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Perspectives 2023-4

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<strong>Perspectives</strong><br />

in Inclusive Social Development<br />

Anthroposophic<br />

4· <strong>2023</strong>


Inhalt<br />

deutsch<br />

Beiträge und Berichte<br />

Platos Erkenntnisstufen und der<br />

pädagogische Ethos ........................... 4<br />

von Jürgen Peters<br />

Gewaltfreie (Heil-)pädagogik .................. 18<br />

Umsetzung und Perspektiven der<br />

Rainbow Fondation in Sri Lanka<br />

von Christiane Drechsler, Nur Erdem, Angelika Wiehl<br />

Musik als Weg zu Selbstvertrauen,<br />

Selbstwirksamkeit und sozialer Kompetenz<br />

bei erwachsenen Lernenden<br />

mit Assistenzbedarf .......................... 34<br />

Eine Fallstudie zum Musikunterricht des SAFA<br />

(Verband Sozialkunst für Familien, Taiwan)<br />

von Hsieh, Shu-Ling<br />

Religion und Spiritualität<br />

in der inklusiven sozialen Entwicklung ......... 52<br />

4. bis 6. Oktober <strong>2023</strong> – Kleine Herbstkonferenz der<br />

Freien Hochschule für Geisteswissenschaft<br />

Eine persönliche Reflexion<br />

von Wiebke Lösken-Sturm<br />

Bericht über die Jugendtagung im<br />

Camphill Newton Dee <strong>2023</strong> .................... 58<br />

Gemeinschaftsbildung – Wie können wir uns<br />

unsere Zukunft (neu) vorstellen?<br />

11. – 14. Mai <strong>2023</strong>, Newton Dee<br />

vom Organisationsteam der Jugendtagung<br />

Editorial<br />

Jan Göschel<br />

Anthroposophisch orientierte Ansätze in der Heilpädagogik<br />

und inklusiven Sozialgestaltung treffen weltweit auf<br />

unterschiedliche soziale Aufgabenstellungen und müssen<br />

sich in die verschiedensten kulturellen Kontexte integrieren,<br />

um zu Antworten auf spezifische Problemstellungen<br />

angemessen und in der lokalen Situation anschlussfähig<br />

beitragen zu können. Shu-Ling Hsieh bietet uns einen<br />

Einblick in Bildungsprozesse im Musikunterricht mit drei<br />

jungen Erwachsenen mit einem Tuberösen-Sklerose-Komplex<br />

in Taiwan. Aus Interviews mit den Teilnehmenden,<br />

und mit Referenz auf anthroposophische Literatur und taiwanesische<br />

pädagogische Konzepte zeigt sie subtile Lernprozesse<br />

auf. Der Beitrag von Drechsler, Erdem und Wiehl<br />

stellt die Herausforderung dar, eine dringend notwendige<br />

kindgerechte gewaltfreie Pädagogik in Sri Lanka<br />

einzuführen, ohne von aussen mit kulturfremden Konzepten<br />

und Wertesystemen kommend dabei selbst übergriffig<br />

zu werden. Daneben steht der Beitrag von Jürgen<br />

Peters, der anhand von Platons Erkenntnislehre sieben<br />

Momente auf dem Weg zu einer handlungsleitenden pädagogischen<br />

Erkenntnis skizziert. Ergänzt werden diese<br />

Beiträge durch Berichte und Reflexionen von zwei besonderen<br />

Tagungen.<br />

Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Weihnachtszeit<br />

und einen guten Weg ins neue Jahr!


Content<br />

english<br />

Articles and Reports<br />

Plato’s Steps to Understanding and the<br />

Pedagogical Ethos .............................. 4<br />

by Jürgen Peters<br />

Nonviolent (Therapeutic) Education .............. 18<br />

Implementation and Prospects of the<br />

Rainbow Foundation in Sri Lanka<br />

by Christiane Drechsler, Nur Erdem, Angelika Wiehl<br />

Music as a Path to Self-confidence, Self-efficacy<br />

and Interpersonal Skills for Adult Learners<br />

with Disabilities ............................... 35<br />

A Case Study of Music Classes offered by SAFA<br />

(Social Arts for Families Association, Taiwan)<br />

by Hsieh, Shu-Ling<br />

Religion and Spirituality in Inclusive<br />

Social Development ............................ 53<br />

4 th -6 th Oct <strong>2023</strong> –<br />

Small Autumn Conference of<br />

the School of Spiritual Science<br />

A Personal Reflection<br />

by Wiebke Lösken-Sturm<br />

Report on the Youth Conference in<br />

Camphill Newton Dee <strong>2023</strong> ..................... 58<br />

Community Building –<br />

How can we (re-)imagine our future?<br />

11 th -14 th May <strong>2023</strong>, Newton Dee<br />

by the Youth Conference <strong>2023</strong> Organizing Team<br />

Editorial<br />

Jan Göschel<br />

Anthroposophically oriented approaches<br />

in therapeutic education<br />

and inclusive social development<br />

encounter different social tasks<br />

worldwide and must integrate<br />

themselves into a wide variety of<br />

cultural contexts to make their<br />

contribution to specific questions<br />

in a way that is appropriate to and<br />

compatible with the local situation.<br />

Shu-Ling Hsieh offers us an insight into educational<br />

processes in music lessons with three young adults with<br />

tuberous sclerosis complex in Taiwan. From interviews<br />

with the participants, and with references to anthroposophical<br />

literature and Taiwanese pedagogical concepts, she<br />

makes subtle learning processes visible. The contribution<br />

by Christiane Drechsler, Nur Erdem and Angelika Wiehl<br />

presents the challenge of introducing an urgently needed<br />

child-centered, non-violent pedagogy in Sri Lanka, without<br />

violating boundaries and imposing culturally alien concepts<br />

and value systems from the outside. In addition, you<br />

will find a contribution by Jürgen Peters, who uses Plato’s<br />

theory of knowledge to outline seven moments on the way<br />

to a pedagogical insight that guides action. These contributions<br />

are complemented by reports and reflections<br />

from two special conferences.<br />

I wish you an inspiring Christmas season and a good start<br />

into the new year!


Platos<br />

Erkenntnisstufen<br />

und der<br />

pädagogische Ethos<br />

Plato’s Steps<br />

to Understanding<br />

and the<br />

Pedagogical Ethos<br />

von Jürgen Peters<br />

by Jürgen Peters<br />

In seinem Buch Der Messias legt Diether Lauenstein eine<br />

siebenstufige Erkenntnisfolge nach Plato vor (Lauenstein<br />

1972, S. 23 ff.). In dem vorliegenden Beitrag soll diese Einteilung<br />

in methodischer Hinsicht dazu dienen, die Entwicklung<br />

pädagogischer Beziehungen zu betrachten.<br />

Platos siebenstufige Erkenntnis vollzieht sich Lauenstein<br />

zufolge in den folgenden Schritten:<br />

In his book The Messiah, Diether Lauenstein presents Plato’s<br />

seven-step epistemological sequence (1972, p. 23 ff.).<br />

This paper breaks down the sequence methodically to<br />

help us understand the development of pedagogical relationships.<br />

According to Lauenstein, Plato’s seven steps toward understanding<br />

are as follows:<br />

• Die Sinneswahrnehmung (aísthesis)<br />

• Der Name (ónoma)<br />

• Die Vorstellung oder die Meinung (dóxa)<br />

• Der definierte Begriff (lógos)<br />

• Das zutreffende Bild (eídolon) –<br />

und in Platos Dialogen (der Mythos)<br />

• Die Dialektik oder das vielseitige<br />

Fragen und Antworten in guter Absicht (Dialektik)<br />

• Die Sache selbst, welche sich der Einsicht nur in vielen<br />

Anläufen erschliesst und zu der die Sprache als<br />

ohnmächtiges Instrument nur wie ein Wink hinführt<br />

(Wesensbegegnung).<br />

• Sensory perception (aísthesis)<br />

• Name (ónoma)<br />

• Imagination, idea or opinion (dóxa)<br />

• Defined concept (lógos)<br />

• True image (eídolon) – and in Plato’s Dialogues (mythos)<br />

• Dialectic, or many-sided questioning and answering<br />

in good faith (dialectic)<br />

• The thing itself, which is only revealed to our insight<br />

with repeated attempts, and at which language, a<br />

weak instrument, can only hint (Encountering the<br />

true essence).<br />

Es fällt auf, dass sich hier bild- und worthafte Erfahrungen<br />

abwechseln, bis die letzte Stufe schliesslich in eine bildund<br />

wortlose Sphäre führt.<br />

Ein erster Zugang zu dieser Stufenfolge kann durch die<br />

Betrachtung einer Liebesbeziehung gegeben werden.<br />

Wenn man Gestalt oder Gesicht des oder der Geliebten<br />

zum ersten Mal sieht und man wie gebannt ist von diesem<br />

Eindruck, dann bewegt man sich im Feld der aísthesis.<br />

Ein wenig später erfährt man den Namen des Gegenüber<br />

(ónoma). Den Namen des oder der Geliebten auszusprechen<br />

ist mehr als eine blosse Bezeichnung, in dem Namen<br />

ist zugleich auch das Wesen ahnungsweise spürbar. Mit<br />

dem Bereich der Vorstellung (dóxa) sind wir in der Regel<br />

gut vertraut: Wir können nicht aufhören, an ihn oder<br />

sie zu denken und tun dies meist dadurch, dass wir Vorstellungen<br />

bilden. Die Stufe des lógos ist dagegen schon<br />

anspruchsvoller. Durch einen starren Begriff lässt sich si-<br />

It is interesting to note that image-based and language-based<br />

experiences alternate in these steps, until the last step<br />

finally leads to a word-less and image-less sphere.<br />

We can see this sequence in the example of a romantic<br />

relationship. The first time we see a beloved and are as<br />

if captivated by our impression, we are in the sphere of<br />

aísthesis. Soon after, we learn the name of this person<br />

(ónoma). Pronouncing the name of our beloved is more<br />

than a simple designation: In the name, we can sense something<br />

of the essence of our beloved. Most of us are very<br />

familiar with the realm of imagination or idea (doxa): We<br />

cannot stop thinking about the person and we usually do<br />

this by forming ideas and imaginations. The stage of ló-<br />

4<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


Jürgen Peters hat Mathematik und Pädagogik studiert und<br />

als Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik an mehreren<br />

Waldorfschulen unterrichtet. Anschliessend war er in<br />

Deutschland und den USA über viele Jahre in der Lehrerausbildung<br />

tätig. 2012 erfolgte eine Promotion zu dem Thema<br />

Resilienz und individuelle Verhaltensmuster. Seit 2013 ist<br />

er als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Fachbereich<br />

Bildungswissenschaft der Alanus Hochschule in Forschung<br />

und Lehre tätig. (Kontakt: juergen.peters@alanus.edu)<br />

Jürgen Peters studied mathematics and education<br />

and taught mathematics and physics at several<br />

Waldorf schools. He then worked in teacher training<br />

in Germany and the USA for many years. In<br />

2012, he completed a doctorate on the topic of<br />

resilience and individual behavior patterns. Since<br />

2013, he has been working as a lecturer in the Department<br />

of Educational Science at Alanus University<br />

in research and teaching.<br />

(Contact: juergen.peters@alanus.edu)<br />

Aísthesis has to do with unfiltered perception that is not<br />

yet dampened by any habitual thoughts like «I recognize<br />

this» or «this is that» or «this is Hubert». In this pure perception<br />

there is always something that we do not yet know<br />

– at least not in this moment – and that has not yet been<br />

assigned a concept or solidified into an idea. In everyday<br />

life, we become aware of aísthesis when, in the face of an<br />

unusual experience – for example, an overwhelming natu-<br />

5<br />

cher kein menschliches Wesen erfassen, aber wie verhält<br />

es sich mit einem lebendigen Begriff? Dies wäre ein Begriff,<br />

der dynamisch ist und der sich wie durch die gesamte<br />

Biographie eines Menschen hindurchzieht. Wenn man<br />

imstande ist, derartige Begriffe zu bilden, vertieft sich das<br />

Verständnis. Danach kommen wir in den Bereich des Mythos:<br />

Könnten wir einen Mythos über den Geliebten oder<br />

die Geliebte schreiben, der das Wesen dieses Menschen<br />

ganz erfasst und dies schliesslich in ein Bild verdichten?<br />

Welches Gemälde würde entstehen, wenn sich darin das<br />

Wesen der geliebten Person Ausdruck verschaffen wollte?<br />

Dieser bildhaften Sphäre schliesst sich wiederum ein worthafter<br />

Bereich an. Wohlmeinende Fragen werden gestellt<br />

und rückhaltlose Antworten gegeben. Wir begeben uns<br />

auf die Reise einer Erkundung des eigenen Wesens in einer<br />

gemeinsame Sphäre des Austauschs. Auch die Fragen<br />

und Antworten, die uns das Leben stellt, gehören dazu:<br />

Können wir erahnen, wie die geliebte Person sich bei einer<br />

Herausforderung verhalten würde? Schliesslich geschieht<br />

in der siebten Stufe eine Wesensbegegnung, Erfahrungen<br />

von Nähe und Verbundenheit ohne Worte und Bilder. Dieser<br />

Siebenschritt wird in der folgenden Betrachtung auf<br />

die pädagogische Beziehung bezogen.<br />

Aísthesis<br />

Aísthesis bezeichnet die ungefilterte Wahrnehmung, die<br />

noch durch keine bekannten Vorstellungen wie «das kenne<br />

ich schon», «das ist dies» oder «das ist Hubert» abgedämpft<br />

ist. In dieser reinen Wahrnehmung ist immer etwas,<br />

das man noch nicht kennt – jedenfalls nicht in diesem<br />

Moment – und das noch mit keinem Begriff belegt und<br />

zu einer Vorstellung geronnen ist. Im Alltag werden wir<br />

der aísthesis gewahr, wenn angesichts einer ungewöhnlichen<br />

Erfahrung – zum Beispiel einer überwältigenden<br />

Naturerscheinung – unser Verstand plötzlich stillsteht und<br />

wir ganz eins werden mit dem Wahrnehmungsstrom, der<br />

dynamischen Charakter besitzt. Die Label-Schnellfeuerka-<br />

gos, on the other hand, is more challenging. Obviously, no<br />

human being can be comprehended with a rigid concept,<br />

but what about a living concept? This would be a concept<br />

that is dynamic and that permeates a person’s entire biography.<br />

If we are able to form this kind of concept, we<br />

deepen our understanding. Then we come to the realm of<br />

mythos: Could we write a story about our beloved that encompasses<br />

the essence of this person and then condense<br />

it into an image? What kind of painting would be created if<br />

our beloved’s essence were to be expressed within it? This<br />

image-based stage is followed again by a language-based<br />

stage. Well-intentioned questions are asked and wholly<br />

candid answers are given. We embark on a journey of selfdiscovery<br />

in a space of mutual exchange. The questions<br />

and answers that life asks us and gives us are also a part of<br />

this: Can we intuit how our beloved person would behave<br />

in the face of a challenge? Finally, in the seventh stage, there<br />

is a meeting of our true beings; we experience closeness<br />

and connection without words or images. Below, we will<br />

consider this seven-stage process as it relates to pedagogical<br />

relationships.<br />

Aísthesis


none unseres Verstandes steht plötzlich still und wir befinden<br />

uns plötzlich in einem energetischen Zusammenhang.<br />

Um diesen Unterschied bewusst zu erleben, kann die folgende<br />

Übung hilfreich sein: Man gehe zweimal für fünf<br />

bis acht Minuten durch von Menschen geschaffene Räume<br />

und durch die Natur. Beim ersten Mal versuche man, jeden<br />

Gegenstand, auf den zufällig der Blick fällt, innerlich mit<br />

einem Begriff oder Namen zu belegen, ohne diesen laut<br />

auszusprechen (also: Tasse, Tisch, Stuhl, Vorhang, Pflanze,<br />

Katze usw.) In der zweiten Runde durch den gleichen<br />

Parcours versuche man die Belegung mit Vorstellungen<br />

und Begriffen bewusst zu unterdrücken. Teilnehmende<br />

von Seminaren berichten regelmässig, dass die erste Runde<br />

in der Regel als anstrengend erlebt wird und dass in der<br />

zweiten die Wahrnehmung entspannter ist und lebendiger<br />

erlebt wird.<br />

Welche Bedeutung hat dies nun in einer pädagogischen<br />

Beziehung zu den uns Anvertrauten? Sehen wir noch richtig<br />

hin, wenn wir glauben, einen Menschen zu «kennen»?<br />

An einem Menschen, mit dem man sehr vertraut ist, können<br />

wir die Stimmungslage ohne weiteres spüren. Bei einer<br />

grösseren Gruppe von Jugendlichen kann dies bereits<br />

eine Herausforderung sein. Mir ist als Klassenbetreuer<br />

einmal das Folgende passiert: Der Hauptunterricht verlief<br />

aus meiner Sicht unauffällig, aber am Nachmittag sprach<br />

mich der Religionslehrer an, der die letzte Stunde in meiner<br />

Klasse unterrichtet hatte und berichtete mir, dass ein<br />

Schüler aus der Klasse am Morgen an der Bushaltestelle<br />

überfallen worden sei. Jemand hatte ihm ein Messer an<br />

den Hals gehalten und sein Geld gefordert. Hätte ich das<br />

nicht bemerken müssen? Auch wenn die Gruppe aus mehr<br />

als 40 Schülerinnen und Schülern besteht, sollte dies<br />

möglich sein, wenn wir über eine wache, freie – von festen<br />

Vorstellungen freie – Aufmerksamkeit verfügen. Zeichenübungen<br />

können dabei helfen, Bewegung in die eigenen<br />

Fixierungen zu bringen. Man versuche zu Hause die Hände<br />

eines Schülers zu zeichnen – um zu bemerken, dass<br />

man keine Ahnung hat, wie diese wirklich aussehen. Auch<br />

wenn die Übung völlig scheitert, am folgenden Tag wird<br />

man die Hände sehen, vielleicht zum ersten Mal.<br />

Die folgende Begebenheit führt bereits über zur zweiten<br />

platonischen Stufe, ónoma, betrifft aber auch noch den<br />

Wahrnehmungsaspekt. In einer anderen Klasse hatte ich<br />

einmal zwei eineiige Zwillinge zu unterrichten, Barbara<br />

und Marlene 1, die man äusserlich nicht unterscheiden<br />

konnte, zumal sie sich auch gleich kleideten und ihre Kleidung<br />

teilweise sogar austauschten. Eine erfolgversprechende<br />

Strategie bestand lehrerseits darin, zunächst in einen<br />

kurzen Dialog zu gehen, denn vom Wesen her waren<br />

ral phenomenon – our mind suddenly stops and we become<br />

completely one with the stream of perception, which<br />

has a dynamic character. Our mind’s rapid-fire labelling<br />

gun is abruptly quiet and we suddenly find ourselves in an<br />

energetic context.<br />

If we want to experience this contrast consciously, the following<br />

exercise can be helpful: Walk twice, for five to eight<br />

minutes, through human-made spaces and then through<br />

nature. The first time, try to inwardly assign a concept or<br />

name to each object your gaze falls on, without saying it<br />

out loud (cup, table, chair, curtain, plant, cat, etc.). In the<br />

second walk-through of the same spaces, try to consciously<br />

refrain from attaching ideas and concepts to what you<br />

see. Seminar participants regularly report feeling stressed<br />

during the first round and perceiving in a more relaxed<br />

and lively manner in the second walk-through.<br />

What is the significance of this in a pedagogical relationship<br />

with someone entrusted to us? Are we really looking<br />

when we believe we «aknow» a person? We are able to easily<br />

sense the mood of one person we are very familiar with.<br />

But with a larger group of adolescents, this can be challenging.<br />

This happened to me once as a class advisor: As far<br />

as I was concerned, our main lesson proceeded as usual,<br />

but that afternoon the religion teacher told me that one of<br />

the students in my class had been mugged that morning<br />

at the bus stop. Someone had held a knife to his throat and<br />

demanded his money. Shouldn’t I have noticed this? Even<br />

in a group of over 40 students, it should be possible if we<br />

are awake, free from fixed ideas, and attentive. Drawing<br />

exercises can help bring movement into our fixed ideas.<br />

If we try, at home, to draw one of our students’ hands, we<br />

will likely realize that we have no idea what they actually<br />

look like. But even if the exercise is a complete failure, the<br />

next day we will see those hands, perhaps for the first time.<br />

This next incident begins to lead us to the second platonic<br />

stage, ónoma, but also still has to do with perception: In<br />

another class I once had identical twins, Barbara and Marlene<br />

1 , who could not be told apart outwardly, especially as<br />

they dressed alike and even shared clothing. A promising<br />

strategy on the part of the teacher was to start with a short<br />

dialogue, because these two young ladies were very different<br />

in character. After two sentences, we could usually tell<br />

which twin we were speaking with and use the right name,<br />

which they both very much appreciated. It was almost<br />

as if they were playing a game in hopes of being «seen»<br />

as different people. One day, Barbara appeared wearing<br />

6<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


On the level of aísthesis, every name has its own sound<br />

quality. Here, something musical comes into play – a music<br />

of speech sounds that are meant to fit the being to whom<br />

the name applies. When we say a name out loud, we are addressing<br />

something deeper in a person. After an operation<br />

I had as a child, the doctors called my first name to pull me<br />

out of anesthesia. And what layer is called to with the cry,<br />

«Lazarus, come out!» – a cry that is said to have raised the<br />

dead? Pronouncing a name speaks to something deeper<br />

in the personality of the person being addressed. Are we<br />

aware of this when we call the names of our students?<br />

A name can also act as the key to a guarded secret, as in the<br />

case of Rumpelstiltskin. Only the spoken name can release<br />

the spell. If the name isn’t said with certainty, the associated<br />

invocative power is lacking. This invocation can take<br />

on a magical character, as in the case of the healing of the<br />

Gerasene man possessed by demons: «My name is Legion,<br />

for we are many» (Mark 5:9). First, the numinous multiplicity<br />

of the intruding demons must be condensed into one<br />

name, which can then be used to address them and bind<br />

them with a healing power. A name is thus also closely<br />

connected with the mystery of the spoken (true) word.<br />

In addition to calling a name out loud [German: rufen], there<br />

is another meaning we attribute to the word «name»: reputation<br />

[German: Ruf]. Someone who has «made a name<br />

for themselves» has a reputation, which surrounds them<br />

like a cloak. What does the sound of a student’s name evoke<br />

in us? Are we able to perceive the «reputation» behind<br />

it, which is perhaps still germinal and may develop later?<br />

Perhaps, then, we might be able to sense a person’s «true<br />

name», which doesn’t appear phonetically, but which reveals<br />

a human being’s depth. Adam was tasked with na-<br />

7<br />

diese beiden jungen Damen sehr verschieden. Nach zwei<br />

Sätzen wusste man dann meistens, mit wem man sprach<br />

und konnte auch den richtigen Namen aussprechen, was<br />

die Beiden sehr zu schätzten wussten. Man könnte fast<br />

meinen, sie hätten es bei diesem Spiel nur darauf angelegt<br />

in ihrer Person «gesehen» zu werden. Eines Tages erschien<br />

Barbara mit einer Brille – und das ganze Kollegium atmete<br />

auf! Denn jetzt war es ja klar: B wie Barbara und Brille. Eine<br />

riskante Reduktion, der dann auch eine Kollegin zum Opfer<br />

fiel, als sie Barbara zum Unterricht mit «Guten Morgen,<br />

Brille» begrüsste. Aber in gewisser Weise unterläuft uns<br />

allen fortwährend dieses Missgeschick, wenn wir unsere<br />

Wahrnehmungen zu schnell mit vermeintlich sicheren<br />

Vorstellungsinhalten überdecken. Um die Geschichte abzuschliessen:<br />

Einige Wochen später wurde die Zwillingsschwester<br />

dieses Spiels müde und erschien fortan ebenfalls<br />

mit einer Brille – die natürlich identisch war –, obwohl<br />

sie gar keine Sehhilfe benötigte.<br />

Ónoma<br />

Unter dem Aspekt der Aísthesis hat jeder Name seine<br />

eigene Klangqualität. Hier kommt etwas Musikalisches<br />

ins Spiel, eine Lautmusik, die dem Wesen angemessen<br />

sein sollte, dem der Name zugeschrieben wird. Mit dem<br />

lauten Aussprechen des Namens wird etwas Tieferes im<br />

Menschen angesprochen. Bei einer frühen Operation im<br />

Kindesalter riefen mich die Ärzte nach der OP beim Vornamen,<br />

um mich aus der Narkose zu holen. Und welche<br />

Schicht wird gar mit dem Ruf «Lazarus, komm heraus!»<br />

angerufen, der sprichwörtlich von den Toten erweckt wird.<br />

Das Aussprechen des Namens spricht etwas Tiefes in der<br />

Persönlichkeit des Angesprochenen an. Haben wir dies im<br />

Bewusstsein, wenn wir die Namen unserer Schülerinnen<br />

und Schüler aussprechen?<br />

Der Name kann daher auch wie ein Schlüssel zu einem<br />

gehüteten Geheimnis wirken, wie es bei Rumpelstilzchen<br />

der Fall ist. Erst das Aussprechen löst den Zauber. Ist der<br />

Name nicht bekannt, dann fehlt auch die damit verbundene<br />

Macht der Anrufung. Diese Anrufung kann magischen<br />

Charakter annehmen, wie bei der Heilung des Besessenen<br />

von Gerasa: «Mein Name ist Legion, denn unserer sind<br />

viele.» (Markus 5,9). Erst muss die numinose Vielheit der<br />

eingedrungenen Dämonen auf einen Namen verdichtet<br />

werden, worüber dann das Ansprechen und in diesem Beispiele<br />

eine heilende Macht ausgeübt werden kann. Der<br />

Name hängt somit auch mit dem Geheimnis des gesprochenen<br />

(wahren) Wortes eng zusammen.<br />

Aus dem lautlichen Ruf des Namens kann auch ein weiterer<br />

Ruf entstehen. Wenn jemand sich «einen Namen gemacht<br />

hat», dann besitzt er einen Ruf, der ihn umgibt wie<br />

glasses [German: Brille], and the whole faculty breathed a<br />

sigh of relief! Now it was always clear: B for Barbara and<br />

Brille (glasses). A risky reduction that one of my colleagues<br />

fell victim to when she greeted Barbara one morning with,<br />

«Good morning, Brille!» But in a way, we are all making this<br />

mistake all of the time, if we overlay our perceptions too<br />

quickly with supposedly safe ideas or opinions. To finish<br />

the story: Several weeks later the other twin got tired of<br />

this game and appeared from then on with identical glasses,<br />

even though she didn’t need them.<br />

Ónoma


ein schützender Mantel. Was ruft der Klang des Namens<br />

einer Schülerin oder eines Schülers in uns hervor? Sind wir<br />

in der Lage, den dahinterstehenden, vielleicht noch keimhaften<br />

«Ruf» wahrzunehmen, der sich vielleicht später erst<br />

entwickeln wird? Vielleicht können wir dann den «wahren<br />

Namen» eines Menschen erahnen, der nicht lautlich in Erscheinung<br />

tritt, der aber das Tiefere eines Menschen offenbart.<br />

Adam hatte im Paradies den Auftrag bekommen,<br />

allen Tieren Namen zu geben und man kann sich nicht gut<br />

vorstellen, dass er hier nur Bezeichnungen vorgenommen<br />

hat. Vielmehr durfte er dies tun, weil dem Menschen die<br />

Kraft gegeben war, mit einem Wort ein Wesen zu erfassen.<br />

Wenn wir etwas «beim Namen nennen» dann haben wir<br />

den entscheidenden Punkt getroffen. Diesen können wir<br />

ebenso verfehlen wie auch treffen, wenn wir einen Jugendlichen<br />

auf etwas ansprechen, das ihn oder uns betroffen<br />

hat. Auch hierbei müssen wir den richtigen Ton anschlagen,<br />

was wiederum zeigt, wie sehr die Sphäre des Namens<br />

auch mit der Welt der Klänge und schliesslich mit der Musik<br />

zu tun hat.<br />

Dóxa<br />

Haben wir uns erst einmal auf der Grundlage einer Erfahrung<br />

eine Meinung von einer Sache oder einem Menschen<br />

gebildet, dann kann es schwierig werden, diese wieder abzulegen,<br />

wenn sie nicht mehr stimmig ist. Die eigenen Vorstellungen<br />

flexibel und beweglich zu halten, zählt sicher<br />

zu den zentralen Aufgaben bei der Erziehung und Begleitung<br />

von Kindern und Jugendlichen. Die Pflanze bietet uns<br />

ein Übungsfeld, auf dem wir eine innere Anschauung von<br />

einer Metamorphose gewinnen können. Die Pflanze kann<br />

somit als Zeitgestalt begriffen werden und war für Goethe<br />

als solche auch in der Vorstellung dynamisch präsent:<br />

«Wenn ich mein Auge schloss und den Kopf senkte und<br />

mir die Blume genau im Zentrum meines Sehorgans vorstellte,<br />

entsprangen diesem Herzen neue Pflanzen, die<br />

farbige Blütenblätter und grüne Blätter hatten. … Ich<br />

konnte die Produktion nicht anhalten, die solange anhielt,<br />

wie meine Kontemplation andauerte, sich weder<br />

beschleunigend noch verzögernd.» (Goethe, S. 273)<br />

Auch der Mensch entwickelt sich im Laufe der Biographie<br />

in Form einer Zeitgestalt, die jedoch nicht von vornherein<br />

determiniert ist. Daher wäre ein direkter Vergleich nicht<br />

sinnvoll. Aber genauso, wie in der Eichel das Potential zum<br />

ausgewachsenen Baum vorhanden ist, lassen sich auch im<br />

heranwachsenden Menschen Potentiale entdecken. Wie<br />

können wir uns schulen, diese besser wahrzunehmen?<br />

Wenn unsere Intuition uns dabei nicht hilft, gibt es noch<br />

ming all of the animals in Paradise, and it is hard to imagine<br />

that he simply made random designations. Rather, he<br />

was able to do this because human beings had been given<br />

the power to capture the essence of a being with a word.<br />

When we «call something by its name», we have reached<br />

the decisive point. This point is just as easy to miss as to<br />

hit when we speak to a young person about something<br />

that happened to us or them. It is important to find the<br />

right «tone», which in turn shows how closely the sphere<br />

of naming is related to the world of sounds and ultimately<br />

to music.<br />

Dóxa<br />

Once we have formed an opinion of a thing or a person based<br />

on an experience, it can be difficult to discard it if it is<br />

no longer valid. Keeping our own ideas flexible and agile is<br />

certainly one of our central tasks in educating and guiding<br />

children and adolescents. Plants offer us the opportunity<br />

to gain insight into metamorphosis. Therefore, plants can<br />

be understood as temporal beings and, as such, were dynamically<br />

present in Goethe’s imagination:<br />

«When I closed my eyes, lowered my head and imagined<br />

the flower exactly in the center of my vision, new plants<br />

sprang from this heart, with colorful petals and green<br />

leaves. … I couldn’t stop this generation, which lasted as<br />

long as my concentration held, neither speeding up nor<br />

slowing down.» (Goethe, p. 273)<br />

Human beings also develop throughout our biographies<br />

as temporal entities, but our development is not predetermined.<br />

A direct comparison to plants would therefore<br />

would therefore not be meaningful. But just as the potential<br />

for a full-grown tree is present in an acorn, we can also<br />

discover potential in growing human beings. How can we<br />

train ourselves to better perceive it?<br />

If our intuition isn’t helping, there is another possibility:<br />

to give the young people access to the world and closely<br />

observe how they react to it. This requires careful observation<br />

and complete attention, as their reactions can be<br />

small and subtle and easy to miss. A classic example is one<br />

well known to class teachers: Put two students – possibly<br />

with the same temperament – together, and it is almost<br />

impossible to predict what will happen. It is essential that<br />

we accompany this with close observation (aísthesis); otherwise,<br />

these moments will pass unnoticed. The students<br />

8<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


eine andere Möglichkeit: den Jugendlichen Weltzugänge<br />

ermöglichen und dabei genau beobachten, wie sie darauf<br />

reagieren. Hier ist unsere exakte Beobachtung und volle<br />

Aufmerksamkeit gefragt, denn die Reaktion kann klein<br />

und unscheinbar ausfallen und wir können leicht darüber<br />

hinwegsehen. Der Klassiker in dieser Hinsicht ist eine<br />

Massnahme, die Lehrkräften wohlbekannt ist: Man setzt<br />

zwei Schüler zusammen – eventuell mit dem gleichen<br />

Temperament – und es ist nahezu unvorhersehbar, was<br />

geschehen wird. Dies muss allerdings von einer genauen<br />

Beobachtung (Aísthesis) begleitet werden, sonst werden<br />

diese Momente unbemerkt vorüber gehen. Der Schüler ändert<br />

plötzlich sein Verhalten und wir sehen ihn zugleich<br />

anders, weil wir unsere Dóxa erweitert haben.<br />

Ich hatte einmal einen Schüler mit ADHS-Diagnose in meiner<br />

Klasse, der während des Unterrichts ständig mit seinen<br />

Nachbarn redete und nebenbei immer noch mit anderen<br />

Dingen beschäftigt war – er konnte auch stets meine letzten<br />

drei Sätze wiederholen, wenn ich ihn aufrief. Es war für mich<br />

eine grosse pädagogische Herausforderung, ihn sinnvoll<br />

in den Unterricht einzubinden. Als wir die Arbeit an einem<br />

Klassenspiel begannen, kam dieser Schüler nach der ersten<br />

Besprechung zu mir und sagte, dass er gern die Beleuchtung<br />

übernehmen würde. In den nächsten Wochen zeigte er Fähigkeiten,<br />

die ich bisher an ihm nicht wahrgenommen hatte:<br />

Er war mit seiner Aufmerksamkeit überall präsent und täglich,<br />

am Ende der Proben, wenn alle gegangen waren, kam<br />

er zu mir und wies mich auf technische Missstände hin, die<br />

wir beheben müssten: Eine defekte Lampe, eine Stolperfalle<br />

hinter der Bühne, ein Wackelkontakt im Sicherungskasten…<br />

So ging es fast jeden Tag und für mich wurde dieser junge<br />

Mann ein verantwortungsvoller und zuverlässiger Mitarbeiter,<br />

weil ich mich voll und ganz auf ihn verlassen konnte<br />

und er Dinge wahrnahm, die mir völlig entgingen. Diese Erfahrung<br />

veränderte mein Gesamtbild – meine Dóxa - über<br />

diesen Schüler vollständig und dies wiederum veränderte<br />

auch unser Verhältnis zueinander. In den folgenden Wochen<br />

entwickelten wir gemeinsame Absprachen unser beider<br />

Verhalten betreffend – welche Unterstützung er von mir<br />

brauchte, um besser in den Unterricht einsteigen zu können<br />

und welche Verhaltensweisen er in bestimmten Phasen des<br />

Unterrichts nach Möglichkeit unterlassen sollte. Diese Verabredungen<br />

wirkten sich nachhaltig positiv aus und wurden<br />

auch bei Bedarf neu angepasst. Diese Erfahrung hatte meine<br />

festgefahrene Dóxa aufgebrochen und wieder in eine dynamische<br />

verwandelt – was letztendlich die Lehrer-Schüler-Beziehung<br />

verändert hat.<br />

Wenn wir neue Weltbezüge für Schülerinnen und Schüler<br />

ermöglichen, haben auch wir selbst die Möglichkeit, eine<br />

neue Erfahrung zu machen, vorausgesetzt, wir sind aufmerksam<br />

genug. Wenn man will, kann man dies auch zu<br />

einer Übung machen – in Anlehnung an die Zeichen-Übung<br />

will suddenly change their behavior, and we will also see<br />

them differently, because we have expanded our dóxa.<br />

I once had a student with an ADHD diagnosis in my class,<br />

who constantly talked with his neighbors during class and<br />

was always busy doing other things at the same time. He<br />

was also always able to repeat my last three sentences<br />

when I called on him. It was quite a pedagogical challenge<br />

for me to integrate him into the lessons in a meaningful<br />

way. When we began to work on our class play, this student<br />

came to me and said that he would like to take on the<br />

stage lighting. In the following weeks, he showed abilities<br />

that I had not noticed in him before: He was present and<br />

aware of every aspect of the rehearsals, and at the end of<br />

rehearsal, after everyone else had left, he would come to<br />

me and draw my attention to technical issues that needed<br />

to be fixed: a broken light, a tripping hazard backstage, a<br />

loose connection in the fuse box … This went on almost<br />

every day and the young man became a responsible and<br />

reliable collaborator. I was able to rely on him completely,<br />

and he noticed things that completely escaped me. This<br />

experience changed my overall picture – my doxa – of this<br />

student entirely, which in turn changed our relationship.<br />

In the weeks that followed, we developed mutual agreements<br />

about how we should both behave – what support<br />

he needed from me in order to better connect with the lessons,<br />

and what behavior he should refrain from in certain<br />

sections of the class, if possible. These agreements had a<br />

lasting positive effect and were also readjusted as needed.<br />

This experience had shaken up my entrenched dóxa and<br />

made it dynamic again, which also changed our teacherstudent<br />

relationship.<br />

When we allow our students to form new relationships to<br />

the world, we are also allowing ourselves to have new experiences,<br />

as long as we are paying enough attention. This<br />

can also be made into an exercise – similar to the drawing<br />

exercise for aísthesis – in which we predict behavior and<br />

then reflect, afterward, on whether, to what extent and<br />

why the prediction was wrong.<br />

Lógos<br />

Describing a human being with a single concept – no matter<br />

how complex – is certainly already a reduction. But lógos,<br />

as a creative force, may come much closer to the essence<br />

of a person if we ask ourselves, «Why is this person here?<br />

9


zur Aísthesis, indem man vorher für sich eine Prognose zu<br />

dem Verhalten entwickelt und dann nachträglich darüber<br />

reflektiert, ob, wieweit und aus welchem Grund die Prognose<br />

falsch war.<br />

Lógos<br />

Einen Menschen durch einen Begriff – und sei er noch so<br />

komplex – zu beschreiben, ist sicherlich bereits eine Reduktion.<br />

Aber der Lógos im Sinne einer schöpferischen<br />

Kraft kommt dem Wesen eines Menschen vielleicht schon<br />

näher, wenn wir uns fragen: «Warum ist dieser Mensch<br />

hier? Was will er erschaffen? Was will er in diesem Leben<br />

lernen?» Wenn wir uns die hierbei entstehende Idee im Sinne<br />

des Beuys-Schülers Johannes Stüttgen 2 mehr als Energie<br />

denn als eingefrorenen Begriff erfahren, dann kommen<br />

wir den treibenden Kräften in der Biographie näher.<br />

Schliesslich lässt sich dieses Ziel oder dieser Sinn wieder<br />

in ein Wort verdichten. Man kann damit zunächst bei sich<br />

selbst anfangen und sich fragen, was die zentralen Anliegen<br />

im eigenen Leben sind: «Welches Thema zieht sich<br />

wie ein roter Faden durch die bedeutungsvollen Ereignisse<br />

in unserem Leben? Warum bin ich hier? Was suche ich? Bei<br />

welchem einen Wort verspüren wir dabei die grösste Resonanz?»<br />

Diese Verdichtung kann uns helfen, bei zukünftigen<br />

Entscheidungen abzuspüren, welche Konsequenzen<br />

ein Entschluss auf unser zentrales Lebensthema haben<br />

könnte.<br />

Wenn wir dieses eine, zentrale Thema bei einem jugendlichen<br />

Menschen finden wollen, brauchen wir eine fliessende<br />

bewegliche Dóxa-Kultur. Unsere Vorstellungen, die<br />

wir zu diesem Menschen gebildet haben, müssen so beweglich<br />

sein, dass sie auch offen sind für zukünftige Entwicklungen.<br />

Unserer kontinuierlichen Beobachtung können<br />

wir stets weitere Hinweise entnehmen, worum es für<br />

diesen Menschen in seinem Leben gehen könnte. Der hier<br />

verwendete Konjunktiv soll unterstreichen, dass letztendlich<br />

die weitere Entwicklung von den freien Entscheidungen<br />

des Individuums bestimmt wird, sofern diese Freiheit<br />

erreicht wird. Wir üben diese Verdichtung auf ein zentrales<br />

Thema also in aller Vorläufigkeit, dennoch macht es einen<br />

Unterschied, ob wir zu einem Jugendlichen ein vorläufiges<br />

zentrales Thema erspüren oder nicht. Denn dies wirkt<br />

wie eine Hypothese, die modifiziert oder auch wiederlegt<br />

werden kann. Machen wir uns das zentrale Thema nicht<br />

bewusst, dann fallen uns die widersprüchlichen Wahrnehmungen<br />

dazu nicht auf und wir lernen nichts dazu. Wir<br />

entwickeln dann keinen individuellen, lebendigen Lógos<br />

für diese Person.<br />

What do they want to accomplish? What do they want to<br />

learn in this life?» If we experience the resulting idea as<br />

energy rather than as a frozen concept, as described by<br />

Beuys’ student Johannes Stüttgen, we can more closely approach<br />

the driving forces in the person’s biography.<br />

Ultimately, this goal or meaning can be condensed back<br />

into one word. We can begin by asking ourselves what the<br />

central themes are in our own life: «What theme runs like a<br />

common thread through the meaningful events in my life?<br />

Why am I here? What am I looking for? What one word resonates<br />

most strongly with me?» Condensing in this way<br />

can help us sense the consequences a potential decision<br />

might have on the central theme of our life.<br />

If we want to find this central theme in a young person’s<br />

life, we need a fluid, flexible dóxa culture. The ideas we<br />

have about this person must be flexible enough that they<br />

are open to future developments. Continuous observation<br />

can provide us with further clues as to what this human<br />

being’s life might be about. The subjunctive mood used<br />

here is intended to emphasize that, ultimately, further development<br />

is determined by the individual’s free decisions,<br />

provided this freedom is achieved. So we practice this<br />

condensing into a central theme completely provisionally.<br />

But whether we sense a provisional central theme for a<br />

young person or not makes a difference, because it works<br />

like a hypothesis that can be modified or even refuted. If<br />

we do not become aware of this central theme, then we<br />

also don’t notice contradictory perceptions and we don’t<br />

learn anything. Then, we cannot develop an individual, dynamic<br />

lógos for this person.<br />

10<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


Eídolon-Mythos<br />

Wir Menschen lieben Geschichten. Sonst würden wir keinen<br />

Erzählungen lauschen oder serienweise Filme anschauen.<br />

Ganz besonders lieben wir aber die authentische Geschichte,<br />

wenn jemand eine Erfahrung mit uns teilt – dann wird<br />

sie auch Teil unserer Welterfahrung. Ein Mythos ist wie ein<br />

Flussbett, in dem die Energie eines gesamten Kulturkreises<br />

fliesst. In diesen kann ich als Individuum eintauchen und<br />

Katharsis erfahren, wenn ich spüre, dass meine persönliche<br />

Erfahrung verbunden ist mit einer allgemeinen menschlichen<br />

Erfahrung, die ich mit vielen anderen teile.<br />

Können wir zu einem Menschen, den wir lieben oder einem<br />

Heranwachsenden, der uns anvertraut ist, einen Mythos<br />

schaffen? Ein Narrativ, das so sprechend ist, dass es das<br />

Wesen des Menschen beschreibt, so wie Prometheus durch<br />

den nach ihm benannten Mythos charakterisiert ist?<br />

Wir haben im Kollegenkreis einmal an einer Charakterisierung<br />

der Oberstufenklassen von der 9. bis 12. gearbeitet,<br />

und zwar unabhängig von einer konkreten einzelnen<br />

Klasse, mit dem Ziel, eine Art Urbild für jede Klassenstufe<br />

zu finden. So könnte man auch für jede Klassenstufe<br />

nach einem passenden Mythos suchen. Ein Jugendlicher<br />

in der 9. Klasse etwa hat eine Affinität zur Prometheus-Gestalt.<br />

Wie der «Knabe, der Disteln köpft» (Goethe 1982),<br />

erprobt er seine Macht gegen jedwede Form von Obrigkeit.<br />

Er ist im Prozess, sein eigenes Feuer zu entdecken<br />

und das zu finden, wofür er brennt. Er will Autonomie erlangen<br />

– gegenüber Eltern und Lehrkräften. Für die Erprobung<br />

seiner neuen Möglichkeiten nimmt er Nachteile und<br />

Sanktionen in Kauf. Im rhythmischen Teil des Unterrichts<br />

in einer neunten Klasse wurde meiner Erfahrung nach Goethes<br />

Prometheus-Gedicht immer begeistert aufgenommen<br />

und mit Energie rezitiert, obwohl eigentlich zumeist eine<br />

gewisse Goethe-Übersättigung vorlag. Wenn wir also eine<br />

neunte Klasse betreten, können wir an der Tür kurz innehalten<br />

und uns bewusstmachen, zu wem wir gleich sprechen<br />

werden.<br />

Der Jugendliche aus der 10. Klasse gleicht Odysseus. Er entdeckt<br />

sein selbständiges Denken und wird erfinderisch. Rudolf<br />

Steiner weist darauf hin, dass dies die Lebensphase ist,<br />

in der die Intelligenzentwicklung ihren Höhepunkt erreicht,<br />

es fehlt ihr nur die Erfahrung. Im Mathematikunterricht wird<br />

es möglich, in der Gruppenarbeit eigene Beweise entwickeln<br />

zu lassen. Die kreativen Ansätze und ungewöhnlichen Lösungen<br />

der Schülerinnen und Schüler dieser Altersstufe haben<br />

mich immer wieder überrascht. Erfreut stellte ich im<br />

Rahmen eines Sabbaticals an einer Waldorfschule in den<br />

USA fest, dass es dort in der 10. Klasse eine Odysseus-Epoche<br />

gab. Die Schülerinnen und Schüler üben darin unter anderem<br />

Bogenschiessen und fertigen dazu ihren eigenen Bogen<br />

an. Auch im intellektuellen Feld lernen sie, ihr eigenes<br />

Eídolon-mythos<br />

We human beings love stories. Otherwise we wouldn’t<br />

listen to tales or watch serial films or television shows.<br />

But we especially love authentic stories, when someone<br />

shares an experience with us – these become part of our<br />

experience of the world. A myth is like a riverbed in which<br />

the energy of an entire culture flows. As an individual, I<br />

can immerse myself in it and experience catharsis when I<br />

sense that my personal experience is connected with a universal<br />

human experience that I share with many others.<br />

Can we create a mythos for a person we love or a young<br />

person entrusted to our care? A narrative so meaningful<br />

that it describes the essence of the person, as Prometheus<br />

is characterized by his eponymous myth?<br />

Our faculty circle once worked on a characterization of the<br />

high school (9 th through 12 th ) grades, independent of a single,<br />

concrete class, with the goal of finding a kind of archetype<br />

for each grade level. You could also look for a mythos<br />

that fits each grade level. 9th graders, for example, have an<br />

affinity to the figure of Prometheus. Just like the «boy who<br />

beheads thistle» (Goethe 1982), they test their strength<br />

against every form of authority. They are in the process<br />

of discovering their own fire – of finding what lights them<br />

up. They want to gain autonomy from parents and teachers.<br />

They are willing to risk penalties and punishments<br />

for testing their new abilities. In my experience, 9 th graders<br />

have enthusiastically received and recited Goethe’s Prometheus<br />

poem in the rhythmic section of class, despite<br />

a general Goethe overload. So when we enter a 9 th grade<br />

classroom, we might pause at the door and remember who<br />

we are about to speak to.<br />

10 th graders are like Odysseus. They are discovering their<br />

independent thinking and becoming inventive. Rudolf<br />

Steiner points out that this is the phase of life in which<br />

the development of intelligence reaches its peak, but accompanied<br />

by a lack of experience. It is now possible for<br />

students to develop their own mathematical proofs in<br />

groups. The creative approaches and unusual solutions<br />

from students in this age group have always amazed<br />

me. During a sabbatical at a Waldorf school in the USA, I<br />

was delighted to discover that the 10 th grade there has an<br />

Odysseus main lesson block. During this block, the students<br />

practice archery and make their own bows, among<br />

other things. On the intellectual plane, they also learn to<br />

sharpen their tools and to aim at and hit a target. And we<br />

11


Werkzeug zu schärfen, ein Ziel anzuvisieren und zu treffen.<br />

Und wir können uns schliesslich fragen: Worüber würde ich<br />

mit Odysseus sprechen, wenn ich ihn persönlich träfe?<br />

Wenn man morgens in eine 11. Klasse geht, ist die Unruhe<br />

aus der 9. Klasse vollends vergangen. Stille und Introvertiertheit<br />

breiten sich aus. Viele haben bereits einen Führerschein<br />

für einen Motorroller und erscheinen mit Helm<br />

und Schutzkleidung. Manchmal entsteht der Eindruck,<br />

man sei in die Gesellschaft von Rittern eingetreten. Es ist<br />

die Gestalt des Parzivals, die den 11.-Klässlerinnen und<br />

-klässlern am meisten ähnelt. Sinnfragen stehen an der<br />

Tagesordnung. Viele sind bereits durch erste Liebeserfahrungen<br />

und Trennungen hindurchgegangen und werden<br />

sich der Konsequenzen ihrer eigenen Taten bewusst. Zugleich<br />

tritt jedoch auch eine erste Vorahnung des eigenen<br />

beruflichen Schicksals in das Bewusstsein, was gut zu den<br />

Erfahrungen des Berufspraktikums passt, das in der Regel<br />

in dieser Altersstufe erfolgt. Den eigenen Weg finden im<br />

Moment der Bewusstwerdung der eigenen Individualität,<br />

hinein in eine Gesellschaft mit ihren gesetzten Regeln –<br />

das ist die Aufgabe, vor die sich ein 17-jähriger Mensch<br />

gestellt sieht. Und er oder sie muss lernen, die richtigen<br />

Fragen zu stellen, an sich selbst und an die Gesellschaft.<br />

Wenn man den Lehrplan der 12. Klasse betrachtet, dann<br />

taucht ein Thema immer wieder auf: Überblick über das<br />

Ganze. Man kann sich in der Vielfalt verlieren, wenn man<br />

keine für sich stimmigen Zusammenhänge findet. Genau<br />

dies ist die Aufgabe der Lehrlinge zu Sais, so wie Novalis<br />

sie beschreibt (1997), wenn sie in die Natur geschickt werden<br />

und das Gesammelte in Reihen ordnen, so dass ein<br />

höherer Sinn sichtbar wird. Ist diese Fähigkeit genügend<br />

herangereift, sich in der verwirrenden Vielfalt der Welt<br />

zurechtzufinden, werden sie von dem Meister (oder der<br />

Meisterin) fortgeschickt, was heute ja kollektiv mit dem<br />

Schulabschluss geschieht.<br />

Zum Mythos gehört auch das Eídolon, das Bild, das mehr<br />

als tausend Worte sagt, das verdichtet ist und als Orientierung<br />

dienen kann. Wenn wir derartige Mythen oder Bilder<br />

zu Gruppen oder auch Einzelnen im Hintergrund für uns<br />

selbst bewegen, dann können sie uns helfen, die richtige<br />

Ansprache zu finden. Schliesslich würden wir mit Prometheus<br />

anders reden als mit Odysseus. Zu Prometheus<br />

würden wir vielleicht sagen: Ich werde kämpfen – bist du<br />

dabei? Die Frage an Odysseus könnte lauten: Hast du eine<br />

Idee, wie wir das am besten anpacken? Mit Parzival könnten<br />

wir darüber sprechen, ob diese Tat wirklich unsere<br />

eigene ist und keine Übernahme von fremden Werten. Und<br />

die Lehrlinge zu Sais würden uns etwas darüber sagen,<br />

welchen Zusammenhang ihre Taten und Ziele mit dem<br />

grossen Ganzen haben.<br />

can ask ourselves, «What would I talk about with Odysseus<br />

if I met him in person?»<br />

When I enter an 11 th grade class in the morning, the 9 th<br />

grade restlessness is completely gone. Silence and introversion<br />

prevail. Many already have a scooter license and<br />

appear with a helmet and protective clothing. I sometimes<br />

have the impression that I have entered the company of<br />

knights. 11 th graders most closely resemble the figure of<br />

Parzival. Questions of meaning are the order of the day.<br />

Many have already gone through their first experiences of<br />

love and breakups and are becoming aware of the consequences<br />

of their own actions. At the same time, they are<br />

beginning to have inklings of their professional destiny,<br />

which fits in well with the professional internship that is<br />

usually part of the curriculum at this age. Finding their<br />

own way in a society with set rules, at the same moment<br />

they are becoming aware of their own individuality – that<br />

is the task facing the 17-year-old. And they must learn to<br />

ask the right questions, of themselves and of society.<br />

If we look at the 12 th grade syllabus, one theme crops up<br />

again and again: the big picture. It is easy to get lost in the<br />

multiplicity if we cannot find a context that is meaningful<br />

to us. This is exactly the task of the Apprentices at Sais,<br />

as described by Novalis (1997), who are sent out into nature<br />

and then organize what they have gathered into rows,<br />

in order to see a higher meaning. Once this capacity has<br />

sufficiently matured for them to be able to find their way<br />

in the confusing multiplicity of the world, they are sent<br />

away by the Master (or Mistress), an event which parallels<br />

today’s high school graduation.<br />

The eídolon, the image worth a thousand words that is<br />

condensed and can serve as orientation, also belongs to<br />

mythos. If we hold such myths or images in the back of<br />

our minds when working with groups or even individuals,<br />

they can help us find the right approach. After all, we<br />

would speak differently to Prometheus than to Odysseus.<br />

To Prometheus, we might say, «I’m going to fight; are you<br />

with me?» While our question to Odysseus might be, «Do<br />

you have any ideas about the best way to go about this?»<br />

With Parzival, we might consider whether this action is really<br />

authentic to us, or whether it might be an adoption of<br />

someone else’s values. And the apprentices at Sais would<br />

tell us something about how their actions and goals fit into<br />

the larger picture.<br />

These images are meant as examples and should be understood<br />

as a possible approach to the ‹mood of an age<br />

12<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


Diese Bilder sind hier beispielhaft gemeint und sollen als<br />

eine mögliche Annäherung an die ‹Stimmung einer Altersstufe›<br />

verstanden werden – denn letztendlich geht es ja um<br />

die Entwicklung von individuellen Bildern. Diese Beispiele<br />

können aber dazu anregen, überhaupt mit derartigen Bildern<br />

umzugehen.<br />

Dialektik<br />

«Was ist herrlicher als Gold?» fragte der König. «Das<br />

Licht», antwortete die Schlange. «Was ist erquicklicher als<br />

Licht?» fragte jener. «Das Gespräch» 3 , antwortete diese.<br />

Wir alle kennen Gespräche, in denen echte Begegnung erfahren<br />

wird und nach denen alle Beteiligten mehr wissen<br />

als vorher, Gespräche in aller Offenheit und guter Absicht,<br />

die allerdings auch einen geschützten Raum benötigen,<br />

um sich nach ihrem eigenen Tempo zu entfalten.<br />

Können wir aber bewusst in einen solchen Dialog eintreten?<br />

Claus Otto Scharmer hat dazu vier Felder beschrieben<br />

(Isaac 2002, S. 216 ff.), die jeweils nacheinander durchlaufen<br />

werden müssen, um schliesslich in das Feld eines generativen<br />

Dialogs einzutreten, der die oben beschriebenen<br />

Qualitäten besitzt. Am Anfang einer Begegnung oder eines<br />

Gesprächs befinden wir uns zunächst im Feld des talking<br />

nice. Ein höflicher Austausch findet statt, bei dem jeder<br />

versucht, den anderen nicht «auf die Füsse zu treten», also<br />

eher ein typisches Partygespräch, bei dem man mehr oder<br />

weniger über Belangloses spricht und kritische Themen<br />

vermeidet. Der Übergang zum zweiten Feld, dem talking<br />

tough geschieht durch einen Widerspruch: Einer der Beteiligten<br />

geht in eine Gegenposition zu einer Haltung oder<br />

zu einer ausgesprochenen Meinung, was schnell zu einer<br />

hitzigen Debatte führen kann. Selbstverständlich können<br />

die gegensätzlichen Positionen aber auch ganz sachlich<br />

vorgetragen werden. Der springende Punkt ist: Die Fronten<br />

verhärten und es scheint keinen Ausweg aus dieser<br />

festgefahrenen Situation zu geben.<br />

Der Schritt in das dritte Feld, in den reflektiven Dialog, geschieht<br />

nur dann, wenn einer der Kontrahenten beginnt,<br />

sich zu öffnen und seine darunterliegenden Annahmen<br />

offenlegt – dazu muss er oder sie diese (stillschweigenden)<br />

Annahmen aber selbst kennen. Ausserdem braucht<br />

es ein gegenseitiges Vertrauen, einen geschützten Raum.<br />

David Bohm nennt dies den Container (Bohm 1998). Er ist<br />

die Kraft, welche die Gesprächsteilnehmer zusammenhält,<br />

so dass sie die Situation nicht einfach verlassen, oder ihnen<br />

der Ausgang des Gesprächs gleichgültig ist. Die Pflege<br />

dieses gemeinsamen Raumes gehört zu einer guten Gesprächskultur.<br />

Ziel des reflektiven Dialogs kann es natürlich<br />

auch sein, die eigenen Annahmen zunächst einmal gemeinsam<br />

zu erkunden.<br />

group› – because ultimately the focus is on the development<br />

of individual images. But these examples might inspire<br />

us to begin to work with these kinds of images in the<br />

first place.<br />

Dialectic<br />

«What is more glorious than gold?» asked the king.<br />

«Light,» replied the serpent. «What is more refreshing<br />

than light?» asked the king. «Conversation 3 ,» replied the<br />

latter.<br />

We are all familiar with conversations in which true meetings<br />

of minds take place – conversations after which all<br />

participants understand more than they did before; conversations<br />

that are completely open and well-intentioned,<br />

but which also require a safe space in which to unfold at<br />

their own pace.<br />

But can we consciously enter into a dialogue of this kind?<br />

Claus Otto Scharmer described four spaces (Isaac 2002, P. 216<br />

ff.), we must first pass through in order to finally enter into<br />

a space of generative dialogue that has the qualities described<br />

above. At the beginning of an encounter or a conversation,<br />

we find ourselves in the talking nice space. This<br />

is a polite exchange in which everyone tries not to «step on<br />

the other’s toes» – typical cocktail talk, in which everyone<br />

talks about more or less trivial matters and avoids critical<br />

topics. The transition to the second space, talking tough, is<br />

brought about by a disagreement: One of the participants<br />

takes an opposing position to an attitude or to an expressed<br />

opinion, which can quickly lead to a heated debate.<br />

Of course, opposing positions can also be expressed in a<br />

quite objective manner. The crucial point is that the two<br />

sides become more rigid and there doesn’t appear to be a<br />

way out of this deadlocked situation.<br />

The transition into the third space, reflective dialogue, only<br />

happens when one of the opposing parties begins to open<br />

up and reveal their underlying assumptions – but in order<br />

to do so, they must first be aware of these (tacit) assumptions.<br />

This also requires mutual trust, and a safe space. David<br />

Bohm calls this safe space the container (Bohm 1998).<br />

This is the force that holds the participants together so<br />

that they are not indifferent to the outcome of the conversation,<br />

and do not simply leave the situation. Maintaining<br />

this shared space is an important part of a culture of good<br />

communication. Of course, one goal of reflective dialogue<br />

can also be to begin to explore our assumptions together.<br />

13


Generell ist es beim Übergang ins dritte Feld hilfreich, von<br />

der Meinungsebene auf die Erfahrungsebene zu wechseln<br />

und diejenigen Erlebnisse zu beschreiben, welche uns zur<br />

ausgesprochenen Meinung geführt haben. Wenn der Gesprächspartner<br />

dieser Geste folgt und ebenfalls beginnt,<br />

von seinen meinungsbildenden Erfahrungen zu sprechen,<br />

dann besteht die Chance zu einer gemeinsamen Reflektion<br />

auf unterschiedlichen Quellen. Wenn dies gelingt,<br />

verändert sich meist auch die Stimmung des Gesprächs:<br />

Aus Gegnern können Partner werden, die das Thema gemeinsam<br />

erkunden.<br />

Das vierte Feld, der generative Dialog, ist deutlich schwieriger<br />

zu erreichen: Hier müssen die individuellen, vergangenheitsbezogenen<br />

Erfahrungen wiederum losgelassen<br />

werden, damit etwas Zukünftiges, für alle Beteiligten<br />

Neues entstehen kann. In dieser Art von Gesprächen entsteht<br />

eine gemeinsame Idee, und am Ende ist oft gar nicht<br />

feststellbar, von wem diese Idee eigentlich stammt. In dieser<br />

Phase verändert sich auch der Zeitfluss, während im<br />

dritten Feld eine Verlangsamung stattfindet, scheint im<br />

Feld des generativen Dialogs die Zeit keine Rolle mehr zu<br />

spielen.<br />

Bei jedem dieser drei Feldübergänge müssen die Gesprächsteilnehmer<br />

etwas loslassen, um eine neue Gesprächsebene<br />

zu erreichen. Im ersten Schritt sind dies die<br />

gesellschaftlichen Konventionen, im zweiten Schritt müssen<br />

sie aufhören, sich hinter ihren Meinungen zu verstecken<br />

und sich persönlich sichtbar machen und schliesslich<br />

müssen sie sich von ihrer persönlichen Geschichte lösen.<br />

Daraus lässt sich für den Einzelnen keine Gesprächstechnik<br />

ableiten; man kann die Übergänge zwar moderierend<br />

unterstützen, aber sie erfordern immer die Bereitschaft<br />

und die Mitwirkung aller Beteiligten.<br />

Einige Wochen nach den Sommerferien wurde der Unterricht<br />

in einer von mir betreuten Klasse nach und nach mühsamer.<br />

Was ich auch versuchte, ich konnte trotz einer hohen<br />

Vertrautheit (Container) die Schülerinnen und Schüler<br />

mit meinen Themen und mit meiner Art der Ansprache<br />

nicht mehr erreichen, obwohl ich methodisch viel ausprobiert<br />

hatte. Irgendwann mitten im Hauptunterricht, als<br />

das Unterrichtsgespräch besonders zäh wurde, beschloss<br />

ich spontan die Klasse mit meiner Sicht der Dinge offen<br />

zu konfrontieren (Übergang zu talking tough). Ich sagte<br />

ihnen, ich könne sie jetzt nicht mehr unterrichten, denn<br />

ich hätte das Gefühl, sie nicht mehr zu erreichen. Schweigen<br />

in der Klasse, vielleicht auch Betroffenheit. Einer Eingebung<br />

folgend, schlug ich vor, jeder, der wolle, könne<br />

doch einmal an die Tafel gehen und dort aufschreiben,<br />

was ihn oder sie gerade am meisten beschäftigte. Überraschenderweise<br />

gab es hier Zustimmung und im Laufe<br />

In transitioning into the third space, it is generally helpful<br />

to switch from the level of opinion to the level of experience,<br />

and to describe the experiences that led to the opinion<br />

we have expressed. If our conversation partner follows<br />

this example and also begins to speak of their opinionbuilding<br />

experiences, we have the opportunity to reflect<br />

together on the different sources. If this is successful, the<br />

mood of the conversation usually shifts: Opponents can<br />

become partners who explore the topic together.<br />

The fourth space, generative dialogue, is significantly<br />

more difficult to reach: Individual, past experiences must<br />

be let go of in order for something future-bearing – something<br />

new for all participants – to arise. In this kind of<br />

conversation, a shared idea emerges, and in the end it is<br />

often not even possible to determine who actually came<br />

up with the idea. In this space, the flow of time is also<br />

altered: While a slowing seems to occur in the third space,<br />

in the generative dialogue space, time seems to no longer<br />

play a role at all.<br />

In each of these three transitions, the conversation participants<br />

must let go of something in order to reach a new<br />

level of conversation. In the first step this is social conventions;<br />

in the second step they must stop hiding their opinions<br />

and become transparent; and finally, they must let go<br />

of their personal history/perspective. This cannot be used<br />

as a conversational technique for individuals – we can support<br />

these transitions by moderating, but the technique<br />

always requires the willing cooperation of all involved.<br />

Several weeks after summer break, teaching in one of my<br />

classes began to be more and more difficult. No matter<br />

what I tried, and despite a high level of trust (container)<br />

and attempts with various methods, I was no longer able<br />

to reach my students with my topics and approach. At<br />

some point in the middle of a main lesson block, when<br />

the class discussion became especially tough, I decided to<br />

confront the class openly with my perspective on things<br />

(transition to talking tough). I told them I could no longer<br />

teach them because I felt like I couldn’t get through to<br />

them anymore. The class was silent, perhaps dismayed.<br />

Following an intuition, I suggested that anyone who wanted<br />

to could go to the blackboard and write down what was<br />

most bothering them.<br />

Surprisingly, they agreed to this, and in the next ten minutes,<br />

many individuals came forward to write out what<br />

was bothering them (transition to reflective dialogue):<br />

stress with a boyfriend or girlfriend, a lack of understan-<br />

14<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


der nächsten zehn Minuten gingen immer wieder Einzelne<br />

nach vorn und schrieben auf, was sie bedrückte (Übergang<br />

in den reflektiven Dialog): Stress mit der Freundin/dem<br />

Freund, Unverständnis der Eltern, Probleme mit Drogen,<br />

Orientierungslosigkeit, Gefühle von Ausgeschlossenheit,<br />

Alleinsein… Als dann schliesslich die ganze Tafel vollgeschrieben<br />

war, wurde uns gemeinsam bewusst, dass die<br />

Schule im Leben der Schülerschaft offenbar gar keine Rolle<br />

spielte: Tatsächlich hatte kein einziger Beitrag an der<br />

Tafel etwas mit der Schule zu tun. Ein langes gemeinsames<br />

Schweigen folgte (an der Grenze zu Feld 4, dem generativen<br />

Dialog). Schliesslich wurde in einem Gespräch<br />

darüber klar, dass nicht die Lehrkraft allein etwas daran<br />

ändern könnte, sondern dass dies die Aufgabe aller Beteiligten<br />

war. Auch wenn in dieser Situation der Übergang<br />

in das vierte Feld nicht vollständig vollzogen wurde, hatte<br />

dieser Moment eine nachhaltige Wirkung. In den nächsten<br />

Tagen und Wochen kamen immer wieder einzelne Schüler<br />

nach dem Unterricht zu mir und wünschten sich bestimmte<br />

Themen für den Unterricht oder eine andere Form des<br />

Herangehens. Die Schülerinnen und Schüler hatten offensichtlich<br />

Mitverantwortung übernommen und brachten<br />

nun offen zum Ausdruck, was ihnen nicht gefiel und was<br />

ihnen fehlte. Dieses eine Gespräch veränderte die gesamte<br />

Unterrichtssituation in den darauffolgenden Monaten.<br />

Wir können lernen, Aufmerksamkeit dafür zu entwickeln,<br />

wenn wir im Gespräch mit einer Klasse oder im Kollegium<br />

in einem der ersten beiden Felder feststecken, welche Intuitionen<br />

oder Ideen uns dabei unterstützen könnten, um<br />

den Dialog auf eine neue Ebene zu befördern. Als ob man<br />

beginnen würde, innerlich in eine andere Richtung zu lauschen.<br />

Das wäre die Kunst der Dialektik im Sinne Platos.<br />

Wesensbegegnung<br />

Zu dieser letzten Erkenntnisstufe kann nicht mehr viel gesagt<br />

werden, da er mit Worten oder Bildern nicht mehr beschrieben<br />

werden kann. Aber wir kennen alle Momente der<br />

Stille im gemeinsamen Tun, in denen eine Einvernehmlichkeit<br />

herrscht, die keine Worte mehr braucht. So wie die Stille<br />

und das Schweigen in der im letzten Abschnitt geschilderten<br />

Szene im Klassenzimmer. Obwohl nichts gesagt<br />

wird, gibt es eine Erfahrung von Nähe und Begegnung. Oft<br />

wird uns diese Qualität erst im Nachhinein bewusst. Dann<br />

kann es uns gehen wie den Jüngern zu Emmaus, die nachher<br />

zueinander sagten «Brannte uns nicht das Herz in der<br />

Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn<br />

der Schrift erschloss?» (Lk 24,30–32). Ich kann mir zumindest<br />

gut vorstellen, dass auf diesem Weg nicht nur geredet wurde,<br />

sondern dass man auch schweigend nebeneinander<br />

ging, den Blick auf das gleiche Ziel gerichtet. Und so wie<br />

ding from their parents, problems with drugs, a lack of<br />

direction, feelings of isolation and loneliness…. When the<br />

whole board was filled, we realized together that school<br />

was clearly not important in these students’ lives: Not a<br />

single note on the board had anything to do with school. A<br />

long silence followed (on the edge of area 4, generative dialogue).<br />

Finally, in discussion, it became clear that teachers<br />

alone could not do anything to change the situation – this<br />

task required the cooperation of everyone involved. Even<br />

though the transition to the fourth area was not completed<br />

in this situation, this moment had a lasting impact. In<br />

the following days and weeks, many individual students<br />

came to me after class and requested specific topics for<br />

class or different approaches. The students had clearly<br />

taken on some of the responsibility and were now openly<br />

expressing what they didn’t like and what they were missing.<br />

This single conversation changed the entire teaching<br />

situation in the months that followed.<br />

When we are stuck in one of the first two areas with a class<br />

or colleagues, we can learn to develop awareness for which<br />

intuitions or ideas might support us in taking the dialogue<br />

to a new level. It is like beginning to listen inwardly, in a<br />

new direction. This is the art of dialectic as understood by<br />

Plato.<br />

Encountering the true essence<br />

Not much can be said of this last step in understanding, as<br />

it can no longer be described with words or pictures. But<br />

we all know moments of quiet in shared action, in which<br />

there is consensus that no longer needs words, just like<br />

the quiet in the classroom described in the last section.<br />

Although nothing is said, there is an experience of intimacy<br />

and meeting. Often, we first become aware of this<br />

quality after the fact. Then we may feel like the disciples<br />

at Emmaus, who said to each other afterwards, «Did not<br />

our hearts burn within us as he talked with us on the journey<br />

and revealed the meaning of the Scriptures to us?» (LK<br />

24, 30-32). I, at least, can well imagine that there was not<br />

only talk on this journey, but that they also walked quietly<br />

side by side, their gaze fixed on the same goal. And just as<br />

dialectic («revealed the meaning of the Scriptures to us»)<br />

can be seen as preliminary to the seventh level, all of the<br />

preceding stages can of course be seen as preparation for<br />

the highest level of understanding. We would therefore do<br />

well to consciously continue practicing all of the individual<br />

levels.<br />

15


die Dialektik («uns die Schrift erschloss») als eine Vorstufe<br />

zur siebten Ebene betrachtet werden kann, können natürlich<br />

alle vorangehenden Stufen als Vorbereitung auf die<br />

höchste Erkenntnis gesehen werden. Wir tun daher gut daran,<br />

alle einzelnen Stufen bewusst immer weiter zu üben.<br />

Obwohl die hier skizzierte siebenstufige Erkenntnisfolge<br />

aufeinander aufbaut, sind die einzelnen Schritte doch so<br />

aufeinander bezogen, dass man sie auch rückwärts durchlaufen<br />

kann: Ein neues Eídolon kann zu einer vertieften<br />

und neuen Wahrnehmung führen und ein offener Dialog<br />

zu einer neuen Dóxa. Wer kennt nicht die Erfahrung, dass<br />

nach einem tiefen, persönlichen Gespräch mit einem vielleicht<br />

bisher nicht so gut bekannten Menschen sich plötzlich<br />

dessen Gesicht zu verändern scheint? Diese Erfahrung<br />

konnte ich in den individuellen Jahresgesprächen mit<br />

Oberstufenschülerinnen und -schülern jedenfalls immer<br />

wieder machen. Der Dialog kann uns eine neue Sichtweise<br />

ermöglichen, der wir dann auch in der sinnlichen Wahrnehmung<br />

begegnen. Der Weg Platos muss also nicht unbedingt<br />

nur ein aufsteigender sein, man kann die Stufenleiter<br />

auch wieder hinabsteigen, um sich tiefer mit dem zu<br />

verbinden, was uns im Alltag direkt umgibt.<br />

Although the seven-step process outlined here builds<br />

upon itself, the individual steps are interrelated in such a<br />

way that we can also move through them in the opposite<br />

direction: A new eídolon can lead to new and deeper perceptions<br />

and open dialogue can lead to a new dóxa. Who<br />

hasn’t had the experience, after a deep, personal conversation<br />

with someone we perhaps hadn’t known that well,<br />

that their face suddenly looks different to us? I have had<br />

this experience time and again with high school students<br />

during our annual individual advisor meetings. Dialogue<br />

can open us to new perspectives, which we then also encounter<br />

in sensory perception. So Plato’s path must not<br />

necessarily ascend; we can also descend the steps, in order<br />

to more deeply connect with our everyday surroundings.<br />

Translation from German by Tascha Babitch<br />

Anmerkungen<br />

1<br />

Die Namen wurden geändert.<br />

2<br />

Vortrag in einem Seminar am Institut für Waldorfpädagogik in Witten<br />

Annen 2004.<br />

3<br />

Aus Goethes Märchen<br />

Notes<br />

1<br />

Names have been changed<br />

2<br />

Lecture in a seminar at the Institute for Waldorf Education in Witten<br />

Annen 2004<br />

3<br />

The Green Snake and the Beautiful Lily (Goethe)<br />

Literatur<br />

Lauenstein, D. (1971): Der Messias – eine biblische Untersuchung. Urachhaus,<br />

Stuttgart ||| Isaac, W. (2002): Der Dialog als Kunst gemeinsam zu<br />

denken. EHP Organisation ||| Goethe, J. W. (1982): Prometheus. Werke Bd.<br />

1: Gedichte und Epen I: Gedichte in zeitlicher Anordnung. C. H. Beck, München<br />

||| Goethe, J. W. (o. J.): Sophienausgabe. 2. Abt. Band 7. C. H. Beck,<br />

München ||| Novalis (1997): Gedichte. Die Lehrlinge zu Sais. Reclam, Ditzingen.<br />

16<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


17


Gewaltfreie<br />

(Heil-)pädagogik<br />

Umsetzung und Perspektiven der<br />

Rainbow Fondation in Sri Lanka<br />

Nonviolent<br />

(Therapeutic) Education<br />

Implementation and Prospects of the<br />

Rainbow Foundation in Sri Lanka<br />

Von Christiane Drechsler, Nur Erdem, Angelika Wiehl<br />

by Christiane Drechsler, Nur Erdem, Angelika Wiehl<br />

Einleitung<br />

Introduction<br />

Seit dem Frühjahr 2021 herrscht in Sri Lanka eine politisch<br />

und wirtschaftlich äusserst angespannte Lage. Als 2022<br />

die hier zu Grunde liegende wissenschaftliche Studie stattfand,<br />

fehlte es oft an Treibstoff, um zur Arbeitsstelle, in<br />

die Schule oder Kita zu fahren; stundenweise wurde der<br />

Strom abgestellt und im ganzen Land verbrachten Menschen<br />

wartend auf den Strassen und schliefen in Autos;<br />

viele konnten ihre Ziele nur zu Fuss oder per Fahrrad erreichen.<br />

Seit Ausbruch des Bürgerkriegs 1980 erlebt die Bevölkerung<br />

in Sri Lanka immer wieder Krisen. «Aber die jetzige<br />

Situation empfinden viele schlimmer als Bürgerkriege<br />

oder die Folgen des Tsunamis», so erzählt Sabrina, eine<br />

Mitarbeiterin der Rainbow Fondation. Die Rainbow Fondation<br />

ist eine von Martin Henrich gegründete heilpädagogische<br />

Initiative, die im Südwesten der Insel eine Preschool<br />

betreibt und sich um Kinder mit Behinderungen und mittellose<br />

Familien kümmert. Kinder aus sozialschwachen<br />

Verhältnissen, aber vor allem Kinder mit Einschränkungen<br />

oder Behinderungen haben in Sri Lanka kaum Möglichkeiten,<br />

eine ihnen angemessene schulische und berufliche<br />

Bildung zu erhalten. Viele Menschen wissen nicht, was sie<br />

mit sogenannten «Behinderten» oder «Lernschwachen»<br />

anfangen sollen und wie sie mit ihren unangepassten oder<br />

herausfordernden Verhaltensweisen umgehen können.<br />

Pädagogische Fachkräfte der Kitas und Schulen sind nicht<br />

auf inklusive oder individualisierende Umgangsweisen<br />

vorbereitet. Üblicherweise können sie an den Eingängen<br />

zu pädagogischen Institutionen ein Stöckchen nehmen,<br />

um Kindern, die sich nicht anpassen, die stören oder den<br />

Since spring 2021, Sri Lanka has been facing a politically<br />

and economically tense situation. When the research<br />

study underlying the text was conducted in 2022, there<br />

was often a shortage of fuel, making it difficult for people<br />

to commute to work, school, or daycare. Electricity was<br />

frequently cut off for hours, leaving people stranded on<br />

the streets or sleeping in their cars. Many had to resort to<br />

walking or cycling to reach their destinations. Since the<br />

outbreak of the civil war in 1980, the population of Sri<br />

Lanka has experienced recurring crises. «But many people<br />

perceive the current situation as worse than civil wars or<br />

the aftermath of the tsunami,» says Sabrina, a staff member<br />

of the Rainbow Foundation.<br />

The Rainbow Foundation is a therapeutic educational initiative<br />

founded by Martin Henrich, operating a preschool<br />

in the southwest of the island, dedicated to children with<br />

disabilities and from socioeconomically disadvantaged<br />

backgrounds. Especially those with disabilities, have limited<br />

opportunities to receive proper education and professional<br />

training in Sri Lanka. Many people are unsure of<br />

how to handle individuals labeled as «disabled» or children<br />

with «learning difficulties» and how to address their<br />

non-conforming or challenging behaviours. Educators in<br />

schools and daycare centres are not prepared for inclusive<br />

or individualized approaches. Typically, they can take<br />

a stick from the wall at the entrances to educational institutions<br />

to threaten or even strike children who do not<br />

conform, disrupt, or fail to meet expected standards. Alt-<br />

18<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


Christiane Drechsler, Prof.<br />

Dr. phil.; Studium der Erziehungswissenschaft,<br />

Philosophie<br />

und Neuerer Deutscher<br />

Literaturwissenschaft; Leitung<br />

der Behindertenhilfe im<br />

DRK Kreisverband Segeberg;<br />

Leitung des Bachelorstudiengangs<br />

für Heilpädagogik am<br />

Institut für Waldorfpädagogik,<br />

Inklusion und Interkulturalität der Alanus<br />

Hochschule am Studienzentrum Mannheim.<br />

Christiane Drechsler, Prof. Dr. phil.; studied<br />

Educational Science, Philosophy and Modern<br />

German Literature; Head of Disability Care at<br />

DRK Kreisverband Segeberg; Head of the Bachelor's<br />

degree course in Curative Education<br />

at the Institute for Waldorf Education, Inclusion<br />

and Interculturality at Alanus University,<br />

Mannheim Study Center.<br />

Nur Erdem, B.A.<br />

Waldorfpädagogik;<br />

Forschungsprojekt<br />

bei der<br />

Rainbow-Foundation<br />

in Sri<br />

Lanka; Studentin<br />

im M.A. Waldorfpädagogik<br />

mit<br />

Schwerpunkt Inklusion<br />

am Institut für Waldorfpädagogik,<br />

Inklusion und Interkulturalität der<br />

Alanus Hochschule in Mannheim.<br />

Nur Erdem, B.A. Waldorf Education; research<br />

project at the Rainbow Foundation<br />

in Sri Lanka; student in the M.A. Waldorf<br />

Education with a focus on inclusion at the<br />

Institute for Waldorf Education, Inclusion<br />

and Interculturality at Alanus University<br />

in Mannheim.<br />

Angelika Wiehl, Dr. Phil.;<br />

Magisterstudium in Germanistik,<br />

Romanistik, Kunstgeschichte;<br />

Mitbegründerin,<br />

Klassen- und Oberstufenlehrerin<br />

der Freien Waldorfschule<br />

Wolfsburg; Coaching<br />

und Mediation für Pädagogen;<br />

Hochschuldozentin für<br />

Erziehungswissenschaft und<br />

Waldorfpädagogik am Institut für Waldorfpädagogik,<br />

Inklusion und Interkulturalität der Alanus Hochschule<br />

in Mannheim. Angelika Wiehl, Dr. Phil. Dr. Phil.;<br />

Master's degree in German, Romance languages and<br />

literature, art history; co-founder, class and senior<br />

teacher at the Freie Waldorfschule Wolfsburg; coaching<br />

and mediation for teachers; university lecturer<br />

in educational science and Waldorf education at<br />

the Institute for Waldorf Education, Inclusion and<br />

Interculturality at Alanus University in Mannheim.<br />

verlangten Leistungen nicht genügen, zu drohen oder sie<br />

zu schlagen. Diese übliche erzieherische Massnahme widerspricht<br />

zwar der von Sri Lanka ratifizierten UN-Kinderkonvention,<br />

wird aber in der pädagogischen Praxis nicht in<br />

Frage gestellt. Verbote, das Stöckchen zu verwenden, sind<br />

kaum wirksam. Daher versuchen die Mitarbeitenden der<br />

Rainbow Fondation nach ihren Möglichkeiten eine gewaltfreie<br />

Pädagogik vorzuleben vorzuleben und Lehrkräften in<br />

Schulen im lokalen Umfeld in eine gewaltfreie Pädgogik<br />

einzuführen.<br />

Durch eine Forschungsarbeit, die im Jahr 2022 am Institut<br />

für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität der<br />

Alanus Hochschule am Standort Mannheim, als Abschluss<br />

des Bachelorstudiums der Waldorfpädagogik von Nur Erdem<br />

durchgeführt sowie von Christiane Drechsler und<br />

Angelika Wiehl wissenschaftlich begleitet wurde, konnte<br />

mittels leitfadengestützter Interviews nachgewiesen werden,<br />

wie selbstverständlich in Sri Lanka im alltäglichen<br />

Umgang, aber nur in seltenen Fällen rechtlich verfolgt,<br />

die Anwendung von körperlicher Züchtigung und anderen<br />

Strafmassnahmen gegenüber Kindern und Jugendlichen<br />

ist. Es wurde deutlich, dass durch die auf anthroposophisch-heilpädagogischen<br />

Ansätzen arbeitende Gemeinschaft<br />

der Rainbow Fondation ein grundsätzlicher Wandel<br />

im gewaltfreien Umgang mit Kindern und Jugendlichen<br />

zwar eingeleitet werden kann, aber erst durch eine Professionalisierung<br />

der pädagogischen Fachkräfte, durch die<br />

Ausbildung einer anerkennenden und wertschätzenden<br />

Haltung sowie durch zu erlernende professionelle Strategien<br />

des gewaltfreien Umgangs eine nachhaltige Veränderung<br />

bewirkt werden kann. Der im Rahmen der Studie<br />

für den Umgang mit herausforderndem Verhalten vorgeschlagene<br />

Low Arousal-Ansatz birgt die Möglichkeit einer<br />

hough this common disciplinary measure contradicts the<br />

UN Convention on Rights of the Child ratified by Sri Lanka,<br />

it is rarely questioned in pedagogical practice. Bans on<br />

using the stick are hardly effective. Therefore, the staff of<br />

the Rainbow Foundation strives to lead by example, promoting<br />

non-violent pedagogy to the best of their abilities<br />

and introducing nonviolent attitudes and approaches to<br />

teachers in local schools..<br />

Through a research project conducted in 2022 at the Institute<br />

for Waldorf Pedagogy, Inclusion, and Interculturality<br />

at the Alanus University of Arts and Social Sciences<br />

in Mannheim, as part of Nur Erdem’s bachelor’s degree in<br />

Waldorf Pedagogy and academically supervised by Christiane<br />

Drechsler and Angelika Wiehl, it was demonstrated<br />

through guided interviews that the use of physical punishment<br />

and other punitive measures against children and<br />

adolescent is a common practice in everyday life in Sri Lanka,<br />

albeit rarely legally prosecuted. It became evident that<br />

a fundamental shift towards non-violent interaction with<br />

children and adolescents can be initiated by the Rainbow<br />

Foundation community, which operates on anthroposophic<br />

therapeutic principles. However, sustainable change<br />

can only be achieved through the professionalization of<br />

educators, the development of an accepting and appreciative<br />

attitude, and the acquisition of professional strategies<br />

for non-violent interactions. The Low Arousal approach<br />

proposed in the study for dealing with challenging behaviour<br />

offers the possibility of a practical expansion of the<br />

19


praxisorientierten Erweiterung des auf die Camphill-Bewegung<br />

zurückgehenden B.R.I.D.G.E.-Konzepts der Rainbow<br />

Fondation. Eine wirksame Ergänzung könnte die praxisbezogene<br />

Schulung mit Achtsamkeitsübungen in Anlehnung<br />

an Rudolf Steiners Nebenübungen sein. Erweitert um diese<br />

Vorschläge werden die Ergebnisse der wissenschaftlichen<br />

Studie für eine Professionalisierung im anthroposophisch<br />

heilpädagogischen Feld dargestellt.<br />

Ansätze der Camphill-Bewegung in<br />

der Rainbow Fondation<br />

Der Gründer und Vordenker der Rainbow Foundation,<br />

Martin Henrich, bezieht sich in seinen konzeptionellen Gedanken<br />

ausdrücklich auf wesentliche Elemente der 1939<br />

von Karl König in Aberdeen/Scotland begründeten Camphill-Bewegung,<br />

die er in Folge spezifisch für die jeweiligen<br />

Anforderungen von Zielgruppe und Land modifizierte.<br />

Leitend für Karl König (1902-1966) war der Gedanke<br />

der Gleichwertigkeit von Menschen mit und ohne Behinderungen<br />

und zwar in einer nicht nur für die damalige Zeit radikalen<br />

Art und Weise, sondern grundsätzlich: Menschen<br />

mit und ohne Behinderung sind in jeder Hinsicht gleichwertig<br />

und gleich-berechtigt, denn – wie Steiner kritisch<br />

bemerkt – es handele sich «nie um eine eigentliche Erkrankung<br />

des geistigen und seelischen Lebens selber» (Steiner<br />

1999, S. 257). Entscheidend ist also, das Geistig-Seelische<br />

des Menschen als unverletzlich anzuerkennen und ihm<br />

«die volle Würde des Menschseins» (Drechsler 2019b, S. 34) zuzusprechen.<br />

Diese Erkenntnis impliziert einen würdigen<br />

Umgang mit Menschen mit Behinderung, gleichzeitig aber<br />

auch die Aufforderung, die Betroffenen im Umgang und<br />

im Ringen mit ihrer Behinderung durch individuelle und<br />

angepasste Therapien zu unterstützen. Seit Gründung<br />

Camphills 1939 wurden in unterschiedlichen Bereichen<br />

medizinische und künstlerische Therapieformen entwickelt<br />

und ausdifferenziert. Ihnen ist gemein, dass sie die<br />

Selbstheilungskräfte im Individuum anregen sollen, um<br />

das unverletzte Geistige im Menschen in seinem Bemühen<br />

um das Ergreifen und Umgestalten der geschädigten Leiblichkeit<br />

bestmöglich zu fördern.<br />

Eine zentrale Idee der Camphill-Bewegung ist das Zusammenleben<br />

von Menschen mit und ohne Behinderungen<br />

in einer dörflichen Gemeinschaft, die Eigen-Arten der<br />

Einzelnen respektiert und diese als Beitrag zu einem sozialen<br />

Organismus der Bereiche Leben, Arbeit und Kultur<br />

versteht. Einen dabei zu berücksichtigen menschlichen<br />

Entwicklungsaspekt bildet die Ich-Reife um das 21. Lebensjahr;<br />

sie verlangt, die individuellen Therapien in den<br />

B.R.I.D.G.E. concept developed by the Rainbow Foundation,<br />

which is rooted in the Camphill movement. An effective<br />

addition could be practical training with mindfulness<br />

exercises inspired by Rudolf Steiner’s Supplementary<br />

Exercises. These suggestions, when integrated, present the<br />

results of the research study as a foundation for professionalization<br />

in the field of anthroposophic therapeutic<br />

education.<br />

Approaches from the Camphill Movement<br />

in the Rainbow Foundation<br />

The founder and visionary behind the Rainbow Foundation,<br />

Martin Henrich, explicitly draws on key elements of<br />

the Camphill Movement, which was established in Aberdeen,<br />

Scotland, in 1939 by Karl König. He subsequently<br />

modified these elements to suit the specific requirements<br />

of the target audience and the country. Karl König (1902-<br />

1966) was guided by the principle of the equality of individuals<br />

with and without disabilities. This principle was<br />

not only radical for its time but fundamentally transformative:<br />

individuals with and without disabilities are equal<br />

in every respect and equally entitled. As Rudolf Steiner<br />

critically observed, disabilities are «never actually a disease<br />

of the spiritual and soul life itself» (Steiner 1999, p. 257).<br />

Therefore, it is crucial to recognize the inviolability of the<br />

spiritual and soul aspects of a person and to attribute to<br />

them «the full dignity of being human» (Drechsler 2019b, p.<br />

34). This insight implies treating individuals with disabilities<br />

with dignity and, at the same time, the obligation to<br />

support them in working with and integrating their disabilities<br />

through individually tailored therapies. Since the<br />

founding of Camphill in 1939, various forms of medical<br />

and artistic therapies have been developed and refined in<br />

different areas. What they have in common is their aim<br />

to stimulate the self-healing forces within the individual,<br />

allowing the unharmed spiritual aspect within a person<br />

to be nurtured as they strive to grasp and transform their<br />

impaired physicality to the best of their ability.<br />

A central idea of the Camphill Movement is the coexistence<br />

of individuals with and without disabilities in a village-like<br />

community that respects the unique qualities of each person<br />

and sees them as contributing to a social organism encompassing<br />

life, work, and culture. An important aspect<br />

of human development to consider in this context is the<br />

maturation of the ego around the age of 21. It requires that<br />

20<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


Hintergrund treten zu lassen zugunsten einer gemeinsamen<br />

Gestaltung des sozialen Umfelds, in dem die oder<br />

der Einzelne Möglichkeiten des Wohnens, der Arbeit und<br />

der künstlerischen Betätigung findet, die ihrer oder seiner<br />

Persönlichkeit am besten entsprechen (Drechsler 2008, 2009,<br />

2019a). Unschwer kann man erkennen, wie modern dieser<br />

Ansatz über 80 Jahre nach seiner Entwicklung anmutet:<br />

Menschen mit Behinderungen sind keinesfalls Individuen,<br />

deren gemeinsames Merkmal das Vorliegen mindestens<br />

eines Defizits ist, sondern Individualitäten, einzigartig wie<br />

jeder Mensch ohne Behinderungen auch. Dennoch wird<br />

der Unterstützungsbedarf nicht ignoriert. Wie dieser aussehen<br />

soll und kann, entwickelt sich jedoch aus einer tiefen<br />

Erkenntnis des Wesens eines Gegenübers und seiner<br />

Bedürfnisse, nicht aus der Orientierung an den Vorgaben<br />

einer auf Grund äusserer Kriterien definierten Normalität.<br />

Der moderne Ansatz der Personenzentrierung des Bundesteilhabegesetzes<br />

findet hier ein Beispiel.<br />

Der Wertschätzung des Individuums steht das Wissen um<br />

die Wirksamkeit einer guten Gemeinschaft gegenüber,<br />

in der – Steiners (1905/06, S. 213) soziales Hauptgesetz als<br />

Grundlage für ein gesundes Zusammenleben beachtend<br />

– die Stärken der Individuen zum Wohl Aller eingesetzt<br />

werden, jedoch darauf vertraut wird, dass die Schwächen<br />

der Individuen durch den Einsatz der Mitglieder der Gemeinschaft<br />

kompensiert werden können – das Ideal einer<br />

inklusiven Gesellschaft.<br />

Das B.R.I.D.G.E-Konzept<br />

der Rainbow Fondation<br />

In den Arbeitsbereichen der Rainbow Foundation finden<br />

sich die oben angeführten Impulse aus der Camphill-Bewegung<br />

wieder. In besonderer Weise führt Martin Henrich<br />

einige dieser Impulse in seinem B.R.I.G.D.E-Konzept weiter,<br />

das Verbindungen der Initiative zu ihren Unterstützerinnen<br />

und Unterstützern weltweit pflegt:<br />

• Zunächst steht das B für das Wort bridge (Brücke),<br />

das eine mögliche verbindende Funktion zwischen<br />

den auf Sri Lanka lebenden Volksgruppen thematisiert,<br />

die in der Vergangenheit aus unterschiedlichen<br />

Gründen immer wieder in Konflikte gerieten.<br />

Da die beiden grössten Volksgruppen, Singhalesen<br />

und Tamilen, unterschiedliche Sprachen sprechen,<br />

wird durch das gemeinsame Erlernen der englischen<br />

Sprache eine Verständigung miteinander, aber auch<br />

international möglich. Dabei soll keine Gruppe auf die<br />

eigene Sprache verzichten und somit in eine schwächere<br />

Position geraten. Die Rainbow Foundation pflegt<br />

daher den Englischunterricht in all ihren Institutionen.<br />

individual therapies take a back seat in favour of a collaborative<br />

shaping of the social environment where everyone<br />

can find housing, work, and artistic activities that best align<br />

with their personality (Drechsler 2008, 2009, 2019a). It is easy to<br />

recognize how contemporary this approach appears over<br />

80 years after its inception: individuals with disabilities<br />

are by no means defined by a shared deficit, but are unique,<br />

just like any person without disabilities. Nevertheless,<br />

the need for support is not ignored. However, the nature<br />

of this support evolves from a deep understanding of an<br />

individual’s essence and their needs, rather than conforming<br />

to external criteria defining normality. This modern<br />

approach aligns with the person-centred approach of the<br />

German Federal Participation Act (Bundesteilhabegesetz).<br />

The appreciation of the individual is balanced by the knowledge<br />

of the effectiveness of a strong community, where,<br />

in accordance with Steiner’s (1905/06, p. 213) Fundamental<br />

Social Law, the strengths of individuals are harnessed for<br />

the benefit of all. It also places trust in the community’s ability<br />

to compensate for the weaknesses of individuals—the<br />

ideal of an inclusive society.<br />

The B.R.I.D.G.E Concept of<br />

the Rainbow Foundation<br />

The Rainbow Foundation’s work in its various domains reflects<br />

the influences mentioned earlier from the Camphill<br />

Movement. Martin Henrich, in particular, extends some<br />

of these influences in his B.R.I.D.G.E concept, which fosters<br />

connections between the initiative and its supporters<br />

worldwide:<br />

• B for Bridge: The first letter, B stands for bridge, signifying<br />

a potential connecting function between the<br />

various ethnic groups living in Sri Lanka, which have<br />

historically been involved in conflicts for various reasons.<br />

Since the two largest ethnic groups, the Sinhalese,<br />

and Tamils, speak different languages, the common<br />

acquisition of the English language serves as a<br />

means of communication among them and internationally.<br />

This approach ensures that no group must<br />

forsake its native language and thereby be placed in<br />

a weaker position. The Rainbow Foundation, therefore,<br />

emphasizes English language lessons across all its<br />

institutions.<br />

21


• Rehabilitation für R: Die Rainbow Foundation bietet<br />

unterschiedliche Therapieformen und Assistenzen<br />

an, um eine Verbesserung der Lebenslagen und die<br />

Rehabilitation der Menschen mit Behinderungen zu<br />

erreichen. Gleichzeitig werden Arbeitsplätze für Erwachsene<br />

geschaffen, damit jede bzw. jeder einen<br />

Beitrag zum Leben in der Gemeinschaft leisten kann.<br />

• Integration für I: Gemeint ist in diesem Zusammenhang<br />

die Unterstützung von Waisen in der Form, dass<br />

ihnen eine Wohnsituation zur Verfügung gestellt wird,<br />

in der sie ihre Entwicklung fördernde Bedingungen<br />

finden, um Selbstverantwortung und Verantwortung<br />

für Andere übernehmen können.<br />

• Direct help für D: Finanzielle Unterstützungen werden<br />

für bedürftige Menschen eingeworben und direkt<br />

ausgezahlt. Auf diese Weise entsteht an Stelle einer<br />

anonymen Spende eine Brücke von Mensch zu Mensch<br />

und somit die konkrete Hilfe für ein Individuum.<br />

• German Sponsors für G: Eine andere Form der Brückenbildung<br />

entsteht durch regelmässige Spenden<br />

zumeist aus Deutschland und einigen Menschen in<br />

Sri Lanka, die für die Rainbow Foundation arbeiten.<br />

Durch persönliche Kontakte kann die Sponsorenschaft<br />

verfolgen, wie sich das Projekt entwickelt, und<br />

sie bekommet auf diese Weise Einblick in die Kultur<br />

Sri Lankas.<br />

• Empowerment für E: Den Menschen, die von der<br />

Rainbow Foundation unterstützt werden, wird die<br />

Fähigkeit zur Vertretung der eigenen Rechte und der<br />

Erfüllung der persönlichen Bedürfnisse sowie das Zutrauen,<br />

das Leben aus eigener Kraft gestalten zu können,<br />

vermittelt.<br />

Gewalttätiger Umgang in pädagogischen<br />

Institutionen in Sri Lanka<br />

Ein Lagebericht<br />

Obwohl Sri Lanka im Gegensatz zu den Nachbarländern<br />

in Südasien viel mehr Zeit und Geld in das Bildungssystem<br />

steckt, wird dessen Qualität und Relevanz kritisiert (Dundar<br />

et al., S. 2). Durch die wiederholt ausbrechenden Konflikte<br />

u. a. zwischen Tamilen und Singhalesen sind viele Schulen<br />

ganz oder teilweise zerstört; es fehlt an Lehrmaterial<br />

und Unterricht findet vielfach nicht statt (Kurtenbach et al.,<br />

2010). Das Bildungsangebot ist in Hinblick auf relevante<br />

Bildungsinhalte und moderne Lehr- und Lernmethoden<br />

• Rehabilitation for R: The Rainbow Foundation offers<br />

various forms of therapy and assistance to improve<br />

the living conditions and rehabilitation of individuals<br />

with disabilities. Simultaneously, it creates job opportunities<br />

for adults, enabling each person to contribute<br />

to community life.<br />

• Integration for I: In this context, integration involves<br />

providing support to orphans by offering them a living<br />

environment where they can find conditions conducive<br />

to their development, allowing them to take on<br />

self-responsibility and responsibility for others.<br />

• Direct Help for D: The Foundation raises financial<br />

support for those in need and disburses it directly. Instead<br />

of an anonymous donation, this approach creates<br />

a bridge from one person to another, providing<br />

concrete assistance to an individual.<br />

• German Sponsors for G: Another form of bridgebuilding<br />

occurs through regular donations, primarily<br />

from Germany, and some individuals in Sri Lanka who<br />

work for the Rainbow Foundation. Through personal<br />

connections, sponsors can track the project’s progress<br />

and gain insight into Sri Lankan culture.<br />

• Empowerment for E: The Rainbow Foundation imparts<br />

the ability to advocate for one’s own rights and<br />

fulfil personal needs to the individuals it supports.<br />

It conveys confidence that they can shape their lives<br />

through their own efforts.<br />

Violent Practices in Educational<br />

Institutions in Sri Lanka<br />

A Situation Report<br />

Despite Sri Lanka investing more time and resources in its<br />

education system compared to neighbouring South Asian<br />

countries, its quality and relevance have faced criticism<br />

(Dundar et al., p. 2). Ongoing conflicts, including those between<br />

Tamils and Sinhalese, have led to the destruction of<br />

many schools, with a lack of teaching materials and widespread<br />

disruptions to education (Kurtenbach et al., 2010). The<br />

educational offerings are insufficient in terms of relevant<br />

content and modern teaching and learning methods, thus<br />

failing to contribute to the development of the potential of<br />

children and young people (ibid.).<br />

22<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


nicht bedarfsgerecht und kann daher zur Entwicklung der<br />

Potenziale von Kindern und Jugendlichen nicht beitragen<br />

(ebd.).<br />

Gemäss der Erziehungsverordnungen von Ceylon aus dem<br />

Jahre 1939 waren Prügelstrafen für Kinder und Jugendliche<br />

in Sri Lanka bis Ende des 20. Jahrhunderts erlaubt (Zoysa<br />

et al., 2021). Auch nachdem Sri Lanka die UN-Konventionen<br />

der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes unterschrieben<br />

und dadurch wie alle Vertragsstaaten vereinbart<br />

hat, entsprechende Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial-<br />

und Bildungsmassnahmen umzusetzen, um das Kind<br />

vor jeder Form körperlicher Gewaltanwendung und Schadenszufügung<br />

zu schützen, findet immer noch körperliche<br />

Gewalt in pädagogischen Institutionen statt (UNICEF<br />

e.V., 1989, S. 1). Mit der Änderung des Paragraphen Nr. 22<br />

des Strafgesetzbuches von 1995 durch das Parlament der<br />

Demokratisch Sozialistischen Republik Sri Lanka wurde<br />

die Gewalt gegen Kinder als Straftatbestand deklariert. Da<br />

jedoch körperliche Gewaltanwendungen häufig im häuslichen<br />

und privaten Bereich vorkommen, scheinen diese<br />

durch eine weitgehende kulturelle Akzeptanz legitimiert<br />

(Zoysa et al., 2021). Eine Studie 2010 an 22 Schulen des Bezirks<br />

Gamapha ergab, dass in 80% der Schulen keine Gesetze<br />

gegen Gewalthandlungen bekannt sind und keine Regelungen<br />

bestehen, die körperliche Gewaltanwendung durch<br />

Lehrkräfte verbieten (Wijeratne et al., 2015, S. 138). Die unklare<br />

Gesetzeslage schützt also nicht vor körperlicher Gewaltanwendung<br />

(ebd.). Schliesslich begründen Lehrkräfte ihre rigiden<br />

Disziplinarmassnahmen mit der Unterfinanzierung<br />

und Überfüllung der Schulen (ebd.).<br />

Allerdings zeigt eine neuere Studie von 2017, an der 948<br />

Schülerinnen und Schüler sowie 459 Lehrkräfte teilnahmen,<br />

dass 74,7% der Lehrkräfte sehr wohl die rechtlichen,<br />

regulatorischen und administrativen Rahmenbedingungen<br />

in Bezug auf die Disziplinierung von Kindern und Jugendlichen<br />

in pädagogischen Einrichtungen bekannt sind und<br />

nur 22,4% durch mangelnde Ausbildung keine genauen<br />

Kenntnisse davon haben (Zoysa et al., 2021, o.S.). Etwa 80% der<br />

Schulkinder geben an, dass sie mindestens eine Erfahrung<br />

mit körperlicher Bestrafung im Schuljahr vor der Studie erlebt<br />

haben; dagegen geben 61,9% der Lehrkräfte an, im<br />

gleichen Zeitraum mindestens eine Strategie der körperlichen<br />

Strafe angewendet zu haben (ebd.). Die von Schulkindern<br />

und Lehrkräften am häufigsten genannten Strafmassnahmen<br />

umfassen das Still-Stehen-Müssen im Unterricht,<br />

das Kneifen ins Ohr und und Schläge auf das Gesäss mit<br />

einem Stock oder einem anderen harten Gegenstand (ebd.).<br />

Eine junge Frau, die 2018 bei der Rainbow Foundation ihr<br />

Freiwilliges Soziales Jahr absolvierte, berichtet, dass körperliche<br />

Gewalt an Kindern in den Schulen im örtlichen Umfeld<br />

an der Tagesordnung sei und in vielen Klassenräumen<br />

ein Schlagstock sichtbar an der Wand hinge. Ausserdem<br />

According to the Education Regulations of Ceylon from<br />

1939, corporal punishment for children and adolescents<br />

in Sri Lanka was allowed until the end of the 20th century<br />

(Zoysa et al., 2021). Even after Sri Lanka signed the United Nations<br />

Convention on the Rights of the Child and committed,<br />

like all treaty states, to implement legislative, administrative,<br />

social, and educational measures to protect children<br />

from any form of physical violence and harm, physical<br />

violence still occurs in educational institutions (UNICEF e.V.,<br />

1989, p. 1). With the amendment of Section No. 22 of the<br />

Penal Code in 1995 by the Parliament of the Democratic<br />

Socialist Republic of Sri Lanka, violence against children<br />

was declared a criminal offense. However, since physical<br />

violence often occurs in the domestic and private sphere, it<br />

seems to be legitimized by widespread cultural acceptance<br />

(Zoysa et al., 2021).<br />

A study in 2010 at 22 schools in the Gamapha district revealed<br />

that in 80% of the schools, there was no awareness<br />

of laws against violent acts, and there were no regulations<br />

prohibiting physical violence by teachers (Wijeratne et al., 2015,<br />

p. 138). The unclear legal framework does not effectively<br />

protect against physical violence (ibid.). Finally, teachers<br />

justify their strict disciplinary measures by pointing to underfunding<br />

and overcrowding in schools (ibid.).<br />

However, a more recent study from 2017, involving 948<br />

students and 459 teachers, indicates that 74.7% of teachers<br />

are indeed aware of the legal, regulatory, and administrative<br />

frameworks regarding the discipline of children<br />

and adolescents in educational institutions, with only<br />

22.4% lacking precise knowledge due to inadequate training<br />

(Zoysa et al., 2021, n.p.). Approximately 80% of students<br />

reported experiencing at least one instance of physical punishment<br />

in the school year before the study. In contrast,<br />

61.9% of teachers admitted to employing at least one form<br />

of physical punishment during the same period (ibid.). The<br />

most mentioned disciplinary measures by both students<br />

and teachers include standing still in class, ear pinching,<br />

and hitting on the buttocks with a stick or another hard<br />

object (ibid.).<br />

A young woman who completed her Voluntary Social Year at<br />

the Rainbow Foundation in 2018 reports that physical violence<br />

against children is commonplace in the schools in the<br />

local area, with many classrooms displaying a cane visibly<br />

on the wall. Moreover, these canes are readily available for<br />

purchase in small shops, as it is considered commonplace to<br />

own and use them. Other volunteers also testify that physical<br />

23


könnten die Schlagstöcke in jedem kleinen Laden gekauft<br />

werden, denn es sei eine Selbstverständlichkeit, sie<br />

zu besitzen und zu verwenden. Auch andere im Freiwilligendienst<br />

Tätige bezeugen, dass Schläge als Bestrafung<br />

in den Schulen im Umfeld eingesetzt werden, und zwar<br />

trotz Beschwerden, Gesprächen und dem Versprechen,<br />

dass sie unterlassen würden. Von einem weiteren Vorfall<br />

berichtet eine Ehrenamtliche der Rainbow Foundation, als<br />

während einer Theaterprobe an einer solchen Schule auf<br />

einen Schüler, der sich noch umziehen musste, gewartet<br />

wurde. Da die Tür des Umkleideraums nicht verschlossen<br />

war, konnte sie beobachten, wie ein anderer Mitschüler<br />

diesem verspäteten Schüler die Hose herunterzog. Die<br />

zuständige Klassenlehrerin bekam diesen Vorfall mit und<br />

zur Bestrafung schlug sie ihm auf das unbedeckte Gesäss.<br />

Seit 2017 ist Sri Lanka Partnerland der Globalen Partnership<br />

to End Violence Against Children, die zur Beendigung von<br />

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche auffordert (End Corporal<br />

Punishment, 2021). In ihrem Bericht an den UN-Ausschuss<br />

für die Rechte des Kindes im Jahr 2017 verpflichtete<br />

sich die Regierung von Sri Lanka, ihre Gesetze zu reformieren,<br />

um körperliche Züchtigung in allen Bereichen zu<br />

verbieten (ebd.). Den uns bekannten Berichten zufolge wird<br />

es in der Realität nicht ohne weitere Interventionen und<br />

professionelle Schulungen möglich sein, körperliche Gewalt<br />

in pädagogischen Institutionen zu unterbinden (ebd.).<br />

Denn Aggressionen und Gewaltanwendungen flammen<br />

durch jahrzehntelange Bürgerkriege in allen Teilen der Bevölkerung<br />

immer wieder auf und politische Anspannungen<br />

sorgen – wie der Tsunamis im Jahre 2004 – für eine unausgewogene<br />

Entwicklung vor allem im Bildungsbereich Sri<br />

Lankas. Die gesamte Situation verlangt grundsätzliche, an<br />

den UN-Konventionen orientierte Veränderungen im Politischen,<br />

Wirtschaftlichen und Sozialen, damit menschenwürdige<br />

Lebensverhältnisse in Sri Lanka für alle möglich<br />

werden. Eine wertschätzende und entwicklungsfördernde<br />

Pädagogik kann einen wesentlichen Beitrag leisten.<br />

Low Arousal Approach und Selbsterziehung<br />

als Professionalisierungsstrategien<br />

bei herausforderndem<br />

Verhalten<br />

Der aus England stammende Low Arousal-Ansatz findet<br />

in Deutschland zunehmend Verbreitung in (heil-)pädagogischen<br />

Einrichtungen, indem alle Mitarbeitenden<br />

im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen<br />

geschult werden. Als vorbildlich erweist sich die von<br />

strikes are used as a form of punishment, even in the face of<br />

complaints, discussions, and promises to cease such practices.<br />

Another incident is recounted by a volunteer at the Rainbow<br />

Foundation during a theatre rehearsal, where they were<br />

waiting for a student who still needed to change. Since the<br />

dressing room door was not locked, she witnessed another<br />

student pulling down the latecomer’s pants. The responsible<br />

class teacher witnessed this incident and, as a punishment,<br />

struck the exposed buttocks of the student.<br />

Since 2017, Sri Lanka has been a partner country of the<br />

Global Partnership to End Violence Against Children,<br />

which calls for an end to violence against children and<br />

adolescents (End Corporal Punishment, 2021). In its report to<br />

the UN Committee on the Rights of the Child in 2017, the<br />

Sri Lankan government committed to reforming its laws<br />

to prohibit corporal punishment in all areas (ibid.). According<br />

to reports available to us, it will not be possible to<br />

effectively eliminate physical violence in educational institutions<br />

without further interventions and professional<br />

training. Decades of civil conflict in all parts of the population<br />

have repeatedly fueled aggression and violence, and<br />

political tensions, much like the 2004 tsunami, have led to<br />

an imbalanced development, especially in Sri Lanka’s education<br />

sector. The overall situation calls for fundamental<br />

changes in the political, economic, and social spheres,<br />

aligned with UN conventions, to make dignified living<br />

conditions possible for all in Sri Lanka. A respectful and<br />

development-oriented pedagogy can make a significant<br />

contribution to this endeavour.<br />

Low Arousal Approach and self-education<br />

as professionalization strategies<br />

for challenging behaviour<br />

The Low Arousal Approach, originating from England, is<br />

gaining increasing traction in (special) educational institutions<br />

in Germany, with all staff being trained in dealing<br />

with challenging behaviours. The training offered by Thomas<br />

Feilbach, which focuses on handling individuals with<br />

disabilities and non-compliant behaviours, has proven to<br />

be exemplary. In <strong>2023</strong>, we conducted this training as part<br />

of a continuing education program at the Institute for Waldorf<br />

Education, Inclusion, and Interculturality in Mannheim.<br />

During this training, clear connections emerged<br />

24<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


Thomas Feilbach angebotene Aus- und Fortbildung zum<br />

Umgang mit Menschen mit Behinderungen und nicht angepassten<br />

Verhaltensweisen, die wir <strong>2023</strong> im Rahmen<br />

einer Hortfortbildung am Institut für Waldorfpädagogik,<br />

Inklusion und Interkulturalität in Mannheim angeboten<br />

haben. Dabei zeigten sich deutliche Bezüge zwischen<br />

den anzustrebenden Qualitäten und Fähigkeiten des Low<br />

Arousal-Ansatzes und den Achtsamkeitsübungen Rudolf<br />

Steiners (Barth & Wiehl <strong>2023</strong>, S. 163ff.). Um diese Aspekte erweitert<br />

werden die im Rahmen der Studie mit leitfadengestützten<br />

Interviews erarbeiteten Möglichkeiten und<br />

präventiven Massnahmen einer gewaltfreien Pädagogik<br />

vorgestellt.<br />

Low Arousal bedeutet niedere Erregbarkeit, die bei herausfordernden<br />

Verhaltensweisen und Situationen zur Deeskalation<br />

beiträgt. «Herausforderndes Verhalten ist ein<br />

Verhalten, das den Menschen um die betreffende Person<br />

Probleme bereitet» (Hejlskov Elvén 2017, S. 17) bzw. das den<br />

Vorstellungen von funktionierenden Menschen oder der<br />

sozialen Norm entsprechenden Umgangsweisen (Fröhlich-<br />

Gildhoff et al. 2020, S. 12) nicht entspricht. Unterschieden wird<br />

zwischen gefährlichen Verhaltensweisen wie Schlagen,<br />

Treten, Beissen, den eigenen Kopf gegen die Wand schlagen,<br />

Eigen- und Fremdverletzungen und problematischem<br />

Verhalten wie Verweigern, Beleidigen, in die eigene Hand<br />

beissen, sich in den Arm schneiden, letztlich auch Stören,<br />

andere Ärgern, Provozieren sowie freche oder verletzende<br />

Bemerkungen. Selbst- und Fremdverletzen gilt es zu unterbinden,<br />

indem in der Situation zum Schutze aller sofort<br />

interveniert wird; um hingegen mit störenden oder als<br />

unpassend eingestuften Verhaltensweisen umgehen und<br />

Veränderungen einleiten zu können, bedarf es langfristiger<br />

Strategien (Hejlskov Elvén 2017, S. 13f.). Erfahrungsgemäss<br />

sind spontane oder aggressive Reaktionen nur kurzfristig,<br />

aber nicht nachhaltig wirksam.<br />

Generell wird in den Schulungen nach dem Low Arousal<br />

Approach davon ausgegangen, dass sich Menschen richtig<br />

verhalten, die es im Prinzip können, und dass sich Menschen<br />

selten bis nie herausfordernd verhalten, wenn es<br />

ihnen gut geht (Feilbach o.J.). Die Gründe, es nicht zu tun, mögen<br />

in einer Überforderung bezüglich der Inhalte und Aufgaben<br />

oder in nicht angemessenen Bedingungen des Lebens<br />

und Arbeitens liegen. Entscheidend ist, dass nicht die<br />

Schuld auf Andere oder Personen des Umfelds geschoben<br />

wird, sondern die Bedürfnisse des einzelnen Menschen<br />

geklärt und realistische Anforderungen gestellt werden,<br />

sodass Menschen ihre individuell und sozial passenden<br />

Lebensbedingungen vorfinden.<br />

Die Grundprinzipien des Low Arousal Approach umfassen<br />

elementare Strategien zur Deeskalation nach Andrew<br />

McDonnell (2010). Offensichtlich ist, dass die Häufigkeit<br />

und Intensität von herausfordernden Verhaltensweisen<br />

between the desired qualities and skills of the Low Arousal<br />

Approach and Rudolf Steiner’s mindfulness exercises<br />

(Barth & Wiehl <strong>2023</strong>, p. 163ff.). This discussion expands upon the<br />

possibilities and preventive measures of non-violent pedagogy<br />

developed during the study through semi-structured<br />

interviews.<br />

Low Arousal refers to reduced excitability, which contributes<br />

to de-escalation in challenging behaviours and situations.<br />

«Challenging behaviour is behaviour that causes<br />

problems for the people around the individual» (Hejlskov Elvén<br />

2017, p. 17) or behaviour that does not conform to the expectations<br />

of functioning individuals or socially accepted<br />

norms of behaviour (Fröhlich-Gildhoff et al. 2020, p. 12). Challenging<br />

behaviour can be categorized into dangerous behaviours<br />

such as hitting, kicking, biting, banging one’s head<br />

against the wall, self-injury, and harming others, as well<br />

as problematic behaviours such as refusal, insults, self-biting,<br />

self-cutting, disruptive actions, teasing, provocation,<br />

and rude or offensive remarks. Self-injury and harm to others<br />

must be prevented through immediate intervention<br />

in the situation to protect everyone. However, dealing with<br />

disruptive or inappropriate behaviours and effecting longterm<br />

change requires ongoing strategies (Hejlskov Elvén 2017,<br />

p. 13f.). Spontaneous or aggressive reactions are typically<br />

effective in the short term but not sustainable in the long<br />

run.<br />

In general, training in the Low Arousal Approach assumes<br />

that individuals behave correctly when they can do so, and<br />

that people rarely or never exhibit challenging behaviour<br />

when they are feeling well (Feilbach n.d.). The reasons for<br />

not behaving correctly may lie in being overwhelmed by<br />

content and tasks or in inappropriate living and working<br />

conditions. What is crucial is not to blame others or the<br />

individuals in their environment but to clarify the needs<br />

of each individual and set realistic expectations so that<br />

people can find living conditions that are individually and<br />

socially suitable.<br />

The basic principles of the Low Arousal Approach encompass<br />

fundamental de-escalation strategies based on Andrew<br />

McDonnell (2010). It is evident that the frequency<br />

and intensity of challenging behaviours increase as physiological<br />

arousal levels rise. For those in proximity or with<br />

pedagogical responsibilities, the relationship between<br />

physiological arousal and general performance capability<br />

plays a significant role in handling critical situations.<br />

Therefore, it is essential to assess the level of arousal as-<br />

25


mit steigendem physiologischen Erregungsniveau (Arousal<br />

Level) zunehmen. Auf Seiten der nahestehenden Personen<br />

oder pädagogisch Verantwortlichen spielt für den Umgang<br />

mit kritischen Situationen der Zusammenhang von<br />

physiologischer Erregung und der allgemeinen Fähigkeit<br />

des Agierens (Performanz) eine massgebliche Rolle. Daher<br />

gilt es den Grad der Erregung einzuschätzen, der mit<br />

einem problematischen Verhalten einhergeht. Unterschieden<br />

werden drei Low Arousal-Niveaus: Zeigt sich das Verhalten<br />

im Normalbereich, im Auslösebereich oder bereits<br />

in der Krise mit Gefahr einer Eskalation. Sich diese Lagen<br />

bewusst zu machen, ist Bedingung für jede Art des Eingreifens<br />

bzw. die Entwicklung von Strategien (Feilbach o.J.).<br />

Die Anwendung des Low Arousal Ansatzes verlangt allerdings<br />

in Theorie und Praxis ein fundiertes Erkennen und<br />

Verstehen der Menschen, ihrer Lagen und Bedarfe. Dafür<br />

wurde von Ulrike Barth und Angelika Wiehl (<strong>2023</strong>) die phänomenologisch-reflexive<br />

Methode der Wahrnehmungsvignetten<br />

entwickelt. Wahrnehmungsvignetten sind kurze<br />

beschreibende Texte, die besondere und auffallende<br />

Momente mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen<br />

festhalten (ebd., S. 119), die in einem dreiphasigen Prozess<br />

reflektiert werden (ebd., S. 176ff.). Sie offenbaren einerseits<br />

tiefere Schichten der Verhaltens- und Ausdrucksweisen<br />

eines Menschen, andererseits regen sie an, vorurteilssensibel<br />

mit diesen umzugehen, die eigene Haltung zu<br />

überdenken und ggf. neu zu justieren (ebd., S. 147 ff.). Die<br />

Methode der Wahrnehmungsvignetten kann einerseits<br />

für Teambesprechungen genutzt werden, um sich gerade<br />

auch in Bezug auf deeskalierende Umgangsformen im Sinne<br />

des Low Arousal-Ansatzes zu verabreden; andererseits<br />

für die Selbsterziehung und Professionalisierung in pädagogischen<br />

Arbeitsfeldern. Denn es zeigen sich deutliche<br />

Bezüge zwischen den Anforderungen für abzustimmende<br />

Handlungspläne und Strategien bei herausfordernden Situationen<br />

und den von Steiner entwickelten sogenannten<br />

Nebenübungen (2022) ergänzt um die Rückschau- (Steiner<br />

2019) und Vorschau-Übung (Scharmer 2022, S. 122).<br />

Die Übungsreihe, die von Steiner ursprünglich als Basis<br />

einer meditativen Schulung geschaffen wurde, umfasst im<br />

Wesentlichen die Ausbildung von folgenden Eigenschaften:<br />

1) Gedankenkontrolle als Konzentration im Denken<br />

und Vorstellen, 2) Initiative und Willensaktivität, 3) Gelassenheit,<br />

4) Unbefangenheit und Positivität, 5) Unvoreingenommenheit,<br />

6) Inneres Gleichgewicht und 7) tägliche<br />

Rück- und Vorschau (Barth & Wiehl <strong>2023</strong>, S. 160 ff.). Angeregt<br />

durch die Hortfortbildung <strong>2023</strong> (Akademie für Waldorfpädagogik<br />

Mannheim) unter dem Thema Pädagogische<br />

Haltung bewahren und gestalten mit Thomas Feilbach<br />

konkretisierte sich der Zusammenhang dieser Übungen<br />

sociated with problematic behaviour. Three levels of Low<br />

Arousal are distinguished: behaviour occurring within the<br />

normal range, behaviour in the triggering range, and behaviour<br />

in the crisis range with a risk of escalation. Being<br />

aware of these situations is a prerequisite for any form of<br />

intervention or the development of strategies (Feilbach n.d.).<br />

However, the application of the Low Arousal Approach<br />

requires a thorough understanding of individuals, their<br />

situations, and their needs in both theory and practice. To<br />

address this need, Ulrike Barth and Angelika Wiehl (<strong>2023</strong>)<br />

developed the phenomenological-reflective method of<br />

perception vignettes. Perception vignettes are short descriptive<br />

texts that capture special and striking moments<br />

with children, adolescents, and adults (ibid., p. 119) and are<br />

reflected upon in a three-phase process (ibid., p. 176ff.). On<br />

one hand, they reveal deeper layers of a person’s behavior<br />

and expressions; on the other hand, they encourage individuals<br />

to handle them with sensitivity, reconsider their<br />

own attitudes, and, if necessary, adjust them (ibid., p. 147 ff.).<br />

The method of perception vignettes can be used for team<br />

meetings, particularly in terms of agreeing on de-escalation<br />

approaches in line with the Low Arousal Approach.<br />

It can also be used for self-education and professionalization<br />

in pedagogical fields. There are clear connections<br />

between the requirements for coordinated action plans<br />

and strategies in challenging situations and Rudolf Steiner’s<br />

so-called Subsidiary Exercises (2022), supplemented<br />

by the retrospective exercise (Steiner 2019) and the prospective<br />

exercise (Scharmer 2022, p. 122).<br />

The series of exercises, originally created by Steiner as a<br />

basis for meditative training, essentially includes the development<br />

of the following qualities: 1) Thought control<br />

as concentration in thinking and visualization, 2) initiative<br />

and will activity, 3) composure, 4) openness and positivity,<br />

5) impartiality, 6) inner balance, and 7) daily retrospective<br />

and prospective reflection (Barth & Wiehl <strong>2023</strong>, p. 160ff.). Inspired<br />

by the <strong>2023</strong> after-school training at the Academy<br />

for Waldorf Education in Mannheim on the topic of Maintaining<br />

and Shaping Pedagogical Attitude with Thomas<br />

Feilbach, the connection between these exercises and the<br />

fundamentals of the Low Arousal Approach became clear.<br />

Openly perceiving and closely observing a person or situation<br />

requires thought control (1) without associations and<br />

assumptions; rescuing and resolving a difficult situation<br />

demands initiative and presence of mind (2), and in special<br />

cases, appropriate restraint; initiating de-escalation<br />

26<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


mit den Grundlagen des Low Arousal-Ansatzes. Das offene<br />

Wahrnehmen und genaue Beobachten eines Menschen<br />

oder einer Situation bedarf der Gedankenkontrolle (1)<br />

ohne Assoziationen und Vermutungen; das Retten und<br />

Lösen einer schwierigen Situation verlangt initiatives und<br />

geistesgegenwärtiges Handeln (2) und in besonderen Fällen<br />

die entsprechende Zurückhaltung; das Einleiten einer<br />

Deeskalation erfordert Gelassenheit (3); geht es darum<br />

einzuschätzen, was eine gute oder eine problematische Situation<br />

ausmacht, bewährt sich die Haltung der Positivität<br />

(4); um für die Perspektiven einer anderen Person offen zu<br />

sein, ist Unbefangenheit (5) notwendig; wenn in herausfordernden<br />

Situationen eine Regulation – statt Strafmassnahmen<br />

oder unzulässigen Gewaltanwendungen – bewirkt<br />

werden soll, ist inneres Gleichgewicht (6) von Nutzen; vergessen<br />

wird oft die persönliche Nachsorge – wie Thomas<br />

Feilbach (o. J.) besonders hervorhebt, um problematische<br />

Situationen zu verarbeiten und neuen Mut zu fassen, eignen<br />

sich die Rückschau- und die Vorschau-Übung (7). Indem<br />

das Tagesgeschehen rückwärts und dabei die besonderen<br />

oder belastenden Momente angeschaut werden, um<br />

das Gelungene oder das Nichtgelungene zu sehen, können<br />

Fragen und Möglichkeiten für ein zukünftiges Handeln aufleuchten<br />

und bei einer morgendlichen Vorschau zu neuen<br />

Handlungsimpulsen werden.<br />

Claus Otto Scharmer wendet die morgendliche Vorschau-<br />

Übung an, um an den «Nachklang der Nacht» bewusst anzuknüpfen<br />

und um «Herausforderungen von einem inneren<br />

Ort aus [zu] begegnen, der in der entstehenden Zukunft<br />

gegründet ist» (Scharmer 2022, S. 122). Es zeigt sich immer<br />

deutlicher, dass Selbsterziehung durch die Nebenübungen<br />

zwar oft empfohlen wird – so auch in dem Interview mit<br />

Martin Henrich –, die Zeitlage aber der auf die Praxis gerichteten<br />

und Menschen unmittelbar zu Gute kommenden<br />

Achtsamkeit und Wertschätzung bedarf. Die von Steiner<br />

empfohlenen Übungen sind für die Selbstentwicklung<br />

vorgesehen und dienlich; aber erst in der Verbindung beispielsweise<br />

mit dem Low Arousal Ansatz ermöglichen sie<br />

die Ausbildung und Weiterentwicklung eines Ethos für die<br />

pädagogische Praxis, das wiederum Grundlage und Orientierung<br />

gerade auch im Umgang mit herausfordernden<br />

Situationen sein kann. Nicht auf die einmal gebildete Haltung<br />

und die eingeübten Handlungsweisen kommt es an,<br />

sondern auf die stetige Erneuerung «durch Üben für die<br />

pädagogischen Belange – ein Weg der Selbstentwicklung<br />

und Professionalisierung» (Barth & Wiehl <strong>2023</strong>, S. 174.).<br />

calls for composure (3); when assessing what makes a situation<br />

good or problematic, a positive attitude (4) proves<br />

valuable; being open to another person’s perspective requires<br />

impartiality (5); achieving regulation instead of punitive<br />

measures or inappropriate violence in challenging<br />

situations benefits from inner balance (6); often forgotten<br />

is personal aftercare - as emphasized by Thomas Feilbach<br />

(n.d.), to process challenging situations and muster new<br />

courage, the retrospective and prospective exercises (7)<br />

are suitable. By looking back at the day’s events and examining<br />

the special or challenging moments, one can identify<br />

questions and possibilities for future action, and during<br />

a morning preview, these moments can turn into new impulses<br />

for action.<br />

Claus Otto Scharmer uses the morning preview exercise<br />

to consciously connect with the «resonance of the night»<br />

and to «encounter challenges from an inner place that is<br />

grounded in the emerging future» (Scharmer 2022, p. 122). It<br />

is becoming increasingly clear that self-education through<br />

the so-called Subsidiary Exercises is often recommended<br />

- as in the interview with Martin Henrich – but the timing<br />

requires a focus on mindfulness and appreciation that directly<br />

benefits individuals in practice. Steiner’s recommended<br />

exercises are intended for self-development and are<br />

beneficial, but it is in combination with approaches like the<br />

Low Arousal Approach that they enable the formation and<br />

ongoing development of an ethos for pedagogical practice,<br />

which in turn can serve as a foundation and guide, especially<br />

in dealing with challenging situations. It’s not about<br />

the once-formed attitude and rehearsed actions, but about<br />

the continuous renewal «through practice for pedagogical<br />

matters - a path of self-development and professionalization»<br />

(Barth & Wiehl <strong>2023</strong>, p. 174).<br />

Results of expert interviews<br />

To gain insight into the conditions in educational institutions<br />

and the handling of violence in Sri Lanka, qualitative<br />

expert interviews were conducted as part of Nur Erdem’s<br />

bachelor’s thesis. Three individuals who work within or<br />

in the vicinity of the Rainbow Foundation, including a hotel<br />

owner, the founder of the Rainbow Foundation, and a<br />

Rainbow Foundation employee, volunteered to participate.<br />

Their data and statements were used for the research.<br />

In the following sections, the methodology and analysis of<br />

the interviews will be presented.<br />

27


Ergebnisse der<br />

Expertisen-Interviews<br />

Um Einblick in die Verhältnisse an pädagogischen Institutionen<br />

und den Umgang mit Gewaltanwendungen in Sri<br />

Lanka zu bekommen, wurden im Rahmen ihrer Bachelor-<br />

Arbeit von Nur Erdem leitfadengestützte qualitative Expertinnen-<br />

und Experteninterviews durchgeführt. Dafür<br />

stellten sich drei Personen zur Verfügung, die im Rahmen<br />

oder im Umkreis der Rainbow Fondation arbeiten, eine<br />

Hotelbesitzerin, der Gründer der Rainbow Fondation und<br />

eine Mitarbeiterin der Rainbow Fondation. Auf diese Weise<br />

konnten Einschätzungen von direkt beteiligten und somit<br />

gestaltenden und handelnden Personen ebenso wie einer<br />

im Sozialraum tätigen Person in die Auswertung einbezogen<br />

werden. Sie willigten ein, dass ihre Daten und Aussagen<br />

für die wissenschaftliche Arbeit genutzt werden<br />

dürfen. Im Folgenden werden die Methode und die Auswertung<br />

der Interviews vorgestellt.<br />

Die Methode der qualitativen Expertinnen- und Experteninterviews<br />

ist ein systematisches und theoriegeleitetes<br />

Verfahren der Datenerhebung in Form von Befragung jeweils<br />

einer Person (Kaiser 2021, S. 9). Die Gütekriterien dieser<br />

Interviewmethode liegen in der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit<br />

der Datenerhebung und -auswertung, der<br />

theoriegeleiteten Vorgehensweise, der Neutralität und<br />

Offenheit der Forschenden gegenüber neuen Erkenntnissen<br />

und Deutungsmustern (ebd., S. 13). Im Rahmen eines<br />

vierwöchigen Forschungspraktikums in der Rainbow Fondation<br />

wurden von Nur Erdem drei teilstrukturierte Expertinnen-<br />

und Experteninterviews geführt, die – bis auf<br />

das dritte Interview – mit einer offenen Frage begannen<br />

und mit fünf strukturierenden, jeweils bestimmte Themen<br />

behandelnden Fragen fortsetzten. Den zu Befragenden<br />

wurde ein Leitfaden in englischer Sprache vorgelegt, der<br />

die Forschungsfrage und fünf Schlüsselfragen umfasste,<br />

damit sich die Beteiligten orientieren und das Interview auf<br />

eine dreiviertel Stunde begrenzen konnten. Leitfaden und<br />

Interviews sind in der 2022 am Institut für Waldorfpädagogik,<br />

Inklusion und Interkulturalität in Mannheim von<br />

Nur Erdem eingereichten Bachelorarbeit dokumentiert<br />

und nach den Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse<br />

(Mayring 2015) ausgewertet. In der folgenden Darstellung zitieren<br />

und paraphrasieren wir auszugsweise die auf das<br />

Thema Gewaltanwendung bezogenen Aussagen aus der<br />

Bachelorarbeit von Nur Erdem, um an einigen Beispielen<br />

das pädagogische Handeln in Sri Lanka einschätzen und<br />

notwendige Veränderungen aufzeigen zu können.<br />

Nach einem einstimmenden Gespräch mit den Interviewpartnerinnen<br />

und -partnern wurde eine Einstiegsfrage ge-<br />

The method of qualitative expert interviews is a systematic<br />

and theory-guided data collection procedure involving<br />

interviewing one person at a time (Kaiser 2021, p. 9). The<br />

quality criteria of this interview method lie in the intersubjective<br />

comprehensibility of data collection and analysis,<br />

the theory-guided approach, and the researcher’s<br />

neutrality and openness to new insights and patterns of<br />

interpretation (ibid., p. 13). As part of a four-week research<br />

internship at the Rainbow Foundation, Nur Erdem conducted<br />

three semi-structured expert interviews, which began<br />

with an open question and continued with five structuring<br />

questions, each addressing specific topics—except for<br />

the third interview. The interviewees were provided with<br />

an English-language guide containing the research question<br />

and five key questions to help them orient themselves<br />

and limit the interview to about three-quarters of an<br />

hour. The guide and interviews are documented in Nur Erdem’s<br />

bachelor’s thesis submitted in 2022 to the Institute<br />

for Waldorf Education, Inclusion, and Interculturality in<br />

Mannheim and analysed using qualitative content analysis<br />

methods (Mayring 2015). In the following presentation, we<br />

will quote and paraphrase selected statements from Nur<br />

Erdem’s thesis related to the topic of violence to assess<br />

pedagogical practices in Sri Lanka and highlight necessary<br />

changes.<br />

After an initial discussion with the interviewees, an introductory<br />

question was posed: «What have your experiences<br />

been in recent years in educational institutions regarding<br />

the use of violence by staff and teachers against children<br />

and adolescents?» The first two interviewees provided detailed<br />

accounts of experiences with acts of violence in educational<br />

institutions, while the third person had no direct<br />

experience with this in Sri Lanka but contributed insights<br />

into changing the situation. For our research question,<br />

only the statements from the first and second interviews<br />

are relevant, so the third interview will not be discussed<br />

here.<br />

The first person, a woman from the surrounding local<br />

community of the Rainbow Foundation, provides a detailed<br />

account of her nine-year-old son’s experience with violence<br />

at the hands of a teacher. Her son had been physically<br />

assaulted by the teacher because he hadn’t completed<br />

his homework. One afternoon, the mother received a call<br />

that her son had fainted multiple times and was now being<br />

treated in a hospital. Later, she learned that her son’s condition<br />

had been caused by the teacher. However, a doctor<br />

28<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


stellt: «Wie waren in den letzten Jahren Ihre Erfahrungen<br />

in pädagogischen Einrichtungen mit durch Mitarbeitende<br />

und Lehrkräfte ausgeübtem Gewaltumgang gegenüber<br />

Kindern und Jugendlichen?» Die ersten beiden Interviewpartner<br />

berichten ausführlich über Erfahrungen mit Gewalthandlungen<br />

in pädagogischen Institutionen, während<br />

die dritte Person damit in Sri Lanka keine Berührungen gehabt<br />

hat, aber Gesichtspunkte zur Veränderung der Lage<br />

beiträgt. Für unsere Fragestellung sind nur die Aussagen<br />

des ersten und zweiten Interviews relevant, weshalb das<br />

dritte hier keine Beachtung findet.<br />

Die erste Person, eine Frau aus dem Sozialraum der Rainbow<br />

Fondation, schildert ausführlich die Gewalterfahrungen<br />

ihres neunjährigen Sohnes, der von einer Lehrperson<br />

geschlagen wurde, weil er seine Hausaufgaben nicht gemacht<br />

hatte. Die Mutter erhielt an einem Nachmittag einen<br />

Anruf, ihr Sohn sei mehrfach ohnmächtig geworden und<br />

würde jetzt in einem Krankenhaus behandelt. Später erfährt<br />

die Mutter, dass der Zustand des Sohnes durch die<br />

Lehrerin herbeigeführt worden sei. Allerdings hat eine<br />

Ärztin Zweifel und bietet ein Gespräch mit dem Sohn an.<br />

Dieser hatte offenbar wegen nicht erledigter Hausaufgaben<br />

Angst vor der Lehrerin und hatte sich deshalb in die Hose<br />

gemacht. Das ereignete sich vor der ganzen Klasse, sodass<br />

die Kinder lachten und die Lehrerin ihn dafür bestrafte. Er<br />

musste vor dem Klassenzimmer auf die Knie gehen und<br />

so die ganze Schulstunde verbringen. Eigentlich wollte er<br />

nicht mehr in die Schule gehen und versetzte sich deshalb<br />

wiederholt in Ohnmacht. Die Ärztin empfahl der Mutter das<br />

Selbstbewusstsein des Sohnes zu stärken; diese behielt ihn<br />

zunächst eine Woche zuhause und kontaktierte die Schulleitung,<br />

die der Lehrkraft die Klassenführung entzog.<br />

Das zweite Expertengespräch wurde mit Martin Henrich,<br />

dem Gründer der Rainbow Fondation, der zunächst ausführlich<br />

über seine Bewegründe berichtet, in Sri Lanka die<br />

heilpädagogische Arbeit mit Menschen mit Behinderungen<br />

und Unterstützungsbedarf zu verwirklichen. Nach seinen<br />

Erfahrungen mit Gewalthandlungen gefragt, stellt sich heraus,<br />

dass er «selbst keinerlei persönliche Erfahrungen mit<br />

Gewalt gemacht hat, sondern der Umgang mit Gewalt innerhalb<br />

des Kindergartens und im therapeutischen Bereich, in<br />

der Tagespflege erfahren wurde.» Ihm fällt das bereits oben<br />

beschriebene Beispiel einer Freiwilligen ein, als vor einer<br />

Theateraufführung eine Lehrkraft einem Jungen auf das unbedeckte<br />

Gesäss schlug; anschliessend habe die Freiwillige<br />

mit den Schülerinnen, Schülern und der Lehrkraft das<br />

Gespräch gesucht und der Schüler, der das Eingreifen der<br />

Lehrerin ausgelöst hatte, habe sich entschuldigt und von<br />

sich aus gesagt, dass es ein unfaires Verhalten gewesen sei.<br />

Als weiteres auch oben erwähntes Beispiel werden die<br />

Stöckchen genannt, deren Gebrauch die Freiwilligen ablehnten.<br />

Dann schildert Martin Henrich eine Erfahrung aus<br />

had doubts and offered to speak with the son. It turned out<br />

that he had been afraid of the teacher due to his unfinished<br />

homework and had wet himself in front of the entire class,<br />

which resulted in the other children laughing at him. In<br />

response, the teacher punished him by making him kneel<br />

outside the classroom for the entire school period. He<br />

no longer wanted to go to school and repeatedly feigned<br />

fainting. The doctor recommended that the mother work<br />

on boosting her son’s self-esteem. Initially, she kept him<br />

home for a week and contacted the school administration,<br />

which subsequently revoked the teacher’s classroom management<br />

responsibilities.<br />

The second expert interview was conducted with Martin<br />

Henrich, the founder of the Rainbow Foundation, who initially<br />

discussed his reasons for establishing therapeutic<br />

educational work with people with disabilities and support<br />

needs in Sri Lanka. When asked about his experiences<br />

with violence, it became evident that he had «not personally<br />

experienced any violence but had encountered the use<br />

of violence in a kindergarten and in the therapeutic field,<br />

in daycare.» He recalled the example described earlier in<br />

which a teacher had slapped a boy on the bare buttocks<br />

before a theatre performance. Afterward, a volunteer engaged<br />

in a conversation with the students and the teacher.<br />

The boy who had prompted the teacher’s intervention apologized<br />

and spontaneously acknowledged that his behaviour<br />

had been unfair.<br />

Another example mentioned, as discussed earlier, involved<br />

the use of sticks, which the volunteers rejected. Martin<br />

Henrich then described an experience from the work<br />

of the Rainbow Foundation involving a «disabled young<br />

man who was raised very strictly.» His mother only had<br />

to «pick up a blade of grass, and he would immediately<br />

behave calmly and decently». Martin Henrich humorously<br />

recounted an incident where he tried the same «trick» with<br />

a twig on the same boy but did not achieve the same result.<br />

He considered it a «success» when the child took the twig<br />

from him «with a laugh» and tossed it away. Nur Erdem, in<br />

her analysis, underlines his «pedagogical attitude regarding<br />

dealing with violence» and highlights the joy «of having<br />

built such a relationship with the boy that that is free<br />

from fear.» From the conversations with Martin Henrich, it<br />

becomes clear that «he rejects the use of violence and promotes<br />

a protective pedagogy.» His pedagogical attitude is<br />

an expression of non-violence, «for which his organization<br />

advocates and stands.»<br />

29


der Arbeit der Rainbow Fondation mit einem «behinderten<br />

jungen Mann ..., der sehr streng erzogen wurde.» Seine<br />

Mutter musste nur «einen Grashalm in die Hand» nehmen,<br />

«woraufhin er sich sofort ruhig und anständig benahm».<br />

«Mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht» berichtet Martin<br />

Henrich von dem «Trick» mit einem Zweig, den er bei dem<br />

Jungen ausprobiert habe, ohne dieselbe Reaktion zu erreichen.<br />

Er wertet es als «Erfolg», dass das Kind ihm den<br />

Zweig «lachend aus der Hand» nahm und wegschmiss.<br />

Das unterstreiche, so Nur Erdem auswertend, «seine pädagogische<br />

Haltung in Bezug auf Gewaltumgang» und er<br />

thematisiere damit die Freude, «eine solche Beziehung zu<br />

dem Jungen aufgebaut zu haben, die ohne Angst besteht».<br />

Aus den Gesprächen mit Martin Henrich könne man deutlich<br />

seine «ablehnende Haltung zum Gewaltgebrauch und<br />

die Förderung einer beschützenden Pädagogik herauskristallisieren».<br />

Seine pädagogische Haltung sei Ausdruck<br />

eines gewaltfreien Umgangs, «für den sich seine Organisation<br />

einsetzt und steht».<br />

Folgen wir den weiteren Interviewaussagen und den Auswertungen,<br />

bestätigen sich Gewalterfahrungen. Im ersten<br />

Fall betreffen sie direkt die Familie, im zweiten Fall sind<br />

es Beobachtungen der Freiwilligen, die ihr Soziales Jahr<br />

in der Rainbow Fondation verbringen. Beide Male geht es<br />

um verletzende und beschämende Handlungsweisen von<br />

Lehrkräften in lokalen Schulen Kindern gegenüber.<br />

Im strukturierten Teil der Interviews geht es um weitere<br />

Erfahrungen mit Gewaltanwendung und die Schwierigkeiten,<br />

einen gewaltfreien Umgang mit Kindern und Jugendlichen<br />

zu ermöglichen; die in fünf Kategorien geordneten<br />

Aussagen werden hier exemplarisch vorgestellt.<br />

1) Es stellt sich heraus, dass die Lehrkräfte keine Universität<br />

besucht und im Allgemeinen keinen Abschluss<br />

für den Lehrberuf gemacht haben, lediglich ein teaching<br />

college besucht hätten, aber nicht für den Umgang mit<br />

jüngeren Kindern ausgebildet seien – wie die im ersten<br />

Interview beschriebene junge Klassenlehrerin. Nach<br />

Einschätzung von Nur Erdem unterstreiche dies, «dass<br />

nicht ausgebildete pädagogische Fachkräfte gar keine<br />

Möglichkeit haben, eine gewaltfreie Methode auszuüben,<br />

da ihnen gar kein alternativer Umgang mit herausforderndem<br />

Verhalten bekannt ist und sie in Stresssituationen<br />

überfordert sind und versuchen die Kontrolle<br />

über Situationen zu bewahren, indem mit Strafen und<br />

Konsequenzen reagiert wird».<br />

2) Ein Problem, den gewaltfreien Umgang einzuführen,<br />

liege – so Martin Henrich – auch darin, dass die Mitarbeitenden<br />

der Rainbow Foundation, die die lokalen Lehrkräfte<br />

professionell begleiten, aus dem Ausland seien<br />

und nicht das Gefühl verbreiten wollten, sie wüssten,<br />

Following the additional interview statements and their<br />

evaluations, experiences of violence are confirmed. In<br />

the first case, they directly affect the family, while in the<br />

second case, they are observations made by volunteers<br />

spending their Social Year at the Rainbow Foundation.<br />

Both instances involve hurtful and humiliating actions by<br />

teachers in local schools towards children.<br />

In the structured part of the interviews, further experiences<br />

with violence and the difficulties in facilitating a<br />

non-violent approach with children and adolescents are<br />

discussed. The statements, categorized into five groups,<br />

are presented here as examples.<br />

1) It emerges that the teachers have not attended university<br />

and generally have not received formal training<br />

for the teaching profession; they have only attended a<br />

teaching college but are not trained to work with younger<br />

children. This aligns with the description of the young<br />

class teacher provided in the first interview. According<br />

to Nur Erdem’s assessment, this underscores that «untrained<br />

educational professionals have no possibility of<br />

practicing a non-violent method, as they are not aware<br />

of any alternative approach to challenging behaviour<br />

and are overwhelmed in stressful situations, attempting<br />

to maintain control over situations by reacting with punishments<br />

and consequences.»<br />

2) Martin Henrich also points out that a challenge in introducing<br />

non-violent practices is that the staff at the<br />

Rainbow Foundation, who are providing guidance to the<br />

local teachers, are foreigners, and they do not want to<br />

convey the feeling that they know better. This illustrates<br />

«the difficulty of showing, as an outsider, that such<br />

behaviour [referring to violence] is not conducive to selfimage<br />

and learning, without being didactic,» as Nur Erdem<br />

deduces from the statements.<br />

3) Furthermore, it is learned from the second interviewee<br />

that violence in Sri Lanka is a structural problem and<br />

is considered «normal». Students perceive it as good<br />

because otherwise, they would not do their homework.<br />

Ultimately, there is the belief that «if you don’t hit your<br />

child, you don’t love it». As illustrated by an incident at<br />

the Rainbow Foundation's own pre-school, there is bewilderment<br />

when a kindergarten teacher is prevented<br />

from hitting a child. The second expert also mentions<br />

that parents are afraid to «raise their voice» because<br />

they do not want to «endanger their children through<br />

any expression or action».<br />

4) Violence is prevalent in the form of hitting with sticks<br />

or other physical punishments; for instance, children<br />

30<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


wie es besser ginge. Das veranschauliche «die Schwierigkeit,<br />

als Aussenstehende zu zeigen, dass ein solcher<br />

Umgang [gemeint ist Gewaltanwendung] für das Selbstbild<br />

und das Lernen nicht förderlich ist, ohne dabei eine<br />

belehrende Wirkung zu erzeugen», schliesst Nur Erdem<br />

aus den Aussagen.<br />

3) Von dem zweiten Interviewpartner ist ausserdem zu<br />

erfahren, dass Gewalt in Sri Lanka ein strukturelles Problem<br />

sei, sie als «normal» gelte und die Schülerschaft auf<br />

Befragen sie als gut empfänden, denn sonst würden sie<br />

ihre Hausaufgaben nicht erledigen. Schliesslich gelte:<br />

«Wer sein Kind nicht schlägt, liebt es nicht.» Oder, wie ein<br />

Vorfall im eigenen Kindergarten der Rainbow Foundation<br />

zeigt, wird mit Verständnislosigkeit reagiert, wenn<br />

eine Kindergärtnerin daran gehindert wird, ein Kind zu<br />

schlagen. Schliesslich hätten Eltern Angst, so der zweite<br />

Experte, «ihre Stimme zu erheben», weil sie ihre Kinder<br />

«nicht durch irgendeine Äusserung oder Handlung gefährden<br />

möchten».<br />

4) Verbreitet ist der Gewaltumgang in Form von Schlagen<br />

mit dem Stock oder anderen körperliche Strafen; beispielsweise<br />

müssen sich Kinder hinhocken, ihre Hände<br />

überkreuzt halten und werden an den Ohren gezogen,<br />

«und das kann dann über Stunden [dauern]». Die ausgeübte<br />

Gewalt bewirke bei Kindern grundsätzlich Angst,<br />

auch vor den netten Lehrkräften.<br />

5) Zur Frage nach einem gewaltfreien Umgang mit Kindern<br />

werden verschiedene Möglichkeiten bedacht: Lehrkräfte<br />

sollten überhaupt auf den gewaltfreien Umgang<br />

aufmerksam gemacht und dafür geschult werden; für<br />

den Umgang mit herausfordernden Situationen käme es<br />

darauf an, die Gefühle in den Griff zu bekommen; die<br />

Interaktionen der Lehrkräfte mit den Kindern müssten<br />

gestärkt werden, dann würden sich die Kinder auch besser<br />

verhalten; schliesslich könnten rhythmische Übungen<br />

mit den Kindern gemacht werden; Werbespots sollten<br />

darauf aufmerksam machen, dass Kinder «durch<br />

Prügelstrafen verängstigt werden»; eine «starke Persönlichkeitsbildung»<br />

und wenn Kinder keine Angst hätten,<br />

sei auch wirtschaftlich von Nutzen; aus dem Kind könne<br />

man alles auch ohne Gewalt herauslocken und seine Resilienz<br />

stärken. Schliesslich kommt Martin Henrich auf<br />

die Waldorfpädagogik zu sprechen: «Wenn man den heilpädagogischen<br />

Kurs von Steiner anguckt, dann sind da<br />

natürlich Beispiele drin, wie ich ein Kind fördern kann,<br />

indem man auch mögliche Behinderungen, in den damaligen<br />

Verhältnissen vollkommen neuen Art und Weise<br />

erklärt, das ist das eine.» Das andere sei die «Selbsterziehung»,<br />

aus der sich «viel Neues und Erkennendes zum<br />

Thema Gewaltfreiheit und unterstützende Pädagogik<br />

sich entwickeln» könne.<br />

are made to squat, cross their hands, and have their ears<br />

pulled, «and this can last for hours». The violence inflicted<br />

generally causes fear in children, even in the presence<br />

of kind teachers.<br />

5) Regarding the question of a non-violent approach to<br />

children, various possibilities are considered: teachers<br />

should be made aware of and trained in non-violent methods;<br />

it is essential to control one’s emotions when dealing<br />

with challenging situations; interactions between<br />

teachers and children should be strengthened, leading<br />

to improved behaviour in children; rhythmic exercises<br />

with children could be implemented; advertisements<br />

should draw attention to the fact that children «are<br />

frightened by corporal punishment»; strong personality<br />

development and the absence of fear in children are<br />

also economically beneficial; everything can be drawn<br />

out from a child without the use of violence, strengthening<br />

their resilience. Finally, Martin Henrich discusses<br />

Waldorf education: «If you look at Steiner’s special education<br />

course, there are, of course, examples of how to<br />

support a child, including explaining possible disabilities<br />

in completely new ways for the times. That’s one<br />

aspect.» The other aspect is «self-education», which can<br />

lead to «new insights and understanding regarding nonviolence<br />

and supportive pedagogy».<br />

Outlook<br />

The statements and analyses from the interviews clearly<br />

demonstrate that various challenges need to be overcome<br />

and that achieving a non-violent approach to children and<br />

adolescents in educational institutions as a binding and<br />

widely supported concern is a long journey. The interviews<br />

provide only some recommendations, the responsible<br />

implementation of which lies entirely in the hands<br />

of those living and working in Sri Lanka. It is evident that<br />

there is a need to establish a legal and political framework<br />

for institutional pedagogy in accordance with the UN Convention<br />

on the Rights of the Child. Additionally, there is<br />

a need for the renewal and commitment to education for<br />

all pedagogical professions and practical qualifications.<br />

Finally, everyone needs to develop an awareness of nonviolent,<br />

respectful, and peace-promoting interactions based<br />

on cultural and religious traditions, coupled with the<br />

abandonment of hurtful and shaming practices with children,<br />

adolescents, and all individuals.<br />

31


Ausblick<br />

Die Aussagen und Auswertungen der Interviews zeigen<br />

deutlich, dass ganz verschiedene Schwierigkeiten zu bewältigen<br />

sind und dass es ein weiter Weg ist, den gewaltfreien<br />

Umgang mit Kindern und Jugendlichen in pädagogischen<br />

Institutionen als ein verbindliches und von möglichst<br />

vielen Menschen getragenes Anliegen zu realisieren. Aus<br />

den Interviews können lediglich einige Empfehlungen abgelesen<br />

werden, deren verantwortungsbewusste Umsetzung<br />

vollständig in den Händen derer liegt, die in Sri Lanka<br />

leben und arbeiten. Deutlich ist, dass es einen rechtlichen<br />

und politischen Rahmen für die institutionelle Pädagogik<br />

gemäss der UN-Kinderkonvention zu schaffen gilt. Dann<br />

bedarf es der Erneuerung und Verpflichtung der Ausbildungen<br />

für alle pädagogischen Berufe und der praxisbezogenen<br />

Qualifikationen. Schliesslich benötigen alle ein<br />

auf den kulturellen und religiösen Traditionen basierendes<br />

Bewusstsein für einen gewaltfreien, wertschätzenden<br />

und friedenstiftenden Umgang verbunden mit dem Verzicht<br />

auf verletzende und beschämende Umgangsweisen<br />

mit Kindern, Jugendlichen und allen Menschen. Sicherlich<br />

kann ein Lichtblick in der erwähnten Selbsterziehung gesehen<br />

werden, die z.B. durch die erwähnten Nebenübungen<br />

von Steiner unterstützt werden kann. Allerdings können<br />

sie durch einen erlebten Praxisbezug – wie am Beispiel<br />

der Ausbildung eines pädagogischen Ethos gezeigt – wirksam<br />

mit den sozialen Aufgaben verbunden werden. Darüber<br />

hinaus ist für den professionellen und institutionellen<br />

pädagogischen Rahmen eine Ausbildung erforderlich, die<br />

nicht nur Wissen und Kompetenzen vermittelt, sondern<br />

eine fundamentale Selbstbildung bereits einschliesst.<br />

Dazu gehören vielfältige, die angehenden pädagogischen<br />

Fachkräfte in ihrer Selbstentwicklung fördernde Bildungsangebote,<br />

die den Sinn von Bildung als eine Aufgabe der<br />

Humanisierung erleben lassen. Wertschätzung auf allen<br />

Ebenen öffnet Tore für eine zukunftsfähige und friedenstiftende<br />

Pädagogik, die von jeder und jedem noch heute<br />

durch persönliches Engagement realisiert werden kann. In<br />

diesem Sinne möchten wir der Rainbow Fondation nicht<br />

nur unsere Forschungsergebnisse und Überlegungen<br />

dazu schenken, sondern allen dort Tätigen für ihren unermüdlichen<br />

Einsatz für ein gemeinsames und humanes<br />

Leben danken.<br />

Certainly, a ray of hope can be seen in the mentioned selfeducation,<br />

which can be supported by practices such as<br />

the subsidiary exercises mentioned by Steiner. However,<br />

they can become effective when connected with social<br />

tasks through practical experience, as demonstrated in<br />

the example of the development of a pedagogical ethos.<br />

Furthermore, a comprehensive education is required for<br />

the professional and institutional pedagogical framework,<br />

one that not only imparts knowledge and competencies<br />

but also includes fundamental self-education. This entails<br />

diverse educational offerings that promote the self-development<br />

of aspiring educators and allow them to experience<br />

the purpose of education as a task of humanization.<br />

Appreciation at all levels opens doors for a sustainable<br />

and peace-promoting pedagogy that can be realized<br />

through personal commitment by everyone today. In this<br />

spirit, we not only wish to present our research findings<br />

and considerations to the Rainbow Foundation but also<br />

express our gratitude to all those working there for their<br />

tireless efforts towards a shared and humane life.<br />

Translation from German by Nur Erdem<br />

32<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


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33


Musik als Weg<br />

zu Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit und sozialer<br />

Kompetenz bei erwachsenen Lernenden mit Assistenzbedarf<br />

Eine Fallstudie zum Musikunterricht des SAFA<br />

(Verband Sozialkunst für Familien, Taiwan)<br />

von Hsieh, Shu-Ling<br />

Von 2001 bis 2010 arbeitete Shu-Ling mit Menschen aus Familien zusammen, die von TSC betroffen<br />

sind und leistete vor allem medizinische Hilfe, die sich an den Bedürfnissen der Patienten orientierte.<br />

Von 2010-2020 absolvierte sie in Taiwan eine jahrzehntelange IPMT-Ausbildung, eine Ausbildung zur<br />

Waldorflehrerin und schloss das CESTT-Programm erfolgreich ab. Im Jahr 2019 gründete sie SAFA, um<br />

Familien und Patienten mit besonderen Bedürfnissen durch eine Vielzahl künstlerischer Aktivitäten zu<br />

unterstützen. 2022 schloss sie ihr Studium an der NTUA mit einem Master in AHE ab. Das Hauptaugenmerk<br />

bei ihrer Arbeit liegt auf der Begleitung von Familien mit besonderen Bedürfnissen, um sie bei<br />

ihrem Streben nach einem ausgeglicheneren Leben zu unterstützen.<br />

Das vorliegende Projekt befasst sich mit der Dynamik<br />

zwischen einer Serie von Musikstunden, die speziell für<br />

erwachsene Lernende mit Assistenzbedarf konzipiert wurden,<br />

und den Menschen, die diesen Musikunterricht in Anspruch<br />

nehmen. Es wird untersucht, wie der auf Lernende<br />

mit Tuberösem-Sklerose-Komplex speziell abgestimmte<br />

Musikunterricht Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und<br />

soziale Kompetenz fördern kann. Auf der Grundlage von<br />

Berichten und Interviews bietet das Projekt Betreuenden<br />

und Einrichtungen die Möglichkeit, Verständnis für die<br />

Wirkung von künstlerischer Erziehung auf Lernende mit<br />

Assistenzbedarf zu entwickeln.<br />

Hintergrund<br />

Ich bin Mutter eines jungen Erwachsenen mit Tuberöser<br />

Sklerose. Seit mein Sohn die Diagnose erhielt, habe ich<br />

nach Wegen gesucht, mit dieser Krankheit umzugehen<br />

und Menschen, die an ihr leiden, darüber zu informieren.<br />

Als mein Sohn 2003 eingeschult werden sollte, stiess ich<br />

auf eine Waldorfstudie mit dem Titel «Erziehung zur Freiheit»<br />

(Carlgren, 1998). Ich war beeindruckt von Rudolf<br />

Steiners Beispiel, das zeigte, wie er als Privatlehrer einem<br />

Kind mit Behinderung, das als nicht beschulbar galt, durch<br />

praktischen Unterricht so helfen konnte, dass es die Schule<br />

wie «normale» Kinder besuchen und einen Hochschulabschluss<br />

erlangen konnte. Das gab mir Hoffnung, denn<br />

mein Sohn, der kurz vor der Einschulung stand, hatte<br />

potentiell lernbehindernde Krampfanfälle und Hydrozephalus<br />

(verbunden mit Hirntumoren und Knötchen auf der<br />

Hirnrinde).<br />

Als Musiklehrerin in Taiwan hatte ich fast 20 Jahre lang mit<br />

jungen Menschen mit Unterstützungsbedarf gearbeitet<br />

und immer wieder die Rückschläge beobachtet, die sie im<br />

Kunstunterricht erleben mussten. Oft werden sie von den<br />

Lehrpersonen ignoriert oder zurechtgewiesen, wodurch<br />

ihnen das Lernen von Musik und anderen Künsten extrem<br />

erschwert wurde. Mein Sohn begann zum Beispiel in der 4.<br />

Klasse mit Blockflötenunterricht. Ein qualifizierter Flötenlehrer<br />

war speziell eingestellt worden, um seine Klasse zu<br />

unterrichten. Nach der ersten Stunde bat mich mein Sohn,<br />

in der nächsten Woche nicht wieder hingehen zu müssen.<br />

In der dritten Woche begann er verzweifelt zu beten:<br />

«Wenn es doch nur morgen ein Erdbeben oder einen Taifun<br />

geben würde, damit ich nicht zum Blockflötenunterricht<br />

gehen muss!» Dieses Mal schenkte ich seiner Bitte<br />

mehr Aufmerksamkeit. Auf Nachfragen fand ich heraus,<br />

dass mein Sohn in der ersten Flötenstunde nicht mitkam,<br />

weil er seine Finger nicht so schnell bewegen konnte wie<br />

der Rest der Klasse. Er musste hinterher nachsitzen und<br />

wurde von dem Lehrer angeschrien und ausgeschimpft.<br />

Als ich das hörte, stimmte ich zu, meinen Sohn während<br />

des Blockflötenunterrichtes in die Bibliothek zu bringen.<br />

Eine Stunde nach dieser Entscheidung bekam er jedoch<br />

zum ersten Mal seit sieben Jahren wieder Anfälle. Um ihm<br />

zu helfen, die Angst vor dem Blockflötenspiel zu überwinden,<br />

entwickelte ich Blockflötenstunden speziell für ihn<br />

auf Grundlage der anthroposophischen Heilpädagogik:<br />

34<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


Music as a Path<br />

to Self-confidence, Self-efficacy, and Interpersonal Skills<br />

for Adult Learners with Disabilities<br />

A Case Study of Music Classes offered by SAFA<br />

(Social Arts for Families Association, Taiwan)<br />

by Hsieh, Shu-Ling<br />

From 2001-2010, Shu-Ling has been collaborating with individuals from families affected by TSC, primarily<br />

providing medical assistance based on the patients' needs. From 2010-2020 in Taiwan, she engaged<br />

in a decade-long IPMT training, completed Waldorf education teacher training, and successfully finished<br />

the CESTT program. In 2019, she founded SAFA to support families and patients with special needs<br />

through a variety of artistic activities. In 2022, she graduated from the NTUA, earning a Master's degree<br />

in AHE. Her main focus in her work is to accompany families with special needs, offering support in their<br />

pursuit of a more balanced life.<br />

This project focuses on the dynamic between a series of<br />

music lessons customized for adult disabled learners, and<br />

the disabled learners who attend these lessons. It explores<br />

how attending music lessons specially tailored to learners<br />

with Tuberous Sclerosis Complex could cultivate learners’<br />

confidence, sense of self-worth, and ability to interact with<br />

fellow human beings. Through narrations and interviews,<br />

the project suggests to caregivers and institutions a way<br />

of understanding the impact of arts education for disabled<br />

learners.<br />

Background<br />

I am a parent of a young adult with Tuberous Sclerosis.<br />

Ever since my son was diagnosed, I have embarked on a<br />

quest to explore methods to approach this disease and to<br />

provide education for those with this disease. When my<br />

son was about to attend primary school in 2003, I came<br />

across the study on Waldorf Education report, Education<br />

Towards Freedom (Carlgren 1998), and was drawn to the<br />

idea, exemplified by Rudolf Steiner, that a practical style<br />

of education under the guidance of a home teacher could<br />

cultivate a disabled child, previously deemed unable to attend<br />

school, to the point that he or she could eventually<br />

get through the education system like typical children and<br />

receive a high school diploma. To me, this was hope, as my<br />

child about to be enrolled suffered from problems such<br />

as seizure and hydrocephalus (connected with tumors in<br />

his brain and nodules on the cerebral cortex), all of which<br />

could impede learning.<br />

I have worked with disabled students in Taiwan for almost<br />

20 years in my music teaching career and have vividly witnessed<br />

the setbacks these learners experience in art-related<br />

classes. They are ignored or reprimanded by many<br />

instructors, making learning music, or any other form of<br />

art an incredibly difficult thing to do. For example, in 4th<br />

grade, my son began to have recorder classes in elementary<br />

school, with a professional instructor being specifically hired<br />

to come in and teach this class. After the first class, my<br />

son asked me if he could be exempted from it next week.<br />

In the third week, he began to pray desperately, «Could<br />

there be an earthquake or typhoon tomorrow? So, I would<br />

not have to go to school and learn recorder...». This time,<br />

his remark drew my attention. Through inquiry, I discovered<br />

that during the first day of recorder class, my child was<br />

not able to keep up because he could not move his fingers<br />

as fast as the rest of his classmates. As a result, he was<br />

ordered by the instructor to stay after class for additional<br />

lessons, which were carried out with yelling and scolding.<br />

After learning this, I agreed to have my son taken to the<br />

library whenever it was time for recorder classes.<br />

However, an hour after this decision was made, he began<br />

to have seizures for the first time in seven years. To help<br />

my son overcome the fear of playing the recorder, I crafted<br />

a recorder lesson specifically for him, modeling it after an<br />

anthroposophical approach to therapeutic education:<br />

35


1. Ich besorgte je eine Blockflöte für mich<br />

und meinen Sohn.<br />

2. Ich wählte ein beliebtes Lied aus.<br />

3. Mein Sohn und ich sangen das Lied<br />

nebeneinanderstehend.<br />

4. Ich liess meinen Sohn das Lied singen und<br />

spielte dazu Blockflöte.<br />

5. Dann tauschten wir: ich sang das Lied und<br />

er spielte langsam Blockflöte dazu, eine Note nach<br />

der anderen, während ich die Noten sang.<br />

Nach einem Monat mit dieser Routine konnte mein Sohn<br />

das ganze Lied alleine spielen. Dass er sich erfolgreich die<br />

Fähigkeit aneignete, selbstständig Blockflöte zu spielen,<br />

lässt mich vermuten, dass der Hauptgrund, warum Kinder<br />

mit Unterstützungsbedarf wegen Stress und Angst nicht<br />

zum Unterricht gehen wollen, nicht in ihrer Behinderung<br />

liegt, sondern an einem Mangel an Selbstbewusstsein, der<br />

überwunden werden kann.<br />

Da ich selbst Performing Arts studiert habe, war mir der<br />

Zusammenhang zwischen dem Erlernen einer Kunst und<br />

dem Stärken von Selbstvertrauen bewusst. Ich wusste,<br />

dass Erfolgserlebnisse möglich sind, wenn man sich an<br />

das Auftreten gewöhnt, z.B. indem man ein Instrument<br />

spielen lernt. Wenn man lernt, mit anderen zusammen zu<br />

spielen, gewinnt man soziale Kompetenzen; und Erfolgserlebnisse<br />

und soziale Kompetenz können das Selbstvertrauen<br />

stärken. Das Gleiche gilt für andere Performance-<br />

Künste wie Gesang oder Tanz. Wenn man aus dem Reigen<br />

der darstellenden Künste eine findet, die zu einem passt,<br />

so ist das eine gute Grundlage für inneres Wachstum. Der<br />

folgende Bericht begleitet drei junge Menschen mit Tuberösem<br />

Sklerose-Komplex bei einem Forschungsprojekt<br />

zur Selbsterziehung durch Musikunterricht.<br />

Jedes Kind ist einzigartig und kommt mit eigenen Begabungen,<br />

Interessen oder Behinderungen auf die Welt, die<br />

Ausdruck seiner einmaligen Individualität sind. Aufgrund<br />

dieser Eigenschaften gestalten Kinder ihren persönlichen<br />

Lebensweg. Erzieherinnen und Erzieher sollten diese individuellen<br />

Eigenschaften beobachten und kennenlernen,<br />

damit sie jedes Kind in seiner Ganzheit verstehen können<br />

(Glöckler et al. 2006).<br />

Nach Steiner ist Schule ein Ort, an dem man lernt, Menschen<br />

zusammenzubringen, Gesellschaft zu gestalten<br />

und Menschlichkeit zu entwickeln. «Wer an seine Schulzeit<br />

zurückdenkt, weiss auch, wie oft man sich schlecht<br />

oder ‚leer‘, nicht akzeptiert, gemobbt oder ausgegrenzt<br />

gefühlt hat – und wie das Lebensfreude und Gesundheitsgefühl<br />

beeinträchtigen kann» (Glöckler, 2020). Menschen mit<br />

Assistenzbedarf haben täglich mit Herausforderungen zu<br />

1. I prepared a recorder for both myself and my son.<br />

2. I chose a popular song.<br />

3. My son and I sang the song side by side.<br />

4. I had my son sing the song, and<br />

I played along with the recorder.<br />

5. I had my son switch roles with me; this time, I sang<br />

the song, and he played the recorder, slowly, one note<br />

at a time as I sang the notes.<br />

After a month of this routine, my son could play the entire<br />

song by himself. The fact that he successfully acquired<br />

the ability to play recorder on his own suggests to me that<br />

whenever a disabled child is distraught, feeling that he or<br />

she could not keep up, and is afraid to go to class, the<br />

biggest reason might not be his disability, but the fear and<br />

anxiety that derive from a lack of self-confidence, which<br />

could all be overcome.<br />

As a graduate of a performing arts university, I understood<br />

the correlation between learning art and building<br />

self-confidence. I understood that by acquiring the skills<br />

to perform, such as learning to play a musical instrument,<br />

one could acquire a sense of achievement, build a set of<br />

social skills, and accumulate confidence through these. By<br />

being able to play an instrument, people gain a sense of<br />

achievement; by being able to play with others, they gain<br />

social skills; by having both a sense of achievement and<br />

social skills, they acquire confidence. The same could be<br />

achieved by learning to perform other types of art, whether<br />

singing or dancing. From all the different types of performing<br />

arts, if one could find a type that suits his or her<br />

character, he or she would have found the soil for selfgrowth.<br />

The following research project invites readers to join the<br />

three research participants (all of whom suffer from Tuberous<br />

Sclerosis Complex) on their quests for self-cultivation,<br />

through attending music classes.<br />

Every child comes into this world as a unique being. Each<br />

has a unique talent, interest, or disability, which gives rise<br />

to a spirit unique to himself. These characteristics also<br />

help the child build his personal pathway toward life. A<br />

child’s unique qualities are what educators ought to observe<br />

and learn, so they can understand each child as a<br />

whole being (Glöckler et al. 2017/2006).<br />

Steiner believed a school is a place where one is taught<br />

how to unite people, build society, and develop humankind.<br />

However, if at school, an individual is «not accepted,<br />

36<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


kämpfen, sei es auf körperlicher Ebene wegen ihrer Behinderungen<br />

oder seelisch, weil sie von der Gesellschaft<br />

ausgegrenzt werden. Es lohnt sich, nicht nur in der Schule,<br />

sondern auch in der Erwachsenenbildung zu untersuchen,<br />

wie ein sorgfältig ausgearbeiteter Unterricht ihnen helfen<br />

kann, diese Herausforderungen zu bewältigen. Das vorliegende<br />

Projekt geht dieser Frage am Beispiel von Musikunterricht<br />

für Erwachsene nach.<br />

Vom Solospiel abgesehen ist Musik eine darstellende Kunst<br />

mit einer sozialen Dimension, da man nicht alleine auftritt<br />

(Shi Ze Yao, 2002). Der Musikpädagoge Percy Buck weist darauf<br />

hin, dass man sich beim gemeinsamen musikalischen<br />

Auftritt auf bestimmte Regeln einigen muss. Rhythmus,<br />

Tonart, Lautstärke, Note, Einsätze und das Beenden des<br />

Musikstücks sind Beispiele für solche Regeln. Sie ermöglichen<br />

den Aufführenden das Zusammenarbeiten im selben<br />

Raum zur selben Zeit. Buck sieht dieses Teilen von<br />

Raum und Zeit als eine Form von Sozialisierung (Buck 1988).<br />

Steiner (2013) wies auch darauf hin, dass die plastischen<br />

Künste zur Individualisierung beitragen, während Musik<br />

und Poesie im gemeinsamen Erleben und Geniessen das<br />

soziale Miteinander fördern.<br />

Nach Yasuji Murai können Lernende mit Assistenzbedarf<br />

im gemeinsamen Musikunterricht auch die Fähigkeit entwickeln,<br />

in ihrem Spiel gegenseitig subtile Veränderungen<br />

in Lautstärke und Rhythmus wahrzunehmen. So können<br />

sie nicht nur feine musikalische Nuancen erleben, sondern<br />

werden darüber hinaus auch achtsamer anderen Menschen<br />

und ihrem Umfeld gegenüber. Das Erwerben dieser<br />

Fähigkeiten, so Murai, erleichtert soziale Kontakte und<br />

zwischenmenschliche Beziehungen (Yasuji Murai 2019). Nach<br />

Steiner ist es die Musik, die unser wahres Menschsein ausmacht.<br />

Musikhören öffnet die Körpersinne. Die Sinne, mit<br />

denen wir Rhythmus wahrnehmen, sind es auch, die uns<br />

den Zugang zu persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen<br />

und Emotionen erschliessen. Wenn wir Musik hören, öffnet<br />

sich der ganze Körper und lauscht (Brown 2016).<br />

Forschungsmethodik<br />

Ziel des Forschungsprojektes ist es, aus der Anthroposophie<br />

heraus die Wirkung des Musikunterrichts auf die<br />

Teilnehmenden zu untersuchen. Die vorliegende Studie<br />

konzentriert sich auf drei junge Menschen im Alter von<br />

24 bis 31 Jahren, die beim SAFA Musikunterricht erhalten.<br />

SAFA steht für Social Arts for Families Association (Verband<br />

Sozialkunst für Familien). Diese 2019 gegründete<br />

Organisation will Menschen mit Assistenzbedarf und ihre<br />

Familien dazu anregen und ihnen dabei helfen, ihr Potenzial<br />

zu entfalten und so Selbstvertrauen aufzubauen und<br />

ihr Selbstwertgefühl zu stärken.<br />

but bullied, or ostracized instead, how would this affect<br />

their health and joy for life?» (Glöckler 2021/2020) Paulo Freire,<br />

the Brazilian education specialist, suggests that this<br />

individual may develop a tendency to self-help, rejecting<br />

other people’s aid and relying on his own action to solve<br />

problems; a type of self-actualization Freire coins as «Love<br />

Operation» (Freire 2019/1970). Disabled individuals live with<br />

hardships every day. These may be physical hardships<br />

caused by their disabilities. These may also be psychological<br />

hardships caused by their exclusion from society. How<br />

a meticulously crafted lesson could help them cope with<br />

these hardships is worth studying, not only in school, but<br />

also in adult education. This project pursues this question<br />

in the context of music education for adults.<br />

Steiner proposes, if human beings could use music as the<br />

basis for socializing, this could push humankind from a<br />

sentimental development to a logical development, thus<br />

building a more harmonious society (Steiner 2013). Apart<br />

from the act of playing solo, music is a performing art with<br />

a social dimension, because one does not perform alone<br />

(Shi Ze Yao 2002). Music educator Buck points out that to perform<br />

together, musicians need to draft a set of rules, which<br />

all could adhere to. Rhythm, key, volume, note, the moment<br />

to begin the piece, and the moment to wrap up the<br />

piece, are all examples of those rules. Those rules enable<br />

performers to cooperate in a shared space and time; to<br />

Buck, several individuals cooperating in a shared space<br />

and time, is a form of socializing (Buck 1988).<br />

According to Yasuji Murai, attending a group music class,<br />

students with disabilities would still accumulate the skill<br />

to notice the slight changes in the volume and rhythm of<br />

their classmates. This acute skill not only enables a disabled<br />

student to enjoy the nuance of music, but also to pay<br />

attention to the people and the surroundings beside them.<br />

And once they acquire the latter skill, socializing and human<br />

interaction would become easier (Yasuji Murai, 2019).<br />

Steiner suggests that music is what makes us truly human.<br />

Listening to music opens up our body’s senses. The senses<br />

that enable us to catch rhythms also enable us to tap into<br />

our personal experiences, our memories, and our emotions.<br />

When music enters our ears, our entire body opens up<br />

and listens (Brown 2019/2016).<br />

Research methods<br />

The purpose of the research is to explore the effects of music<br />

classes on the participants through the lens of Anthroposophy.<br />

This study focuses on three participants aged 24<br />

to 31 in music lessons at SAFA. SAFA is the acronym of Social<br />

Arts for Families Association. Established in 2019, the<br />

37


In diesem Projekt werden die Pseudonyme Shan, Mei und<br />

Zhen verwendet, die im Mandarin-Chinesisch für die Tugenden<br />

Güte, Schönheit und Wahrheit stehen, denn ganz<br />

gleich, mit welchen Schwierigkeiten diese Menschen in<br />

ihrem Kampf mit dem Tuberkulose Komplex in Krankenhäusern<br />

und zuhause konfrontiert waren bzw. werden,<br />

sie sind stets gut, schön und wahrhaftig und haben eine<br />

überaus positive Einstellung zum Leben. Alle drei wurden<br />

mit Tuberösem Sklerose-Komplex diagnostiziert, einer<br />

seltenen Erbkrankheit. Durch Mutation kommt es zur abnormen<br />

Entwicklung von Nerven und Myelinscheiden, was<br />

wiederum das Entstehen von Knötchen und Tumoren in<br />

bestimmten Organen zur Folge hat, meistens in Hirn, Nieren,<br />

Herz und Lunge. Anfälle, Lern- und Verhaltensstörungen<br />

und eine allgemeine Entwicklungsverzögerung sind<br />

häufig.<br />

Durch die Geschichten der Teilnehmenden und Interviews,<br />

in denen sie selbst zu Wort kommen, zeichnet das<br />

Forschungsprojekt ein lebhaftes Bild ihres musikalischen<br />

Abenteuers nach.<br />

Sowohl in Einzel- als auch in Gruppengesprächen haben<br />

die Teilnehmenden Gelegenheit, frei über sich zu sprechen.<br />

Beim Einzelgespräch werden sie in eine entspannte<br />

Umgebung eingeladen, wo sie sich ohne Einschränkung<br />

oder Zeitdruck äussern können. Beim Gruppengespräch<br />

können sie sich gegenseitig beim Sprechen zuhören und<br />

das vorher Gesagte kommentieren.<br />

Die Teilnehmenden berichten nach und nach über ihre<br />

Lebenserfahrungen; diese Berichte werden durch Beobachtungen<br />

ihrer Betreuer:innen und ihres Musiklehrers<br />

Chen ergänzt. Die Betreuenden sprechen über die Lernerfahrungen<br />

der Teilnehmenden von ihrer Geburt bis zur<br />

Gegenwart und der Musiklehrer beschreibt seine Beobachtungen<br />

aus dem Musikunterricht. Aufgrund seiner Beobachtung<br />

und Interaktion mit den Teilnehmenden kann der<br />

Musiklehrer etwas zum Selbstvertrauen jedes einzelnen,<br />

zu ihrem Umgang miteinander und ihren persönlichen<br />

Werten sagen. So entsteht ein rundes Bild davon, wie die<br />

Teilnehmenden ihr Leben meistern.<br />

association aimed at inspiring those with disabilities and<br />

their families, and moreover helping disabled individuals<br />

discover their potential, so they would have a foundation<br />

to build confidence and self-worth.<br />

In this research, we will use the pseudonyms Shan, Mei,<br />

and Zhen. These names represent the virtues of kindness,<br />

beauty, and truth in Mandarin Chinese, because no matter<br />

the hardships these individuals have faced or will continue<br />

to face, fighting Tuberous Sclerosis Complex in and<br />

out of hospitals, they have always been kind, beautiful,<br />

and true; having the brightest attitudes towards life. These<br />

three participants are diagnosed with Tuberous Sclerosis<br />

Complex, a rare genetic disease. The mutation leads to<br />

the abnormal development of nerves and myelin sheaths,<br />

which further leads to the growth of nodules and tumors<br />

in certain organs. Organs affected often include but are<br />

not limited to the brain, kidneys, heart, and lungs. Common<br />

symptoms are seizures, mental disabilities, behavioral<br />

disorders, and overall developmental delay.<br />

By narrating the participants’ stories and interviewing<br />

them, giving them a chance to speak for themselves, the<br />

research paints a vivid picture of the participants’ musical<br />

adventure.<br />

Through both one-on-one and group interviews, the participants<br />

get to talk about themselves freely. In a one-onone<br />

interview, a participant is invited by the interviewer to<br />

a no-pressure environment in which the participant can<br />

express himself without restraint and without strict time<br />

limits. In a group interview, on the other hand, the participants<br />

can listen to their fellow participants as they speak,<br />

and can further build on the interview by commenting on<br />

what has been previously brought up.<br />

As the participants gradually unfold their life experiences,<br />

their stories are further supplemented by their caregivers<br />

and music teacher, Instructor Chen. While their caregivers<br />

give us insights into participants’ experiences in learning<br />

things, from birth until now, Instructor Chen shares with<br />

us his observations from the music class. Through observing<br />

and interacting with the participants, Instructor Chen<br />

shares with us each participant’s level of confidence, interaction<br />

pattern with classmates, relationship with classmates,<br />

and personal values. By uniting the perspectives of the<br />

participants, their caregivers, and their teacher, we get to<br />

see the full picture of how the participants live their lives.<br />

38<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


Aufbau des Musikunterrichts<br />

Format of the music class<br />

Der SAFA Musikunterricht besteht aus zweistündigen Unterrichtseinheiten,<br />

die dreimal monatlich sonntags stattfinden.<br />

Ziel des Unterrichtes ist es, die Schülerinnen und<br />

Schüler für das Zusammenspiel im Orchester vorzubereiten.<br />

Jede Unterrichtseinheit hat vier Abschnitte:<br />

1. Einzelunterricht<br />

2. Thematischer Unterricht<br />

3. Einzelprobe<br />

4. Gruppenprobe<br />

Im ersten Abschnitt, beim Einzelunterricht, haben die<br />

Schülerinnen und Schüler Gelegenheit, neue Fähigkeiten<br />

zu erwerben und zu üben. Im thematischen Teil können<br />

sie ihren spezifischen Teil des Musikstückes üben. In der<br />

Einzelprobe können sie alleine für sich üben, während der<br />

Lehrer herumgeht und ihre Fortschritte überwacht. Bei der<br />

Gruppenprobe kommen alle als Orchester zusammen.<br />

Der Lehrer hat darüber hinaus die Möglichkeit, zwischen<br />

dem dritten und vierten Abschnitt eine Probe mit Unterstützung<br />

einzufügen. In dieser Zeit stehen den Schülerinnen<br />

und Schülern, die mehr Hilfe beim Notenlesen oder<br />

beim Üben bestimmter Teile des Musikstückes benötigen,<br />

Hilfslehrkräfte zur Seite.<br />

Einmal im Jahr steht das Orchester auf der Bühne. Dabei<br />

geht es nicht nur darum, dass die Studierenden ihre Fortschritte<br />

präsentieren, sondern mit den Auftritten überwinden<br />

sie auch ihr Lampenfieber und gewinnen Mut zu<br />

zwischenmenschlichen Begegnungen. Die Forschungsteilnehmenden<br />

haben die Möglichkeit, unterschiedliche<br />

Praxismethoden wie Solo-, Ensemblespiel und Begleitung<br />

zu üben. Insbesondere das Ensemble-Spiel und Begleiten<br />

helfen ihnen, sich weniger auf sich selbst und mehr auf andere<br />

zu konzentrieren, wodurch sie Fähigkeiten wie Interaktion<br />

und Gruppenarbeit stärken können.<br />

Die Solostücke werden individuell zugeteilt. Der Lehrer<br />

wählt für jeden ein Stück aus, das am besten zu ihrer Persönlichkeit,<br />

Reife, musikalischen Fähigkeit und persönlichen<br />

Bedürfnissen passt. Natürlich spielen dabei auch<br />

die Qualität des einzelnen Stückes und der Jahresplan des<br />

Orchesters eine Rolle.<br />

At SAFA, music classes consist of a two-hour lesson held<br />

on Sundays, three times a month. The lesson’s aim is to<br />

teach students to perform together as an orchestra. Each<br />

class can be divided into four stages:<br />

1. Individual lesson<br />

2. Thematic lesson<br />

3. Individual rehearsal<br />

4. Group rehearsal<br />

The first stage, individual lesson, is the time when students<br />

requiring additional skills practice get their extra practice<br />

time. The thematic lesson is the time when each student<br />

gets to practice their distinctive parts in the music piece.<br />

Individual rehearsal is the time when students rehearse by<br />

themselves, and the teacher walks around and monitors<br />

their progress. Group rehearsal is the time when students<br />

rehearse together as an entire orchestra.<br />

In addition, in the middle of the third and the fourth stage,<br />

the instructor may insert an extra stage, called assisted<br />

rehearsal. During this stage, students who require extra<br />

help with reading the music sheet or extra guidance on<br />

practicing certain sections of the music piece, get their<br />

help, provided by teacher assistants sitting side by side<br />

with the students.<br />

Once a year, this student orchestra performs on stage.<br />

The purpose is not only to present their progress but also,<br />

through performing on stage, to forge their courage to<br />

face the crowd and interact with people. For the research<br />

participants, methods by which they practice their instruments<br />

include solo, ensemble, and accompaniment. These<br />

various practice methods, especially ensemble and accompaniment,<br />

invite the participants to shift their focus away<br />

from themselves to others (their fellow classmates) so they<br />

have a chance to build the skills for interacting with people<br />

and participating in groups.<br />

How a solo piece is assigned to each person is individually<br />

tailored. The teacher matches each participant to a piece<br />

most compatible with their personality, maturity, music<br />

ability, and personal needs. Of course, the symbol each<br />

piece represents, and the annual agenda of the student<br />

orchestra affect the piece chosen for each student as well.<br />

Empathie, Selbsterkenntnis und<br />

Zwischenmenschliches beim Proben<br />

Im Musikunterricht erwerben erwachsene Lernende durch<br />

einen schrittweisen und hierarchischen Ansatz praktische<br />

musikalische Fähigkeiten, die sie beim gemeinsamen Proben<br />

weiter verfeinern. Indem sie Schritt für Schritt lernen<br />

und das Gelernte üben, können sie die Nuancen jedes Mu-<br />

39


sikstücks, vom Rhythmus bis zum Zusammenklang, geniessen;<br />

sie lernen, sich auf ihre Mitstudierenden einzulassen<br />

und bilden sich durch das musikalische Üben weiter.<br />

Steiner (in Glöckler et al., 2006) beschreibt, dass wir durch Erziehung<br />

Einblick in die Welt und unsere Mitmenschen<br />

erhalten. Darüber hinaus eröffnet uns Erziehung auch<br />

Einsichten in das, was im Leben wesentlich ist. Lehrende<br />

sollten sich nicht darauf konzentrieren, Lehrinhalte oberflächlich<br />

zu erklären, sondern stattdessen künstlerisch<br />

vorgehen. Die folgende Situation ist typisch für den SAFA<br />

Musikunterricht:<br />

Der Unterricht dient nicht nur dazu, den Lernenden<br />

das Musizieren beizubringen, sondern will ihnen auch<br />

die Fähigkeit vermitteln, mit anderen Studierenden zusammen<br />

zu spielen, deren Spiel einzuschätzen und sich<br />

gegenseitig dabei zu helfen, besser zu werden. Während<br />

einer Übungssequenz, sass Zhen in einer Ecke des<br />

Klassenzimmers und versuchte, die Griffe für ein Gitarrenstück<br />

auszuarbeiten. Nach einer Weile kam Mei mit<br />

seiner Gitarre und setzte sich zu ihm. Mei sprach mit<br />

Zhen über das Schlagen und Zupfen der Saiten in einem<br />

Teil des Musikstückes. Der Musiklehrer, Chen, hatte beobachtet,<br />

wie Zhen alleine für sich übte und die Gelegenheit<br />

für eine Zusammenarbeit gesehen. Deshalb hatte er<br />

Mei gebeten, zu Zhen zu gehen, ihm zu helfen und so<br />

mit ihm zusammenzuspielen.<br />

Glöckler (2020) hält es für zu willkürlich, Menschen allein<br />

nach ihren akademischen Leistungen zu beurteilen, weil<br />

man dabei nie das ganze Bild sieht. Die beschriebene Zusammenarbeit<br />

von Mei und Zhen war von Chen bewusst<br />

als Zweierprozess geplant, denn Lernende können gleichzeitig<br />

auch Lehrende für ihre Mitstudierenden sein. Wird<br />

ein neues Stück eingeführt, so werden es einige immer<br />

schneller lernen als andere, und die schneller Lernenden<br />

können die langsameren unterrichten. Dabei lernen sie<br />

gleichzeitig etwas, denn das Unterrichten ist ein selbstreflexiver<br />

Prozess, bei dem man das eigene Wissen evaluieren<br />

und eventuelle Wissenslücken entdecken kann.<br />

Das gründliche Vorbereiten und Gestalten des Unterrichts<br />

sind wesentlich für den Lernprozess. Indem sie den Lernenden<br />

zuhört, ergänzt die Lehrperson deren musikalische<br />

Lernerfahrung als Kreislauf zwischen Lehren und Lernen.<br />

Der Psychologe Andrew Solomon (2012) beschreibt,<br />

dass jeder Mensch unterschiedliche Bedürfnisse hat und<br />

wie wichtig es ist, dass Lehrpersonen diese individuellen<br />

Bedürfnisse erkennen. Beim Unterrichten von Menschen<br />

mit Assistenzbedarf geht es darüber hinaus auch darum,<br />

den Unterricht auf diesen Erkenntnissen aufzubauen.<br />

Empathy, self-recognition and<br />

interpersonal interaction through<br />

rehearsal<br />

In the music classes, adult learners acquire hands-on music<br />

skills via a step-by-step and hierarchical approach, and<br />

further refine these skills through collaborative rehearsal<br />

with their classmates. Through learning step by step and<br />

rehearsing what they have learned, learners get to enjoy<br />

the nuance of each music piece, from rhythm to chord,<br />

develop interaction skills with their classmates, and have<br />

their spirits refined by exposing themselves to music.<br />

Steiner (in Glöckler et al. 2017/2006) describes that it is education<br />

that gives us insight into the world and the people<br />

around us. It also gives us insight into the essence of life.<br />

A teacher should, instead of focusing on explaining the<br />

superficial meaning of the content taught, go for an artistic<br />

approach when it comes to teaching. This is a characteristic<br />

scene from a SAFA music class:<br />

The main purpose of the class is not just to teach learners<br />

how to play music, but to give them the skill to play<br />

with their classmate as a group, evaluating how each<br />

other plays and helping each other to improve. During<br />

a sectional practice, Zhen was in the corner of the classroom<br />

trying to figure out the fingerstyle of a guitar piece.<br />

After a while, Mei brought his guitar to sit down with<br />

Zhen. Mei guided Zhen through the strumming and plucking<br />

portion of the music sheet. It was Instructor Chen<br />

who spotted Zhen practicing by himself, and he knew<br />

this could be a great opportunity for group practice, so<br />

he urged Mei to join Zhen, teaching Zhen and playing<br />

with Zhen at the same time.<br />

Glöckler (2021/2020) believes that valuing an individual solely<br />

by their academic performance is too arbitrary, and that<br />

by doing so, we miss the big picture of each individual. The<br />

sectional practice between Mei and Zhen, described above,<br />

was deliberately planned by Instructor Chen as a two-way<br />

class. Each learner can both be a student and a teacher to<br />

their fellow classmates. When a new piece is introduced,<br />

there will always be some who will master it faster than<br />

others do. The faster ones can act as teachers to the slower<br />

ones. When the faster ones are teaching, they are also learning<br />

at the same time, as teaching is a self-reflective process<br />

that allows them to evaluate their knowledge. This is<br />

when they find out if they have a knowledge gap or not.<br />

40<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


Chen, der Musiklehrer, sagt:<br />

Obwohl wir die Studierenden hier wie gewöhnliche Lernende<br />

behandeln, vereinfachen wir den Unterricht. Der<br />

Fortschritt ist zwar langsam, aber er findet definitiv statt.<br />

Wir haben keine festen Massstäbe für die Beurteilung der<br />

Lernenden, sondern gehen auf jede/n von ihnen individuell<br />

ein und geben ihnen die Möglichkeit, ihre eigenen<br />

Massstäbe zu setzen. Das Verhältnis zwischen Lehrenden<br />

und Lernenden ist wichtig. Auch sollten wir den Mut<br />

haben, kontinuierlich zu lernen und wir sollten verstehen,<br />

dass unsere Schülerinnen und Schüler wirklich verantwortungsbewusst<br />

sind.<br />

Zhen sagt:<br />

Chen, unser Lehrer, bittet uns zunächst, einzeln zu üben.<br />

Wenn wir offensichtliche Fehler machen oder unser Spiel<br />

sich nicht richtig anhört, korrigiert er uns und hilft uns,<br />

unseren eigenen Stil zu finden.<br />

Laut Steiner (1989) sollten Lehrpersonen ihre Schülerinnen<br />

und Schüler gut kennen. Daher betont er, wie wichtig es<br />

ist, die Lernenden zu begleiten und zu beobachten, denn<br />

das ist für die Unterrichtsplanung entscheidend. Sobald<br />

man als Lehrperson die Lernenden gut kennt, kann man<br />

den Unterricht ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten gemäss<br />

sorgfältig planen und in Phasen aufbauen. Dieser Aufbau<br />

unterstützt die Lernenden und verhilft ihnen zu einer soliden<br />

Grundlage, auf der sie in Zukunft neues Wissen leichter<br />

aufnehmen können. In jeder Phase vermitteln die Hinweise<br />

des Lehrers und die Übungen, die er den Lernenden<br />

zuweist, nicht nur neue Erkenntnisse, sondern sie helfen<br />

ihnen auch selbständig zu lernen, denn diese Fähigkeit<br />

brauchen sie, wenn keine Lehrkräfte zur Verfügung stehen.<br />

Während neu Gelerntes die musikalischen Fähigkeiten<br />

der Studierenden stärkt, wird ihr Lernprozess durch<br />

autonomes Lernen effizienter.<br />

Zhens Betreuer sagt:<br />

Zunächst gibt der Lehrer, Chen, den Lernenden die Möglichkeit,<br />

mit der Musik in Berührung zu kommen und<br />

Freude daran zu haben. Dann gibt er ihnen ein Notenblatt,<br />

das auf ihre individuellen Fähigkeiten abgestimmt<br />

ist. Laut Chen «ist es nicht der Sinn dieser Musikgruppe,<br />

dass alle die gleichen Töne hervorbringen und wie Roboter<br />

zusammenspielen.»<br />

Die Lernenden mit Assistenzbedarf können musikalisch<br />

Fortschritte machen, weil ihr Lehrer sie versteht und weil<br />

sie ihren Lehrer verstehen. Chen kann sie genau beobachten<br />

und auf ihre Eigenschaften und Bedürfnisse achten.<br />

Auf dieser Grundlage kann er dann eine entsprechende<br />

Lehrmethode entwickeln, die es den Lernenden wiederum<br />

ermöglicht, den Lehrplan, die Anleitungen und vor allem<br />

auch ihren Lehrer, seine Erwartungen und sein Interesse<br />

Comprehensive preparation and arrangement of teaching<br />

have an important impact on the learning of the learners.<br />

Through listening to the learners, a teacher perfects the<br />

learners’ music learning experience as a cycle between teaching<br />

and learning. Solomon (2015/2012), the psychologist,<br />

describes each individual as having different needs, and it<br />

is important for the teacher to find out what each student’s<br />

needs are. When it comes to teaching disabled learners, it<br />

Is not only important to find out the learners’ different<br />

needs, but also to build the class around those needs.<br />

Instructor Chen says:<br />

Although we treat the students here as ordinary learners,<br />

we do simplify the teaching. The progress is slow,<br />

but they do progress. Instead of having a fixed standard<br />

by which we measure each learner, we approach every<br />

student uniquely, giving each one the opportunity to set<br />

their own standards. As a teacher, we must have good<br />

connections with our students. We should also have the<br />

courage to never stop learning and the notion that our<br />

learners are indeed responsible.<br />

Zhen says:<br />

Instructor Chen asks students to first practice individually.<br />

If we made obvious mistakes, if the way we play<br />

sounds odd to him, he will correct us and help us make<br />

adjustments, in a way that we could perform in our own<br />

style.<br />

According to Steiner (2019a), a teacher should know his learners<br />

well. Thus, he emphasizes the importance of accompanying<br />

the learners and observing them, which are crucial<br />

steps for class planning. Once a teacher knows his learners<br />

well, he could, based on the characteristics of his learners,<br />

arrange the class into stages, and carefully plan each stage.<br />

The stage-to-stage structure scaffolds the learners, helping<br />

them build a solid foundation on which they could absorb<br />

new knowledge more easily in the future. In every stage, the<br />

teacher’s reminder and the assigned exercises not only give<br />

learners new knowledge, but also help them build the skill<br />

to learn autonomously, an ability for one to teach oneself<br />

when teachers are not around. While new knowledge makes<br />

learners better musicians, the skill to learn autonomously<br />

makes them more efficient learners.<br />

Zhen’s support person says:<br />

First, Instructor Chen gives learners the opportunity to<br />

get in touch with music and enjoy it. Then, he gives each<br />

learner a music sheet tailored to each one’s condition.<br />

According to Instructor Chen, «Having everyone produce<br />

identical notes and play robotically together is not the<br />

point of forming this band.»<br />

41


an ihrem Wohlbefinden zu verstehen. Laut Buck (1988) Disabled learners are able to learn music because first, the<br />

beruht diese Beziehung auf gegenseitigem Zuhören von teacher understands these learners; and second, these learners<br />

understand their teacher, and vice versa. Instructor<br />

Lehrperson und Lernenden.<br />

Steiner (2013) weist darauf hin, dass Menschen, die bei Chen has the ability to observe his learners acutely and take<br />

anderen in ihrer Umgebung keine Wärme finden, sich innerlich<br />

abwenden und den Austausch mit anderen auf ein out learners’ characteristics and needs, Instructor Chen can<br />

notes of their characteristics and needs. With the notes ab-<br />

Minimum beschränken. Wärme ist etwas, was Menschen devise a teaching method compatible with his learners. This<br />

ausstrahlen und was andere in der Beziehung spüren. Die suitable teaching method in turn enables the disabled learners<br />

to understand the curriculum, the instructions, and<br />

Wärme, die Lehrpersonen ihren Lernenden entgegenbringen,<br />

kann deren Lernerlebnis bedeutend verbessern. Shan moreover, the teacher; his expectation and also his care for<br />

sagt über die Empathie des Lehrers:<br />

them. This relationship, according to Buck (1988), is the listening<br />

effect between the teacher and the learners.<br />

Wenn ich beim Üben ein Problem habe, setzt sich der As Steiner (2013) states, when an individual can no longer<br />

Lehrer zu mir und nimmt sich die Zeit, mir zu helfen. Er find warmth from people or things around them, he will<br />

kennt mich und unterstützt mich mit einer Lehrmethode,<br />

die zu mir passt.<br />

action with others. Warmth is something emitted by a hu-<br />

shut down his mind in an attempt to minimize his interman<br />

being and felt by another through the interaction between<br />

them. The warmth an instructor emits to his learners<br />

Mei erzählt:<br />

Am wichtigsten ist für mich, dass der Lehrer mich nicht<br />

can help the learners have a better learning experience. On<br />

wie einen Behinderten behandelt. Er erwartet, dass ich<br />

the empathy of the instructor, Shan comments:<br />

wie ein normaler Mensch spiele, und wenn ich damit<br />

wirklich Schwierigkeiten habe, hilft er mir. Er lässt mich<br />

In sectional practices, if I encounter a problem, the instructor<br />

will sit down and spend time assisting me. The<br />

immer wissen, dass er jederzeit für mich da ist.<br />

Zhen sagt:<br />

instructor knows my character and will assist me with a<br />

Er gibt kein Ziel vor. Du findest ein Stück, das du spielen teaching method suitable to me.<br />

willst und er arrangiert es so, dass du es spielen kannst.<br />

Mei shares:<br />

Denn es ist dein Stück. Es soll dir jedes Mal Spass machen,<br />

wenn du es spielst.<br />

The most important thing is that the instructor will not<br />

treat me as a disabled human being. He would like me<br />

to perform as if I were an ordinary person, but when I<br />

Von Fachkundigkeit abgesehen, sind Einfühlungsvermögen<br />

und Achtung vor den Menschen die wichtigsten Eigen-<br />

really have difficulty doing so, he will come and help.<br />

The instructor always lets me know that he will be here<br />

schaften von Lehrenden, die ihnen auch Zugang zu ihren<br />

with me, always.<br />

Schülerinnen und Schülern geben. Das ermöglicht optimales<br />

Lernen und wachsendes Selbstvertrauen.<br />

Zhen says:<br />

He will not assign a goal for you. You find a piece you<br />

Chen sagt über Shan:<br />

want to play and the instructor will rearrange it for you,<br />

Für Shan muss der Unterricht sorgfältig gestaltet werden,<br />

denn er stürzt sich oft zu schnell und übereifrig in<br />

in a fashion suitable for you to play. Because this is your<br />

piece; it has to give you happiness whenever you play it.<br />

eine Aufgabe und wenn seine harte Arbeit nicht zum Erfolg<br />

führt, wird er nervös oder gibt sich selbst die Schuld<br />

Aside from his professionalism, an instructor’s empathy<br />

an seinen Misserfolgen. Das heisst, man muss ihm im<br />

and respect for people are key ingredients that open the<br />

Unterricht ein Ziel vorgeben, auf das er hinarbeiten<br />

door of his learners’ minds. When a learner opens up the<br />

kann, aber es muss ein erreichbares Ziel sein.<br />

door of his mind, it is the optimal time for him to learn<br />

Chen über Zhen:<br />

things and build self-recognition.<br />

Er ist sehr verkrampft. Er ist auch sehr still. Punktierte<br />

Instructor Chen on Shan:<br />

Noten frustrieren ihn immer. Mir ist aufgefallen, dass<br />

For Shan, his classes need to be meticulously designed,<br />

sein Problem nicht darin besteht, dass er nicht spielen<br />

because he often dives into things too quickly and too<br />

kann, sondern darin, dass er Angst hat, dass er vielleicht<br />

zealously, and when his hard work does not pay off, he<br />

nicht spielen könnte. Beim Einzelunterricht erwähnte<br />

gets nervous or blames himself for his failures. So, for<br />

er die Teile, die er nicht spielen konnte. Ich sagte ihm:<br />

his class, you do have to give him a goal to work for, but<br />

this has to be a goal attainable for him.<br />

42 Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


«Mach dir keine Sorgen. Versuch einfach, es zu spielen.»<br />

Danach konnte er diese Teile tatsächlich spielen.<br />

Chen über Zhen und Shan:<br />

Wenn ich Zhen beim Spielen zuschaue, sehe ich, wie ihm<br />

die Hände schwitzen, wie sich die Ellbogen zusammenziehen<br />

und die Handgelenke verkrampfen. Das steht in<br />

totalem Gegensatz zu dem Gesichtsausdruck, den er<br />

nach aussen zeigt. Das gleiche bei Shan. Wenn er spielt,<br />

sage ich ihm plötzlich, dass er aufhören soll. Nach einer<br />

Pause gebe ich ihm ein Zeichen, dass er weiterspielen<br />

soll. Ich lasse ihn plötzlich anhalten, wenn ich merke,<br />

dass er nervös wird. Das ist eine unwillkürliche Reaktion<br />

bei ihm. Manchmal fordere ich ihn auch auf durchzuatmen,<br />

denn wenn er beginnt, den Atem anzuhalten, verkrampft<br />

er sich, weil das Spielen eines Instrumentes eine<br />

grosse Herausforderung für ihn ist.<br />

Aufgrund ihrer Beobachtungen können Lehrpersonen<br />

Schlüsse bezüglich der gegenwärtigen mentalen und körperlichen<br />

Befindlichkeit ihrer Lernenden ziehen, die sich<br />

auf ihr Lernverhalten auswirkt, und so ihre Selbstverwirklichung<br />

besser unterstützen. Lernende können Selbstvertrauen<br />

entwickeln, wenn sie spüren, dass ihr Befinden<br />

verstanden und ihr Fortschritt bestätigt wird. Das heisst,<br />

dass Lehrpersonen, die ihre Schülerinnen und Schüler in<br />

vielfacher Hinsicht verstehen, ihnen helfen können, innere<br />

Ruhe und Ausgeglichenheit zu finden und sich letztendlich<br />

selbst zu akzeptieren und anzuerkennen.<br />

Die soziale Dimension von Musik<br />

Instructor Chen on Zhen:<br />

He is very stiff. He is also very quiet. He is always frustrated<br />

by a dotted note. I discovered that his problem is not<br />

that he doesn’t know how to play; the problem is that he<br />

worries that he might not know how to play. When we<br />

were in a one-on-one lesson, he told me about the parts<br />

that he couldn’t play. I told him not to worry. Just try to<br />

play it. Afterward, he was actually able to play the part.<br />

Instructor Chen on Zhen and Shan:<br />

Through watching Zhen play, how his hands sweat, how<br />

his elbows contract, and how his wrists convulse, I can<br />

tell that in his mind he is experiencing a surge of emotion<br />

and he is trying to restrain himself, which is absolutely<br />

different from the facial expression he is showing<br />

on the outside. Shan is the same. When he is playing, I<br />

will suddenly tell him to stop. After a pause I will signal<br />

him to play again. I call out the sudden stop whenever I<br />

notice he is getting nervous. For him, it is an involuntary<br />

reaction. Sometimes, instead of telling him to stop, I will<br />

tell him to breathe, because whenever he starts to hold<br />

his breath, his seizure will manifest, as playing an instrument<br />

is a daunting task.<br />

When the instructor can pick up cues on his learners’ current<br />

mental and physical conditions, which do affect how<br />

they learn, he can bring more potential out of his learners.<br />

When a learner can vividly sense that his condition is understood<br />

and his progress validated, this enables him to<br />

build self-recognition. Thus, an instructor who is able to understand<br />

his learners in multiple aspects, can be the catalyst<br />

in helping the learners find comfort and peace in themselves,<br />

and eventually accept and recognize themselves.<br />

Nach Soesman (2019) ist Musik eine Kunst mit einer sozialen<br />

Dimension, weil sie die Menschen verbindet. Wenn Lernende<br />

sich selbst und ihren Mitmusizierenden zuhören,<br />

spüren sie das Band, das sie miteinander verbindet. Musik<br />

wird zur dritten Sprache, in der sie miteinander kommunizieren<br />

können, und das wiederum erhöht ihre soziale<br />

Kompetenz.<br />

Zhen erzählt:<br />

Im Ensemble zu spielen ist eine Art, mit anderen zu kommunizieren.<br />

Kommunikation braucht nicht unbedingt<br />

Worte; sie kann auch in Melodien erfolgen.<br />

Mei sagt:<br />

Was mir im Musikunterricht am meisten bringt, ist zum<br />

einen, dass ich Musik mit anderen teilen kann und zum<br />

anderen, dass ich meine Grenzen durchbrechen und<br />

mich weiterentwickeln kann.<br />

The social dimension of music<br />

As Soesman (2011) suggests, music is an art with a social<br />

dimension. It forges a link between people. A learner,<br />

through listening to himself and his bandmates, can sense<br />

the very link that binds himself and his peers. Music<br />

becomes the third language in which these learners can<br />

communicate with one another, and helps them reach a<br />

breakthrough in interpersonal skills.<br />

Zhen describes:<br />

Ensemble is a way for an individual to communicate<br />

with others. Communication does not have to happen in<br />

words; it can be done in melodies as well.<br />

43


Mei und Zhen sind oft in ihrer eigenen Welt gefangen,<br />

weil sie Sprache und Gedanken langsamer verarbeiten.<br />

Dadurch fühlen sie sich ausgeschlossen und entwickeln<br />

Angst vor menschlichen Begegnungen. Musik hat ihnen<br />

jedoch geholfen, diese Angst zu überwinden; Musik ist die<br />

dritte Sprache, mit der sie kommunizieren können; verbale<br />

Sprache ist nicht mehr der einzige Weg.<br />

Wenn man lernt, Musik zu machen, merkt man auch allmählich,<br />

dass selbst spielen anders ist als anderen beim<br />

Spielen zuzuhören. Wenn man selbst spielt, benutzt man<br />

ein Instrument und hört auf die Töne, die man hervorbringt.<br />

Beides sind Aktivitäten, die die eigene Leistungsfähigkeit<br />

weitgehend in Anspruch nehmen. Wie ist es möglich,<br />

als Lernende selbst zu musizieren und gleichzeitig<br />

auf die Musik anderer zu achten, so dass ein Zusammenspiel<br />

zustande kommen kann?<br />

Zhen sagt:<br />

Am Anfang haben meine Ohren immer auf meine eigene<br />

Melodie geachtet. Nachdem ich wiederholt mit anderen<br />

geübt hatte, fing ich an, deren Stimmen zu hören, bevor<br />

ich mich auf meine eigene konzentrierte.<br />

Im Fluss der Melodien wird Zhen zunächst selbst aktiv<br />

und dann, wenn die Stimmen der anderen dazukommen,<br />

spürt er in sich selbst hinein und bringt die Stimmen zusammen.<br />

Wie Li Yang Lu (2013) betont, sucht der Gleichgewichtssinn<br />

nach innerer Ruhe. Er wirkt sich auf die geistige<br />

und körperliche Stabilität eines Menschen aus und auf sein<br />

Gleichgewicht in einer Gruppe oder in der Gesellschaft.<br />

Das hängt eng mit zwischenmenschlichen Beziehungen<br />

und dem Integrieren von Standpunkten zusammen. Der<br />

Gleichgewichtssinn wirkt sich daher erheblich auf zwischenmenschliche<br />

Beziehungen aus.<br />

Beim Spielen seines Instruments konnte Zhen zunächst die<br />

von ihm selbst gespielten Melodien heraushören. Sobald<br />

er das Stück besser kannte, war er in der Lage, sich auf den<br />

Rhythmus zu konzentrieren und im Rhythmus zu spielen.<br />

In dem Moment war er auch in der Lage, allmählich die<br />

anderen Stimmen herauszuhören. Es war tatsächlich der<br />

Moment, in dem ein harmonisches Zusammenspiel zustande<br />

kam, ein Moment, in dem ein übergeordnetes Hörerlebnis<br />

auftrat und andere Sinne zusammenkamen und<br />

ein Gleichgewicht erreichten. Frongillo (1999), eine erfahrene<br />

Waldorflehrerin, beschreibt, dass die Bedeutung der<br />

Melodie darin liegt, dass sie den Kopf mit verschiedenen<br />

Sinnen verbinden kann, ein Vorgang, bei dem man erst<br />

sich selbst und dann andere wahrnimmt.<br />

Mei describes:<br />

The two most rewarding things I get from learning music<br />

are: first, I can share this music with others; and second,<br />

I can break through my boundaries and cultivate<br />

myself.<br />

Mei and Zhen are often trapped in their personal worlds<br />

because they process language and thinking at a slower<br />

than typical tempo. This results in them being cut off from<br />

the rest of society and becoming afraid of human interaction.<br />

Through music, however, they have found a way to<br />

overcome this fear; music is the third language they can<br />

use to communicate; speaking an oral language is no longer<br />

the only means.<br />

When learning music, a learner can slowly discover that<br />

playing music himself and listening to others play their<br />

music are very different things. Playing music himself includes<br />

the act of operating an instrument and listening to<br />

the notes he generates. Both acts are self-active and preoccupy<br />

much of a learner’s mental capacity. How is it that<br />

a learner is able to play his own music but at the same<br />

time also pay attention to others’ music, thus enabling an<br />

ensemble?<br />

Zhen describes:<br />

In the beginning, my ears would always pick up my melodies<br />

first. After rehearsing repetitively with others, I<br />

could start picking up other people’s parts before focusing<br />

on my own.<br />

Amidst the flow of melodies Zhen activates himself first,<br />

and then with the melody generated by others he empathizes<br />

with himself and blends the music together. As Li<br />

Yang Lu (2013) states, the sense of balance seeks inner peace.<br />

It affects the stability of an individual’s mind and body<br />

and his balance within a group or in society. It has much<br />

to do with interpersonal relationships and the integration<br />

of viewpoints. Thus, the sense of balance has a profound<br />

impact on an individual’s relationship with others.<br />

When playing an instrument, Zhen was first able to pick up<br />

the melodies he personally produced. After he had become<br />

more and more familiar with the piece, he could start<br />

paying attention to the rhythm of the piece and start playing<br />

it rhythmically. It was also during this moment that<br />

he could start picking up the melodies other people were<br />

producing. This was in fact the moment that a harmonic<br />

ensemble happened, a moment in which a high-level sense<br />

of hearing took place, and other senses converged and<br />

reached a balance. Frongillo (2018/1999), an experienced<br />

Waldorf instructor, describes the importance of melody<br />

44<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


Die jungen Menschen, die an den SAFA Musikkursen teilnehmen,<br />

kommen aus ähnlichen Situationen und kennen<br />

sich schon seit Jahren. Der Kurs ist so organisiert, dass er<br />

vom Einzelunterricht zum Gruppenunterricht fortschreitet,<br />

vom alleine Üben zum gemeinsamen Üben. So lernen<br />

die Schülerinnen und Schüler allmählich, die von anderen<br />

gespielten Töne herauszuhören. Dabei erwerben sie die<br />

Fähigkeiten, die sie brauchen, um harmonisch im Ensemble<br />

zusammen zu spielen.<br />

Meis Betreuerin erzählt:<br />

Wenn ich Klavier spiele, signalisiert er mir, ob ich zu<br />

langsam oder zu schnell spiele. Er kann sich auf den<br />

Rhythmus einstellen und den Takt schlagen. Er merkt<br />

auch, wenn ich eine falsche Note spiele. Das alles zeigt,<br />

dass er in der Lage ist, auf die anderen Stimmen zu hören<br />

und sie abzuleiten.<br />

Mei hat sein Zuhören verbessert. Er kann in einer Gruppe<br />

oder einem Ensemble mitspielen. Als Gruppenmitglied ist<br />

er fähig, seine Aufmerksamkeit von der eigenen auf andere<br />

Stimmen zu verlagern. Er kann nahtlos vom Einzel- zum<br />

Gruppen-Üben überwechseln. Mei hat das erreicht, was<br />

Glöckler (Glöckler et al. 2006) als die beste Methode beschreibt,<br />

Hörsinn, Sprachsinn und Ich-Sinn zu integrieren.<br />

Der Zusammenklang dieser drei Sinne wirkt sich tiefgreifend<br />

auf die sozialen Fähigkeiten eines Menschen aus.<br />

Durch Musikaufführungen Teil der<br />

Gesellschaft werden und<br />

Selbstvertrauen entwickeln<br />

Musikalische Darbietungen erfordern eine Kombination<br />

von Üben, Proben und Präsentation – alles gemeinsame,<br />

auf menschlicher Interaktion beruhende Tätigkeiten. Im<br />

Musikunterricht überwanden Zhen, Shan und Mei die Grenzen<br />

zu anderen Menschen und stärkten durch das Teilnehmen<br />

an diesen gemeinsamen Aktivitäten allmählich ihr<br />

Selbstwertgefühl.<br />

Zhen sagt:<br />

Chens Unterrichtsmethode hilft mir nicht nur, Musik zu<br />

verstehen, sondern auch mich selbst. Mir ist klar, dass<br />

bei einer Gruppenprobe jeder gleich wichtig ist. Da die<br />

Noten, die jeder von uns spielt, harmonisch zusammenklingen<br />

sollen, darf niemand zurückgelassen werden.<br />

Ohne die Noten jedes einzelnen Mitspielenden wäre keine<br />

Harmonie möglich.<br />

being its ability to connect an individual’s head to various<br />

senses, a process of first seeing the self, and then seeing<br />

others.<br />

The members of the SAFA music class come from similar<br />

backgrounds and have known each other for years. The<br />

way by which the class is organized is a progression from<br />

individual to a group, from practicing by oneself to everyone<br />

practicing together. Through this type of class progression,<br />

learners can train their ears to gradually pick up<br />

the notes other people are playing. And in doing so, the<br />

learners equip themselves with the skills for playing in an<br />

ensemble and producing harmonics.<br />

Mei’s support person describes:<br />

When I am playing the piano, he will signal to me if I<br />

am playing too slow or too fast. He is able to catch the<br />

rhythm and count the beats. When I play a wrong note,<br />

he will notice it too. These all represent the fact that he<br />

is able to listen to and deduce other people’s melodies.<br />

Now, Mei has forged his listening skills. He can enter a<br />

music group and play in ensembles. As a bandmate, Mei<br />

is able to shift his focus from his own melody to that of<br />

others; he can move himself seamlessly from individual<br />

practice into a group rehearsal. What Mei has accomplished<br />

is what Glöckler (in Glöckler et al. 2017/2006) describes<br />

as the best way of integrating the senses of hearing,<br />

language, and self. The convergence of these three senses<br />

has a profound impact on an individual’s social skills.<br />

Becoming a part of society and<br />

building self-esteem through<br />

musical performance<br />

Musical performance showcases the combination of practice,<br />

rehearsal, and presentation, all of which are communal<br />

activities that require human interactions. While learning<br />

music, Zhen, Shan, and Mei navigated the boundary<br />

with other people and forged their self-esteem bit by bit by<br />

participating in these communal activities.<br />

Zhen says:<br />

The method by which Instructor Chen teaches not just<br />

helps me understand music, but also myself. I realize<br />

that in a group rehearsal, everyone is equally critical. As<br />

the notes each of us generates are to merge as a harmony,<br />

no one should be left behind. Losing any member’s<br />

notes would make our harmony impossible.<br />

45


Mei sagt:<br />

Wir sind hier wie eine Familie. Woanders, in der Schule<br />

zum Beispiel, wollen Leute vielleicht nicht mit mir Musik<br />

machen. Sie fragen sich vielleicht, warum sie mit jemandem<br />

wie mir spielen sollen, weil ich nicht so gut bin. Das<br />

Gefühl habe ich woanders, aber hier ist es gar nicht so.<br />

Zhen beschreibt, wie es sich anfühlt, mit anderen Musik<br />

zu machen:<br />

Es fühlt sich anders an, wenn man mit anderen spielt. Im<br />

Gegensatz zum alleine spielen, macht es mir Spass, mit<br />

anderen zusammen eine harmonische Stimmung aufzubauen.<br />

Shan sagt:<br />

Das gemeinsame Spielen kann am Anfang chaotisch<br />

sein, da die verschiedenen Instrumente oft andere Einsätze<br />

haben. Es kann auch ziemlich chaotisch sein,<br />

wenn am Anfang der Probe verschiedene Instrumente<br />

unterschiedliche Töne hervorbringen und versuchen,<br />

sie aufeinander abzustimmen. Das versetzt mich ein<br />

wenig in Panik.<br />

Mei sagt:<br />

Beim gemeinsamen Spielen müssen wir uns miteinander<br />

koordinieren. Es erfordert mehr Aufmerksamkeit, als<br />

wenn man alleine spielt. Da wir sehr aufeinander achten,<br />

können wir es verdecken, wenn einer von uns einen<br />

Fehler macht.<br />

Unsere drei Teilnehmenden lernten zuerst, selbst Spass am<br />

Spielen zu entwickeln und dann, diese Freude auch auf die<br />

anderen zu übertragen. Am Anfang hörten sie anderen beim<br />

Spielen zu und reagierten dann darauf, indem sie ihre eigene<br />

Musik spielten. Auf diese Weise wurden sie von anderen<br />

bemerkt. Während sie sich selbst beim Spielen ihrer Musik<br />

entdeckten, knüpften sie auch Verbindungen mit anderen,<br />

indem sie mit ihrer eigenen Musik auf deren Spiel eingingen.<br />

Shan sagt:<br />

Als ich gelernt hatte, Musikinstrumente zu spielen, wurde<br />

ich innerlich stabiler. Was für ein toller Fortschritt.<br />

Bevor ich mit dem Musikunterricht anfing, waren meine<br />

Emotionen recht unbeständig und ich konnte sehr<br />

leicht ängstlich werden, was zu häufigen Anfällen führte.<br />

Durch das Eintauchen in die Musik sind meine Symptome<br />

besser geworden.<br />

Mei says:<br />

We are just like a family here. People can be reluctant to<br />

play music with you at school or elsewhere. They may<br />

wonder why they have to play with a person like you<br />

with a lower skill level. This is what I feel in other places,<br />

which is totally different from what I feel here.<br />

Zhen describes the feeling of playing music with other<br />

people:<br />

It feels different when playing with others. Unlike playing<br />

with myself, playing with others gives me the joy of<br />

building a harmonious atmosphere with others.<br />

Shan says:<br />

Playing together can be messy in the beginning because<br />

it is common for different instruments to start on<br />

a different beat. It is also a bit chaotic when different<br />

instruments making different sounds are trying to align<br />

themselves with each other in the beginning of practice;<br />

it makes me panic a little bit.<br />

Mei says:<br />

When playing together, we need to coordinate ourselves<br />

with each other. It takes more of our attention than<br />

when playing solo. Because of so much attention paid to<br />

each other, we get to cover for each other when one of<br />

us makes a mistake.<br />

First, the three participants learned to bring joy to themselves.<br />

And then, they learned to bring joy to those around<br />

them. In the beginning, they listened to those around them<br />

play their music, and then they responded to them by playing<br />

music of their own. In doing so, the three enabled those<br />

around them to notice them, by letting them hear them.<br />

While the three participants were exploring themselves in<br />

playing music of their own, they were also forging their<br />

connections with others by playing their own music as a<br />

response to other people’s music.<br />

Shan says:<br />

After learning how to play musical instruments, I became<br />

more and more stable. What a great benefit. Prior<br />

to learning music, my emotion was quite volatile and I<br />

could become anxious very easily. This led to frequent<br />

seizures. After immersing myself in music, my symptoms<br />

got better.<br />

46<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


Mei sagt:<br />

Ich sehe Musik als meine dritte Sprache. Als mein Opa<br />

noch lebte, hörte er meinem Bruder beim Klavierspielen<br />

zu und machte Kommentare wie: «Warum hast du nicht<br />

das ganze Lied gespielt?» Dadurch wurde mir klar, dass<br />

Musik Menschen verbinden kann. Sie bringt uns nicht<br />

nur Fremden näher, sondern auch unseren eigenen Familienmitgliedern.<br />

Um mein Verhältnis mit meinem Bruder<br />

zu verbessern, lud ich ihn zu einem Jazzfestival ein.<br />

Auch wenn er die Musik vielleicht nicht verstanden hat,<br />

so hat uns das gemeinsame Erlebnis einander nähergebracht.<br />

Zhen sagt:<br />

Musik ist in unserer vom Internet dominierten Zeit eine<br />

ziemlich entspannende Art, sich selbst und andere kennenzulernen.<br />

Es ist eine viel herzlichere Art miteinander<br />

umzugehen als eine SMS zu schicken.<br />

Mei und Zhen sehen Musik beide als ihre dritte Sprache,<br />

die ihnen hilft, mit anderen zu kommunizieren. Mit dieser<br />

Sprache versuchen sie, sich weiterzuentwickeln und sich<br />

in der Gemeinschaft zu engagieren. Ihr Lehrer, Chen, sagt:<br />

«Für diese jungen Leute, die nicht sprechen wollen, müssen<br />

wir andere Wege der Kommunikation finden.» Steiner<br />

(2013) weist darauf hin, dass Musik unsere Gesellschaft zusammenhält.<br />

Musik verbindet die Menschen. Durch Musik<br />

können wir die Welt gemeinsam erleben.<br />

Ob man alleine spielt oder im Ensemble, Musikunterricht<br />

lehrt uns, dass wir uns selbst und uns gegenseitig helfen<br />

können, auf eine Art, die beide Seiten weiterbringt. Diese<br />

drei Gesten ergänzen sich gegenseitig und helfen jungen<br />

Erwachsenen mit Assistenzbedarf, ihre Behinderung zu<br />

überwinden und mit anderen zu interagieren – etwas, womit<br />

sie wahrscheinlich in den letzten 21 Jahren Probleme<br />

hatten. Musik ist für sie die dritte Sprache, in der sie sich<br />

anderen gegenüber ausdrücken können.<br />

Selbsthilfe ist die Fähigkeit zu selbstständigem Lernen,<br />

sich beim Notenlesen und beim Verbessern der Spieltechnik<br />

allein auf sich selbst zu verlassen. Beim alleine Üben,<br />

lernt man die eigene Stimme und bereitet sich darauf vor,<br />

sie später mit anderen zu spielen. Unter gegenseitiger<br />

Unterstützung versteht man die Fähigkeit, sich gegenseitig<br />

zu helfen, wenn einer der Lernenden das benötigt.<br />

Wer schneller lernt, kann die unterstützen, die langsamer<br />

lernen. So erhalten die langsamer Lernenden Hilfe und<br />

die Schnelleren lernen auch etwas dabei, denn das Unterrichten<br />

selbst ist eine reflexive Erfahrung, die ihnen etwas<br />

über ihr eigenes aktuelles Können sagt. Darüber hinaus<br />

schafft das gegenseitige Helfen nicht nur eine Verbindung<br />

Mei says:<br />

I see music as my third language. When my grandpa was<br />

still alive, he would listen to my brother when he played<br />

the piano, and he would make comments such as: «Why<br />

didn’t you play the entire song?» This made me realize<br />

that music has the ability to connect people. Music does<br />

not only give us the ability to connect with strangers<br />

but also to connect with family members. To establish a<br />

good relationship with my brother, I invited my brother<br />

to a jazz festival. Even though he might not understand<br />

the music, just by sitting there with me, he and I got the<br />

feeling that we were enjoying something together.<br />

Zhen says:<br />

Music is a relatively relaxing way to get to know yourself<br />

and others in this age dominated by the internet. It is a<br />

much warmer method for interacting with people, compared<br />

to texting.<br />

Both Mei and Zhen regard music as their third language<br />

to communicate with others, and with this language, they<br />

try to push themselves further to get involved with the<br />

community. Instructor Chen has said: «For those kids who<br />

refuse to speak, we need to find more ways with which<br />

they could communicate.» As Steiner (2013) points out, it is<br />

music that weaves our society together. Music is what forges<br />

people’s connection. Through music, people together<br />

can experience the world.<br />

From playing solo to playing ensemble, music classes teach<br />

learners to carry out self-helping, mutual-helping, and cobenefiting.<br />

Together, these three gestures act as a trinity<br />

that complement each other and help disabled young<br />

adults overcome their inability to interact with other people,<br />

a problem that they have most likely struggled with<br />

for at least 21 years, by making music the third language<br />

in which they can express themselves to others.<br />

Self-helping represents a learner’s ability to learn on<br />

his own, to rely solely on himself to figure out the music<br />

sheets and improve his playing techniques. Through<br />

practicing on his own, he masters his parts and prepares<br />

himself for playing with others in the future. Mutual-helping<br />

represents the learners’ ability to help each other out,<br />

should any of their fellow classmates require it. The faster<br />

learning ones are able to assist the slower learning ones,<br />

and as the slower ones get the help they need, the faster<br />

learning ones get something out of this teaching experience<br />

as well, because teaching itself is also a reflective experience<br />

that gives the faster ones an all-around view of their<br />

current music skill level. Furthermore, mutual helping<br />

not only forges a reciprocal relationship between the fast<br />

47


zu den schneller bzw. langsamer Lernenden und hilft beiden,<br />

ihre musikalischen Fähigkeiten zu verbessern, sondern<br />

es erlaubt ihnen auch, miteinander zu interagieren<br />

und ihre soziale Kompetenz zu steigern.<br />

Zusätzlich zu selbstständigem Üben (Selbsthilfe) und gegenseitigem<br />

Unterstützen und Verbessern haben die Teilnehmenden<br />

gelernt, gemeinsam weiterzukommen. Das heisst,<br />

man hat durch das gemeinsame Orchesterspiel die Chance,<br />

selbst zu profitieren, indem man eng zusammenarbeiten<br />

und eine starke Beziehung zueinander aufbauen kann.<br />

and the slow and helps both of them polish their musical<br />

skills, but also gives them a chance to interact with one<br />

another and refine their interpersonal skills.<br />

After practicing on their own (self-helping) and helping<br />

each other out and improving each other (mutual-helping),<br />

the learners have now acquired the skills to carry out cobenefiting;<br />

that is, through playing together as an orchestra,<br />

everyone gets a chance to benefit themselves because<br />

they get the opportunity to closely interact with each other<br />

and build a solid relationship with their fellow students.<br />

Schluss<br />

Conclusion<br />

Das Forschungsprojekt zeigt, dass Lehrpersonen durch<br />

Empathie herausfinden können, was Menschen mit Unterstützungsbedarf<br />

zum Lernen brauchen. Das ermöglicht<br />

ihnen, die passenden Materialien zur Verfügung zu stellen,<br />

einen sinnvollen Lehrplan zu entwickeln und eine angemessene<br />

Sprache zu benutzen. So können sie den Menschen<br />

mit Assistenzbedarf dabei helfen, mit der richtigen<br />

Begleitung Erfolge zu erzielen. Bildlich gesprochen könnte<br />

man sagen: wenn Musik das Leben ist, dann ist der Unterricht<br />

der Boden, auf dem das Leben gedeihen kann. Das<br />

Selbstvertrauen und die Erfolgserlebnisse, die sich nach<br />

und nach einstellen, wenn Lernende ihr Instrument üben<br />

und auf der Bühne auftreten, können ausschlaggebende<br />

Werte in ihrem Leben werden. Wie viele Lehrpersonen zeigen<br />

in aktuellen Bildungssystemen genug Einfühlungsvermögen<br />

und Respekt ihren assistenzbedürftigen Studierenden<br />

gegenüber? Eine Frage, die es sich lohnt, weiter zu<br />

untersuchen.<br />

In Taiwan sehen die Gesetze im Bereich Bildung für Menschen<br />

mit Assistenzbedarf vor, dass sich die entsprechende<br />

Bildung nach Eignung und Individualität richten sollte.<br />

Allerdings erwähnen die Gesetze, die sich auf künstlerische<br />

Erziehung beziehen, Lernende mit Assistenzbedarf<br />

überhaupt nicht. D.h. die Betroffenen werden sehr<br />

wahrscheinlich in ihrer gesamten zwölfjährigen Schulzeit<br />

keinen ihrer Eignung und Individualität entsprechenden<br />

Kunstunterricht erhalten. Das könnte aber für diese<br />

Menschen die wichtigste Zeit ihres Lebens sein. Wenn sie<br />

aufgrund wirtschaftlicher Probleme, einer körperlichen<br />

Krankheit oder weil ausserschulische Kunsteinrichtungen<br />

sie nicht aufnehmen wollen, keine Möglichkeit haben, einen<br />

künstlerischen Unterricht zu besuchen, dann kann es<br />

This research project shows that a teacher with empathy<br />

can know what people with disabilities need for learning,<br />

provide suitable materials, design a reasonable schedule<br />

and use fair language. This can help people with disabilities<br />

to thrive under proper guidance. Metaphorically, if<br />

music is life, teaching is the soil that makes life thrive. The<br />

confidence and sense of accomplishment, which gradually<br />

develop as learners practice their instruments and<br />

perform on the stage, can become the core values of their<br />

lives. However, under the current education system, how<br />

many teachers would show enough empathy and respect<br />

to their disabled learners? This is a real question worth<br />

exploring.<br />

In Taiwan, the laws for educating people with disabilities<br />

have stated that such education should be based on suitability<br />

and individuality. However, education laws that<br />

deal with teaching art do not mention anything about learners<br />

with disabilities. Hence, students with disabilities<br />

are very likely to not receive an art education that is based<br />

on suitability and individuality, throughout the entirety of<br />

their twelve-year compulsory schooling. For people with<br />

disabilities, the twelve-year compulsory schooling could<br />

arguably be the most important time of their lives. If they<br />

do not have the opportunity to receive arts education on<br />

their own, due to economic issues, physical illness, or the<br />

reluctance of extra-curricular art centers to accept them,<br />

when they walk out of school after their twelve years of<br />

school, they may very well lose the opportunity to touch<br />

on art again, and opportunities for any form of art-related<br />

career may slip out of reach.<br />

48<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


passieren, dass sie nach zwölf Jahren die Schule verlassen<br />

und mit Kunst gar nicht mehr in Berührung kommen. Die<br />

Möglichkeit einer künstlerischen Berufsrichtung ist dann<br />

evtl. gar nicht mehr gegeben.<br />

Die drei jungen Menschen, die an diesem Forschungsprojekt<br />

teilnahmen, haben damit begonnen, dass sie es<br />

wagten, sich freiwillig auf unvertrauten Boden zu begeben<br />

und sind letztendlich auf ihrem musikalischen Weg dahin<br />

gekommen, dass sie sich jeder vor ihnen liegenden Herausforderung<br />

stellen.<br />

The three participants in this research have gone from<br />

being willing to dip their toes into strange waters, to confidently<br />

accepting any challenge that lies ahead of them<br />

throughout their music-learning journey.<br />

Trust the effort disabled learners<br />

put in, and provide them with<br />

enough time to learn<br />

Wir müssen darauf vertrauen, dass<br />

sich Lernende mit Assistenzbedarf<br />

bemühen und ihnen genügend Zeit<br />

zum Lernen geben.<br />

Shan, Mei und Zhen geben sich weiterhin alle Mühe, so<br />

viel wie möglich zu lernen und zu üben, um beste Ergebnisse<br />

zu erzielen. Wenn Lehrende an ihre Schülerinnen und<br />

Schüler glauben, und darauf vertrauen, dass sie wirklich<br />

ihr Bestes tun werden, um zu lernen, und wenn sie ihnen<br />

genug Zeit zum Üben geben und sie mit Geduld dabei begleiten,<br />

dann werden die Lernenden auch Gelegenheit haben,<br />

ihre Entschlossenheit, Ausdauer und ihren Mut, Herausforderungen<br />

aktiv anzugehen, unter Beweis zu stellen.<br />

Ihre Lebensfreude und ihr Selbstvertrauen können so gefördert<br />

werden.<br />

Shan, Mei and Zhen continue to put all of their efforts into<br />

learning and practicing everything available to them, hoping<br />

to have the best outcome. If teachers and caregivers<br />

could believe in their disabled learners, believe they are<br />

in fact doing their best to learn, and provide them with<br />

enough time to practice, and accompany them in practicing<br />

with patience, disabled learners will have the opportunity<br />

to show determination, perseverance and strength<br />

to actively take on challenges. This can enhance their passion<br />

for and confidence to live life.<br />

Aus dem Englischen übersetzt von<br />

Margot M. Saar and Leonard Lueg<br />

Literature / Literatur<br />

Brown.M.,R. (2016): A Practical Guide to Curative Education: The Ladder<br />

of the Seven ||| Life Processes. (translated by Jing-Yi Li, 2019). Taichung,<br />

Taiwan: Xiang Shang Games ||| Buck, P.C. (1988): Psychology for Musicians<br />

(translated by Lian-Hua Liu). New Taipei City, Taiwan, WenSheng Book |||<br />

Carlgren, F. (1998): Education Towards Freedom: Rudolf Steiner Education:<br />

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by Li-Jun Deng and Yu-Yi Liao). New Taipei City, Taiwan, Kids and<br />

You 123 ||| Freire, P. (1970): Pedagogy of the Oppressed (50th Anniversary<br />

Edition, translated by Yong-Quan Fang and Zhen-Wei Zhang, 2019). Kaohsiung,<br />

Taiwan, ChuLiu ||| Frongillo, A.C., (1999): The Importance of Being<br />

Musical: The Development and Practice of a Music Curriculum (translated<br />

by Jing-Yi Li, 2019) Yilan, Taiwan, Taiwan Waldorf Education Association<br />

||| Glöckler, M. (2020): Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder<br />

Entwicklung: Erfahrungen und Perspektiven aus der Waldorfpädagogik für<br />

die Erziehung im 21. Jahrhundert (translated by Qi-Shan Lin, 2021): Taipei<br />

City, Taiwan, Cosmosweaving ||| Glöckler, M., Langhammer, S. and Wiechert,<br />

C. (2006): Gesundheit durch Erziehung (translated by Li-Jun Deng<br />

and Yu-Yi Liao, 2017). Yilan, Taiwan, Anthroposophy Education Foundation<br />

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||| Shih-Ze Yao (2002): Music Education and Music Behavior: Theoretical Basis<br />

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the Search for Identity (translated by Ren-Xuan Xie and Yi-Jing Jian, 2015).<br />

New Taipei City, Taiwan, Common Master Press ||| Steiner, R. (2013): Erziehungskunst.<br />

Methodisch-Didaktisches (translated by Qi-Shan Li) Taipei<br />

City, Taiwan, Hungyeh ||| Steiner, R. (2019): The Kingdom of Childhood &<br />

The Education of the Child, 100th Anniversary Edition (translated by Yi-<br />

Shan Li). New Taipei City, Taiwan, Little Trees ||| Yasuji Murai (2019): The<br />

Base of Music Therapy (2nd Edition, published in 1995) (translated by Chiang-Huang<br />

Wu). New Taipei City, Taiwan, DowTien.<br />

49


50<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


51


Religion und Spiritualität in der<br />

inklusiven sozialen Entwicklung<br />

4. bis 6. Oktober <strong>2023</strong><br />

Kleine Herbstkonferenz der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft<br />

Eine persönliche Reflexion<br />

von Wiebke Lösken-Sturm<br />

Jetzt bin ich also wieder zuhause und versuche Ruhe, inneren<br />

und äusseren Frieden zu schaffen, um die richtigen<br />

Worte zu finden, die meine Erfahrungen auf der diesjährigen<br />

Herbstkonferenz beschreiben.<br />

Diesen Raum des Innehaltens in der immer so hektischen<br />

Umgebung meines Alltags zu kreieren, ist eine Herausforderung,<br />

die eng mit dem Thema Spiritualität und Religion<br />

verbunden ist. Es ist einfach in den Tag hineinzuleben, 24<br />

Stunden des Tages mit wichtigen Aufgaben und Produktivität<br />

zu füllen und dabei den subtilen Momenten, die uns<br />

mit dem «Es» verbinden, keine grosse Aufmerksamkeit zu<br />

schenken oder sie gar zu beachten.<br />

Und doch ist eine Sehnsucht nach diesen stillen Momenten<br />

spürbar, nach einem Suchen nach «Es» (und damit auf alle<br />

Übersetzungen, die «Es» für uns haben kann, von «Gott»,<br />

«Allah», «Jahwe», «Mutter Natur», «Liebe», «Nirvana» bis<br />

hin zur einfachen Wahrnehmung des Nicht-Physischen,<br />

das doch Bedeutung hat). Diese Sehnsucht manifestiert<br />

sich in einem Boom für Tagebuchführung, Achtsamkeits-<br />

Influencern und Pilgerreisen – besonders in der jüngeren<br />

(meiner) Generation. Ja. Die Generation, die nicht zu den<br />

traditionellen Gottesdiensten kommt, sucht nach Möglichkeiten,<br />

Spiritualität zu erleben und auszudrücken.<br />

Für mich funktionieren die vorformulierten Antworten auf<br />

die Fragen «Was ist ‹Es›?» und «Wie pflegen wir ‹Es›?» nie<br />

wirklich – oder vielleicht habe ich einfach noch nicht die<br />

Richtige gefunden. In meiner Kindheit hat Religion in meiner<br />

Familie nie eine Rolle gespielt, und ich glaube, das ist<br />

einer der Gründe, warum ich mich weiterhin schwertue,<br />

eine Definition für meine Spiritualität zu finden. Dennoch<br />

hatte ich immer das Gefühl, mit etwas Grösserem verbunden<br />

zu sein als nur mit dem Materiellen, dem Sicht- und<br />

Erklärbaren. Das ging so weit, dass ich mich im Alter von<br />

acht Jahren taufen liess und sogar eine Zeit lang erwog,<br />

Theologie zu studieren. Ich hatte das Glück, dass diejenigen<br />

um mich herum, die religiöse Funktionen ausübten,<br />

nie aufdringliche Missionare waren, sondern tolerante,<br />

liebende Menschen. Das hat es mir ermöglicht, Frieden in<br />

gegeben religiösen Strukturen zu finden und sie trotzdem<br />

in Frage zu stellen. Ich weiss, dass viele andere genau die<br />

gegenteilige Erfahrung machen, wenn sie Religion(en) begegnen,<br />

und deshalb Barrieren gegen alles errichten, was<br />

sie auch nur vage daran erinnert.<br />

Nach meinen zehn Jahren in der Camphill-Bewegung fühle<br />

ich mich immer noch «neu» in der Welt der Anthroposophie<br />

und der spirituelle Aspekt trägt einen grossen Teil dazu<br />

bei, dass ich mich schwer tue mich als «Anthroposophin»<br />

zu bezeichnen. Auf der anderen Seite wäre ich ohne den<br />

«Geist» in der Geisteswissenschaft wahrscheinlich schon<br />

lange nicht mehr hier. Die Anthroposophie scheint so viele<br />

meiner Fragen im Bereich der Spiritualität logisch zu beantworten.<br />

Und gleichzeitig empfinde ich diese Antworten<br />

als so endgültig, dass es wenig bis keinen Raum für Veränderungen<br />

und persönliche Flexibilität zu geben scheint.<br />

Ich erlebe die Heiligkeit bestimmter Rituale oft eher als einschränkend,<br />

statt einzuladen und zu inspirieren.<br />

Und das ist schade. Denn wie es scheint, bin ich nicht die<br />

Einzige, die die Wahrheit in der Essenz erahnt, aber mit der<br />

Ausführung Schwierigkeiten hat.<br />

Jetzt, da Sie wissen, woher ich spirituell komme, werden<br />

Sie vielleicht verstehen, dass ich zur diesjährigen Konferenz<br />

mit dem Titel «Religion und Spiritualität in der inklusiven<br />

sozialen Entwicklung», in der Hoffnung gegangen bin,<br />

52<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


Religion and Spirituality in<br />

Inclusive Social Development<br />

4 th -6 th Oct <strong>2023</strong><br />

Small Autumn Conference of the School of Spiritual Science<br />

A personal reflection<br />

by Wiebke Lösken-Sturm<br />

Here I am. Back at home. Trying to find tranquillity, inner<br />

and outer peace to pick the right words describing my experiences<br />

at this year’s autumn conference.<br />

Creating that space, in the ever-so-busy environment of<br />

my everyday life, is a challenge that connects closely to the<br />

topic of Spirituality and Religion. It is easy to live into the<br />

day, filling 24/7 with important tasks and productivity,<br />

not putting great focus on or even paying attention to the<br />

subtle moments that connect us with «It».<br />

And yet, there is a longing for the quiet moments apparent,<br />

wanting a glimpse of «It» (And with that all the translations<br />

«It» might have for us, from «God», «Allah», «Yahweh»,<br />

«mother nature», «love», «Nirvana», to the simple<br />

perception of something non-physical that matters). This<br />

longing manifests in a boom for journaling, mindfulness<br />

influencers and pilgrimage – especially in the younger<br />

(my) generations. Yes. The generation not showing up for<br />

the traditional services, is looking for ways to experience<br />

and express Spirituality.<br />

For me, the pre-formulated answers of «What is ‹It›?» and<br />

«How do we nurture ‹It›?» never really work – or maybe<br />

I just haven’t found the right one. Growing up, Religion<br />

hasn’t played a role in my family, and I feel that that is<br />

part of the reason I continue to struggle settling on a definition<br />

for my Spirituality. Still, I always had an underlying<br />

understanding of being connected to something bigger<br />

than just the material. So much so, that I decided to get<br />

baptised at the age of eight, and even considered studying<br />

Theology for a while. I am lucky that the people around<br />

me carrying religious functions were never missionaries<br />

but tolerant, loving human beings. That has allowed me<br />

to be at peace, in the structure that is given and able to<br />

challenge it all the same. I realise many others have quite<br />

the opposite experience when encountering Religion, and<br />

therefor put up barriers towards anything that vaguely reminds<br />

them of it.<br />

Fast forward – After ten years in Camphill, I still consider<br />

myself «new» to Anthroposophy, and the spiritual aspect<br />

is a big part of me not fully committing, while without it I<br />

would probably be long gone. Anthroposophy appears to<br />

logically answer so many of my questions in the realm of<br />

Spirituality. When at the same time, I perceive these answers<br />

as so definite that there seems to be little to no room<br />

for alteration and personal flexibility. I often experience<br />

the sacredness around certain rituals as more limiting<br />

than inviting and inspirational.<br />

And that is a shame. Because as it appears, I am not the<br />

only one, seeing truth in the essence but struggling with<br />

the execution.<br />

Now that you know where I come from spiritually, you<br />

might understand that I went to this year’s conference<br />

with the title of «Religion and Spirituality in Inclusive So-<br />

53


dass sie mir helfen würde, herauszufinden, inwieweit die<br />

Anthroposophie die Antwort auf meine spirituelle Suche<br />

ist; und was ich tun kann, um die Gemeinschaft, die ich<br />

mein Zuhause nenne, im Bereich der Spiritualität und Religion<br />

zu unterstützen, ohne meine eigenen Überzeugungen<br />

zu kompromittieren.<br />

Die Konferenz<br />

Um die Konferenz adäquat zu beschreiben, müsste man<br />

fast zwei Artikel schreiben, einen für Spiritualität und einen<br />

für Religion. So weit so, dass in der Eröffnungsrede<br />

die Frage zitiert wurde: «Was hat Spiritualität mit Religion<br />

zu tun?»<br />

Wenn ich auf die Konferenz zurückblicke, hatte ich das Gefühl,<br />

dass eine andere grundlegende Frage immer präsent<br />

war: «Wo und wie wird die persönliche Spiritualität innerhalb<br />

der etablierten Strukturen von Religion und Ritualen<br />

gepflegt?» Wir haben mit dem allgemeinen Verständnis<br />

gearbeitet, dass es in unseren Organisationen und Gemeinschaften<br />

einen Bedarf an Spiritualität, Religion und<br />

Ritualen gibt; und die Notwendigkeit, das eine im anderen<br />

zu finden, um Sinn zu schaffen. Anerkennung wurde geschenkt,<br />

dass die spirituelle Essenz eines Menschen ein<br />

wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit ist.<br />

Diesen Aspekt haben wir auf einer persönlichen Ebene erforscht.<br />

Es wurden Räume geschaffen, um unsere eigene<br />

Beziehung zur Spiritualität zu erfahren. Die drei Veranstaltungen<br />

mit den parallelen Angeboten der Opferfeier,<br />

einer Einführung in die anthroposophische Meditation<br />

und einer Klassenstunde für Mitglieder gaben den einen<br />

die Möglichkeit, etwas Neues auszuprobieren, den anderen,<br />

sich wieder zu verbinden und allen einen Moment des<br />

cial Development», hoping it would help me crystalise to<br />

what extent Anthroposophy provides the answer to my<br />

spiritual searching; And what I can do to support the community<br />

I call my home in the realm of Spirituality and Religion<br />

without compromising my own beliefs.<br />

The conference<br />

To capture the nature of the conference one would almost<br />

have to write two articles, one for Spirituality and one for<br />

Religion. To the extent that the opening talk quoted someone<br />

asking, «What does Spirituality have to do with Religion?»<br />

Looking back at the conference, I felt the underlying question<br />

that was present at all times was, «Within the established<br />

structures of Religion and rituals, where and how<br />

is personal Spirituality nurtured?» We worked on that<br />

with the general understanding that there is a need for<br />

Spirituality, Religion and Rituals in our organisations and<br />

communities; And the need of finding the one in the other<br />

to create meaning. The recognition of someone’s spiritual<br />

essence being a vital part of our work.<br />

And we explored that aspect on a personal level. Spaces<br />

were created to experience our own relationship with Spirituality.<br />

The three sessions, with parallel offers of the<br />

Offering Festival, an Introduction to Anthroposophical<br />

Meditation and a Class Lesson for Members, gave some<br />

the opportunity to try out something new, others to reconnect<br />

and all a moment to pause and practice some<br />

form of a quiet gesture. The invitation to go on a dialogue<br />

walk, sharing our take on living Spirituality with one or<br />

two colleagues, created for many a safe environment to<br />

be vulnerable.<br />

54<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


Innehaltens und der Ausübung einer stillen Geste. Die Einladung<br />

zu einem Dialogspaziergang, bei dem wir uns mit<br />

einem oder zwei Teilnehmenden über unsere Auffassung<br />

von gelebter Spiritualität austauschen konnten, schuf für<br />

viele ein sicheres Umfeld, um verletzlich zu sein.<br />

Mit dieser Grundlage waren die Gespräche, die wir dann<br />

über die Ausübung von Religion innerhalb unserer Organisationen<br />

führten, nachdenklich und vielfältig. Ebenso die<br />

Überlegungen, wie wir einander und andere in der eigenen<br />

Spiritualität unterstützen können. Die Zugehörigkeit<br />

zu einem internationalen Netzwerk, das zwar überwiegend<br />

christlich geprägt ist, aber die Vielfalt lokaler Traditionen<br />

und anderer Glaubensrichtungen schätzt, bringt es<br />

mit sich, unterschiedliche Realitäten zu leben. Und wenn<br />

nichts anderes, dann ist dies ein Ankerpunkt, um über die<br />

Perspektiven nachzudenken, aus denen heraus wir leben<br />

und solche die wir nicht von unserem Standpunkt aus sehen<br />

– und zu akzeptieren, dass es mehrere Wege gibt, um<br />

das Ergebnis zu erreichen, von dem wir manchmal glauben,<br />

dass es für unsere Praxis spezifisch ist.<br />

Wir haben uns ausgetauscht über die praktischen Aspekte<br />

von Religion und Spiritualität in einer Organisation. Und<br />

wir stellten fest, dass wir weltweit oft mit ähnlichen Problemen<br />

zu kämpfen haben, z. B. damit, neue Mitarbeitende<br />

für alte Rituale zu gewinnen und (Jahres-)Festen die Zeit<br />

und Hingabe zu geben, die sie verdienen.<br />

Die eineinhalb Tage vergingen wie im Flug. Das Thema<br />

schien zu gross für einen so kurzen Zeitraum. Es dauerte<br />

ein wenig, bis wir miteinander warm wurden und erfuhren,<br />

was in jedem Einzelnen und in der Welt in Bezug auf den<br />

Bereich der Spiritualität lebt. Als wir anfingen, uns gegenseitig<br />

die Fragen nach Bedürfnissen, Veränderung und Zukunft<br />

zu stellen, war die Konferenz schon vorbei.<br />

Auch wenn wir nicht mit einem Masterplan zur Bewältigung<br />

unserer Herausforderungen abgereist sind, wissen<br />

wir jetzt, dass wir nicht allein sind mit unseren Fragen.<br />

In abgewandelter Form finden wir sie in vielen Organisationen<br />

und Ländern. So können wir uns gemeinsam damit<br />

beschäftigen: «Wie geht es weiter? – Wie kommen wir zu-<br />

With this foundation of opening personally to the topic,<br />

the conversations we then had, on practicing Religion within<br />

our organisation and supporting those we work with<br />

to find and express their own Spirituality, were thoughtful<br />

and diverse. Being part of a global network that may be<br />

predominantly Christian but values the colourfulness of<br />

local traditions and other believes, comes with living different<br />

realities. And if nothing else, this is an anchor point<br />

to consider the perspectives we live out of and the ones<br />

we don’t see from our point of view – accepting that there<br />

are multiple ways to achieve the outcome we sometimes<br />

believe is unique to our practices.<br />

We shared observations on the practicalities of living Religion<br />

and Spirituality in an organisation. And realised that<br />

across the globe we often struggle with similar issues, like<br />

engaging new people in old rituals and giving festivals the<br />

time and dedication they deserve.<br />

A day and a half went by in no time. The topic seemed too<br />

big for such a short period. It took a bit for us to warm up<br />

to each other and explore what lives in everyone and the<br />

world concerning the realm of Spirituality. So that by the<br />

time we started asking each other the questions of transformation,<br />

future and need, the conference was over.<br />

Although we might not have left with a masterplan on how<br />

to address our challenges, we know now that these are not<br />

unique to one place or country. So that collectively we may<br />

concern ourselves with the questions of How do we take<br />

this forward? – «How do we get together to preserve the holiness<br />

of old rituals that have enabled thousands of people<br />

to connect with another level of their being? – When at the<br />

same time we recognise a need for change to ‹reach new<br />

generations› and continue to make an earthly impact. Where<br />

people can see the difference that they and the practices<br />

55


sammen, um die Heilkraft der alten Rituale zu bewahren,<br />

die es bisher Tausenden von Menschen ermöglicht haben,<br />

sich mit einer anderen Ebene ihres Seins zu verbinden? –<br />

Während wir gleichzeitig die Notwendigkeit von Veränderungen<br />

erkennen, um neue Generationen zu erreichen und<br />

weiterhin eine irdische Wirkung zu erzielen. Sodass Menschen<br />

den Unterschied bei sich und ihren Mitmenschen sehen,<br />

den Spiritualität und Religion machen können.<br />

Und jetzt? Wo stehen wir?<br />

Wenn ich von einer Konferenz zurückkehre, habe ich immer<br />

das Bedürfnis, etwas von der Qualität, die ich erlebt<br />

habe, mitzunehmen und sie mit denen zu teilen, mit denen<br />

ich lebe und arbeite. Manchmal fällt es mir schwer,<br />

denn mein Hauptmitbringsel ist die Begegnung mit anderen<br />

Teilnehmenden. Dieses Mal ist es anders.<br />

Persönlich fühle ich mich auf meinem Weg auf der Suche<br />

nach «meiner» Spiritualität, meiner Definition und Praxis<br />

von «Es» bestätigt. Es ist ständige Arbeit, intime spirituelle<br />

Begegnungen mit mir selbst zu schaffen. Und ich lerne,<br />

dass «Erleuchtung» oder gar die Gewissheit, auf dem richtigen<br />

Weg zu sein, nicht unbedingt das richtige Ziel ist. Ich<br />

trage viel Vertrauen in mir. Vertrauen darauf, mit Situationen<br />

konfrontiert zu werden und Menschen zu treffen, die<br />

mir helfen, mich weiterzuentwickeln und mich zu lehren.<br />

Und bisher habe ich das Gefühl, dass die Menschen, denen<br />

ich begegne, und die Situationen, in denen ich mich durch<br />

die Mitarbeit in anthroposophischen Kreisen befinde, «richtig»<br />

für mich sind. Ich nehme Sie als Teil meines Schicksals<br />

an und bin gespannt auf das, was noch kommen wird.<br />

Mit Blick auf meine Gemeinschaft wurde ich ermutigt,<br />

mich aktiv an den Ritualen zu beteiligen, die den Platz, an<br />

dem ich lebe, geprägt haben. Ich biete mein Engagement<br />

an, zum Nutzen der Gemeinschaft, nicht meinem eigenen.<br />

Und das, während ich meinen Fragen treu bleibe und mei-<br />

they use to express their Spirituality, can make in themselves<br />

and those around.»<br />

And now? Where are we?<br />

Returning from a conference I always feel the need to<br />

bring back some of the quality I experienced and share<br />

it with those I live and work with. Sometimes I struggle<br />

because my main takeaway is the encounter with other<br />

participants. This time feels different.<br />

Personally, I feel affirmed on my path in search of «my»<br />

Spirituality, my definition and practice of «It». Crafting<br />

pockets of intimate spiritual encounters with myself is<br />

constant work. And I am learning that «enlightenment»,<br />

or even a certainty of being on the right path, is not necessarily<br />

the right goal. I carry in me a lot of trust. Trust in<br />

being confronted with situations and meeting people that<br />

will help me develop and teach me. And so far, I feel that<br />

the people I meet and the situations I find myself in, due to<br />

being involved in anthroposophical circles, are «right» for<br />

me. I embrace you as part of my destiny and am curious to<br />

see what is still to come.<br />

With a view to my community, I am encouraged to actively<br />

engage with the rituals that have shaped the place I live<br />

in. Offering my service, doing it for the community’s, not<br />

my own benefit. And doing so while staying true to my<br />

questions and honouring my reluctance towards the old<br />

rituals. Striving to bring about new ways of looking at the<br />

established forms. Initiating conversations of mutual learning<br />

and teaching with a generation that has created and<br />

held a quality of life I truly appreciate.<br />

Seeing «my» tasks in relation to the wider movement’s<br />

tasks and exchanging with others on similar paths confronts<br />

me with the «I am in everything. Everything is in<br />

me». It makes me co-responsible, not only for my immediate<br />

surrounding. It exposes the correlation of having to<br />

look after my own spiritual well-being to make sure the<br />

56<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


ne Skepsis gegenüber den alten Ritualen respektiere. Ich<br />

strebe danach, neue Sichtweisen auf die etablierten Formen<br />

zu schaffen. Ich bin offen für Gespräche zum gegenseitigen<br />

Lernen mit einer Generation, die eine Lebensqualität<br />

geschaffen und bewahrt hat, die ich wirklich schätze.<br />

Wenn ich «meine» Aufgaben im Zusammenhang mit den<br />

Aufgaben der grösseren Bewegung sehe und mich mit anderen<br />

austausche, die sich auf einem ähnlichen Weg befinden,<br />

werde ich mit dem «Ich bin in allem. Alles ist in mir.»<br />

konfrontiert. Es macht mich mitverantwortlich, nicht nur<br />

für mein unmittelbares Umfeld. Es zeigt den Zusammenhang<br />

auf, dass ich mich um mein eigenes geistiges Wohlergehen<br />

kümmern muss, um sicherzustellen, dass das Wohlergehen<br />

der Welt im Gleichgewicht ist und andersherum.<br />

Ich bleibe also neugierig und offen für die Vielfalt, die das<br />

Leben zu bieten hat.<br />

Und damit habe ich jetzt die Ruhe, um mich auf das Folgende<br />

einzulassen.<br />

Ich trage Ruhe in mir,<br />

Ich trage in mir selbst<br />

Die Kräfte, die mich stärken.<br />

Ich will mich erfüllen<br />

Mit dieser Kräfte Wärme,<br />

Ich will mich durchdringen<br />

Mit meines Willens Macht.<br />

Und fühlen will ich<br />

Wie Ruhe sich ergiesst<br />

Durch all mein Sein,<br />

Wenn ich mich stärke,<br />

Die Ruhe als Kraft<br />

In mir zu finden<br />

Durch meines Strebens Macht.<br />

world’s well-being is in balance, and vice-versa.<br />

So, I stay curious and open-minded.<br />

And with that, I now feel the tranquillity to go into the<br />

following.<br />

Quiet I bear within me.<br />

I bear within myself<br />

Forces to make me strong.<br />

Now will I be imbued<br />

With their glowing warmth.<br />

Now will I fill myself<br />

With my own will’s resolve.<br />

And I will feel the quiet<br />

Pouring through all my being,<br />

When by my steadfast striving<br />

I become strong<br />

To find within myself<br />

The source of strength,<br />

The strength of inner quiet.<br />

Rudolf Steiner<br />

Rudolf Steiner<br />

57


Bericht über die<br />

Jugendtagung im<br />

Camphill Newton Dee<br />

<strong>2023</strong><br />

Gemeinschaftsbildung –<br />

Wie können wir uns unsere Zukunft (neu) vorstellen?<br />

11. – 14. Mai <strong>2023</strong>, Newton Dee<br />

Report on the Youth<br />

Conference in<br />

Camphill Newton Dee<br />

<strong>2023</strong><br />

Community Building –<br />

How can we (re-)imagine our future?<br />

11 th -14 th May <strong>2023</strong>, Newton Dee<br />

vom Organisationsteam der Jugendtagung<br />

by the Youth Conference <strong>2023</strong> Organizing Team<br />

Hintergrund und Vorbereitung<br />

Background and preparation<br />

Jugendtagungen haben in der Camphill Bewegung eine<br />

lange Tradition. Viele langjährige Mitarbeitende haben<br />

Erinnerungen an Jugendtagungen in den 70er Jahren.<br />

Dieses Bewusstsein füreinander und tiefe Freundschaften<br />

zwischen Einzelpersonen und Gemeinschaften auf der<br />

ganzen Welt sind Dinge, die in Camphill über Generationen<br />

hinweg stattgefunden haben. Und diese Stärke des<br />

Netzwerks von Menschen, die die Camphill-Bewegung<br />

umgeben, einer neuen Generation nahe zu bringen, war<br />

die Absicht hinter der Wiederbelebung des Impulses der<br />

Jugendtagungen.<br />

Die Grundlage dafür wurde 2018 (Clanabogan – «Wie können<br />

wir die Camphill-Flamme in die Zukunft tragen?») und<br />

2019 (Esk Valley – «Wie bringen wir unsere Camphill-Werte<br />

in der modernen Welt zum Ausdruck?») gelegt. Geplante<br />

Tagungen für 2020 (The Mount – «Lebendiges Camphill<br />

über Generationen hinweg»), 2021 und 2022 (Newton<br />

Dee – «Gemeinschaftsbildung – Saat für soziale und ökologische<br />

Veränderungen») mussten leider abgesagt werden.<br />

Stattdessen fand im Mai 2021 ein Onlinetreffen statt.<br />

Die Ermutigung, weiterzumachen und den Schwung nicht<br />

zu verlieren, kam von drei Personen aus Newton Dee,<br />

die man der «älteren Generation» zuordnen könnte. Sie<br />

luden eine kleine Gruppe jüngerer Menschen aus der<br />

Camphill-Bewegung und der Jugendsektion ein, ein Organisationsgremium<br />

zu bilden. Mit der richtigen Mischung<br />

aus Weitergabe von Weisheit, Anleitung und Loslassen ermöglichten<br />

diese drei ein Wochenende in Newton Dee im<br />

November 2022 – wobei sie den Staffelstab weitergaben<br />

und deutlich machten, dass sie an der weiteren Organisation<br />

nicht beteiligt sein würden.<br />

Youth Conferences have a well-established history in<br />

Camphill. Many long-standing co-workers share memories<br />

of Youth Conferences in the 70s. This awareness of<br />

each other and deep friendships between individuals and<br />

communities across the world are things that have taken<br />

place in Camphill over generations. And bringing this<br />

strength of the network of people surrounding the Camphill<br />

Movement to a new generation was the intention behind<br />

rekindling the Youth Conference impulse.<br />

The foundation to that was laid in 2018 (Clanabogan –<br />

«How can we carry the Camphill flame into the future?»)<br />

and 2019 (Esk Valley – «How do we express our Camphill<br />

values in the modern world?»). Plans for conferences in<br />

2020 (The Mount – «Living Camphill across Generations»),<br />

2021 & 2022 (Newton Dee – «Community Building – Seeds<br />

for Social and Ecological Transformation») had to be cancelled<br />

unfortunately. An online Camphill Youth gathering<br />

in May 2021 took place instead.<br />

The encouragement to keep going and not lose momentum<br />

was given by three individuals from Newton Dee who<br />

one might call «of the older generation». They invited a<br />

small group of younger people within the Camphill Movement<br />

and the Youth Section to form an organising body.<br />

With the right mixture of wisdom sharing, guidance and<br />

letting go, these three facilitated a weekend in Newton Dee<br />

in November 2022 – passing on the baton and making it<br />

clear that they would not be involved in the further organising.<br />

58<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


Das Brainstorming an diesem Wochenende zu den Fragen<br />

«Was wollen wir erreichen?» und «Wen wollen wir erreichen?»<br />

markierte den Beginn der Planungsphase. Wir<br />

untersuchten gemeinsame Themen und Interessen unserer<br />

heutigen Generation und stellten fest, dass viele junge<br />

Menschen in städtischen Gebieten auf der Suche nach<br />

einem anderen Lebensstil sind. Viele fühlen sich zum Gemeinschaftsleben<br />

hingezogen, wissen aber oft nicht, wohin<br />

sie gehen oder wen sie fragen sollen. Ein weiteres gemeinsames<br />

Phänomen, das wir beobachteten, war, dass<br />

Menschen, die in Gemeinschaften leben, sich mit anderen<br />

zusammenschliessen wollen, die ihre Werte und ihre Lebensweise<br />

teilen, um voneinander zu lernen, ein breiteres<br />

Bewusstsein füreinander zu entwickeln und Netzwerke<br />

von Gleichgesinnten und Gemeinschaften aufzubauen.<br />

Es war der Beginn einer wunderbaren Zusammenarbeit<br />

zwischen Mitarbeitern aus Camphill-Gemeinschaften in<br />

Schottland, England, Nordirland und den USA (Newton Dee,<br />

Esk Valley, Glencraig, Clanabogan und Camphill Academy)<br />

mit einer starken Verbindung zur Jugendsektion am Goetheanum<br />

in der Schweiz. Wir verabschiedeten uns mit einer<br />

engagierten Gruppe von zehn Personen, einer Vision, worum<br />

es bei der Tagung gehen sollte (Gemeinschaftsbildung)<br />

und der Bestätigung, dass Camphill Newton Dee bereit war,<br />

zu dieser Jugendtagung im Mai <strong>2023</strong> einzuladen.<br />

Die Tagung<br />

Das Programm, bei dem es um das Thema «Gemeinschaftsbildung<br />

– Wie können wir uns unsere Zukunft<br />

(neu) vorstellen» ging, stützte sich auf drei Säulen: (1) Intellektuelle<br />

Inhalte – Denken, (2) Newton Dee-Erfahrung<br />

– Fühlen und (3) Freiräume, um miteinander in Kontakt<br />

zu treten, sich auszutauschen und gemeinsam etwas zu<br />

schaffen – Wollen.<br />

Der intellektuelle Inhalt wurde in drei Vorträgen vermittelt.<br />

Der erste «Warum sind Sie hier?» wurde von Marie Dionie<br />

Palaleo gehalten. In diesem Vortrag ging es um die Ergebnisse<br />

von einem Research Projekt, das durchgeführt wurde,<br />

um die Erfahrungen von Praktikanten und Freiwilligen in<br />

Camphill-Gemeinschaften auf der ganzen Welt zu untersuchen.<br />

Das besagte Projekt wurde von Dan McKanan in Zusammenarbeit<br />

mit der Camphill Academy und der Camphill<br />

Foundation, USA, geleitet. Em nutzte das Thema ihres Vortrags,<br />

um den Menschen die Möglichkeit zu geben, darüber<br />

nachzudenken, warum sie in ihren jeweiligen Gemeinschaften<br />

und auf der Konferenz waren. Sie gab einen schönen<br />

Einblick in die Erfahrungen, die junge Menschen machen,<br />

wenn sie nach Camphill kommen.<br />

In dem zweiten Vortrag ging es um Nachhaltigkeit in intentionalen<br />

Gemeinschaften. Dieser wurde von Martin Sturm<br />

This weekend, brainstorming around the questions of<br />

«What do we want to achieve?» and «Who do we want to<br />

reach?», marked the beginning of the planning phase. We<br />

explored common themes and interests of our generation<br />

today and recognised that there are a lot of young people<br />

in urban areas looking for a different way of life. Many<br />

are drawn towards community living but often don’t know<br />

where to go or whom to ask. Another common phenomenon<br />

we observed was that people who live in communities<br />

want to connect with others who share their values and<br />

way of life, to learn from and strengthen a wider awareness<br />

of each other and build networks of like-minded people<br />

and communities.<br />

It was the start of a beautiful collaboration between individuals<br />

from Camphill Communities in Scotland, England,<br />

Northern Ireland and the US (Newton Dee, Esk Valley,<br />

Glencraig, Clanabogan and Camphill Academy) with<br />

a strong link to the Youth Section at the Goetheanum in<br />

Switzerland. We parted with a committed group of ten<br />

people, a vision of what the conference was going to be<br />

about (Community Building) and the confirmation that<br />

Camphill Newton Dee was willing to host this Youth Conference<br />

in May <strong>2023</strong>.<br />

The conference<br />

The program that was built around the theme of «Community<br />

Building – How can we (re-)imagine our future»,<br />

stood on three pillars: (1) Intellectual content – thinking,<br />

(2) Newton Dee experience – feeling, and (3) free spaces to<br />

connect, share, and create with each other – willing.<br />

The intellectual content was brought in three talks. The<br />

first one was called «Why are you here?» presented by<br />

Marie Dionie Palaleo. This talk was about the results of a<br />

research conducted to look into the experience of shortterm<br />

co-workers in Camphill Communities around the<br />

world. The said research was led by Dan McKanan in<br />

collaboration with the Camphill Academy and Camphill<br />

Foundation, USA. Em used the theme of her talk to open<br />

the space for people to reflect on why they were in their<br />

respective communities and at the conference. She presented<br />

a beautiful insight on experiences young people<br />

have when coming to Camphill.<br />

The second talk was about sustainability in intentional<br />

communities. This was presented by Martin Sturm and<br />

59


und Juan Sebastian Giraldo Armilla gehalten. Sie sprachen<br />

darüber, was Nachhaltigkeit in einem viergliedrigen Ansatz<br />

bedeutet, und über ihre persönlichen Erfahrungen<br />

damit. Dazu gehörten Projekte in Newton Dee (Juan) und in<br />

den Camphill-Gemeinschaften in Nordirland (Martin). Gemeinsam<br />

öffneten sie das Denken der Nachhaltigkeit als<br />

rein ökologisches Thema für den sozialen, wirtschaftlichen<br />

und kulturellen Bereich.<br />

Der dritte Vortrag wurde von Jonas Hellbrandt gehalten.<br />

Im Lichte der sozialen Dreigliederung gab er eine Einführung<br />

in Rudolf Steiners Sozialgesetz und wie man es mit<br />

persönlichem Wachstum, Selbstreflexion und der Entwicklung<br />

guter Führung in Gemeinschaften und Organisationen<br />

in Verbindung bringen kann.<br />

Katia Popoff und Martin Schwarz hielten einen Vortrag<br />

über den Kurs «Discovering Camphill», den sie zusammen<br />

mit einer Kollegin der Camphill Community Glencraig<br />

entwickelt haben.<br />

Auf jeden Vortrag folgten Gruppenaktivitäten, bei denen<br />

die Teilnehmer*Innen Zeit hatten, über das Gehörte nachzudenken,<br />

während sie etwas Kreatives oder Kontemplatives<br />

taten. Sie blieben über die drei Tage in der gleichen<br />

Gruppe, um eine tiefere Verbindung zueinander zu ermöglichen.<br />

Zu den Gruppen gehörten Zirkus, Gesang und<br />

Musik, Holzschnitzerei, Meditation und Eurythmie.<br />

Grosszügige Mittagspausen und Lagerfeuer boten weitere<br />

Möglichkeiten, Kontakte zu knüpfen und Beziehungen<br />

aufzubauen.<br />

Nicht alle Teilnehmenden kamen aus Camphill oder einer<br />

intentionalen Gemeinschaft, was der Konferenz ein grossartiges<br />

Gefühl der Vielfalt verlieh. Beim «Ideenbasar» waren<br />

alle eingeladen über spannende Projekte und neue<br />

Initiativen zu berichten. Einige der Präsentationen stammten<br />

von L‘Arche, der Jugendsektion am Goetheanum und<br />

im Vereinigten Königreich, Casa De Santa Isabel in Portugal,<br />

Freunde Waldorf, den Future Shapers, verschiedenen<br />

Camphill-Gemeinschaften wie Camphill Botswana, einem<br />

Projekt in Banchory, einem Teaser zu «Born That Way» –<br />

einem kommenden Film über Patrick Lydon – und vielen<br />

anderen Beiträgen aus verschiedenen regionalen Netzwerken<br />

und Gemeinschaften auf der ganzen Welt.<br />

Newton Dee erwies sich als ein herzlicher und grosszügiger<br />

Gastgeber. Die 70 Teilnehmenden aus aller Welt kamen<br />

nicht nur in den Genuss der köstlichen Verpflegung des<br />

Cafés, sondern erhielten auch eine Einladung eine Mahlzeit<br />

in einer der Hausgemeinschaften zu erleben. Die Werkstätten<br />

öffneten einen Nachmittag lang ihre Türen für uns, und<br />

gemeinsam feierten wir den Geist der Gemeinschaft mit<br />

einem inklusiven, fröhlichen Ceilidh Tanzabend.<br />

Der letzte Vormittag am Sonntag stand ganz im Zeichen<br />

der Reflexion. Wir schufen kleine Räume für innere Arbeit<br />

Juan Sebastian Giraldo Armilla. They spoke about what<br />

sustainability means on a four-fold approach and their<br />

personal experiences with it. These included projects<br />

in Newton Dee (Juan) and the Camphill communities in<br />

Northern Ireland (Martin). Together they opened up the<br />

narrow thinking of sustainability as a purely ecological topic<br />

to the social, economic and cultural realm.<br />

The third talk was by Jonas Hellbrandt. In the light of social<br />

three-folding, he gave an introduction to Rudolf Steiner’s<br />

Social Law and how to relate it to personal growth,<br />

self-reflection and development of good leadership in<br />

communities and organisations.<br />

A presentation was given by Katia Popoff and Martin<br />

Schwarz about the Discovering Camphill Course which<br />

they developed together with a colleague in Camphill<br />

Community Glencraig.<br />

Every talk was followed by group activities in which participants<br />

had time to reflect on what they heard, while doing<br />

something creative or contemplative. The participants<br />

remained in the same group to allow a deeper connection<br />

with each other. The groups included circus, singing and<br />

music, wood carving, meditation, and eurythmy.<br />

Generous lunch breaks and bonfires gave further spaces<br />

to connect and form relationships.<br />

Not everyone was from Camphill or an intentional community,<br />

which gave the conference a great feel of diversity.<br />

There was a space called the ‘Idea Bazaar’ where people<br />

shared about exciting projects and new initiatives. Some<br />

of the presentations given were from L’Arche, the Youth<br />

Section at the Goetheanum and in the UK, Casa De Santa<br />

Isabel in Portugal, Freunde Waldorf, the Future Shapers,<br />

different Camphill Communities like Camphill Botswana,<br />

a project in Banchory, a teaser to «Born That Way» – an<br />

upcoming film about Patrick Lydon – and many more from<br />

different regional networks and communities around the<br />

world.<br />

Newton Dee proved to be a welcoming and generous host.<br />

Not only did the 70 participants from all over the world<br />

enjoy delicious catering from the Café, but everyone got<br />

an invitation to join one of the house communities for a<br />

meal. The workshops opened their doors to us for one afternoon<br />

and together we celebrated the spirit of community<br />

with an inclusive, joyful Ceilidh.<br />

60<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>


und versuchten, die Erfahrungen, die wir während des langen<br />

Wochenendes gemacht hatten, zu verarbeiten. Eine<br />

Gruppe schloss sich der Opferfeier von Newton Dee an,<br />

bevor wir uns wieder im grossen Kreis versammelten und<br />

uns voneinander verabschiedeten. Den Abschluss bildete<br />

ein kraftvolles Eurythmie-«Halleluja» unter der Leitung<br />

von Munja Missalek.<br />

The final morning on Sunday was all about reflection. We<br />

created small spaces for inner work, trying to make a start<br />

at processing the experiences shared over the long weekend.<br />

A group joined Newton Dee’s Offering Service before<br />

we reconvened in the big circle and said our goodbyes and<br />

farewells. Finishing with a powerful Eurythmy «Hallelujah»,<br />

led by Munja Missalek.<br />

Zukunft<br />

Future<br />

Die Teilnehmenden und das Organisationsteam sind<br />

fest entschlossen, diese Initiative fortzusetzen und sie<br />

zu einer jährlichen Veranstaltung zu machen. Eine neue<br />

Gruppe hat sich bereits gebildet. Wir haben unser erstes<br />

Treffen online abgehalten und uns auf die gastgebende<br />

Gemeinschaft geeinigt.<br />

Das Organisationsteam der Jugendtagung <strong>2023</strong>:<br />

Juan Sebastian Giraldo Armilla, Tillmann Eisenberg,<br />

Julia Kreutz, Sebastian Zieger, Gabriele Nys, Wiebke Lösken-Sturm,<br />

Marie Dionie [Em] Palaleo, Tom Burkin, Nick<br />

Kellner und Martin Schwarz<br />

There is the strong will among participants and organisers<br />

to continue this initiative and make it a yearly event. A new<br />

group has already formed. We had our first meeting online<br />

and agreed on the hosting community.<br />

The Youth Conference <strong>2023</strong> Organising Team:<br />

Juan Sebastian Giraldo Armilla, Tillmann Eisenberg,<br />

Julia Kreutz, Sebastian Zieger, Gabriele Nys, Wiebke<br />

Lösken-Sturm, Marie Dionie [Em] Palaleo, Tom Burkin,<br />

Nick Kellner and Martin Schwarz.<br />

61


Impressum<br />

Verlag | Publisher. . . . . . . . .Anthroposophic Council for Inclusive Social Development<br />

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Fonds für Heilpädagogik und Sozialtherapie Dornach<br />

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Ruchti-Weg 9, CH-4143 Dornach, +41 61 701 84 85<br />

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Website . . . . . . . . . . . . . . . .inclusivesocial.org/perspectives<br />

Redaktion | Editorial Team . .Jan C. Göschel • Elizabeth Sanders<br />

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Bernhard Schmalenbach • Gabriele Scholtes<br />

Administration. . . . . . . . . . .Karin Gaiser: info@inclusivesocial.org<br />

Layout . . . . . . . . . . . . . . . . .Sophie Alex<br />

Satz | Typeset . . . . . . . . . . .Gabriele Scholtes<br />

Druck | Printing . . . . . . . . . .medialis Offsetdruck GmbH<br />

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Heidelberger Straße 65, DE-12435 Berlin<br />

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ISSN (print) 2673-2211<br />

ISSN (online) 2673-222X<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development ist die vierteljährliche<br />

internationale Fachzeitschrift für anthroposophische Heilpädagogik,<br />

Sozialtherapie und verwandte Arbeitsfelder.<br />

Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development is the quarterly<br />

international professional journal for anthroposophic curative<br />

education, social therapy and related fields.<br />

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