakterfestigkeit<br />

beweisen […], diese Leute wollen wir, wie sie schon seinerzeit allesamt<br />

für gute Männer gehalten wurden, auch für wirklich erachten und sie ›die Guten‹ nennen,<br />

weil sie, soweit Menschen fähig sind, <strong>der</strong> Natur als bester Führerin zu einem anständigen<br />

Leben zu folgen« (19). 6<br />

Einzig mit diesen Leuten sei echte Freundschaft möglich. Laelius spricht von <strong>der</strong><br />

amicitia als höchstem Gut. Die amicitia gründe in Sympathie und Zuneigung. Zugleich<br />

grenzt er sie ab von <strong>der</strong> Verwandtschaft. Unter Verwandten sei Sympathie<br />

und Zuneigung nicht zwingend. Die Sympathie festige jede menschliche Bindung.<br />

Sie sei aber nur begrenzt verfügbar und helfe nur für exklusive Bindungen. Natürlicherweise<br />

seien wir zwar allen Menschen zugeneigt. Dennoch aber pflegten<br />

4<br />

Vgl. Plat. Lys. 216c-218a, Phaedr. 255a-b, Gorg. 205a-208a, vgl. Bordt 1998; Ricken<br />

2009, 271.<br />

5<br />

Vgl. Arist. Ethic Nic. VIII 5; dazu auch Corcilius 2011, 225: »Für den Begriff <strong>der</strong> Freundschaft<br />

ist wichtig, dass Aristoteles die Freundschaft aus Tugend für die vollkommene (teleia)<br />

Form <strong>der</strong> Freundschaft hält. Die an<strong>der</strong>en Formen leitet er als unvollkommene Defektivformen<br />

von ihr ab«; weiterführend Annas 1977, Höffe 2005.<br />

6<br />

Vgl. Cic. Lael. 19: Qui ita se gerunt, ita vivunt ut eorum probetur fides, integritas,<br />

aequitas, liberalitas, nec sit in eis ulla cupiditas, libido, audacia, sintque magna constantia,<br />

ut ii fuerunt modo quos nominavi, hos viros bonos, ut habiti sunt, sic etiam appellandos putemus,<br />

quia sequantur, quantum homines possunt, naturam optimam bene vivendi ducem. Sic<br />

enim mihi perspicere videor, ita natos esse nos ut inter omnes esset societas quaedam, maior<br />

autem ut quisque proxime acce<strong>der</strong>et. Itaque cives potiores quam peregrini, propinqui quam<br />

alieni; cum his enim amicitiam natura ipsa peperit; sed ea non satis habet firmitatis.


74<br />

Martin F. Meyer<br />

wir nur einen engen Freundeskreis. Laelius bestimmt das Wesen <strong>der</strong> amicitia wie<br />

folgt:<br />

»Freundschaft ist nichts an<strong>der</strong>es als Übereinstimmung (consensio) in allen irdischen<br />

und überirdischen Dingen, verbunden mit Zuneigung und <strong>Liebe</strong> (cum benevolentia et<br />

caritate); im Vergleich zu ihr dürfte (abgesehen von <strong>der</strong> Weisheit) den Menschen von<br />

den unsterblichen Göttern wohl kaum ein schöneres Geschenk zuteil geworden sein«<br />

(20). 7<br />

Freundschaft basiert in rationaler Hinsicht auf einem Konsens (»Zusammensinn«)<br />

in wichtigen Fragen; in emotiver Hinsicht auf Wohlwollen und Zuneigung.<br />

Es gebe »unter keinen Umständen Freundschaft ohne Tugend« (20). Die amicitia<br />

inkludiere Güter wie Reichtum, Macht, Ehre und Ruhm. Sie sei lebensnotwendig<br />

wie das sprichwörtliche »Wasser und Feuer« (22). Laelius nennt Fälle spontaner<br />

Sympathie auch gegenüber völlig unbekannten Leuten. Sympathie erwachse<br />

durch die Vorstellung tugendhafter Personen. Der bloße Gedanke an unsympathische<br />

Leute evoziere dagegen oft Abneigung o<strong>der</strong> gar Haß. Cicero macht hier auf<br />

den wichtigen Umstand aufmerksam, daß (mo<strong>der</strong>n gesagt) mentale Repräsentationen<br />

Sympathie o<strong>der</strong> Antipathie erzeugen. Wie Platon und Aristoteles betont er<br />

das Moment <strong>der</strong> gegenseitigen Zuneigung. 8 Es sei absurd, leblosen Objekten Zuneigung<br />

zukommen zu lassen (49). Freundschaft ist eine reziproke Beziehung. Nichts<br />

strahle so viel Attraktivität aus wie die Harmonie im Wesen und Charakter zweier<br />

Freunde (50). Auch dies zeige: Die Guten schätzten nur Gutes. Die Guten verbinde<br />

das natürliche Band <strong>der</strong> Sympathie (benevolentia). Ohne Verbindungen, die in Zuneigung<br />

gründen, könnten häusliche Gemeinschaft, Ackerbau und Civitas nicht<br />

bestehen (23). Die amicitia lasse »Hoffnungen für Zukünftiges aufleuchten« (23).<br />

Laelius erinnert an einen »hochgebildeten Mann aus Agrigent« [Empedokles]. Sein<br />

»Seherwort« zitiert er in indirekter Rede: »Was es in <strong>der</strong> Natur und im ganzen Weltall<br />

an Festem und Bewegten gebe, werde durch Freundschaft zusammengehalten und<br />

durch Zwietracht getrennt« (24).<br />

7<br />

Vgl. Cic. Lael. 20: Est enim amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque<br />

rerum cum benevolentia et caritate consensio; qua quidem haud scio an excepta sapientia<br />

nihil melius homini sit a dis immortalibus datum.<br />

8<br />

Vgl. Plat. Lys. 212c; Arist. Ethic Nic. VIII 2. Aristoteles bestimmt die philia als gegenseitige<br />

Wohlgesinntheit (ε!νοια), die auch aktiv bekundet werden solle: »Man muß einan<strong>der</strong><br />

wohlgesinnt sein und das Gute wünschen, und zwar so, daß man dies voneinan <strong>der</strong><br />

weiß« (1156a3-5: δεῖ ἄρα εὐνοεῖν ἀλλήλοις καὶ βούλεσθαι τἀγαθὰ µὴ λανθάνοντας δι’ ἕν τι τῶν<br />

εἰρηµένων).


2. Motive und Arten <strong>der</strong> Freundschaft<br />

Die Attraktivität des Guten 75<br />

Wie schon bemerkt, war <strong>der</strong> Begriff »Freundschaft« in <strong>der</strong> Antike weit gefaßt.<br />

Auch politische Zweckbündnisse fielen darunter. Nach Ansicht <strong>der</strong> Epikureer erwuchs<br />

die philia dem Bedürfnis nach gegenseitigem Nutzen. Sie glich darin einem<br />

»Vertrag«. Lukrez (ein Verehrer Epikurs) schreibt in De rerum natura, solche Nutzenbündnisse<br />

(zu denen er auch die Nachbarschaft zählt) hätten <strong>der</strong> Menschheit<br />

zu großen Fortschritten verholfen. 9<br />

Es erstaunt daher nicht, wenn Laelius die<br />

wahre von <strong>der</strong> nutzenbasierten amicitia abgrenzt. Er nennt zwei Hauptmotive für<br />

Freundschaft: Erstens das Bedürfnis, wechselseitige Dienste zu verrichten o<strong>der</strong><br />

Leistung und Gegenleistung zu vergelten. Zweitens die tief in <strong>der</strong> »menschlichen<br />

Natur« verwurzelte <strong>Liebe</strong>. Zweifellos sei diese Freundschaft »ehrwürdiger«. Von<br />

»amor« leite sich das Wort »amicitia« ab (26). Laelius wi<strong>der</strong>spricht <strong>der</strong> These, die<br />

amicitia entspringe <strong>der</strong> Lust, dem Nutzen o<strong>der</strong> dem Wunsch nach Hilfe – sie sei<br />

ein Kind von Not und Bedürftigkeit. 10 Demnach wären die Hilfsbedürftigen zur<br />

Freundschaft am meisten fähig. Das Gegenteil sei wahr. Leute mit Selbstvertrauen<br />

neigten <strong>der</strong> amicitia am meisten zu. Aus <strong>der</strong> Freundschaft <strong>der</strong> Edlen erwachse<br />

beson<strong>der</strong>e Freigiebigkeit (51). Gegen die hedonistische Freundschaftsidee wendet<br />

er ein, ohne die amicitia gebe es we<strong>der</strong> Lust noch Annehmlichkeit. Er stützt dies<br />

auch auf einen Tier-Mensch-Vergleich. Auch bei Tieren gebe es eine uneigennützige<br />

<strong>Liebe</strong> <strong>der</strong> Eltern zu ihren Nachkommen; teils werde diese <strong>Liebe</strong> auch (uneigennützig)<br />

erwi<strong>der</strong>t (27). Beim Menschen sei dies noch offenkundiger. Beispielhaft<br />

nennt Laelius die enge <strong>Liebe</strong> von Eltern und Kin<strong>der</strong>n (sie könne »nur durch<br />

eine Unart zerstört« werden) und die freigewählte <strong>Liebe</strong>. Er denkt an Bindungen,<br />

die von Sympathie motiviert sind. Wie aber entsteht Sympathie? Laelius antwortet<br />

mit einem argumentum-a-fortiori: Wirke schon die anständige Gesinnung unbekannter<br />

Personen so stark, daß wir uns zu ihnen hingezogen fühlten, wie stark sei<br />

erst jene Attraktivität, die von Vertrauten ausgehe? (29). Die Attraktivität des Guten<br />

mache An<strong>der</strong>e für uns anziehend. Das Gute sei <strong>der</strong> Grund, daß wir Freundschaften<br />

beginnen. Mangelnde Tugend verhin<strong>der</strong>e, daß wir Freundschaft schließen<br />

und führe oft zu ihrem Ende. Der Nutzen sei also nicht Grund, son<strong>der</strong>n Folge<br />

<strong>der</strong> Freundschaft. Die Freundschaft werde wohl durch Leistung und Nutzen bestärkt.<br />

Träte dies zu <strong>der</strong> »anfänglich liebevollen Regung des Herzens hinzu, lo<strong>der</strong>e<br />

das Feuer <strong>der</strong> Sympathie empor« (29). Die amicitia entzündet sich an einem emotionalen<br />

Funken und brennt durch das Feuer weiterer Gaben. Laelius erinnert an<br />

9<br />

Vgl. Luc. V 1011-1457; dazu ausführlich: Manuwald 1980.<br />

10<br />

Vgl. Cic. Lael. 46 zu dieser (vermutlich kyrenaischen) Auffassung »An<strong>der</strong>e […] behaupteten<br />

noch viel unmenschlicher […] nicht um des Wohlwollens und <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>, son<strong>der</strong>n um<br />

des Schutzes und <strong>der</strong> Hilfe willen seien Freundschaften wünschenswert. Daher komme es,<br />

daß einer, je weniger Stärke und Kraft er besitze, sich desto eifriger um Freundschaften<br />

bewerbe. Dies sei <strong>der</strong> Grund, warum das weibliche Geschlecht mehr als das männliche den<br />

Schutz <strong>der</strong> Freundschaft suche, Unbemittelte mehr als Begüterte, Unglückliche mehr als<br />

Leute in glücklichen Umständen«.


76<br />

Martin F. Meyer<br />

Scipio: »Was meint ihr denn? Hat mich etwa [Scipio] Africanus gebraucht?« (30). Er<br />

selbst habe Scipio nicht wegen des Nutzens geliebt. Seine Zuneigung sei <strong>der</strong> Bewun<strong>der</strong>ung<br />

für Scipios Güte und Tugend geschuldet. Der gemeinsame Nutzen sei<br />

nur Folge und Surplus gewesen: »So ist nicht die amicitia ihrem Nutzen gefolgt, wohl<br />

aber hatte die amicitia auch Nutzen im Gefolge« (51). Die »uns angeborene (menschliche)<br />

Natur macht uns zur Güte (liberalitas) geneigt« (31). Die »Frucht <strong>der</strong> amicitia<br />

bestehe in <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> selbst« (fructus in ipso amore est) (31-32). Von jenen, die »alles<br />

an <strong>der</strong> Sinneslust messen«, sagt Laelius, sie seien unfähig, ihr Auge zu Höherem zu<br />

erheben. Von ihnen solle keine Rede sein (32). In <strong>der</strong> Tat nennt Laelius we<strong>der</strong><br />

Epikur noch einen seiner zahlreichen römischen Anhänger beim Namen. Gründete<br />

alle Freundschaft im Nutzen, so müßte sie enden, sobald <strong>der</strong> Nutzen eintrete.<br />

Das Leben selbst wi<strong>der</strong>lege das. Wahre Freundschaft sei dauerhaft, ja »geradezu<br />

ewig« (32). Laelius referiert die epikureische Auffassung wie folgt:<br />

Von einigen Leuten, die man, wie ich höre, in Griechenland für weise gehalten hat,<br />

sind seltsame Meinungen aufgestellt worden. […] So lehren sie zum Teil, man müsse<br />

sich vor zu engen Freundschaften hüten, damit nicht <strong>der</strong> einzelne nötig habe, sich um<br />

mehrere zu kümmern; je<strong>der</strong> habe mit sich selbst schon mehr als genug zu tun; sich zu<br />

sehr in fremde Angelegenheiten zu mischen, sei lästig; das Bequemste sei, den Zügel<br />

<strong>der</strong> Freundschaft so schlaff als möglich zu halten, um ihn nach Belieben anziehen o<strong>der</strong><br />

nachlassen zu können; denn das Haupterfor<strong>der</strong>nis zu einem glücklichen Leben sei die<br />

Sorgenfreiheit, <strong>der</strong>en Genuß dem Gemüt nicht zuteil werden könne, wenn einer für<br />

mehrere gleichsam Geburtswehen durchstehen müsse« (45). 11<br />

Die Philia ist also für die Epikureer ein »Mittel zum glücklichen Leben«; sie soll<br />

die angestrebte »Gemütsruhe/Ataraxia« aber nicht stören (Giebel 2014: 122, Anmerk.<br />

26). Laelius wi<strong>der</strong>spricht Epikurs Maxime, man solle ein »sorgenfreies Leben«<br />

führen. Es sei fahrlässig, keine ehrenhaften Pflichten und Ämter zu übernehmen<br />

(ein Vorgeschmack auf De officiis): »Will man Sorgen und Mühen meiden, muß<br />

man auch die Tugend meiden« (47). 12 Für Cicero ist Epikurs vita sine cura indiskutabel.<br />

Nach M. Giebel lehrten ebenfalls die Kyrenaiker, Freundschaft sei nur Mittel<br />

zum Zweck <strong>der</strong> Eudaimonia (ebd.). Laelius entgegnet dem mit einem enthusiastischen<br />

Lobpreis:<br />

11<br />

Vgl. Cic. Lael. 45: Nam quibusdam, quos audio sapientes habitos in Graecia, placuisse<br />

opinor mirabilia quaedam (sed nihil est quod illi non persequantur argutiis): partim fugiendas<br />

esse nimias amicitias, ne necesse sit unum sollicitum esse pro pluribus; satis superque esse<br />

sibi suarum cuique rerum, alienis nimis implicari molestum esse; commodissimum esse quam<br />

laxissimas habenas habere amicitiae, quas vel adducas, cum velis, vel remittas; caput enim<br />

esse ad beate vivendum securitatem, qua frui non possit animus, si tamquam parturiat unus<br />

pro pluribus.<br />

12<br />

Vgl. Cic. Lael. 47: Quod si curam fugimus, virtus fugienda est, quae necesse est cum aliqua<br />

cura res sibi contrarias aspernetur atque o<strong>der</strong>it, ut bonitas malitiam, temperantia libidinem,<br />

ignaviam fortitudo.


Die Attraktivität des Guten 77<br />

»Oh welch herrliche Weisheit! Die Sonne scheinen die aus <strong>der</strong> Welt hinweg zunehmen,<br />

die ihr die Freundschaft wegnehmen, das beste und lieblichste Geschenk, das wir den<br />

unsterblichen Göttern verdanken« (47). 13<br />

Die amicitia sei uns von den Göttern als höchstes Gut geliehen und stehe im Einklang<br />

mit <strong>der</strong> göttlichen Vernunft. Vermutlich inspiriert von Poseidonios führt Laelius<br />

die Freundschaft zurück auf die vernünftige Natur. Die Natur sei ihre<br />

»Quelle« (fons) (50). Nach stoischer Lehre soll <strong>der</strong> Mensch <strong>der</strong> kosmischen Vernunft<br />

folgen. Laelius unterstreicht seine Auffassung zur Entstehung <strong>der</strong> amicitia.<br />

Die Attraktivität des Guten sei <strong>der</strong> wahre Grund je<strong>der</strong> echten Freundschaft:<br />

»Freundschaft entsteht […], wenn irgendein Merkmal einer vorbildlichen Handlung<br />

hervorleuchtet, dem sich ein ähnliches Gemüt (animus simile) zuwenden und anschließen<br />

möchte, so muß, wenn das eintritt, auch liebende Zuneigung (amor) entstehen«<br />

(48). 14<br />

3. Vorschriften (praecepta)<br />

Wie Aristoteles in <strong>der</strong> Nikomachischen Ethik VIII & IX befaßt sich auch Ciceros<br />

Laelius über weite Strecken mit Ratschlägen und Vorschriften darüber, wie man<br />

Freundschaft schließt, wie sie sich festigen läßt, wie sich mit Krisen und Problemen<br />

umgehen läßt – aber auch, wann und in welcher Weise es geboten ist,<br />

Freundschaften zu beenden. In diesem Zusammenhang erinnert Laelius oft an<br />

seine Gespräche mit Scipio. Durch diesen Kunstgriff erhalten die praecepta die<br />

Weihe einer Autorität aus <strong>der</strong> Glanzzeit <strong>der</strong> römischen Republik. Mit Scipio,<br />

sagt Laelius, habe er erörtert, was echte Freundschaft sei – und wie sie sich dauerhaft<br />

stärken und festigen lasse (33). Im praktischen Leben erwüchsen <strong>der</strong><br />

amicitia viele Gefahren: Zwischenfälle, die für beide Amici nicht gleich för<strong>der</strong>lich<br />

seien, politische Differenzen, <strong>der</strong> stete Wandel des Charakters, mit dem Älterwerden<br />

verbundene Probleme, biographische Brüche, Konkurrenzen, Zumutungen,<br />

die man nicht an Freunde herantragen solle usw. Laelius wirft die<br />

Frage auf: Wie weit darf Freundschaft gehen, wenn ihr die Interessen des Gemeinwohls<br />

entgegenstehen? (36-37). Hier gelte die Maxime: »In <strong>der</strong> Freundschaft soll<br />

als unverbrüchliches Gesetz gelten, we<strong>der</strong> um etwas Unerlaubtes zu bitten, noch,<br />

wenn man darum gebeten wird, es zu tun« (40). Die amicitia fände ihre Grenze<br />

an Recht und Gesetz. »Es soll in <strong>der</strong> Freundschaft als unverbrüchliches Gesetz<br />

13<br />

Vgl. Cic. Lael. 47: O praeclaram sapientiam! Solem enim e mundo tollere videntur, qui<br />

amicitiam e vita tollunt, qua nihil a dis immortalibus melius habemus, nihil iucundius.<br />

14<br />

Vgl. Cic. Lael. 48: Cum autem contrahat amicitiam, ut supra dixi, si qua significatio virtutis<br />

eluceat, ad quam se similis animus applicet et adiungat, id cum contigit, amor exoriatur<br />

necesse est.


Zum christlichtheologischen<br />

<strong>Liebe</strong>sverständnis


Bruno Nie<strong>der</strong>bacher<br />

Ist Caritas eine Art Freundschaft?<br />

Die Sicht des Thomas von Aquin<br />

Caritas ist „eine Art Freundschaft des Menschen zu Gott, durch die <strong>der</strong> Mensch<br />

Gott liebt und Gott den Menschen.“ 1 So bestimmt Thomas von Aquin die christliche<br />

caritas bereits im Sentenzenkommentar. Später, in <strong>der</strong> Summa Theologiae,<br />

greift er noch stärker auf den Begriff <strong>der</strong> Freundschaft zurück, den er aus Aristoteles’<br />

Nikomachischer Ethik kennt und übernimmt. Freundschaft („philia“) ist<br />

nach Aristoteles eine Tugend o<strong>der</strong> mit Tugend verbunden. Damit edle Freundschaft<br />

vorliegt, müssen nach Aristoteles drei Bedingungen erfüllt sein: erstens<br />

müssen die Personen wohlwollend sein, d. h. sie müssen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Person um<br />

ihrer selbst willen Gutes wünschen, zweitens muss das Wohlwollen gegenseitig<br />

sein und schließlich darf das Wohlwollen den betroffenen Personen nicht verborgen<br />

sein. 2 Hinzu kommen einige Charakteristika <strong>der</strong> Freundschaft: dass Freunde<br />

zusammenleben wollen, dieselben Dinge wünschen und wählen, Leid und Freude<br />

miteinan<strong>der</strong> teilen. 3<br />

Christliche caritas als Freundschaft in diesem Sinn zu bestimmen ist jedoch<br />

gewagt. Wie aus den Eingangsargumenten im Sentenzenkommentar und in <strong>der</strong><br />

Summa Theologiae hervorgeht, sieht sich Thomas mit schwerwiegenden Einwänden<br />

konfrontiert. Die meisten dieser Einwände ergeben sich aus den aristotelischen<br />

Bestimmungen <strong>der</strong> Freundschaft selbst. So gehört gegenseitiges Wohlwollen<br />

zur Freundschaft. Aus christlicher caritas soll man aber auch Feinde lieben,<br />

1<br />

Thomas von Aquin, Scriptum super libros Sententiarum [= Super Sent] III, 27, 2, 1:<br />

„Sic ergo patet quod amicitia est perfectissimum inter ea quae ad amorem pertinent, omnia<br />

praedicta includens; unde in genere hujusmodi ponenda est caritas, quae est quaedam<br />

amicitia hominis ad Deum, per quam homo Deum diligit, et Deus hominem; et sic efficitur<br />

quaedam associatio hominis ad Deum […].“ Die Übersetzungen aus dem Lateinischen stammen<br />

von mir. Bei Übersetzungen aus <strong>der</strong> Summa Theologiae des Thomas von Aquin stütze<br />

ich mich auf: Thomas von Aquin, Die Deutsche Thomas-Ausgabe. Eine ausführliche Behandlung<br />

<strong>der</strong> caritas als Freundschaft im 12. und 13. Jhdt. bietet Egenter, Gottesfreundschaft.<br />

Zur Geschichte <strong>der</strong> Verwendung des Begriffs <strong>der</strong> Freundschaft bei <strong>der</strong> Deutung <strong>der</strong> christlichen<br />

<strong>Liebe</strong> siehe auch Carmichael, Friendship.<br />

2<br />

Siehe: Aristoteles, Nikomachische Ethik [= EN], 1155b27-1156a5.<br />

3<br />

EN 1166a1-9.


108<br />

Bruno Nie<strong>der</strong>bacher<br />

die, solange sie Feinde sind, das Wohlwollen nicht erwi<strong>der</strong>n. Ferner gehört es zur<br />

Freundschaft, dass das gegenseitige Wohlwollen den betroffenen Personen nicht<br />

verborgen ist. Nun ist es aber für die Menschen nicht sicher erkennbar, dass sie<br />

caritas haben. Und überhaupt meint Aristoteles, Freundschaft setze eine gewisse<br />

Gleichheit <strong>der</strong> Personen voraus. Welche Ungleichheit könnte aber größer sein als<br />

die zwischen dem unendlichen Schöpfer aller Dinge und dem endlichen Geschöpf<br />

Mensch? Caritas als Freundschaft mit Gott zu bestimmen erscheint daher als unangemessen.<br />

Im Folgenden werde ich Thomas’ Auffassung <strong>der</strong> caritas als eine Art Freundschaft<br />

näher erläutern, indem ich mich hauptsächlich auf die Ausführungen in <strong>der</strong><br />

Summa Theologiae beziehe. 4 Im Anschluss werde ich prüfen, ob Thomas die Ressourcen<br />

bereitstellt, die bereits genannten sowie weitere Einwände zu entkräften.<br />

Zunächst seien aber einige Vorbemerkungen zum Begriff <strong>der</strong> Tugend, zur <strong>Liebe</strong>s-<br />

Terminologie und zum Aufbau <strong>der</strong> Abhandlung über die caritas in <strong>der</strong> Summa<br />

Theologiae gestattet.<br />

1. Vorbemerkungen<br />

1.1 Tugenden und theologische Tugenden<br />

Die <strong>Liebe</strong> (caritas), von <strong>der</strong> hier die Rede ist, gehört mit dem Glauben (fides) und<br />

<strong>der</strong> Hoffnung (spes) zu den drei theologischen Tugenden. Was sind Tugenden und<br />

was sind theologische Tugenden? „Tugend“ hat im Deutschen manchmal einen<br />

etwas bie<strong>der</strong>en Beigeschmack. Im Griechischen und Lateinischen ist dies nicht so.<br />

Das griechische Wort „arete“ heißt wörtlich Bestheit, Exzellenz. Dabei wird dies<br />

im Griechischen nicht nur von Personen ausgesagt. Man kann auch von <strong>der</strong> arete<br />

eines Messers o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> arete <strong>der</strong> Augen sprechen. Ein Messer hat arete, wenn<br />

es hervorragend funktioniert, um sein Werk, das Schneiden, zu erfüllen. Augen<br />

haben arete, wenn sie hervorragend funktionieren, wenn man mit ihnen sehr klar<br />

sehen kann. Das entsprechende lateinische Wort „virtus“ bedeutet Kraft, Stärke,<br />

Fähigkeit. Eine Tugend ist, so die grundlegendste Bestimmung von Thomas, eine<br />

Vollendung eines Vermögens. 5<br />

Menschen haben zwei grundlegende Vermögen: das Vermögen zu erkennen<br />

und das Vermögen etwas anzustreben. Diese können besser o<strong>der</strong> schlechter für<br />

ihre Tätigkeiten disponiert sein. Das Disponiert-Sein von Vermögen wird „habitus“<br />

genannt. Ein guter habitus ist eine Tugend, ein schlechter habitus ein Laster.<br />

4<br />

Thomas beschäftigt sich mit <strong>der</strong> caritas hauptsächlich im Sentenzenkommentar, in <strong>der</strong><br />

Summa Theologiae [= ST) sowie in <strong>der</strong> Quaestio disputata de caritate [= QDC].<br />

5<br />

ST I-II, 55, 1: „Respondeo dicendum quod virtus nominat quandam potentiae perfectionem.“


Ist Caritas eine Art Freundschaft? 109<br />

Tugenden vollenden unsere Vermögen, sie sind Qualitäten dieser Vermögen, aufgrund<br />

<strong>der</strong>en sie hervorragend funktionieren.<br />

Kognitive Tugenden sind Vollendungen des Erkenntnisvermögens. Sie befähigen,<br />

verlässlich und auf gerechtfertigte Weise das Wahre zu treffen. Bekannte<br />

Tugenden des Erkenntnisvermögens sind z. B. die Fähigkeit zu verstehen (intellectus),<br />

die Fähigkeit gültige und stichhaltige Schlüsse zu ziehen (scientia), die Fähigkeit,<br />

die höchsten Ursachen und Gründe zu erfassen und daraus Schlüsse zu<br />

ziehen (sapientia), die Fähigkeit zu erfassen, was in einer Situation zu tun richtig<br />

ist (prudentia), die Fähigkeit, den nächsten Arbeitsschritt zur Herstellung einer<br />

Sache zu erkennen (ars).<br />

Ethische Tugenden sind Vollendungen des Strebevermögens. Sie befähigen,<br />

verlässlich und prompt richtige Entscheidungen zu treffen und mit Freude entsprechend<br />

gut zu handeln. Bekannte Tugenden des Strebevermögens sind z. B. die<br />

Fähigkeit, in Angstsituationen angemessen zu reagieren (fortitudo), die Fähigkeit,<br />

beim Essen, Trinken und Sex das rechte Maß zu finden (temperantia), die Fähigkeit,<br />

gerecht zu verteilen und auszugleichen (iustitia). Das menschlich erreichbare<br />

Glück besteht nach Aristoteles und Thomas in <strong>der</strong> Ausübung <strong>der</strong> ethischen Tugenden<br />

in Klugheit und in <strong>der</strong> Ausübung <strong>der</strong> Weisheit (sapientia). Diese Tugenden<br />

erwerben wir, indem wir üben und lernen.<br />

Für Thomas ist klar, dass das vollendete Glück auf dieser Erde, solange wir in<br />

via – auf dem irdischen Lebensweg – sind, nicht erreichbar ist. Als christlicher<br />

Theologe glaubt er an das vollendete Glück, das wir in patria – in <strong>der</strong> himmlischen<br />

Heimat – erreichen. Und dieses Glück besteht darin, dass wir Gott schauen und<br />

lieben. Nach diesem Glück sehnen wir uns, aber wir können es von uns aus nicht<br />

erreichen. Es übersteigt unsere natürlich erwerbbaren habitus. Unter den theologischen<br />

Tugenden versteht Thomas nun habitus, die uns von Gott geschenkt werden,<br />

um uns auf dieses übernatürliche Glück hin auszurichten. Sie werden theologisch<br />

genannt, „zum einen, weil sie Gott zum Gegenstand haben, insofern wir<br />

durch sie auf rechte Weise auf Gott hingeordnet werden; zweitens weil sie von<br />

Gott allein uns eingegossen werden; schließlich weil diese Tugenden allein durch<br />

göttliche Offenbarung in den Heiligen Schriften überliefert sind.“ 6 Die Tugend des<br />

Glaubens vollendet das Erkenntnisvermögen und befähigt uns, jenen heilsrelevanten<br />

Inhalten über Gott und Welt zuzustimmen, die uns we<strong>der</strong> von sich aus<br />

einleuchten noch im strikten Sinn beweisbar sind. Die Tugenden <strong>der</strong> Hoffnung<br />

und <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> vollenden unser Strebevermögen. Die Hoffnung befähigt uns, die<br />

Schau Gottes als ein Gut anzupeilen, das mit Gottes Hilfe erreichbar ist. Die <strong>Liebe</strong><br />

6<br />

ST I-II, 62, 1: „Et huiusmodi principia virtutes dicuntur theologicae, tum quia habent<br />

Deum pro obiecto, inquantum per eas recte ordinamur in Deum; tum quia a solo Deo nobis<br />

infunduntur; tum quia sola divina revelatione, in sacra Scriptura, huiusmodi virtutes<br />

traduntur.“


110<br />

Bruno Nie<strong>der</strong>bacher<br />

befähigt uns zu einer spirituellen Vereinigung mit Gott. 7 Mit diesen drei Tugenden<br />

beginnt nach Thomas das ewige Leben in uns, das wir in <strong>der</strong> himmlischen Heimat<br />

vollendet haben werden.<br />

1.2 <strong>Liebe</strong>s-Terminologie<br />

Thomas hat eine differenzierte <strong>Liebe</strong>s-Terminologie: 8<br />

1.2.1 „Amor“: Im engen Sinn meint er damit die Emotion (passio) <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>, des<br />

Gefallens, <strong>der</strong> Anziehung, <strong>der</strong> Zuneigung, die wir auch körperlich erleben, wenn<br />

wir etwas als ein Gut erfassen. Sie ist nach Thomas die Grundemotion. Emotionen<br />

sind Prozesse, die in unserem wahrnehmungsbezogenen Streben (appetitus sensitivus)<br />

ablaufen. „Amor“ verwendet Thomas aber auch in einem weiten Sinn als<br />

Überbegriff, wenn er z. B. vom „amor Dei“ 9 o<strong>der</strong> „amor amicitiae“ 10 spricht. Auch<br />

caritas fällt unter diesen weiten Begriff des amor. 11<br />

1.2.2 „Amicitia“: Dies ist <strong>der</strong> Terminus, mit dem das griechische Wort „philia“ aus<br />

<strong>der</strong> Nikomachischen Ethik wie<strong>der</strong>gegeben, und <strong>der</strong> im Deutschen mit „Freundschaft“<br />

übersetzt wird. Allerdings ist zu beachten, dass „philia“ einen weiteren<br />

Sinn als „Freundschaft“ hat, sodass man „philia“ mit „gute Beziehung“ wie<strong>der</strong>geben<br />

könnte. Auf den Begriff und die Arten <strong>der</strong> amicitia werde ich noch ausführlicher<br />

eingehen.<br />

1.2.3 „Caritas“: Damit meint Thomas die theologische Tugend <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>, den habitus,<br />

<strong>der</strong> eine Art Freundschaft („quaedam amicitia“) des Menschen zu Gott ist, den<br />

habitus, <strong>der</strong> unseren Willen auf Gott als letztes Ziel (das göttliche Gut, insofern es<br />

Gegenstand <strong>der</strong> Glückseligkeit ist) ausrichtet und uns mit ihm vereint. Mit „Wille“<br />

ist jenes Streben gemeint, das vernünftigen Überlegungen (appetitus rationalis)<br />

7<br />

In ST II-II, 23, 3, Sed contra, greift Thomas die Augustinische Bestimmung <strong>der</strong> caritas<br />

auf: „Caritas est virtus, quae, cum nostra rectissima affectio est, coniungit nos Deo, qua<br />

eum diligimus.“<br />

8<br />

Siehe etwa ST I-II (Anm. 5), 26, 3: „Respondeo dicendum quod quatuor nomina inveniuntur<br />

ad idem quodammodo pertinentia, scilicet amor, dilectio, caritas et amicitia. Differunt<br />

tamen in hoc, quod amicitia, secundum philosophum in VIII Ethic., est quasi habitus;<br />

amor autem et dilectio significantur per modum actus vel passionis; caritas autem utroque<br />

modo accipi potest. Differenter tamen significatur actus per ista tria. Nam amor communius<br />

est inter ea, omnis enim dilectio vel caritas est amor, sed non e converso. Addit enim dilectio<br />

supra amorem, electionem praecedentem, ut ipsum nomen sonat. Unde dilectio non est in<br />

concupiscibili, sed in voluntate tantum, et est in sola rationali natura. Caritas autem addit<br />

supra amorem, perfectionem quandam amoris, inquantum id quod amatur magni pretii aestimatur,<br />

ut ipsum nomen designat.“<br />

9<br />

ST I, 20.<br />

10<br />

ST I-II, 26, 4.<br />

11<br />

Siehe z. B.: ST II-II, 25, 2: „Respondeo dicendum quod caritas amor quidam est.“


Ist Caritas eine Art Freundschaft? 111<br />

folgt. Um keine Verwirrung anzurichten, werde ich das lateinische Wort „caritas“<br />

verwenden, um auf diese Art von <strong>Liebe</strong> Bezug zu nehmen.<br />

1.2.4 „Dilectio“: Damit meint Thomas die hauptsächliche Ausübung („actus“: Akt,<br />

Verwirklichung, Vollzug, Manifestation) <strong>der</strong> caritas. 12 Caritas ist <strong>der</strong> habitus, die<br />

Disposition, dilectio die hauptsächliche Verwirklichung dieser Disposition.<br />

Thomas benennt diese Verwirklichung auch oft mit dem Verb „amare“, lieben. Es<br />

ist ein Akt aus einer Entscheidung, nicht bloß aus einer Emotion heraus. 13 „Es sei<br />

also das <strong>Liebe</strong>n: für jemanden das zu wollen, was man für Güter hält […]“, schreibt<br />

Aristoteles in <strong>der</strong> Rhetorik. 14 Damit wird zwar nicht die gesamte Bedeutung von<br />

„dilectio“ ausgedrückt, wohl aber ein wesentlicher Teil. Das Gute, das wir für die<br />

an<strong>der</strong>e Person wollen, ist nach Thomas in erster Linie das ewige Glück. 15 Über das<br />

Wohlwollen hinaus impliziert dilectio auch das Wohltun, das sich in Werken <strong>der</strong><br />

Barmherzigkeit äußert, 16 sowie eine gewisse affektive Vereinigung (unionem affectus)<br />

mit <strong>der</strong> geliebten Person. 17<br />

1.3 Aufbau <strong>der</strong> Abhandlung über die caritas in <strong>der</strong> Summa Theologiae<br />

In <strong>der</strong> Summa Theologiae II-II werden zunächst <strong>der</strong> Reihe nach die drei theologischen<br />

Tugenden behandelt: <strong>der</strong> Glaube (q. 1-16), die Hoffnung (q. 17-22), schließlich<br />

die caritas (q. 23-46). Der Aufbau <strong>der</strong> drei Traktate ist immer ähnlich. Im Fall<br />

<strong>der</strong> caritas sieht er so aus:<br />

q. 23: Die caritas an sich (8 Artikel)<br />

q. 24: Die caritas hinsichtlich ihres Trägers (12 Artikel)<br />

q. 25: Der Gegenstand <strong>der</strong> caritas (12 Artikel)<br />

q. 26: Die Ordnung <strong>der</strong> caritas (13 Artikel)<br />

q. 27: Der hauptsächliche Akt <strong>der</strong> caritas: dilectio (8 Artikel)<br />

Die inneren Wirkungen <strong>der</strong> caritas<br />

q. 28: Die Freude (4 Artikel)<br />

q. 29: Der Friede, <strong>der</strong> die Einmütigkeit einschließt (4 Artikel)<br />

q. 30: Die Barmherzigkeit (4 Artikel)<br />

12<br />

ST II-II, 27.<br />

13<br />

Super Sent. III, 27, 2, 1. So wird auch verständlich, warum diese Art von <strong>Liebe</strong> geboten<br />

werden kann. Den Affekt <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> kann man nicht gebieten, weil man nicht unmittelbar<br />

Herr über die Affekte ist. Wohl aber kann man gebieten, jemandem wohlwollend zu begegnen.<br />

14<br />

Aristoteles, Rhetorik, 1380b35.<br />

15<br />

ST II-II, 26, 6.<br />

16<br />

ST II-II, 31 und 32.<br />

17<br />

ST II-II, 27, 2.


112<br />

Bruno Nie<strong>der</strong>bacher<br />

Die äußeren Wirkungen <strong>der</strong> caritas<br />

q. 31: Das Wohltun (4 Artikel)<br />

q. 32: Die Werke <strong>der</strong> Barmherzigkeit (10 Artikel)<br />

q. 33: Die brü<strong>der</strong>liche Zurechtweisung (8 Artikel)<br />

Die <strong>der</strong> caritas entgegengesetzten Laster, schlechten Akte, schlechten Wirkungen:<br />

q. 34: Der Hass, welcher <strong>der</strong> dilectio entgegengesetzt ist (6 Artikel)<br />

q. 35: Der Überdruss, welcher <strong>der</strong> Freude entgegengesetzt ist (4 Artikel)<br />

q. 36: Der Neid, <strong>der</strong> ebenfalls <strong>der</strong> Freude entgegengesetzt ist (4 Artikel)<br />

Die dem Frieden entgegengesetzten Laster, schlechten Akte, Wirkungen:<br />

q. 37 Zwietracht (2 Artikel)<br />

q. 38 Streit (2 Artikel)<br />

q. 39 Schisma (4 Artikel)<br />

q. 40 Krieg (4 Artikel)<br />

q. 41 Zank (2 Artikel)<br />

q. 42 Aufruhr (2 Artikel)<br />

Das dem Wohltun entgegengesetzte Laster:<br />

q. 43: Das Ärgernis (8 Artikel)<br />

Es folgt die Behandlung <strong>der</strong> Gebote <strong>der</strong> Gottes- und Nächstenliebe:<br />

q. 44: Die Gebote <strong>der</strong> caritas (8 Artikel)<br />

Abschließend wird die <strong>der</strong> caritas zugeordnete Gabe des Heiligen Geistes behandelt<br />

sowie das entgegengesetzte Laster:<br />

q. 45: Die Gabe <strong>der</strong> Weisheit (6 Artikel)<br />

q. 46: Das Laster <strong>der</strong> Torheit (3 Artikel)<br />

Man sieht, wie breit die Abhandlung aufgestellt ist und welche Fülle an Themen<br />

behandelt wird. Ich werde hier nur auf einen kleinen aber zentralen Aspekt eingehen:<br />

auf die Bestimmung <strong>der</strong> caritas als Freundschaft und die Plausibilität dieser<br />

Bestimmung.<br />

2. Caritas als Freundschaft in <strong>der</strong> Summa Theologiae<br />

Der Artikel in ST II-II, 23, 1 beginnt mit dem Satz: „Videtur quod caritas non sit<br />

amicitia“, zu Deutsch: „Es scheint, dass die <strong>Liebe</strong> nicht Freundschaft ist.“ Drei gewichtige<br />

Argumente werden für diese Meinung angeführt. Die Prämissen dieser<br />

Argumente stammen jeweils aus Aristoteles’ Nikomachischer Ethik.


Ist Caritas eine Art Freundschaft? 113<br />

Das erste Argument geht von <strong>der</strong> Eigenheit <strong>der</strong> Freundschaft aus, mit dem Freund<br />

zusammenzuleben: „Nichts ist für Freunde so typisch wie das Zusammenleben.“ 18<br />

Nun ist caritas <strong>Liebe</strong> des Menschen zu Gott und den Engeln. Diese pflegen jedoch<br />

mit den Menschen keinen Umgang, wie es in Dan 2, 11 heißt („Die Götter wohnen<br />

nicht bei den Sterblichen.“). Also ist caritas nicht Freundschaft.<br />

Das zweite Argument geht von einer Wesensbestimmung <strong>der</strong> Freundschaft<br />

aus: Freundschaft impliziert gegenseitiges <strong>Liebe</strong>n. Doch caritas gibt es auch den<br />

Feinden gegenüber. Also ist caritas nicht Freundschaft.<br />

Das dritte Argument verläuft nach einem Ausschließungsverfahren. Aristoteles<br />

unterscheidet drei Arten von Freundschaften: manche beruhen auf gegenseitiger<br />

Lust, manche auf gegenseitigem Nutzen, manche schließlich auf den ethischen<br />

Tugenden <strong>der</strong> Personen. Caritas passt aber unter keine dieser drei Arten. Sie beruht<br />

we<strong>der</strong> auf Nutzen, noch auf Lust, noch kann sie auf den ethischen Tugenden<br />

beruhen, denn aus caritas lieben wir auch lasterhafte Menschen: die Sün<strong>der</strong>. Also<br />

scheint <strong>der</strong> aristotelische Begriff <strong>der</strong> Freundschaft für die Bestimmung <strong>der</strong> caritas<br />

nicht zu passen.<br />

Im Sed-contra-Argument bringt Thomas ein Zitat aus dem Johannesevangelium:<br />

„Ich nenne euch nicht mehr Knechte, son<strong>der</strong>n meine Freunde.“ 19 Dieses Zitat<br />

steht ganz im Kontext <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>, <strong>der</strong> agape, <strong>der</strong> caritas („Bleibt in meiner <strong>Liebe</strong>“).<br />

„Ihr seid meine Freunde“ wurde ihnen nur aufgrund <strong>der</strong> caritas gesagt, so Thomas.<br />

Also sei caritas Freundschaft. Mit diesen Pro- und Contra-Eingangsargumenten ist<br />

die Frage- und Problemstellung nun klar umrissen.<br />

Im corpus articuli greift Thomas zunächst zwei Bestimmungen <strong>der</strong> Freundschaft<br />

auf, die nach Aristoteles wesentlich für sie sind: Erstens impliziert Freundschaft<br />

Wohlwollen. Durch diese Bestimmung scheiden bestimmte Arten <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong><br />

aus, z. B. die <strong>Liebe</strong> zum Wein o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Dingen. 20 Wir können zwar wollen,<br />

dass <strong>der</strong> Wein gut gelagert wird und so erhalten bleibt. Doch dies ist mit Wohlwollen<br />

nicht gemeint. Wohlzuwollen heißt, einer Person Gutes zu wünschen. Zweitens<br />

impliziert Freundschaft ein gewisses gegenseitiges <strong>Liebe</strong>n (mutua amatio).<br />

Einseitiges <strong>Liebe</strong>n o<strong>der</strong> Wohlwollen ist noch keine Freundschaft. Damit Freundschaft<br />

besteht, muss <strong>der</strong> Freund dem Freund Freund sein: „amicus est amico amicus.“<br />

Interessant ist, welche Bestimmungen Thomas hier nicht aufgreift. Nach Aristoteles<br />

müssen Freunde auch von ihrem gegenseitigen Verhältnis wissen. Das gegenseitige<br />

Wohlwollen darf ihnen nicht verborgen sein; sie müssen sich dessen<br />

bewusst sein. Es wäre möglich, dass Person A <strong>der</strong> Person B wohlwill, ohne dass B<br />

es weiß, und Person B <strong>der</strong> Person A, ohne dass A es weiß. Eine solche Beziehung<br />

18<br />

EN 1157b19.<br />

19<br />

Joh 15, 15.<br />

20<br />

Thomas nennt hier in Anlehnung an Aristoteles auch Pferde. In unserer Zeit werden<br />

viele die Meinung vertreten, dass Beziehungen mit Haustieren die anspruchsvollen Bedingungen<br />

<strong>der</strong> Freundschaft erfüllen können; vgl. etwa Redeweisen wie „Der Hund als bester<br />

Freund des Menschen.“


114<br />

Bruno Nie<strong>der</strong>bacher<br />

wäre nach Aristoteles noch keine Freundschaft. Mit <strong>der</strong> Frage, ob caritas diese<br />

Bedingung erfüllen kann, werden wir uns noch beschäftigen. In dem hier untersuchten<br />

Artikel jedenfalls kommt Thomas auf dieses Problem nicht zu sprechen. 21<br />

Ein weiterer Zusatz, den Thomas hier nicht aufgreift, besteht darin, dass man dem<br />

Freund um seiner selbst willen Gutes wollen muss. Meines Erachtens denkt<br />

Thomas dies hier mit. In ST 23, 5 ad 2 schreibt er ausdrücklich: „Aus caritas wird<br />

Gott um seiner selbst willen geliebt.“ Und in ST II-II, 23, 6 nennt er caritas die<br />

höchste <strong>der</strong> Tugenden, weil wir durch sie Gott selbst berühren, um bei ihm selbst<br />

zu bleiben, und nicht damit aus ihm etwas für uns herauskommt. 22<br />

Entscheidend für den Verlauf des Arguments ist nun <strong>der</strong> Satz: „Dieses gegenseitige<br />

Wohlwollen beruht auf einer Art Mitteilung/Gemeinschaft (communicatio).“<br />

23 Auch dieser Gedanke kommt aus <strong>der</strong> Nikomachischen Ethik, Buch 8. 24 In<br />

welchem Kontext sieht Thomas diesen Gedanken? Antwort auf diese Frage finden<br />

wir in seinem Kommentar zur Nikomachischen Ethik. Dort schreibt er über den<br />

Aufbau des 8. Buches Folgendes: „Zuerst zeigt er [Aristoteles], was Freundschaft<br />

ist, dann unterscheidet er Arten <strong>der</strong> Freundschaft [gemeint sind die drei Arten:<br />

Nutz-, Lust-, und Tugendfreundschaft][…], drittens legt er am Beginn des 9. Buches<br />

die Eigenschaften <strong>der</strong> Arten <strong>der</strong> Freundschaft dar […].“ 25 Etwas später schreibt<br />

Thomas: „Zuerst unterscheidet er [Aristoteles] Arten <strong>der</strong> Freundschaft, die auf<br />

Gleichheit <strong>der</strong> Personen beruhen. Zweitens unterscheidet er Arten <strong>der</strong> Freundschaft,<br />

die zwischen ungleichen Personen bestehen […].“ 26 Der Ausdruck „communicatio“<br />

taucht auf, wo es um Freundschaft zwischen ungleichen Personen geht,<br />

wo einer dem an<strong>der</strong>en überlegen ist, wie Vater und Sohn, Älterer und Jüngerer,<br />

Herrscher und Beherrschter. Bei ungleichen Personen braucht es eine Grundlage,<br />

auf <strong>der</strong> Freundschaft möglich wird. Diese Grundlage nennt Aristoteles „koinonia“<br />

(Gemeinschaft). 27 „Freundschaft“ – so schreibt Aristoteles ganz knapp – „ist (besteht)<br />

in koinonia.“ Die lateinische Übersetzung davon ist „communicatio“, ein<br />

Ausdruck, dessen Bedeutungsbreite ich weiter unten erläutern werde. 28<br />

21<br />

Wohl aber schreibt Thomas darüber in Super Sent. III, 27, 2, 1 arg. 9.<br />

22<br />

ST II-II, 23, 6: „Fides autem et spes attingunt quidem Deum secundum quod ex ipso<br />

provenit nobis vel cognitio veri vel adeptio boni; sed caritas attingit ipsum Deum ut in ipso<br />

sistat, non ut ex eo aliquid nobis proveniat.“<br />

23<br />

ST II-II, 23, 1: „Talis autem mutua benevolentia fundatur super aliqua communicatione.“<br />

24<br />

Ich stütze mich hier auf die Ausführungen von Bobik, Aquinas on Communicatio.<br />

25<br />

Sententia libri ethicorum [= In EN], liber VIII, lectio 2 (Nr. 1551): „Et primo ostendit<br />

quid sit amicitia. Secundo distinguit species eius, ibi, differunt autem haec ad invicem etc.;<br />

tertio determinat quasdam amicitiae proprietates in IX libro.“<br />

26<br />

In EN, lib. VIII, l. 3 (Nr. 1562): „Primo distinguit species amicitiae, quae in aequalitate<br />

personarum salvatur. Secundo distinguit species amicitiae, quae est inter inaequales personas.“<br />

27<br />

EN 1159b25-34.<br />

28<br />

EN 1159b32 und 1161b11 und 1171b33.


Zum <strong>Liebe</strong>sverständnis im<br />

Islam


<strong>Bertram</strong> <strong>Schmitz</strong><br />

Gottesliebe und Menschenliebe im<br />

Islam<br />

„Es ist euch erlaubt in <strong>der</strong> Nacht des Fastens Umgang zu haben mit euren Frauen.<br />

Sie sind eine Bekleidung für euch, und ihr seid eine Bekleidung für sie. Gott weiß,<br />

dass ihr euch selbst betrogen habt.“ 1 So lautet die Bestimmung des Korans zum<br />

geschlechtlichen Verkehr während des Offenbarungsmonats Ramadan. Die Würdigung<br />

des gemeinsamen körperlichen Beieinan<strong>der</strong>s steht so hoch, dass sie explizit<br />

in die wenigen Regelungen aufgenommen wurde, die <strong>der</strong> Koran für den Monat<br />

nennt, in dem durch Enthaltsamkeit <strong>der</strong> Offenbarung des Korans gedacht werden<br />

soll. 2 Mann und Frau gehören zueinan<strong>der</strong> und sie bilden letztlich auch im physischen<br />

Geschehen eine Einheit, die we<strong>der</strong> unterbunden werden kann noch soll. So<br />

kommt dieser Versteil aus Sure 2,187 letztlich schon einer Auffor<strong>der</strong>ung gleich.<br />

Diese Hochschätzung auch <strong>der</strong> physischen Ausgestaltung intergeschlechtlicher<br />

Beziehung ist grundsätzlich auch für die biblischen Schriften nicht ungewöhnlich:<br />

So betont etwa die hebräische Bibel, dass beide, Mann und Frau, ein<br />

Fleisch sein sollen und die Evangelien lassen Jesus diesen entsprechenden Vers<br />

wie<strong>der</strong>holen. Dabei bildet durchaus die ebenfalls durch Platon bekannte Vorstellung<br />

eine Rolle, dass es sich bei diesem Paar ursprünglich um eine präexistente<br />

Einheit von Mann und Frau gehandelt hat 3 , die sich in <strong>der</strong> Existenz wie<strong>der</strong> je und<br />

je als Paar individuell zusammenfindet. Mit diesem Bild <strong>der</strong> Vereinigung o<strong>der</strong> sogar<br />

Wie<strong>der</strong>vereinigung dessen, was zusammen gehört als intensiver Gestaltung<br />

1<br />

Koran, Sure 2, 187.<br />

2<br />

Der eigentliche Inhalt <strong>der</strong> Feier im Ramadan ist es, gerade dieser Offenbarung des Korans<br />

zu gedenken – auch wenn das augenfälligere das Ritual des Fastens von Sonnenaufgang<br />

bis Sonnenuntergang zu sein scheint.<br />

3<br />

Diese Vorstellung des einheitlichen Wesens findet sich im Koran explizit in Sure 4,1.<br />

Dieses „einzige Wesen“ kann durchaus als ursprüngliche Einheit von Mann und Frau verstanden<br />

werden. Eine solche Interpretation wird dadurch nahegelegt, dass es sich um den<br />

Eingangsvers <strong>der</strong> Sure „Die Frauen“ handelt. Selbst wenn diese Surentitel historisch gesehen<br />

sekundär sind, so behandelt doch diese Sure im ersten und letzten Teil explizit auf<br />

(Männer und) Frauen bezogene Themen.


182<br />

<strong>Bertram</strong> <strong>Schmitz</strong><br />

von <strong>Liebe</strong>, sollen die unterschiedlichen Dimensionen eingeleitet werden, in denen<br />

gemäß <strong>der</strong> islamischen Religionskultur „<strong>Liebe</strong>“ verstanden und gelebt wird. Dabei<br />

beruht nach islamischer mittelalterlicher Gelehrtenmeinung „<strong>Liebe</strong> […] auf <strong>der</strong><br />

Seelenverwandtschaft <strong>der</strong> Partner“ 4 .<br />

Ich werde bei meinen Ausführungen folgende Relationen zugrunde legen: Zunächst<br />

wird im ersten Kapitel die transzendenzbezogene <strong>Liebe</strong>sbeziehung dargestellt.<br />

Abschnitt 1.1 handelt von <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> Gottes, des souveränen Schöpfers, zu<br />

den Menschen als seinen Geschöpfen und 1.2 daraufhin von <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> des Menschen<br />

zu Gott. In 1.3 wird diese Ausrichtung <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> des Menschen zu Gott in<br />

ihrer beson<strong>der</strong>en Gestalt <strong>der</strong> islamischen Mystik aufgezeigt, wenn sich <strong>der</strong> Glaubende<br />

in seiner Gesamtheit und vollständig Gott unterwirft und sich von ihm erfüllen<br />

lässt. 1.4. schließlich behandelt das Thema <strong>der</strong> zwischenmenschlichen<br />

<strong>Liebe</strong> in <strong>der</strong> Literatur, die zu einer Metapher für die <strong>Liebe</strong> <strong>der</strong> Seele zu Gott werden<br />

kann.<br />

Der transzendenzbezogenen <strong>Liebe</strong> steht die <strong>Liebe</strong> des Menschen zu einem an<strong>der</strong>en<br />

Menschen gegenüber, die im zweiten Kapitel ausgeführt wird: 2.1 zeigt das<br />

Verhältnis zum gegengeschlechtlichen Partner in dieser Welt. Inwiefern die Sharia<br />

für diese <strong>Liebe</strong> Norm gebend ist wird in 2.2 erörtert. 2.3 behandelt die kulturgeschichtliche<br />

Ausgestaltung dieser <strong>Liebe</strong>sbeziehung in <strong>der</strong> islamisch geprägten<br />

Lebenswelt. Auf die Vorstellung jenseitiger, paradiesischer <strong>Liebe</strong>sbeziehung<br />

werfe ich in Abschnitt 2.4 einen kurzen Blick. Kapitel 3 schließt diese Ausführungen<br />

ab. In meinen Ausführungen gebe ich eher eine möglichst umfassende und<br />

vielfältige Annäherung an das <strong>Liebe</strong>sverständnis im Islam generell, die sich zwar<br />

um Vollständigkeit bemüht, aber sich dessen bewusst ist, dass diese in <strong>der</strong> gebotenen<br />

Kürze nicht erreicht werden kann.<br />

1. Transzendenzbezogene <strong>Liebe</strong>sbeziehung<br />

Wenn in den Beiträgen zuvor weitest gehend von einer christlichen Vorstellung<br />

von <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> Gottes gesprochen wurde, ist es nahe liegend und angebracht, zumindest<br />

einige wenige grundsätzliche Überlegungen voranzustellen, die auf elementare<br />

Gemeinsamkeiten und Unterschiede <strong>der</strong> auf die Transzendenz bezogenen<br />

<strong>Liebe</strong>sbeziehung im Gegenüber zum Islam verweisen. In beiden Religionen<br />

wird, wie auch im Judentum, <strong>der</strong> eine Gott als <strong>der</strong> Schöpfer dieser Welt angesehen.<br />

Ihm liegt an <strong>der</strong> Welt und zugleich an den Menschen. Es wird nicht von <strong>der</strong> Welt<br />

ausgegangen, die, wie etwa im mo<strong>der</strong>nen naturwissenschaftlichen Verständnis<br />

entstanden ist; son<strong>der</strong>n sie wurde von Gott geschaffen – selbst wenn islamische<br />

Philosophen im Anschluss an griechische Philosophie mitunter diskutieren, inwiefern<br />

sie nichts desto trotz ewig ist. Auf jeden Fall aber hat Gott diese Welt<br />

4<br />

Behrens-Abouseif, Schönheit in <strong>der</strong> arabischen Kultur, 74.


Gottesliebe und Menschenliebe im Islam 183<br />

gewollt. Er hat den Menschen als Hüter in diesen Garten gesetzt, als Khalifen 5 wie<br />

<strong>der</strong> Koran sagt, als seinen Stellvertreter – wohl wissend, dass dieser Mensch, so<br />

<strong>der</strong> Koran weiter, einer Rechtleitung 6 bedarf, um sich gemäß göttlicher Ordnung<br />

und zum Wohle <strong>der</strong> Welt orientieren und gut verhalten zu können. Der gewiss<br />

markanteste Unterschied zwischen beiden Religionen in Bezug auf die transzendente<br />

<strong>Liebe</strong> lässt sich prägnant in dem Vers aus dem Johannes-Evangelium fassen,<br />

in dem den Menschen zugesagt wird: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er<br />

den einziggeborenen Sohn gab, damit je<strong>der</strong> an ihn Glaubende nicht verloren geht,<br />

son<strong>der</strong>n das ewige Leben hat.“ 7 Eine solche Vorstellung ist dem Koran und damit<br />

dem Islam aus mehreren Gründen fremd: Gewiss liebt auch Gott diese Welt, doch<br />

hat er nach koranischer Vorstellung selbstverständlich keinen Sohn 8 , noch hat er<br />

diesen <strong>der</strong> Welt gegeben o<strong>der</strong> gar hingegeben 9 , noch kennt <strong>der</strong> Koran die Vorstellung<br />

eines Glaubens als Partizipation an einem Heilsereignis. Damit ist es diese<br />

bestimmte Form <strong>der</strong> göttlichen Hingabe in seinem Sohn als <strong>Liebe</strong> an die Welt und<br />

die Annahme dieser Hingabe, die eine christliche transzendente <strong>Liebe</strong>svorstellung<br />

grundsätzlich von einer islamischen 10 unterscheidet. Die entscheidende Gabe Gottes<br />

an die Menschen ist die Rechtleitung im Koran bzw. als entfaltetes Religionsgesetz<br />

im weitesten Verständnis aller Verhaltensbestimmungen, die Sharia, <strong>der</strong>en<br />

Verwirklichung den Glaubenden zu Gott führen kann und seine Fürsorge für den<br />

Menschen und jedes Geschöpf in <strong>der</strong> Welt, dem er diese Welt als (zeitweilige)<br />

Heimstatt 11 eingerichtet hat.<br />

1.1 Die <strong>Liebe</strong> Gottes zu den Menschen<br />

In den vorangegangenen Worten wurde bereits auf das spezifische Verständnis<br />

<strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> Gottes im Islam verwiesen. Gott hat den Menschen als Statthalter in<br />

seinem Garten erschaffen und ihn eingesetzt. Als Gott den Menschen, „Adam und<br />

5<br />

Chalifa, Sure 2,30.<br />

6<br />

Diese Rechtleitung stimmt – zumindest ad sensum und was die Gebote angeht – mit<br />

dem Koran überein. Bereits Adam hat diese Rechtleitung (Huda) erhalten, schließlich erhielten<br />

sie auch die an<strong>der</strong>en Gesandten (rusul), wie Abraham (die Blätter), Mose (die<br />

Thora), David (den Psalter) und schließlich Isa/Jesus (das Ingil, - welches nicht eigentlich<br />

das „Evangelium“ im christlichen Sinne meint, son<strong>der</strong>n vielmehr die von Jesus gesprochene<br />

Verkündung <strong>der</strong> Rechtleitung).<br />

7<br />

Joh. 3,16.<br />

8<br />

Vgl. explizit Sure 2,116.<br />

9<br />

Vgl. explizit Sure 4,157.<br />

10<br />

Darin besteht auch ein wesentlicher Unterschied zum Judentum und ebenso selbstverständlich<br />

allen an<strong>der</strong>en Religionen. Ich betone diese spezifische <strong>Liebe</strong>srelation Gottes zu<br />

den Menschen durch und in dem (wahren) Menschen (und wahren Gott), Jesus Christus,<br />

weil sie zwar für das Christentum und sein <strong>Liebe</strong>sverständnis ebenso fundamental wie implizit<br />

selbstverständlich ist, doch den an<strong>der</strong>en Religionen gegenüber fremd ist und bleibt.<br />

11<br />

Vgl. Sure 2,36.38.


184<br />

<strong>Bertram</strong> <strong>Schmitz</strong><br />

seine Gemahlin“, wie es im Koran 12<br />

heißt, nach <strong>der</strong>en vom Satan angeleiteten<br />

Übertretung des einzigen Verbots aus diesem Garten verwies, gab er ihm die<br />

Rechtleitung. Die Welt hatte er zuvor mit allem Notwendigen und allem Reichtum<br />

für den Menschen fürsorglich eingerichtet.<br />

Zur Frage <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> Gottes zu den Menschen möchte ich beson<strong>der</strong>s einige Gedanken<br />

diskutieren, die in <strong>der</strong> Literatur weiterhin divergent 13 verhandelt werden.<br />

Zunächst ist es die Frage nach dem Verständnis von Sure 5,54, die etwa Mouhanad<br />

Khorchide in seinem Werk Islam ist Barmherzigkeit 14 ins Gespräch bringt. Khorchide<br />

diskutiert in diesem Werk in Abschnitt 2.7 das Thema Aus <strong>Liebe</strong> statt aus Angst<br />

handeln das grundlegende Motiv, gut zu handeln. Bereits die Mystikerin Rabia aus<br />

dem 8. Jahrhun<strong>der</strong>t wollte Wasser in die Hölle schütten und Feuer ans Paradies<br />

legen, damit die Glaubenden allein aus <strong>Liebe</strong> und um Gottes willen das Gute tun,<br />

nicht um <strong>der</strong> Bestrafung zu entgehen o<strong>der</strong> Lohn zu empfangen. 15 Mag sein, dass<br />

dieses Bild auch bei Khorchide im Hintergrund steht, wenn er formuliert: „Es ist<br />

eine naive Vorstellung, dass Gott auf seinem Thron sitzt und den Menschen Instruktionen<br />

schickt, um zu sehen, wer sich an sie hält und wer nicht, um dann<br />

diejenigen, die ihm gehorchen, zu belohnen und sich an den Ungehorsamen zu<br />

rächen.“ 16 Dieses Bild würde Gott als einen Diktator zeigen, <strong>der</strong> „auf seinem Thron<br />

sitzt“ 17 . Nicht aus Angst o<strong>der</strong> um <strong>der</strong> Belohnung willen solle im Islam gehandelt<br />

werden, vielmehr sollten die Menschen „aus <strong>Liebe</strong> zu Gott, also zum Guten ethisch<br />

korrekt handeln, als Antwort auf die göttliche <strong>Liebe</strong> >er liebt sie, und sie lieben<br />

ihn


Gottesliebe und Menschenliebe im Islam 185<br />

Wort hubb verwendet wird, das durchaus <strong>Liebe</strong> im eigentlichen, engeren Sinn,<br />

bezeichnet, wie sie auch zwischenmenschlich verstanden werden kann. Doch ist<br />

damit nur ein Ausschnitt des gesamten Verses wie<strong>der</strong>gegeben und <strong>der</strong> Kontext<br />

könnte insgesamt in eine an<strong>der</strong>e Richtung deuten. So lautet <strong>der</strong> gesamte Vers,<br />

etwa in <strong>der</strong> Übersetzung von Hans Zirker: „Ihr, die ihr glaubt, wenn unter euch<br />

jemand von seiner Religion abfällt, dann wird Gott Leute bringen, die er liebt<br />

(hubb) und die ihn lieben (hubb), die den Gläubigen gegenüber demütig sind, den<br />

Ungläubigen gegenüber mächtig, die sich einsetzen auf Gottes Weg und den Tadel<br />

des Tadelnden nicht fürchten. Das ist Gottes Gabenfülle. Er gibt sie, wem er will.<br />

Gott ist allwissend.“ 19<br />

Dieser Kontext zeigt zumindest, dass die <strong>Liebe</strong> Gottes nicht allen Menschen<br />

gilt, son<strong>der</strong>n dass er auswählt und dass er in dieser und für diese <strong>Liebe</strong> durchaus<br />

Bedingungen stellt. Im weiteren Kontext wird zudem noch drei Verse zuvor gesagt,<br />

„Ihr, die ihr glaubt, nehmt euch nicht Juden und Christen zu Freund und<br />

Beistand“ 20 . Dieser Kontext hin<strong>der</strong>t jedoch nicht, im Sinn des mo<strong>der</strong>nen 21 islamischen<br />

Theologietreibens die <strong>Liebe</strong> Gottes zu den Menschen zu betonen. In seiner<br />

Interpretation beruft sich Khorchide auf einen dem Propheten Muhammad zugesprochenen<br />

Hadith: „Deshalb sagt <strong>der</strong> Prophet Muhammad: >Gott streckt Arme<br />

<strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> und Vergebung in <strong>der</strong> Nacht für diejenigen aus, die am Tag gesündigt<br />

haben, und er streckt Arme <strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> und Vergebung am Tag für diejenigen<br />

aus, die in <strong>der</strong> Nacht gesündigt haben


186<br />

<strong>Bertram</strong> <strong>Schmitz</strong><br />

Gottes, des Erbarmers, des Allbarmherzigen“. Diese Barmherzigkeit wird in <strong>der</strong><br />

Theologie Khorchides auch als „unendlich“ bezeichnet. 25 Ein solches Erbarmen,<br />

arabisch ruhm führt Arne A. Ambros durchaus auch als Übersetzung von <strong>Liebe</strong><br />

(„love“) an. 26<br />

Das arabische Wort für die eher erotische <strong>Liebe</strong>, Ishq, findet sich im Koran<br />

demgegenüber offensichtlich nicht. Die spätere islamische Klassik ordnet nach<br />

einem Gelehrten, Jahiz, die Termini für <strong>Liebe</strong> folgen<strong>der</strong>maßen zu: „zunächst Hubb.<br />

Definiert als <strong>Liebe</strong> zu Gott, zur Heimat o<strong>der</strong> zur Familie; dann Hawa, Verlangen,<br />

als den ersten Schritt zur Leidenschaft; und schließlich die leidenschaftliche Begierde,<br />

Ishq. Der Begriff Ishq beinhaltet die <strong>Liebe</strong> zum an<strong>der</strong>en Geschlecht, die<br />

wie eine Krankheit den <strong>Liebe</strong>nden verzehren kann. Im mystischen Sinne macht<br />

sie blind und taub gegenüber allem außer Gott.“ 27 Es sei bemerkenswert, wenn die<br />

zwischenmenschliche <strong>Liebe</strong> und <strong>Liebe</strong>sdichtung mitunter deswegen auch bei<br />

buchstabengetreuen Koranauslegern darin einen Anhaltspunkt finden kann, dass<br />

Gott im Koran anthropomorphe Eigenschaften zugedacht werden. 28<br />

Theologisch noch spannen<strong>der</strong> wird die folgende Interpretation: „Konsequenterweise<br />

waren sie [d. h. die besagten buchstabengetreuen Koranausleger] beson<strong>der</strong>s<br />

geneigt, die Schönheit des menschlichen Antlitzes und Körpers zu preisen,<br />

da Gott den Menschen nach seinem eigenen Bild geschaffen habe“ 29 . Diese Aussage<br />

ist insofern auffällig, da zwar die Bibel explizit diese Vorstellung <strong>der</strong> Gottebenbildlichkeit<br />

kennt, im Allgemeinen jedoch davon ausgegangen wird, dass <strong>der</strong><br />

Koran sie nicht kenne. Es gäbe die Möglichkeit, den vierten Vers <strong>der</strong> 95. Sure<br />

dementsprechend zu verstehen, in dem es heißt: „Wir haben den Menschen in<br />

seiner schönsten Gestalt geschaffen“. Ist damit implizit die Ebenbildlichkeit gemeint?<br />

Und darf dieser Vers auch physisch verstanden werden? Dann wäre es in<br />

den biblischen Religionen so, dass dieser ideal erschaffene Mensch gefallen sei –<br />

und die christliche Frage, inwiefern die Gottebenbildlichkeit durch Christus in <strong>der</strong><br />

Taufe wie<strong>der</strong> hergestellt wurde. Zu diesem Moment ließe sich ebenfalls eine Analogie<br />

im Koran in den folgenden Versen finden: „und dann haben wir ihn zum<br />

Allerniedrigsten gemacht“ – doch auch dieser Abstieg kann wie<strong>der</strong> aufgehoben<br />

werden, wenn es weiter heißt: „Außer denen, die glauben und gute Werke tun. Die<br />

bekommen unbegrenzten Lohn.“ 30<br />

Diese Verse könnten so verstanden werden,<br />

dass die Glaubenden wie<strong>der</strong> in den Zustand <strong>der</strong> Ebenbildlichkeit versetzt worden<br />

seien. Es stellt sich weiterhin die Frage, inwiefern es sich um äußere und innere<br />

Schönheit handelt, die dann wie<strong>der</strong> zum Thema <strong>der</strong> Anziehung und <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> werden.<br />

25<br />

Khorchide, 51.<br />

26<br />

Ambros, Arne A. The Nouns of Koranic Arabic Arranged by Topics, Wiesbaden 2006;<br />

117.<br />

27<br />

Behrens, 74.<br />

28<br />

Vgl. Behrens, 75.<br />

29<br />

Ebd.<br />

30<br />

Sure 95,5f; nach Zirker.


Bibliographische Information <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in <strong>der</strong><br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

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© 2023 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig<br />

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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Coverabbildung: Antonio Canova: Amor und Psyche, Paris, Louvre (1793),<br />

© Bild: Jörg Bittner, lizensiert über Wikimedia Commons<br />

(https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Amor-Psyche-Canova-JBU02.JPG)<br />

Satz: Miriam Sayah, Koblenz<br />

Druck und Binden: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza<br />

ISBN 978-3-374-07211-8 // eISBN (PDF) 978-3-374-07212-5<br />

www.eva-leipzig.de

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