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Seelenpflege 2014-4

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<strong>Seelenpflege</strong><br />

in Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie<br />

Im Gelben erlebe ich Hoffnung<br />

Geschichten mit Behinderung<br />

Seelische Notlagen<br />

Musikalische Farblichtbewegungen<br />

Eric Arlin<br />

4 | <strong>2014</strong>


Editorial<br />

«Wir sind in Geschichten verstrickt ...»<br />

schreibt Johannes Gruntz-Stoll in seinem Beitrag über Geschichten<br />

mit Behinderung. Geschichten sind Teil unseres Lebens, sie<br />

haben ihre eigene Wirklichkeit und Faszination. Gruntz-Stoll hat<br />

Geschichten, die von Menschen mit Behinderungen erzählen,<br />

nicht nur gesammelt, sondern intensiv mit ihnen gearbeitet<br />

und sie als wesentliches Element in seine Lehrveranstaltungen<br />

einbezogen. «Seelische Notlagen bei Menschen mit kognitiven<br />

Beeinträchtigungen» stehen im Zentrum des Aufsatzes von Walter<br />

Dahlhaus. Er gibt nicht nur Einblick in die Situation der betroffenen<br />

Menschen, sondern auch wesentliche Hinweise für ihre<br />

Behandlung und ihren sozialen Einbezug. Aus einem Forschungsprojekt<br />

über «Musikalische Farblichtbewegungen» berichtet<br />

Maija Pietikäinen.<br />

Vor kurzem starb Eric Arlin, der die Bestrebungen in unseren Arbeitszusammenhängen<br />

seiner Generation massgeblich mitgeprägt hat.<br />

Aus seinem künstlerischen Oeuvre zeigen wir einige Beispiele.<br />

Wie immer bringen wir auch Hinweise auf Bücher, Ereignisse und<br />

Entwicklungen, die hoffentlich ebenfalls Ihr Interesse finden werden.<br />

Wir von der Redaktion wünschen Ihnen einen intensiven und<br />

erfüllten Herbst!


Inhalt<br />

Seite 6 «Der Mensch ist schön!»<br />

Seite 32<br />

Geschichten mit Behinderung<br />

Johannes Gruntz-Stoll<br />

Nicht nur bei der eigenen Lektüre,<br />

sondern vor allem auch beim Vorlesen<br />

von Texten erzählter Behinderung<br />

habe ich immer wieder die Erfahrung<br />

gemacht, dass Geschichten<br />

Zuhörerinnen und -hörer ganz<br />

anders anzusprechen vermögen als<br />

beispielsweise Abhandlungen<br />

oder Referate.<br />

Leben mit dem Kontext<br />

Begegnung mit Andreas Fischer<br />

Sebastian Jüngel<br />

«In einer Zeit von grossen<br />

Veränderungen und neuen Fragen<br />

müssen in Praxis und Ausbildung<br />

adäquate Antworten gefunden<br />

werden: Gefordert sind Sensibilität<br />

für das Ausklingen von alten und<br />

Mut im Finden von neuen Formen<br />

– beides immer mit Blick auf deren<br />

spirituellen Ursprung.»<br />

Seite 20<br />

Seelische Notlagen bei Menschen mit<br />

kognitiven Beeinträchtigungen<br />

Über den Umgang mit «Doppeldiagnosen»<br />

Walter J. Dahlhaus<br />

Seite 36<br />

«Im Gelben erlebe ich Hoffnung»<br />

Das Forschungsprojekt «Musikalische<br />

Farblichtbewegungen»<br />

Maija Pietikäinen<br />

Getragen wird jedweder diagnostische<br />

und therapeutische Ansatz von<br />

einem respektvollen Ansatz,<br />

in einer Erkrankung auch ein<br />

Verwirklichungsprinzip menschlichen<br />

Werdens zu sehen ...<br />

Aus dem Märchen Fundevogel (Foto: Ch. Dauner)<br />

4<br />

<strong>Seelenpflege</strong><br />

in Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie<br />

Im Gelben erlebe ich Hoffnung<br />

Geschichten mit Behinderung<br />

Seelische Notlagen<br />

Musikalische Farblichtbewegungen<br />

Eric Arlin<br />

4 | <strong>2014</strong><br />

Herausgeber:<br />

Konferenz für Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie<br />

Medizinische Sektion<br />

der Freien Hochschule für<br />

Geisteswissenschaften am Goetheanum<br />

Dornach (Schweiz)<br />

Redaktion:<br />

Rüdiger Grimm<br />

Bernhard Schmalenbach<br />

Gabriele Scholtes


Seite 42 Gedenken an Eric Arlin<br />

Seite 45<br />

mit ganzseitigen Abbildungen<br />

Rüdiger Grimm<br />

Fünfzig Jahre Choroi Musikinstrumentenbau<br />

Hans Rainer Kühn<br />

Seite 50<br />

«Etwas in die Tat umzusetzen»<br />

Ruedi Wälchli im Interview mit Rita<br />

Crettaz und Cem Hamurabi<br />

Seite 52<br />

Fünfzig Jahre Beaver Run<br />

Jan Göschel<br />

Entgegen seiner ansonsten<br />

bewusstseinseelenhaften, eher streng<br />

wirkenden Malweise konnte man von<br />

Eric Arlin auch einmal einen Gruss,<br />

z.B. zu Weihnachten mit duftigen,<br />

fliessenden Farben erhalten<br />

Seite 54<br />

Rezensionen<br />

Berichte<br />

Impressum<br />

Inserate<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 5


«Der Mensch ist schön!»<br />

Geschichten mit Behinderung<br />

Von Johannes Gruntz-Stoll<br />

Einleitung<br />

Kennen Sie das Theater HORA? Können Sie sich vorstellen, dass Menschen<br />

mit einer geistigen Behinderung Goethes Faust auf die Bühne bringen?<br />

Franz Hohler hat eine Aufführung des Theaters HORA besucht und dazu eine<br />

Geschichte geschrieben: Gespielt wurde «Faust 1 & 2» (Hohler 2013, S. 69);<br />

gestaltet hat der Autor eine Erzählung, welche zusammen mit über zwanzig<br />

weiteren «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll u.a. 2013) in der<br />

Anthologie «Alles wie immer?» (ebd.) erschienen ist. Alles wie immer? Erfahrungen<br />

von Menschen mit Behinderung sind in literarischen Texten zwar keine<br />

Seltenheit, müssen aber doch erst gesucht und entdeckt werden, bevor sie<br />

als «Erzählte Behinderung» (Gruntz-Stoll 2012) für Lektüre und Interpretation<br />

zugänglich sind.<br />

Behinderung und Literatur – zwei Begriffe umreissen ein weites Themenfeld<br />

und wecken eine Reihe von Fragen: Geht es um literarische Texte über Behinderung?<br />

Oder um Literatur von Menschen mit Behinderung? Oder um beides<br />

zugleich, wenn nämlich beispielsweise Autorinnen und Autoren mit Behinderung<br />

von eigenen Erfahrungen berichten? Gelten solche Erfahrungsberichte<br />

als literarische Texte? Und wie steht es neben dem Erzählen und Schreiben<br />

mit dem Lesen und Verstehen, mit dem Interpretieren und Inszenieren von<br />

Geschichten mit Behinderung? Für wen werden solche Texte verfasst und wie<br />

lassen sie sich verstehen? Hinter diesen Fragen stehen sowohl jene nach<br />

dem Verständnis von Behinderung und von Literatur, wie auch solche nach<br />

dem Verhältnis zwischen erzählten und erlebten Wirklichkeiten. Statt nun<br />

diese Fragen der Reihe nach und mehr oder weniger systematisch zu erör-<br />

6


Beiträge<br />

tern, habe ich mich dafür entschieden, einzelne Aspekte aufzugreifen und jeweils in<br />

einem Abschnitt zur Sprache zu bringen. Die Überlegungen bewegen sich dabei zwar<br />

im angesprochenen Themenfeld von Behinderung und Literatur, reflektieren aber<br />

zugleich meinen ganz persönlichen Blick auf diese Themen und setzen nicht mehr<br />

und nicht weniger als ein paar Wegmarken im abgesteckten Feld.<br />

«Erzählte Behinderung»<br />

Literarische Texte, in denen über Erfahrungen mit Behinderung berichtet wird, sind in<br />

aller Regel nicht als solche gekennzeichnet: Zwar gibt es vereinzelt Erzählungen und<br />

Romane, die bereits im Titel das Motiv ansprechen, aber mehrheitlich fehlen derartige<br />

Hinweise und erst die Lektüre eines Textes erschliesst mögliche Motivbezüge. Dabei<br />

können Behinderungen aus der Sicht von – tatsächlich oder bloss fiktiv – Betroffenen,<br />

deren Angehörigen, von Bezugs- oder anderen Personen geschildert werden, und die<br />

damit verbundenen Erfahrungen nehmen je nach Text mehr oder weniger Raum ein,<br />

sind je nachdem bloss marginal oder aber zentral für die Dramaturgie der Erzählung,<br />

die ihrerseits eine bestimmte Form erhält. Diese Andeutungen verweisen einerseits<br />

auf den weiten Horizont, in welchem «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll<br />

u.a. 2013) anzutreffen sind, und lösen anderseits Fragen nach Methoden und Kriterien<br />

aus, mit deren Hilfe sich solche Texte recherchieren und interpretieren lassen.<br />

In einer breit angelegten Studie habe ich unter dem Titel «Erzählte Behinderung»<br />

(Gruntz-Stoll 2012) auf die Ergebnisse mehrjähriger Recherchen Bezug genommen:<br />

Die gleichnamige Datenbank mit zunächst 234 erfassten Texten bildet die Voraussetzung<br />

der Untersuchung, welche «Grundlagen und Beispiele narrativer Heilpädagogik»<br />

(ebd.) vermittelt und Vorarbeiten insbesondere von Christian Mürner (1990 ff.)<br />

sowie von Peter Radtke (1982), Hans-Jörg Uther (1981) und anderen berücksichtigt.<br />

Die recherchierten Texte werden in der Datenbank anhand von vierzig Schlagwörtern<br />

aus zehn Kategorien erschlossen. Inzwischen umfasst die Datenbank Angaben<br />

zu 432 literarischen Texten über Erfahrungen mit Behinderung und ist im Internet<br />

frei zugänglich – unter der Adresse www.erzaehltebehinderung.ch. Einmal abgesehen<br />

von der damit gegebenen Möglichkeit der Textsuche entlang von ausgewählten<br />

Schlagwörtern erlaubt die Datenbank verschiedene Lesarten, wie sie von Franco<br />

Moretti als «Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte» (Moretti 2009) beschrieben<br />

werden: Insbesondere die Unterscheidung der konventionellen Textlektüre im<br />

Sinne des «Close Reading» (ebd. 10) vom so genannten «Distant Reading» (ebd., S.<br />

7), welches literarische Texte als Objekte in einen Zeithorizont stellt und auf diese<br />

Weise einer quantitativen Analyse zugänglich macht, ermöglicht ungewohnte Blicke<br />

auf «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll u.a. 2013).<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 7


Beiträge<br />

Auf diese Weise lässt sich beispielsweise das Motiv des Autismus in literarischen<br />

Texten nicht nur in Bezug auf Erscheinungsjahre und Häufigkeiten untersuchen, sondern<br />

darüber hinaus in Bezug zu Erzählperspektiven, Textsorten oder Geschlecht der<br />

Autorin bzw. des Autors setzen. Allerdings bleibt diese Form der distanzierten Lektüre<br />

vergleichsweise abstrakt, so dass es sich lohnt, die Tiefenschärfe beim Lesen zu variieren<br />

– im Sinne des «Focused Reading» (Gruntz-Stoll 2012, S. 84 f.), wie ich diese<br />

Lesart bezeichne. Dabei lassen sich beispielsweise Textgruppen bilden wie jene mit<br />

ausgewählten Erzählungen und Romanen von Urs Faes, in denen über «Michi Bub»<br />

(Faes 1992) berichtet wird: Gleichermassen lohnend und faszinierend ist dabei zu<br />

erkunden, wie eine literarische Figur vom Autor als Person geschaffen, in verschiedenen<br />

Texten mehrperspektivisch gestaltet wird und dabei ein Eigenleben entwickelt.<br />

Hier lassen sich sowohl die einzelnen Texte wie auch die gesamte Textgruppe interpretieren<br />

und darüber hinaus zu Texten anderer Autorinnen und Autoren in Bezug setzen,<br />

in denen das Zusammenleben mit einem Knaben mit kognitiver Beeinträchtigung aus<br />

der Erfahrungsperspektive eines Bruders geschildert wird.<br />

Die bibliografische Datenbank «Erzählte Behinderung» (Gruntz-Stoll 2012) ermöglicht<br />

solche und eine Vielzahl weiterer Recherchen, Analysen und Interpretationen;<br />

Studierende am Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie ISP der Pädagogischen<br />

Hochschule FHNW haben in den letzten Jahren im Rahmen von Masterarbeiten derartige<br />

Untersuchungen angestellt, welche beispielweise das Motiv der Behinderung in<br />

europäischen Volksmärchen, die Beziehung zwischen behinderten und nicht-behinderten<br />

Geschwistern in autobiografischen Texten oder Entwicklung und Wandel der<br />

Darstellung von Personen mit Autismus über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten<br />

fokussieren. Dabei werden jeweils – ganz im Sinne des «Focused Reading» (ebd., S.<br />

84 f.) – nicht nur die einzelnen Romane, Autobiografien oder Märchen gelesen und<br />

gedeutet, sondern immer auch ganze Textgruppen in Betracht gezogen und berücksichtigt<br />

– im Sinne eines hermeneutischen Oszillierens zwischen Teil und Ganzem<br />

bzw. zwischen Einzeltext und Textkorpus: Zwar sind die Möglichkeiten der Auseinandersetzung<br />

mit Behinderung und Literatur unter diesen Voraussetzungen nicht grenzenlos,<br />

aber doch weit gespannt und noch lange nicht ausgeschöpft.<br />

«Aus Geschichten lernen»<br />

Mit Blick auf die Fülle recherchierter «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll<br />

u.a. 2013) und die Bandbreite möglicher Lesarten und Textinterpretationen stellt<br />

sich die Frage nach dem Sinn derartiger Recherchen und dem Gewinn, der von der<br />

Lektüre und Interpretation literarischer Texte zu erwarten ist. Bereits vor über drei<br />

8


Beiträge<br />

Jahrzehnten haben Dieter Baacke und Theodor Schulze mit Blick auf das Verhältnis<br />

von Pädagogik und Literatur über Möglichkeiten zur «Einübung pädagogischen Verstehens»<br />

(Baacke u.a. 1979) nachgedacht und dabei einerseits autobiografische Texte<br />

ins Auge gefasst sowie anderseits Entwicklungsromane berücksichtigt: Im Sinne einer<br />

Gegenbewegung, aber auch als Beitrag zur Ergänzung und Erweiterung erziehungswissenschaftlicher<br />

Untersuchungen sollten literarische Texte als Quellen des pädagogischen<br />

Verstehens und Wissens erschlossen und genutzt werden. Der Buchtitel<br />

«Aus Geschichten lernen» (ebd.) war dabei gleichbedeutend mit dem Programm eines<br />

narrativen Zugangs zu pädagogischer Erkenntnis.<br />

Während sich erziehungswissenschaftliche Forschung in den siebziger Jahren des<br />

zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend quantitativer Methoden bedient und auf<br />

vergleichsweise objektive Verallgemeinerungen gezielt hat, ist eben dieser Paradigmenwechsel<br />

von einer eher geisteswissenschaftlich orientierten Pädagogik zu einer<br />

empirisch verfahrenden Erziehungswissenschaft zum Auslöser eines tiefen Unbehagens<br />

geworden: Bildung und Erziehung sind ja in erster Linie Erfahrungen von Individuen,<br />

haben also durchaus singulären Charakter und subjektive Qualitäten, selbst<br />

da, wo sie beispielsweise im Rahmen von Schulunterricht oder im Kontext von Erziehungsheimen<br />

institutionalisiert sind. Literarische Texte, in denen von Situationen<br />

und Prozessen der Bildung und Erziehung berichtet wird, vermitteln Einblicke sowohl<br />

in deren vergleichsweise objektive Bedingungen wie auch in die darin gemachten subjektiven<br />

Erfahrungen. Damit stellen derartige Berichte und Erzählungen eine Brücke<br />

zwischen individuellem Erleben und generalisierter Erkenntnis dar und ermöglichen<br />

einen doppelten Lernzuwachs, der sich auf das Wissen um situative Gegebenheiten<br />

ebenso bezieht wie auf das Verstehen besonderer Erlebnisse.<br />

Was auf Erfahrungen mit Bildung und Erziehung zutrifft, gilt nicht weniger für die<br />

Auseinandersetzung mit Behinderung im Erleben von Betroffenen, deren Angehörigen<br />

und Bezugspersonen: Auch hier handelt es sich stets zuallererst um individuelle<br />

Erfahrungen in sozialen Kontexten. Wer Menschen mit Behinderung verstehen will,<br />

findet in den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen wohl Hinweise und<br />

Anhaltspunkte, doch deren Bedeutung für das Individuum bleibt stets fragwürdig; im<br />

Gegensatz dazu erschliessen literarische Texte modellhaft Einblicke, ermöglichen Einsichten<br />

in individuelles Erleben. Damit erweitern und vertiefen sie das Wissen über<br />

mögliche Erfahrungen von Menschen mit Behinderung.<br />

Zusätzlich zu dieser Form der Wissensvermittlung dienen «Geschichten mit Behinderung»<br />

(Gruntz-Stoll u.a. 2013) aber auch der «Einübung pädagogischen Verstehens»<br />

(Baacke u.a. 1979): Das Lesen und Verstehen eines literarischen Textes wird dabei zur<br />

Vorlage oder zum Übungsbeispiel für Situationen zwischenmenschlicher Begegnung;<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 9


Beiträge<br />

auch und gerade im – familiären wie institutionellen – Zusammenleben von Menschen<br />

mit und ohne Behinderung bildet das Entziffern von Lebenszeichen als «Spur<br />

des Anderen» (Lévinas 20075) und das Verstehen von Verhaltensweisen als Ausdruck<br />

individueller Lebensgeschichten die Voraussetzung für Entwicklung und Lernen, für<br />

Bildung und Erziehung. Diese anspruchsvollen Prozesse lassen sich anhand von literarischen<br />

Texten reflektieren, die entsprechenden Kompetenzen durch Lektüre und<br />

Interpretation von «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll u.a. 2013) fördern.<br />

Schliesslich verweise ich auf die Bedeutung literarischer Texte über Erfahrungen<br />

mit Behinderung für Betroffene: Auf der Suche nach der eigenen Identität spielen<br />

Geschichten eine entscheidende Rolle, denn sie schildern Möglichkeiten der Auseinandersetzung<br />

mit und Bewältigung von Lebensaufgaben. Literarische Figuren<br />

erhalten dabei die Bedeutung von Rollen oder Kostümen, die ich mir beim Lesen vorübergehend<br />

aneigne – probeweise und auf Zeit; dauerhaft übernehme ich nur jene<br />

Züge und Eigenschaften, welche ich in mein aktuelles Selbstbild integrieren kann.<br />

Dabei handelt es sich um einen lebenslangen Prozess der Aktualisierung und Integration,<br />

bei dem die Sprache und das Erzählen nicht nur Medium und Instrument, sondern<br />

immer auch Prozess und Produkt ausmachen. So gesehen kann die Begegnung<br />

mit literarischen Texten über Erfahrungen mit Behinderung Betroffene bei der Suche<br />

nach der eigenen Identität unterstützen, indem sie Erfahrungen zur Sprache bringen<br />

und Erlebtes erzählen.<br />

«Mein Geheimnis gehört mir»<br />

Für die Auseinandersetzung mit ‹Behinderung und Literatur› gibt es also verschiedene<br />

Motive und Interessen – einerseits das «Lernen aus Geschichten» (Baacke u.a.<br />

1979) sowohl mit Blick auf die Erweiterung des Wissens wie auch bezogen auf ein<br />

vertieftes Verstehen und anderseits Analyse und Interpretation von Texten, wie sie<br />

sich im Rahmen des Forschungsprojekts «Erzählte Behinderung» (Gruntz-Stoll 2012)<br />

in verschiedene Richtungen erschliessen und untersuchen lassen. Bei derart weitgespanntem<br />

und vielversprechendem Nutzen treten andere Dimensionen literarischer<br />

Texte – zumindest scheinbar und vorübergehend – in den Hintergrund: Erzählungen<br />

und Geschichten, Romane und Novellen bieten Leserinnen und Lesern zunächst vor<br />

allem Spannung und Unterhaltung, und ihre Lektüre erfolgt in erster Linie aus der Lust<br />

am Lesen und Erleben. Dies gilt auch für jene Anthologien, in denen «Geschichten<br />

mit Behinderung» (Gruntz-Stoll u.a. 2013) von verschiedenen Autorinnen und Autoren<br />

versammelt sind: Neben den deklarierten Absichten der Herausgeber, mit der Textsammlung<br />

einen Beitrag zur Beachtung, zur Wahrnehmung und zum Verständnis der<br />

10


Beiträge<br />

Lebenssituationen von Menschen mit Behinderung zu leisten, steht bei jeder der insgesamt<br />

vier deutschsprachigen Geschichtensammlungen, welche zwischen 1970 und<br />

heute erschienen sind, das Interesse an literarischen Texten im Vordergrund.<br />

So hat die Schweizer Vereinigung Pro Infirmis vor über vierzig Jahren aus Anlass<br />

ihres fünfzigjährigen Bestehens unter dem Titel «Erfahrungen – Témoignage – Testimonianze»<br />

(Pro Infirmis 1970) Texte von vierzehn Autoren aus den verschiedenen<br />

Sprachregionen der Schweiz «zum Thema ‹Der Behinderte und seine Umwelt›»(ebd.)<br />

herausgegeben: Zwar verfolgt die Behindertenorganisation mit der Anthologie durchaus<br />

ein publizistisches und publikumsbezogenes Interesse, denn die Texte sollen «in<br />

der Bevölkerung Verständnis für die Probleme der Behinderten wecken» (ebd.); die<br />

beteiligten Autorinnen und Autoren hingegen erzählen ganz einfach Geschichten –<br />

Geschichten, die berühren und bewegen, begeistern und packen.<br />

«Erfahrungen – Témoignage – Testimonianze»<br />

14 Autoren zum Thema «Der Behinderte und seine Umwelt»<br />

Kurt Marti: Ja<br />

Peter Bichsel: Warum mir die Geschichte misslungen ist<br />

Walter M. Diggelmann: Die eigene Erfahrung<br />

Doris Morf: Den hat’s schön erwischt<br />

Jörg Steiner: Schnee bis in die Niederungen<br />

Herbert Meier: Verstummt<br />

Ernst P. Gerber: Martin<br />

Adolf Muschg: Statt einer Geschichte («Der Taubstumme»)<br />

Gérald Lucas: Deux extraits de «L’ Abcès»<br />

Corinna Bille: L’ enfant aveugle<br />

C-F. Landry: «Coupe du Monde»<br />

Felice Filippini: Al Dio del lavoro<br />

Mario Agliati: Visita ai ciechi<br />

Hendri Spescha: Nin<br />

Inhaltsübersicht «Erfahrungen – Témoignage – Testimonianze» (Pro Infirmis 1970)<br />

Nur wenige Jahre später erscheint unter dem Titel «Mein Geheimnis gehört mir»<br />

(Fischer 1974) eine Auswahl von Gedichten, Erzählungen und Romanpassagen,<br />

welche «Begegnungen mit <strong>Seelenpflege</strong>-bedürftigen Kindern und Erwachsenen»<br />

(ebd.) ermöglichen; der Herausgeber Bernhard Fischer weist in der Einführung zur<br />

Textsammlung darauf hin, dass Literatur ganz entscheidend zum Verständnis der<br />

Lebenssituation von Menschen mit Behinderung beitragen kann: «Hier habe ich mehr<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 11


Beiträge<br />

erfahren von dem Geheimnis, das diese Kinder auf ihrem Erdenwege begleitet. Der<br />

Dichter erinnert uns daran, den Menschen als Menschen nicht aus dem Auge zu verlieren.»<br />

(Ebd., S. 11) Die versammelten Texte und Textpassagen entstammen durchwegs<br />

der Weltliteratur, wobei deutschsprachige Autoren aus dem neunzehnten und<br />

zwanzigsten Jahrhundert einen Schwerpunkt bilden.<br />

«Mein Geheimnis gehört mir»<br />

Begegnungen mit <strong>Seelenpflege</strong>-bedürftigen Kindern und Erwachsenen in der Dichtung<br />

Theodor Storm: Wienke<br />

Adalbert Stifter: Ditha<br />

Gerhart Hauptmann: Tobias<br />

Herman Jülich: Glen<br />

Johannes Urzidil: Otti<br />

Juan Ramon Jiménez: Die kleine Hinkende<br />

Adalbert Stifter: Das kleine Mädchen mit dem grossen Haupte<br />

Johann Wolfgang von Goethe: Mignon<br />

Max Brod: Die Kinder in der Spornergasse<br />

Friedrich Doldinger: Ein Heldengeschlecht<br />

Conrad Ferdinand Meyer: Julian<br />

Franz Werfel: Junge Bettlerin an der Krücke<br />

Fedor M. Dostojewski: Lisaweta<br />

Pearl S. Buck: Die kleine Närrin<br />

Dylan Thomas: Der Bruder des Regens<br />

Conrad Ferdinand Meyer: Allerbarmen<br />

Herman Melville: Pip<br />

Charles Dickens: Barnaby und der Rabe Grip<br />

Joachim Ringelnatz: Besuch in der Landes-Heilanstalt<br />

John Steinbeck: Lennie<br />

Christine Lavant: Du hast meine Sinne verrückt<br />

Carl Jacob Burckhardt: Färber Hans<br />

Nelly Sachs: Die Schwachsinnige<br />

Inhaltsübersicht «Mein Geheimnis gehört mir» (Fischer 1974)<br />

Knapp zwanzig Jahre später legt Jörg Grond eine weitere Anthologie mit literarischen<br />

Texten erzählter Behinderung vor: Ähnlich wie bei dem von Pro infirmis herausgegebenen<br />

Band werden dafür Autorinnen und Autoren um Beiträge angefragt, und wiederum<br />

ist ein Jubiläum Anlass für das Buchprojekt: Zur Feier des 100-jährigen Bestehens<br />

des «Friedheims Weinfelden 1892-1992» (Grond 1992) verfassen neunzehn Schweizer<br />

Autorinnen und Autoren insgesamt dreissig Texte «über Menschen mit Behinde-<br />

12


Beiträge<br />

rungen», welche unter dem Titel «Im Schatten des Apfelbaumes» (ebd.) veröffentlicht<br />

werden. Und wie Pro infirmis mit der 1970 erschienenen Anthologie «Erfahrungen –<br />

Témoignage – Testimonianze» (Pro infirmis 1970) verfolgt der Herausgeber Jörg Grond<br />

das Ziel, mit Hilfe literarischer Texte «Brücken zu schlagen zwischen Behinderten und<br />

ihren Angehörigen einerseits und der breiten Öffentlichkeit anderseits» (Grond 1992,<br />

S. 259), denn «Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen leiden oft mehr an<br />

der sozialen Ächtung durch die Nichtbehinderten als an der Behinderung selber. Sie<br />

leiden am Umstand, dass sie mitten unter uns und doch am Rande leben, in Sonderwelten<br />

ausgesondert, zu Sonderfällen gemacht und geworden.» (Ebd.)<br />

«Im Schatten des Apfelbaumes»<br />

Schweizerische Schriftstellerinnen und Schriftsteller schreiben über Menschen mit Behinderungen<br />

Romie Lie: All dies<br />

Elsbeth Schneider: Flaumfedern<br />

Adelheid Duvanel: Vogel friss oder stirb<br />

Adelheid Duvanel: Ein kleiner, leerer Kreis<br />

Helen Meier: Lichtempfindlich<br />

Elsbeth Schneider: So wie Du<br />

Marianne Ulrich: Menschen am Weltrand – Franz<br />

Marianne Ulrich: Menschen am Weltrand – Florian<br />

Marianne Ulrich: Menschen am Weltrand – Valentin<br />

Elsbeth Schneider: Keine Grenze<br />

Theres Roth-Hunkeler: Stammhalter<br />

Eveline Hasler: Mongoloides Kind<br />

Urs Faes: Michi Bub<br />

Ruth Keller: Zwei Kinder<br />

Kristin T. Schnider: Fremde Schwestern<br />

Elsbeth Schneider: Wenn Du weggehst<br />

Esther Spinner: ruedi<br />

Theo Candinas: Afin<br />

Elsbeth Schneider: König bist Du<br />

Emil Zopfi: Meine Schwester<br />

Ruth Keller: Mongoloid<br />

Martin Hamburger: Aussehen<br />

Heinrich Kuhn: Seltsame Übereinstimmung<br />

Elsbeth Schneider: Und Du Sonnenkind<br />

Verena Wyss: Edgar<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 13


Beiträge<br />

Maya Hostettler: Michaela<br />

Elsbeth Schneider: Immer wieder<br />

Heinrich Wiesner: Rico. Ein Bericht<br />

Ruth Keller: Kein Echo<br />

Hansjörg Schertenleib: Märklins Heilige Nacht<br />

Inhaltsübersicht «Im Schatten des Apfelbaumes» (Grond 1992)<br />

Die angeführten Anthologien machen deutlich: Es gibt im deutschen Sprachraum eine<br />

Reihe von Textsammlungen, in denen Literatur und Behinderung zusammen kommen;<br />

dass zwei der drei erwähnten Sammelbände schweizerischen Ursprungs sind, mag<br />

ein blosser Zufall sein. Für Christian Mürner und mich war dies jedenfalls der Anstoss,<br />

die vergleichsweise junge Tradition mit einer aktuellen Anthologie weiterzuführen: Vor<br />

zwei Jahren haben wir denn auch Autorinnen und Autoren aus der Deutschschweiz<br />

zur Mitarbeit an der Textsammlung eingeladen und innert Jahresfrist zwei Dutzend<br />

Beiträge erhalten.<br />

«Alles wie immer?»<br />

Geschichten mit Behinderung<br />

Jürg Acklin: Hoppla!<br />

Gabrielle Alioth: Goldfisch<br />

Erica Brühlmann-Jecklin: Wädi. Eine Kinderzeit lang. Ein Leben lang<br />

Theo Candinas: Was einer ist, was einer war …<br />

Monica Cantieni: Toast<br />

Urs Faes: Michael Konrad<br />

Catalin Dorian Florescu: Wunderzeit<br />

Eleonore Frey: Schau mich an<br />

Christian Haller: Der Vorort von Nirgendwo<br />

Franz Hohler: Theater HORA!<br />

Arthur Honegger: Der Kleine<br />

Bernhard Jundt: Juliennng<br />

Christoph Keller: Samsa hat SMA!<br />

Erwin Koch: «Meinsch es ernst?» Doris und Josef. Die Geschichte einer Liebe<br />

Tim Krohn: Arven. Fragment<br />

Charles Lewinsky: Ziegelstein<br />

Klaus Merz: Report<br />

Milena Moser: Alles oder nichts<br />

Adrian Naef: Hier werden sie recht bekommen<br />

14


«Die Geheimnisse» (1989) Aquarell-Wandbild im Humanushaus in Beitenwil<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 15


Beiträge<br />

Maja Peter: Wie richtig<br />

Ralf Schlatter: Battine und dia Starnschnuppan<br />

Gerold Späth: Armin Salm<br />

Angelika Waldis: Mutter, wer bin ich<br />

Heinrich Wiesner: Sie war meine Nachbarin<br />

Verena Wyss: Schwarze Madonna<br />

Inhaltsübersicht «Alles wie immer?» (Gruntz-Stoll u.a. 2013)<br />

Im Unterschied zu den Vorgängeranthologien gab es für unser Buchprojekt weder<br />

einen festlichen Anlass noch eine gesellschaftspolitische Absicht: Sowohl Christian<br />

Mürner wie auch ich selber arbeiten seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />

im Themenfeld von Literatur und Behinderung und entwickeln – zunächst<br />

unabhängig voneinander, dann in wechselseitigem Austausch – das Konzept einer<br />

narrativen Heilpädagogik; in diesem Kontext haben wir auch die Idee einer aktuellen<br />

Textsammlung als gemeinsames Projekt formuliert und realisiert, so dass es inzwischen<br />

insgesamt gut neunzig «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll u.a. 2013)<br />

sind, welche die vier deutschsprachigen Anthologien umfassen. Es ist das Interesse<br />

an literarischen Texten, die Lust am Lesen, welche zur Auseinandersetzung mit den<br />

Geschichten der vier Textsammlungen anregt. Darüber hinaus ist jeder Text ein Beispiel<br />

dafür, dass und was sich «Aus Geschichten lernen» (Baacke u.a. 1979) lässt.<br />

Im Weitern bieten die neunzig Texte der Anthologien aus gut vierzig Jahren vielfältige<br />

Möglichkeiten exemplarischer Analyse und Interpretation im Sinne des «Focused Reading»<br />

(Gruntz-Stoll 2012, S. 84 f.).<br />

«In Geschichten verstrickt»<br />

Lesen und Lernen, Erkunden und Erforschen, Recherchieren und Interpretieren – das<br />

Spektrum der Auseinandersetzung mit literarischen Texten, in denen Erfahrungen<br />

mit Behinderung zur Sprache kommen, ist gross; doch woher rührt die Faszination,<br />

welche von derartigen Erzählungen, Romanen und Geschichten ausgeht? Nicht nur<br />

bei der eigenen Lektüre, sondern vor allem auch beim Vorlesen von Texten erzählter<br />

Behinderung habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Geschichten Zuhörerinnen<br />

und -hörer ganz anders anzusprechen vermögen als beispielsweise Abhandlungen<br />

oder Referate: Im Unterschied zu diesen Formen der Wissensvermittlung, die<br />

sich als vergleichsweise abstrakt und rational charakterisieren lassen, geht es in<br />

Geschichten um konkrete Erfahrungen, die mit Emotionen verbunden sind und schon<br />

daher auf Leserinnen oder Hörer unmittelbar wirken (vgl. Gruntz-Stoll 2008). Gerade<br />

16


Beiträge<br />

wo es um das Zusammenleben von Menschen geht, um Erfahrungen, die Menschen<br />

als Individuen in sozialen Zusammenhängen machen, greifen generalisierte Aussagen<br />

über empirisch gewonnene, quantifizierbare und in diesem Sinne wissenschaftlich<br />

gesicherte Sachverhalte meist zu kurz: Der einzelne Mensch foutiert sich im Zusammenleben<br />

mit andern Menschen um statistische Wahrscheinlichkeiten und verhält<br />

sich immer wieder unabhängig von berechneten Häufigkeiten und Regeln nach eigenen<br />

Gesetzen oder eben unberechenbar.<br />

Eben darum befinden sich Menschen immer wieder auf der Suche nach Möglichkeiten<br />

fürs eigene Denken und Handeln, fürs Verhalten und Verstehen anderer Menschen:<br />

Dabei werden Erfahrungen stets sprachlich verarbeitet, denn «Sein, das verstanden<br />

werden kann, ist Sprache» (Gadamer 1960, S. 450). Geschichten – auch und gerade<br />

solche aus dem Bereiche erzählter Behinderung – bieten dazu Vorlagen, zeigen Möglichkeiten<br />

des Erzählens und des Verstehens, denn «der einzige Zugang zu uns selbst<br />

erfolgt über die Geschichten, in die wir verstrickt sind. Der Zugang zu den andern Menschen<br />

über die Geschichten, in die sie verstrickt sind.» (Schapp 20044, S. 136) Es ist<br />

Wilhelm Schapp, der im Rahmen seiner «Philosophie der Geschichten» (Schapp 1981)<br />

die menschliche Lebenssituation mit den Worten umschrieben hat, dass Menschen<br />

immer und überall «in Geschichten verstrickt» (Schapp 2004) sind. Objektivierende<br />

Forschung, die sich auf beobacht- und berechenbare Quantitäten beschränkt, treibt<br />

erheblichen Aufwand, um eben diese Verstrickung zu vermeiden und bleibt doch stets<br />

«In Geschichten verstrickt» (ebd.), solange sie von Menschen betrieben wird. Literatur<br />

hingegen macht das Verstricktsein zum Thema, indem nicht nur Autorinnen und Autoren,<br />

sondern auch deren Figuren wechselseitige Beziehungen zueinander eingehen und<br />

gerade daraus den Stoff gewinnen, der aus fiktiven wie faktischen Erfahrungen gewoben<br />

ist. Dies gilt auch für «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll u.a. 2013), in<br />

denen es sowohl um erdachte wie auch um erlebte Wirklichkeiten geht, die allesamt<br />

im Horizont möglicher Erfahrungen angesiedelt sind: Hier können Leserinnen und Leser<br />

sich selbst und andere wiederfinden und können zugleich bei andern wie sich selbst<br />

unbekannte Züge und neue Möglichkeiten entdecken.<br />

Geschichten aber «müssen erzählt werden» (Marquard 2009, S. 60), denn «es gilt:<br />

Wir müssen erzählen, weil wir unsere Geschichten sind. » (ebd., S. 61) Odo Marquard<br />

knüpft an Wilhelm Schapps «Philosophie der Geschichten» (Schapp 1981) an und<br />

macht sich für «die Zukunft des Erzählens» (Marquard 2009) stark: «Narrare necesse<br />

est» (Marquard 2000) lautet denn auch die Botschaft, welche die Notwendigkeit des<br />

Erzählens betont – auch und gerade angesichts einer einseitigen Entwicklung von Wissenschaften,<br />

welche Verstrickungen weitgehend ausblenden und sich auch in Bezug<br />

auf Menschen und ihre Erfahrungen zunehmend auf Mess- und Zählbares beschränken.<br />

Die Verknüpfung der beiden Begriffe Literatur und Behinderung beinhaltet unter<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 17


Beiträge<br />

diesen Voraussetzungen auch eine Aufforderung – jene zum Lesen und Erzählen von<br />

Geschichten: Literarische Texte erweitern und vertiefen den Blick und das Verständnis<br />

für andere Menschen und deren Erfahrungen; damit ermöglichen und fördern sie – im<br />

Sinne von Fritz Breithaupt – «Kulturen der Empathie» (Breithaupt 2009).<br />

All dies gilt zweifellos auch für «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll u.a.<br />

2013); auch hier geht es darum, der «Spur des Anderen» (Lévinas 2007) zu folgen<br />

und das «Fremde (zu) lesen als das Eigene» (Koechlin u.a. 2013). Was dies bedeutet,<br />

zeigt Franz Hohler mit der Geschichte über einen Besuch des Theaters HORA: Aufgeführt<br />

werden «Faust 1 & 2» (Hohler 2013, S. 69) von Schauspielerinnen und -spielern<br />

mit unterschiedlichen Behinderungen; auch hier geht es also um Literatur und Behinderung,<br />

und der Autor erzählt von einzelnen Szenen, schildert Eindrücke und kommt<br />

zum Schluss: «Es ist unglaublich, wie blitzend ihre Augen geworden sind im Spiel,<br />

wie elegant ihre Hüften im Tanz, wie träumerisch ihre Gesichter in den Liebesszenen,<br />

wie leidenschaftlich ihre Bewegungen im Kampf, wie weit und gross ihre Stimmen im<br />

Gesang, es ist unglaublich und anrührend. Nach diesem Stück weiss ich wieder, was<br />

ich eigentlich schon lange weiss: ‹Der Mänsch isch schön!›» (Ebd. S. 70)<br />

Johannes Gruntz-Stoll, Prof. em. Dr. phil., geboren 1952 in Basel. Studium der<br />

Pädagogik, Philosophie und Ethnologie in Bern und Tübingen; 1986 Doktorat<br />

in Bern, 2000 Habilitation in Innsbruck; Lehrtätigkeit an den Universitäten<br />

Basel, Bern und Brixen.<br />

Forschungsschwerpunkte im Bereiche Erziehung und Literatur bzw. Erzählte<br />

Behinderung<br />

Literatur<br />

Baacke, Dieter & Schulze, Theodor (Hrsg.)(1979): Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen<br />

Verstehens. München (Juventa).<br />

Breithaupt, Fritz (2009): Kulturen der Empathie. Frankfurt (Suhrkamp).<br />

Faes, Urs (1992): Michi Bub. In: Grond, Jörg (1992) Im Schatten des Apfelbaumes. Frauenfeld (Huber).<br />

Faes, Urs (1994): Augenblicke im Paradies. Roman. Frankfurt (Suhrkamp).<br />

Faes, Urs (2000): Vom Lesen. In: Ders. u.a. (Hrsg.) Das Eigene und das Fremde. Festschrift für Urs<br />

Bitterli. Zürich (NZZ).<br />

Faes, Urs (2007): Liebesarchiv. Roman. Frankfurt (Suhrkamp).<br />

Fischer, Bernhard (Hrsg.)(1974): Mein Geheimnis gehört mir. Begegnungen mit <strong>Seelenpflege</strong>bedürftigen<br />

Kindern und Erwachsenen in der Dichtung. Stuttgart (Freies Geistesleben).<br />

Gadamer, Hans Georg (1960): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik.<br />

Tübingen (Mohr).<br />

18


Beiträge<br />

Grond, Jörg (Hrsg.)(1992): Im Schatten des Apfelbaums. Frauenfeld (Huber).<br />

Gruntz-Stoll, Johannes (2008): Vorlesen und Nachdenken. Aktuelle Themen und traditionelle<br />

Formen in der Vermittlung und Entwicklung heilpädagogischer Kompetenzen in Aus- und Weiterbildungsveranstaltungen.<br />

In: Biewer, Gottfried, Luciak, Mikael & Schwinge, Mirella (Hrsg.)(2008)<br />

Begegnung und Differenz: Menschen – Länder – Kulturen. Beiträge zur Heil- und Sonderpädagogik.<br />

Bad Heilbrunn (Klinkhardt).<br />

Gruntz-Stoll, Johannes (2012): Erzählte Behinderung. Grundlagen und Beispiele narrativer Heilpädagogik.<br />

Bern (Haupt).<br />

Gruntz-Stoll, Johannes & Mürner, Christian (Hrsg.)(2013): Alles wie immer. Geschichten mit Behinderung.<br />

Zürich (Chronos).<br />

Hohler, Franz (2013): Theater HORA! In: Gruntz-Stoll, Johannes & Mürner, Christian (Hrsg.) Alles wie<br />

immer? Geschichten mit Behinderung. Zürich (Chronos).<br />

Janett, Andri (2007): Behinderung in der Belletristik. Eine Auswahl ab 2000. In: Schweizerische Zeitschrift<br />

für Heilpädagogik. Jg. 2007. Nr. 7/8. Luzern (SZH).<br />

Koechlin, Annette & Gruntz-Stoll, Johannes (Hrsg.)(2013): Das Fremde lesen als das Eigene. Beiträge<br />

zur narrativen Heilpädagogik. Bern (Haupt).<br />

Lévinas, Emmanuel (1982; dt. 1983; 2007): Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie<br />

und Sozialphilosophie. Freiburg (Alber).<br />

Lüthi, Max (1966): Gebrechliche und Behinderte im Volksmärchen. In: Ders. (1970) Volksliteratur<br />

und Hochliteratur. Menschenbild – Thematik – Formstreben. Bern (Francke).<br />

Marquard, Odo (2000): Narrare necesse est. In: Die politische Meinung. Nr. 362/1.2000. S. 93-95.<br />

Marquard, Odo (2004): Die Philosophie der Geschichten und die Zukunft des Erzählens. In: Lembeck,<br />

Karl-Heinz (Hrsg.) Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm<br />

Schapps. Würzburg (Königshausen & Neumann).<br />

Moretti, Franco (2005; dt. 2009): Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte.<br />

Frankfurt (edition suhrkamp).<br />

Mürner, Christian (1990): Behinderung als Metapher. Pädagogik und Psychologie zwischen Wissenschaft<br />

und Kunst am Beispiel von Behinderten in der Literatur. Bern (Haupt).<br />

Mürner, Christian (Hrsg.)(1997): Das bucklige Männlein. Behinderte Menschen im Märchen zwischen<br />

Verherrlichung und Verniedlichung. Luzern (SZH).<br />

Mürner, Christian (2010): Erfundene Behinderungen. Bibliothek behinderter Figuren. Neu-Ulm (AG SPAK).<br />

Pro Infirmis (Hrsg.)(1970): Erfahrungen – Témoignage – Testimonianze. 14 Autoren zum Thema «Der<br />

Behinderte und seine Umwelt». Bern (Lukianos).<br />

Radtke, Peter (1982): Behinderte Menschen in Werken der Weltliteratur. Literatur – ein Abbild, das<br />

Wirklichkeit schafft. In: Kagelmann, H. Jürgen & Zimmermann, Rosmarie (Hrsg.) Massenmedien und<br />

Behinderte. Im besten Falle Mitleid? Weinheim (Beltz).<br />

Schapp, Wilhelm (1953; 2004): In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Frankfurt<br />

(Klostermann).<br />

Schapp, Wilhelm (1959; 1981): Philosophie der Geschichten. Frankfurt (Klostermann).<br />

Uther, Hans-Jörg (1981): Behinderte in populären Erzählungen. Studien zur historischen und vergleichenden<br />

Erzählforschung. Berlin (de Gruyter).<br />

Würtz, Hans (1931): Zerbrecht die Krücken. Krüppel-Probleme der Menschheit. Schicksalsstiefkinder<br />

aller Zeiten und Völker in Wort und Bild. Leipzig (Voss).<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 19


Seelische Notlagen bei Menschen mit kognitiven<br />

Beeinträchtigungen<br />

Über den Umgang mit «Doppeldiagnosen»<br />

Von Walter J. Dahlhaus<br />

Im November vergangenen Jahres fand eine Fachtagung der Fachverbände für<br />

Menschen mit Behinderungen in Kassel statt 1 , federführend unter der Leitung<br />

von Prof. Michael Seidel von den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel.<br />

Anliegen der Tagung war die Sorge um das Ausmass zusätzlich psychisch<br />

erkrankter seelenpflegebedürftiger Menschen und der erhebliche Mangel im<br />

Erkennen und Behandeln der hier betroffenen Menschen – Kinder, Jugendliche<br />

und vornehmlich Erwachsene, bei denen man den Begriff «Doppeldiagnose»<br />

verwendet.<br />

Der Begriff «Doppeldiagnosen» wird allgemein verstanden als das zusätzliche<br />

Auftreten einer psychischen Störung bzw. seelischen Erkrankung bei einer<br />

Person mit einer sogenannten geistigen Behinderung, also einer primären<br />

<strong>Seelenpflege</strong>bedürftigkeit (Dahlhaus 2011).<br />

Der Begriff der Diagnose meint hier die konkrete Umschreibung sowohl eines<br />

konstitutionellen Bildes als auch eines Krankheitsbildes mit dem Ziel, durch<br />

die tiefere Kenntnis dieser Bilder den Betroffenen adäquate Hilfe gewähren<br />

zu können. Der Begriff der Diagnose wird hier nicht als, wie gelegentlich geäussert,<br />

«Abstempeln» bzw. Stigmatisierung verstanden, sondern als Öffnung<br />

hin zu einem spezifischen therapeutischen Konzept.<br />

Eine aussagekräftige Studie über das Auftreten zusätzlicher seelischer Erkrankungen<br />

bei behinderten Menschen geht davon aus, dass bis zu 40% davon<br />

betroffen sind. D. h., ca. 40% der erwachsenen Bewohnerinnen und Bewohner<br />

sozialtherapeutischer Einrichtungen zeigen zusätzliche Zeichen einer konkreten<br />

psychiatrischen Erkrankung 2 . Dies wird differenziert in ca. 35 % der<br />

Betroffenen mit einer so definierten leichten Form einer geistigen Behinderung<br />

bis zu 45 % einer mittelgradigen bis schwersten geistigen Behinderung.<br />

Das ist eine grosse Zahl!<br />

20


Beiträge<br />

Im engeren Sinne kennen wir vor allem folgende konkreten psychiatrischen Erkrankungen:<br />

- Psychotische Erkrankungen,<br />

- Affektive Störungen (vor allem Manie und Depression),<br />

- Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen, hierzu zählen insb. auch die<br />

unterschiedlichen Formen einer posttraumatischen Belastungsstörung,<br />

- Borderline-Erkrankungen,<br />

- Zwangs- und Angststörungen,<br />

- Essstörungen,<br />

- Demenz.<br />

Es gelingt immer mehr, hinter den früher als «Verhaltensstörungen» negativ assoziierten<br />

Formen herausfordernden Verhaltens konkrete seelische Erkrankungen zu<br />

benennen und zunehmend adäquat zu behandeln. Ein Vorreiter im Erkennen und<br />

Beschreiben seelischer Erkrankungen bei behinderten Menschen, Anton Dosen<br />

beschreibt: «Im letzten Jahrzehnt wurde der grosse Rückstand der psychiatrischen<br />

Diagnostik und Behandlung von Menschen mit intellektueller Behinderung zum Teil<br />

aufgeholt. Während damals noch vor allem betont werden musste, dass Menschen<br />

mit einer intellektuellen Behinderung psychische Störungen – wie alle anderen Menschen<br />

auch – haben können, ist diese Tatsache heutzutage bekannt und weitgehend<br />

akzeptiert» (Dosen 2010).<br />

Eine wachsende Anzahl von Publikationen widmet sich dem Thema und konkretisiert<br />

die Besonderheiten von Diagnose und Therapie der Betroffenen (Schanze 2007; Lingg<br />

& Theunissen 2008).<br />

Eine wesentliche Gruppe der hier Betroffenen sind Bewohner mit selbst- und fremdaggressiven<br />

Verhaltensweisen, eben ausgeprägt herausforderndem Verhalten oder<br />

«Problemverhalten». Diese Bewohner fordern durch ihr Verhalten oft dichtere, Sicherheit<br />

vermittelnde Strukturen bzw. Beziehungen heraus (Heijkoop 2002).<br />

Immer mehr Untersuchende sehen gerade bei dieser Gruppe der betroffenen Menschen<br />

das komplexe Bild einer posttraumatischen Belastungsstörung.<br />

Als Ursache der besonderen Häufigkeit psychischer Störungen bei seelenpflegebedürftigen<br />

Menschen werden folgende Faktoren gesehen:<br />

- Unterschiedliche Formen von Hirnschädigungen, insbesondere einer frühkindlichen<br />

Hirnschädigung,<br />

- Erhebliche Beeinträchtigungen der psychosozialen Entwicklung,<br />

- Problematische biografische bzw. Sozialisationserfahrungen,<br />

- Stigmatisierung im äusseren Erscheinungsbild,<br />

- Verminderte Kompetenz für adäquates Coping (d. h. mangelnde Bewältigungsstrategien der<br />

eigenen Behinderung),<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 21


Beiträge<br />

- Genetische Bedingtheit (d. h. spezifische Belastungsfaktoren, z. B. bei Down-Syndrom,<br />

fragiles X-Syndrom, Smith-Magenis-Syndrom, Prader-Willy-Syndrom, Tuberöse Sklerose<br />

o.Ä. – auch als Verhaltensphänotyp beschrieben),<br />

- belastende Auswirkungen einer medikamentösen Behandlung im Sinne eines negativen<br />

Psychotropen Pharmakoeffekts.<br />

Im Weiteren sollen kurz konkrete psychiatrische Erkrankungen beschrieben werden.<br />

Psychosen/schizophrene Psychosen<br />

Die Schizophrenie kann als Urbild des psychotischen Krankheitsprozesses betrachtet<br />

werden. Die ganze menschliche Seele wird davon ergriffen – oft beginnend im<br />

Willensbereich mit einer tiefen Antriebsstörung, aufsteigend in den Gefühlsbereich<br />

mit erheblichen Gemütsschwankungen und heftigen Erregungen bis ins Denken mit<br />

ausgeprägter Beeinträchtigung in der Orientierung und verbunden mit den charakteristischen<br />

Denkveränderungen des Wahns und der Halluzinationen. Die Erkrankung<br />

erfasst den ganzen Menschen. In der Folge kommt es zu erheblichen Beeinträchtigungen<br />

der sozialen Lebensgestaltung. Die schizophrene Psychose stellt ein schweres<br />

Leiden dar – sowohl für den Betroffenen als auch für Angehörige und das Umfeld.<br />

Bedingt insbesondere durch hirnorganische Veränderungen und relativ häufige psychosoziale<br />

Belastungen in den frühen Entwicklungsjahren treten solche schweren<br />

psychotischen Zustände auch bei Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung<br />

relativ oft auf und stellen für sozialtherapeutische Einrichtungen eine grosse<br />

Herausforderung dar.<br />

Beispiel:<br />

Philipp S. 3 , ein seinerzeit 25-jähriger Mann, Z. n. Sauerstoffmangel unter der Geburt<br />

mit beeinträchtigter psychomotorischer Entwicklung. Herr S. zeigte sich von jeher still,<br />

gehemmt, nur sehr eingeschränkt kommunikativ. Dennoch ist er gut in Lebensbereich<br />

und Werkstatt der Einrichtung eingegliedert. Nach dem Auszug der Hauseltern – aus<br />

Rationalisierungsgründen wurde eine Nachtwache für mehrere Häuser gemeinsam<br />

eingerichtet – zeigt er sich über Monate verändert. Er zeigt sich noch stiller, magert<br />

ab, sein Blick wirkt angstvoll und zutiefst irritiert.<br />

Bei stark eingeschränkter sprachlicher Ausdrucksfähigkeit erfahren die Mitarbeitenden<br />

von ihm nach und nach: Er kann sich nachts nicht mehr in sein Bett legen, da – für<br />

sein Erleben – eine Flamme auf seinem Kopfkissen brennt; überdies erkennt er die<br />

Mitarbeitenden nicht mehr, wähnt sie als «böse Räuber».<br />

Es besteht eine paranoid-halluzinatorische schizophrene Psychose.<br />

22


«Die Schwelle» (1990) Aquarell-Wandbild auf einer Sichtbacksteinwand im Lehenhof<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 23


Beiträge<br />

Neben einer neuroleptischen Behandlung (Risperidon) mit dem Ziel der Angstberuhigung<br />

sowie der Minderung der Wahnhinhalte wird in der Einrichtung eine geschützte<br />

Wohnsituation geschaffen, die dem Bedürfnis nach Geborgenheit entspricht. Heileurythmie-Epochen<br />

(hier vor allem konsequentes Üben des Lautes E zur Kräftigung der<br />

Lebenskräfte) sowie eine Behandlung mit Hyoscyamus-Präparaten beruhigen die<br />

Situation langsam.<br />

Noch nach Jahren besteht eine verminderte Belastbarkeit und latente Ängstlichkeit. Die<br />

allopathische Medikation konnte bis auf eine kleine Restdosierung reduziert werden.<br />

Depression<br />

Es gibt unterschiedliche Formen depressiver Erkrankungen. Zum Teil treten sie in<br />

Phasen auf, die über Wochen bis Monate bestehen (Major-Depression bzw. endogene<br />

Depression). Als reaktive Depression beschreibt man eine anhaltende depressive Verstimmung,<br />

die als unmittelbare und anhaltende Folge eines belastenden Lebensereignisses<br />

auftritt. Dysthymie oder neurotische Depression, verbunden oft mit grosser<br />

Kränkbarkeit und verminderter Leistungsfähigkeit vor dem Hintergrund eines beeinträchtigten<br />

Selbstgefühls, kann sich lebensprägend auswirken.<br />

Als symptomatische Depressionen beschreiben wir depressive Stimmungslagen, die<br />

verschiedene innere Erkrankungen wie Krebserkrankung, Stoffwechselerkrankung,<br />

Schlaganfall, Herzerkrankung u. Ä. begleiten.<br />

Neben diesen auch als monopolare affektive Störungen beschriebenen Erkrankungen<br />

kennen wir bipolare affektive Störungen, wenn das Erscheinen einer Depression mit<br />

dem Auftreten manischer Phasen wechselt. Depressive Erkrankungen umfassen das<br />

Gesamt des Seelenlebens, beeinträchtigen Denk- bzw. kognitive Fähigkeiten, emotionale<br />

Seiten der Persönlichkeit sowie den Antrieb und die Aktivität.<br />

Beispiel:<br />

Julia G., 38 Jahre, Z. n. frühkindl. Hirnschädigung. Sie kommuniziert in 1-2 Wortsätzen.<br />

Seit Jahren zeigen sich wechselnde Stimmungslagen wobei die Amplitude der<br />

Schwankungen sich immer stärker ausprägt. Phasen von Tagen bis hin zu langen<br />

Wochen sind geprägt durch Wimmern, Weinen und Schreien; die Nächte sind stark<br />

beansprucht, sie zeigt tiefe Ringe um die Augen, hat wenig Appetit; sie erscheint<br />

schwer zugänglich, bei Aufforderungen treten zum Teil erhebliche fremd- sowie autoaggressive<br />

Verhaltensweisen auf. Ebenfalls besteht in diesen Phasen eine zunehmende<br />

Inkontinenz. Im Anschluss an solche Phasen treten Zeiten eines gesteigerten Antriebs<br />

und Mitteilungsdrangs auf, für eine Weile zeigt sie sich da spritzig und humorvoll bis<br />

24


Beiträge<br />

die Situation umschlägt in Unruhe bis spät in den Abend, verbunden mit wachsender<br />

Reizbarkeit und Verletzbarkeit. Nach diesen Phasen können Wochen eines relativen<br />

Ausgeglichen-Seins auftreten, allerdings mit leicht reduzierter Antriebslage im Sinne<br />

einer Erschöpfung.<br />

Die psychiatrische Diagnose beschreibt eine bipolare affektive Psychose mit den<br />

Polen der Depression und der Manie, mit einer anderen älteren Bezeichnung eine<br />

Zyklothymie. Nach der diagnostischen Klärung erfolgt zunächst ein medikamentöser<br />

Behandlungsversuch mit dem sogenannten Phasenprophylaktikum Lithium, nach<br />

über Monate ausbleibendem Behandlungserfolg wird auch Carbamazepin eingesetzt.<br />

Erst das Eindosieren des Neuroleptikums Quetiapin in höherer Dosierung lindert die<br />

Phasen deutlich.<br />

Im sozialtherapeutischen Rahmen erfolgt eine Begrenzung der Tätigkeit in der Werkstatt,<br />

der Arbeitstag beginnt um 10.00 Uhr, ein halber Tag ist ein Ruhetag, hier erfolgt<br />

ein Nährbad mit Nachruhe. Die Reduktion der Anforderungen scheint den verfügbaren<br />

Kräften angemessen. Ergänzende Medikation mit Aurum D 12. In der Heileurythmie<br />

werden vornehmlich seelische Übungen durchgeführt.<br />

Als ausdrücklich förderlich zeigt sich, dass die Mitarbeitenden die Verhaltensweisen<br />

nicht moralisch beurteilen, zunehmend den Krankheitswert hinter den Schwankungen<br />

sehen, neben der nun konsequent durchgeführten beschriebenen Struktur<br />

und Therapie.<br />

Angst- und Zwangsstörungen<br />

Jeder Mensch kennt Angst – Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer<br />

wieder veränderten Formen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tod – Angst<br />

gehört zu unserer menschlichen Existenz. Wir können an Angst wachsen, gerade<br />

auch, indem wir Mut, Hoffnung, Demut und Liebe entwickeln. Angst kann auch ein<br />

Wegweiser sein: Wenn wir uns ihr aufmerksam stellen und sie annehmen, bekommen<br />

wir mehr Zugang zu dem, was in uns nach Veränderung, nach Vertiefung sucht. So<br />

kann der offene Umgang mit eigenen Ängsten die Persönlichkeit stärken.<br />

Angst kann sich aber auch verselbständigen und das Leben eines Menschen zutiefst<br />

einengen. Es kann dann zu einem tiefen Leiden werden, das eine mögliche Erlebensfülle<br />

entscheidend trübt und überschattet. So sind Angststörungen die häufigste psychische<br />

Erkrankung überhaupt. Als Begleitung anderer seelischer Erkrankung, wie z.<br />

B. Depressionen oder Psychosen, aber auch als reine Angst als Phobie, als Angststörung<br />

oder auch in Form von Panikattacken.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 25


Beiträge<br />

Nahe verbunden der Angst sind die Zwangsstörungen, die unterschiedliche Ursachen<br />

haben. Dahinter kann eine Autismusspektrumstörung stehen, eine Psychose,<br />

Zwangsstörungen können aber auch ein ausgeprägtes Symptom sogenannter neurotischer<br />

Störungen sein, d. h. Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsreifung begleiten.<br />

Zwang ist praktisch immer auch mit Angst verbunden, Zwang versucht, Angst<br />

beherrschbar zu machen.<br />

Beispiel:<br />

Beate L. ist eine 29-jährige Bewohnerin mit einem Down-Syndrom. Im Haus der<br />

Bewohnerin kam es aus unterschiedlichen Gründen im Verlauf von zwei Jahren zu<br />

drei Todesfällen. Zunächst nur ganz verhalten, im Verlauf einiger Monate dann zunehmend,<br />

trat eine Zwangssymptomatik auf. Neben anfänglichen Ordnungszwängen in<br />

Bezug auf die Kleidung trat ein tickhaftes Verhalten auf mit ruckartigen Kopfbewegungen,<br />

dem Zwangsbedürfnis, bei der gemeinsamen Mahlzeit in Teller und Schüssel<br />

zu spucken, später grenzte sich der Bewegungsradius innerhalb der Einrichtung ein<br />

mit der Angst, über bestimmte Schwellen zu steigen. Im Zusammenhang mit einer<br />

Ausbreitung der Angstsymptomatik bis hin zu einer schweren Schlafstörung wurde<br />

eine zwangsmindernde antidepressive Therapie neben einer neuroleptischen Medikation<br />

eingerichtet. Insbesondere erhielt die Bewohnerin fast ausschliesslich eine<br />

Einzel-Betreuung, indem eine Betreuerin mit ihr die Mahlzeiten auf dem Zimmer im<br />

abgesonderten Bereich einnahm, sowie ein Mitarbeiter sie in einer einzelnen Werkstattsituation<br />

begleitete. Es wurde an dieser Stelle auch an eine stationäre Behandlung<br />

gedacht, in Ermangelung einer adäquaten Möglichkeit wurde eine heiminterne<br />

Lösung geschaffen, die durch die personelle Verdichtung Einschränkung in anderen<br />

Bereichen erbrachte, von der gesamten Einrichtung aber getragen wurde. Künstlerisch-therapeutisch<br />

wurde heileurythmisch gearbeitet, insbesondere aufrechtes<br />

Schreiten sowie die Laute G und I.<br />

In biografisch psychotherapeutischen Gesprächen wurden die Themen Sterben, Tod,<br />

Abschied behandelt. Nach ca. fünf Monaten dichter Begleitung konnte eine langsame<br />

Wiedereingliederung in kleinen Schritten in den Gruppenbereich und in den Werkstattbereich<br />

realisiert werden. Nach jetzt wenigen Jahren wird nur noch eine reduzierte<br />

allopathische Behandlung durchgeführt, ergänzt durch ein Goldpräparat und<br />

Johanniskraut. Es ist wieder eine weitgehende soziale Belastbarkeit erreicht. Eine<br />

gewisse Enge und ein erhöhtes Strukturbedürfnis bestehen noch, sie wirkt ernster<br />

aber auch gereifter.<br />

26


Beiträge<br />

Trauma/Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)<br />

«Unter einer traumatischen Erfahrung versteht man, dass die Situation überwältigend<br />

ist und dazu führt, dass man sich extrem ohnmächtig und hilflos fühlt. Ausserdem<br />

erlebt man Gefühle von Panik, Todesangst, Ekel» (Reddemann 2006).<br />

Neben schweren Formen einer Traumatisierung, insbesondere durch sexuelle Gewalt,<br />

äussere Gewalt, Kriegserlebnisse, Folter u. Ä. kennen wir auch den Bereich der emotionalen<br />

Traumatisierung, d. h. der schweren und erheblichen frühkindlichen Vernachlässigung<br />

und Deprivation.<br />

B. Senckel ergänzt dieses Spektrum durch spezifische Formen emotionaler Traumatisierung<br />

bei seelenpflegebedürftigen Menschen und fasst folgende Erfahrungen zusammen:<br />

- Der Mangel an grundlegender Annahme und Wertschätzung,<br />

- Sich wiederholende emotionale Verlassenheit und Trennung,<br />

- Abwertung, Zurücksetzung, Ausgrenzung,<br />

- Fremdbestimmung, Anpassungsdruck, Kontrolle,<br />

- Einschränkungen, Verweigerung der Selbstbestimmung (auch da, wo sie möglich wäre),<br />

- Perspektivlosigkeit (Senckel 2002)<br />

Hinter der vielfältigen Symptomatik, die Ausdruck einer posttraumatischen Belastungsstörung<br />

ist, finden sich neben Zeichen der Übererregung, wiederkehrenden<br />

überwältigenden Erinnerungen und Vermeidungsverhalten neben einer erheblichen<br />

Angstneigung, Formen einer sogenannten Dissoziation, d. h. einer schwerwiegenden<br />

Beeinträchtigung der leiblich- seelischen Integration.<br />

Wahrscheinlich müssen wir viele Kinder und insbesondere Erwachsene im Bereich der<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie vor diesem Hintergrund verstehen lernen.<br />

Beispiel:<br />

Bettina F. ist eine 35-jährige Bewohnerin einer Einrichtung. Mit grosser Wahrscheinlichkeit<br />

erlitt sie als Kind und Jugendliche sexuelle Gewalt im familiären Umfeld. In<br />

langjährig fürsorglicher heilpädagogischer und später sozialtherapeutischer Betreuung<br />

erwarb sie sich ein minimales Selbstvertrauen.<br />

Durch einen Übergriff eines Mitbewohners erlitt sie eine Retraumatisierung. Es traten<br />

dabei erhebliche Selbstverletzungstendenzen auf, indem sie sich den Arm mit einem<br />

Messer tief ritzte und Schrauben, Steine u. Ä. in die Wunde steckte. In der Exploration<br />

konnten ihre eingeschränkten sprachlichen Äusserungen dahingehend gedeutet<br />

werden, dass sie unter Flashbacks bzw. Intrusionen leidet (sich aufdrängenden Erinnerungen<br />

von traumatischen Erlebnissen), die jetzt zu Dissoziationen führen (schwere<br />

Lockerungen) und die Manipulationen geschehen, um ein Selbstgefühl wieder zu verstärken<br />

(«damit ich mich fühle»).<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 27


Beiträge<br />

Angelehnt an in der Trauma-Arbeit angewendete Imaginationsübungen (Reddemann<br />

2003) baute sie sich eine Kiste, in die sie bei aufkommenden «bösen Gedanken»<br />

(d. h. Ängsten in Zusammenhang mit Flasbacks) diese Gedanken deponieren konnte.<br />

Anfänglich musste die Massnahme verschiedentlich angepasst werden – seit Jahren<br />

treten keine Selbstverletzungen mehr auf.<br />

Ermöglicht wird diese therapeutische Intervention durch eine liebevoll-fürsorgliche<br />

Gruppen- sowie Werkstattführung, die das Grundbedürfnis eines verletzten Menschen<br />

nach seinem «sicheren Ort» – der sowohl in einer zwischenmenschlichen Beziehung<br />

wie im äusseren realen Ort realisiert werden muss – bietet.<br />

Weiterhin wird neuroleptisch behandelt, was die als tief bedrohlich erlebte Angst<br />

mildert. Durch kreatives Tun (vor allem Mandala-Malen) kann sie sich als gestaltend<br />

in der Welt erleben – was ein wesentliches Gegenbild zum Ausgeliefert-Sein des traumatisierten<br />

Menschen gesehen werden kann.<br />

Soweit einige Beispiele als Eindruck eines weiten und umfangreichen, aber hoch<br />

bedeutenden Spektrums.<br />

Der therapeutische Umgang in der Begleitung von Menschen mit Doppeldiagnosen<br />

stellt für alle Beteiligten eine grosse Herausforderung dar.<br />

Wichtig scheint mir die Zusammenarbeit mit einem psychiatrischen Facharzt, der über<br />

Kenntnisse einer differenzierten Psychopharmakotherapie verfügt. So sollte der verordnende<br />

Arzt über ein breites Wissen hinsichtlich der einsetzbaren Substanzgruppen<br />

verfügen, dabei sowohl das jeweilige Wirkspektrum kennen, als auch insbesondere<br />

sehr differenziert mögliche Nebenwirkungen erkennen können. Auch sollte er bei den<br />

betreuenden Heilpädagogen und Sozialtherapeutinnen den Blick für gewünschte und<br />

unerwünschte Wirkung eines Medikamentes schärfen helfen.<br />

Eine entsprechende allopathische Medikation spielt eine wichtige Ergänzung eines<br />

therapeutischen Rahmens dar, muss jedoch immer in ein differenziertes Gesamtkonzept<br />

eingebettet sein.<br />

Hier steht eine bewusst eingesetzte Beziehungsgestaltung im Mittelpunkt. Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie sind im Wesentlichen Beziehungsarbeit – in gesteigertem<br />

Masse im hier geschilderten Zusammenhang.<br />

Weiter bedarf es einer sozialen Struktur im Lebens- und Arbeitsbereich, die für den<br />

so Erkrankten hinreichend bewältigbar ist. Hilfreich ist hier der Ansatz, den Rudolf<br />

Steiner u. a. in einem Brief von 1915 erwähnt und der lautet, dass wir dem andern nur<br />

dann etwas sein können, wenn wir uns in seine Innenlage versetzen können (Steiner<br />

1987, zit. nach Grimm 2010, S. 28).<br />

28


Beiträge<br />

Neben der allopathischen Medikation, die vorrangig am jeweiligen Symptom ansetzt<br />

(und dadurch aber oft Beziehung und Zusammenarbeit mit dem Betroffenen überhaupt<br />

erst ermöglicht), stellt die vorrangig konstitutionsstärkend wirkende anthroposophische<br />

Medizin eine wichtige Wirkkomponente dar. Je nach Ansatz des<br />

behandelnden Arztes können hier auch homöopathische und phytotherapeutische<br />

Medikamente eingesetzt werden.<br />

Unverzichtbar in einem therapeutischen Gesamtkonzept ist Kunsttherapie. Hierzu<br />

zähle ich das breite Spektrum der Kunsttherapien, voran die Heileurythmie – Kunsttherapie<br />

bezeichne ich hier als Psychotherapie, da sie auch mit seelischen Mitteln<br />

bis in Struktur und Konstitution des Leibes wirkt – weiterhin auch die Gesprächspsychotherapie.<br />

Lange Zeit, als man noch von der klassischen Form der Psychotherapie ausgegangen<br />

ist, wurde diese als für nicht praktikabel in der Behandlung seelenpflegebedürftiger<br />

Menschen gesehen. Heute wissen wir zunehmend von differenzierten Formen von<br />

psychotherapeutischen Massnahmen. Diese Möglichkeiten sollten dringend weiter<br />

vertieft werden 4 .<br />

Gerade auch dies kann bedacht und berücksichtig werden: Psychotherapie ist – ob<br />

in Form von Kunsttherapie oder Gesprächstherapie – praktisch immer eine Einzel-<br />

Beziehung. Sie trägt das Urbild einer sicheren und Sicherheit gebenden Beziehung<br />

in sich und ist dadurch per se heilsam, wie auch Martin Buber es beschreibt: «In<br />

seinem Sein bestätigt will der Mensch durch den Menschen werden und will im Sein<br />

des Anderen eine Gegenwart haben. Die menschliche Person bedarf der Bestätigung,<br />

weil der Mensch als Mensch ihrer bedarf. Das Tier braucht nicht bestätigt werden,<br />

denn es ist, was es ist, unfraglich. Anders der Mensch: Aus dem Gattungsbereich der<br />

Natur ins Wagnis der einsamen Kategorie geschickt, von einem mitgeborenen Chaos<br />

umwittert, schaut er heimlich und scheu nach einem ja des Sein-Dürfens aus, das ihm<br />

nur von menschlicher Person zu menschlicher Person werden kann; einander reichen<br />

die Menschen das Himmelsbrot des Selbst-Sein.» (Buber 1953, S. 53)<br />

Somit will Therapie prinzipiell immer ein umfassender und ganzheitlicher Weg sein. Er<br />

gründet in der Haltung, dem Patienten (d. h. dem «Leidenden») gegenüber im achtungsvollen<br />

Umgang. Er umfasst Struktur und Setting der Umgebungsbedingungen, allopathische<br />

Medikation wie anthroposophische, homöopathische oder phytotherapeutische<br />

Medizin. Kunsttherapie und spezifische Psychotherapie komplettieren den Ansatz.<br />

Die jeweiligen Bedingungen und Möglichkeiten von Situation und Einrichtung erfordern<br />

gelegentlich ein pragmatisches Handeln – nur das Machbare kann gemacht<br />

werden. Dennoch sollten wir immer bemüht sein, jedweden Ansatz im Sinne und<br />

Dienste des Betroffenen wie seiner Umgebung zu verbessern und zu optimieren.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 29


Beiträge<br />

Rudolf Steiners wegweisende Hinweise in Bezug auf die Verbindung von Pädagogik<br />

und Behandlung wie Prophylaxe psychiatrischer Erkrankungen bedürfen weiterer<br />

Forschungsarbeit (Steiner 2000, S. 306). Sehr fruchtbare Ansätze für die Gestaltung<br />

eines hilfreich-therapeutischen Rahmens lassen sich hieraus ableiten und werden in<br />

vielen Einrichtungen praktiziert. Insbesondere können die Hinweise auf phasenspezifische<br />

Bedürfnisse hier hervorgehoben werden.<br />

Getragen wird jedweder diagnostische und therapeutische Ansatz von einem respektvollen<br />

Ansatz, in einer Erkrankung auch ein Verwirklichungsprinzip menschlichen<br />

Werdens zu sehen und von dem tiefen, in der Realität sich verwirklichenden Ansatz,<br />

hinter jedem Menschen – gleich welcher Konstitution bzw. von welchem Krankheitsbild<br />

geprägt und in der freien Persönlichkeitsgestaltung gehemmt – eine tief gesunde<br />

Individualität zu wissen und diese immer auch anzusprechen.<br />

Aber wir sprechen auch von einem grossen Leiden der Betroffenen – und einem grossen<br />

Leiden von Angehörigen und Mitarbeitenden an ihnen.<br />

Angesichts der grossen Zahl Betroffener (ca. ¼ bis ⅓ der Bewohnerinnen und<br />

Bewohner sozialtherapeutischer Einrichtungen) sollte der Themenkomplex «Doppeldiagnose»<br />

in Ausbildung und Fortbildung von Mitarbeitenden dringend verstärkt<br />

berücksichtigt werden.<br />

Das sind wir den betroffenen Menschen schuldig.<br />

Anmerkungen<br />

(1) «Psychische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung als praktische, konzeptionelle und<br />

sozialpolitische Herausforderung für die Behindertenhilfe», Fachtag der Fachverbände 15. Nov. 2013.<br />

(2) Zu finden in der Cooperstudie: Mental ill-healt in Adults with intellectual dis Abilities. In: British<br />

Journal of psychiatry 2007, 190, 27-35.<br />

(3) Die Namen sind jeweils geändert und verfremdet.<br />

(4) Siehe hierzu die Veröffentlichungen von Hans Peters: Psychotherapeutische Zugänge zu Menschen<br />

mit geistiger Behinderung im Verlag Klett-Cotta 1992 und Psychotherapie bei Menschen mit<br />

geistiger Behinderung, Verlag Tectum 2012. Ebenso in Sylvia Görres: Psychotherapie bei Menschen<br />

mit geistiger Behinderung, Verlag Klinkhardt 1992 und Cornelia Schrader: Mit den Augen die Seele<br />

bewegen im Lebenshilfe-Verlag 2012.<br />

Walter. J. Dahlhaus ist Heilpädagoge und Arzt für Psychiatrie / Psychotherapie.<br />

Niedergelassen in eigener Praxis in Merzhausen bei Freiburg,<br />

fachärztliche Mitbetreuung heilpädagogischer und sozialtherapeutischer<br />

Einrichtungen.<br />

30


Beiträge<br />

Literatur<br />

Buber, Martin (1953): Einsichten: Aus den Schriften gesammelt (9. Aufl.) Insel Verlag, Frankfurt/M.<br />

Dahlhaus, Walter J. (2011): Doppeldiagnosen. In: Punkt und Kreis. Ostern 2011, S. 8-13.<br />

Dosen, Anton (2010): Psychische Störungen, Verhaltensprobleme und intellektuelle Behinderung.<br />

Verlag Hogrefe, Göttingen.<br />

Heijkoop, Jacques (2002): Herausforderndes Verhalten von Menschen mit geistiger Behinderung.<br />

Verlag Beltz, Landsberg.<br />

Lingg, Albert; Theunissen, Georg (2008): Psychische Störungen und geistige Behinderungen. 5. Auflage<br />

Verlag Lambertus, Freiburg.<br />

Reddemann, Luise (2003): Imagination als heilende Kraft, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart.<br />

Reddemann, Luise (2006): Überlebenskunst. Verlag Klett-Cotta 2006, Stuttgart.<br />

Senkel, Barbara (2002): Senckel, Du bist ein weiter Baum, Verlag C. H. Beck, München.<br />

Schanze, Christian (2007): Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung.<br />

Verlag Schattauer, Stuttgart.<br />

Grimm, Rüdiger (2010): «…die dem physischen Körper zugrunde liegende Geistgestalt.» Rudolf Steiner<br />

über ‹Krüppelfürsorge› – Der Briefwechsel mit dem Biosophen und Tatdenker Willy Schlüter. In:<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong>, 2010-2, S. 26-42.<br />

Steiner, Rudolf (1976): Zur Entwicklung der Psychose. In: Geisteswissenschaft und Medizin (GA 312,<br />

Auflage 5). Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 31


Leben mit dem Kontext<br />

Begegnung mit Andreas Fischer<br />

von Sebastian Jüngel<br />

Andreas Fischer leitet seit 2006 die Höhere Fachschule für anthroposophische<br />

Heilpädagogik, Sozialpädagogik und Sozialtherapie (HFHS) in<br />

Dornach. Diese vermittelt mit derselben Selbstverständlichkeit anthroposophische<br />

Menschenkunde und «wissenschaftliche Heilpädagogik»,<br />

wie sie Fischer nennt. Mit beiden Ansätzen meint es die HFHS ernst: Wer<br />

den sozialen Prozess der künstlerischen Schulung nicht ernst nimmt,<br />

kann durchfallen. «Wir waren der erste Ausbildungsgang Sozialpädagogik<br />

HF, der in der Schweiz anerkannt wurde – grundsätzlich, nicht nur als<br />

anthroposophische Ausbildung», hält Andreas Fischer fest.<br />

Ein selbstverständlicher Partner im «System der Behindertenhilfe» zu<br />

sein, ist Anliegen von Andreas Fischer: «Die anthroposophische Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie muss sich in den Kontext stellen.» Der Kontext<br />

Schweiz ist traditionell humanistisch geprägt, in der Heilpädagogik besonders<br />

beeinflusst von Paul Moor («Nicht gegen den Fehler, sondern für das<br />

Fehlende») und Emil E. Kobi («Ein Kind ist normalerweise durch gestörte<br />

Verhältnisse störbar und wird dadurch in seinem Verhalten in störender<br />

Weise gestört»). Als praktischer Ansatz ist die anthroposophische Heilpädagogik<br />

jedoch seit jeher im Bildungs- und Sozialsystem integriert – die<br />

auf Initiative von Kinderpsychiater Jakob Lutz gegründete Sonnhalde war<br />

sogar schweizweit die erste Einrichtung für Menschen mit Autismus –, und<br />

das bedingt, staatlich beaufsichtigt zu sein, und berechtigt, öffentliche<br />

Gelder zu beziehen, was auch Absolventen einer anthroposophischen<br />

Ausbildung zu einem fairen Verdienst verhilft.<br />

32


Beiträge<br />

Gegenseitige Wahrnehmung und Austausch<br />

Andreas Fischer verstand früher selbst einmal seine Tätigkeit als die einer «Kulturinsel».<br />

Dadurch könne Sicherheit nach innen entwickelt und Substanz gehalten werden.<br />

Aber eben nicht auf Dauer: «Die Grenzen müssen durchlässig sein.» Als der 26-jährige<br />

Fischer nach einem Jahr Mitarbeit in einer anthroposophisch-heilpädagogischen<br />

Einrichtung in Järna zurück in die Schweiz als Schulleiter an ein anthroposophisches<br />

Sonderschulheim in Appenzell Ausserrhoden kam, glaubte er, die Welt neu erfinden<br />

zu müssen. «Ich wunderte mich, dass das niemand interessierte.» Fischer trat in den<br />

Turnverein ein und wirkte bei der Feuerwehr mit. «Mit meinem Interesse am Umfeld<br />

wuchs das Interesse des Umfeldes an dem, was wir taten.» Nach über 20-jähriger<br />

Tätigkeit dort übernahm Fischer von 1995 bis 2006 Verantwortung für den Verband<br />

für anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie Schweiz und pflegte weiter<br />

Andreas Fischer (Foto: M. Spalinger)<br />

den Dialog mit Kolleginnen und Kollegen ohne anthroposophischen Hintergrund.<br />

Brücken zu bauen zwischen «wissenschaftlicher» und «anthroposophischer» Heilpädagogik<br />

ist sein zentrales Anliegen, dabei gebildete Netzwerke werden bis heute<br />

gegenseitig genutzt, etwa wenn Fischer zu anderen Tagungen eingeladen wird oder an<br />

Universitäten wie Zürich und Fribourg anthroposophische Heilpädagogik lehrt.<br />

Verbunden damit ist die Aufgabe, über das anthroposophische Menschen- und Weltverständnis<br />

in nachvollziehbarer Weise zu sprechen, also statt anthroposophische<br />

Fachtermini zu benutzen, die von ihnen bezeichnete Phänomenologie zu beschreiben.<br />

Diese Fähigkeit verdankt Fischer nicht zuletzt seinem Ausbildungs- und Studienweg<br />

an öffentlichen Schulen und Universitäten, seiner anthroposophischen Ausbildung<br />

und Erfahrung sowie seiner ein anthroposophisches Thema aufgreifenden Promotion<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 33


Beiträge<br />

‹Zur Qualität der Beziehungsdienstleistung in Institutionen für Menschen mit Behinderun-gen›.<br />

Fischer nimmt Interesse an der anthroposophischen Perspektive wahr,<br />

etwa wenn er über basale Sinneserfahrungen und Verhaltensauffälligkeiten spricht<br />

und dabei ausführt, dass bei verhaltensauffälligen Kindern eher das Verhältnis zum<br />

Leib als ihr Verhalten gestört sei.<br />

Sorgen bereitet Fischer die schulische Heilpädagogik. Zum einen gibt es in der<br />

Schweiz keine auf Stufe Bachelor anerkannte anthroposophische Lehrerausbildung,<br />

zum anderen keine Möglichkeit, eine darauf aufbauende anthroposophische<br />

Ausbildung in schulischer Heilpädagogik auf Master-Stufe anzubieten; diese Ausbildungsgänge<br />

sind Universitäten und Fachhochschulen vorbehalten. «Es bleibt uns<br />

nichts anderes übrig, als uns beispielsweise mit Lehrveranstaltungen in Masterstudiengängen<br />

einzubringen und Studierende für das anthroposophische Menschenverständnis<br />

zu begeistern».<br />

Anthroposophie vermitteln, ohne sie überzustülpen<br />

Neben der Ausbildungsfrage sieht Fischer weitere Aufgabenfelder. «In einer Zeit von<br />

grossen Veränderungen und neuen Fragen müssen in Praxis und Ausbildung adäquate<br />

Antworten gefunden werden: Gefordert sind Sensibilität für das Ausklingen von alten<br />

und Mut im Finden von neuen Formen – beides immer mit Blick auf deren spirituellen<br />

Ursprung.» Eine weitere Herausforderung in der Praxis bestehe in der Spannung zwischen<br />

dem Bedürfnis nach Autonomie und der Notwendigkeit der Fürsorge. Ausserdem<br />

lebten in der multikulturell geprägten Schweiz in anthroposophischen Einrichtungen<br />

zunehmend Menschen aus verschiedenen kulturell-religiösen Hintergründen – bis zu<br />

80 Prozent der mehrfachbehinderten Kinder und Jugendlichen. Wie lässt sich angesichts<br />

der unterschiedlichen Wertvorstellungen Gemeinschaftsleben gestalten? Für die<br />

spätere Lebensphase sind Raum und Tätigkeiten für die über 60-Jährigen zu gestalten,<br />

von denen heute etwa zehnmal so viele wie vor gut 20 Jahren in den Einrichtungen leben.<br />

Die HFHS hat im Studienjahr <strong>2014</strong>/15 knapp 100 Studierende. Die Arbeit läuft gut,<br />

wird intern evaluiert und vom Kanton und Bund überprüft. Fischer freut sich aber vor<br />

allem, wenn Studierende rückmelden, dass sie sich freigelassen fühlen und sagen: «Das<br />

ermöglichte mir, einzusteigen. Ihr vermittelt Anthroposophie, ohne sie überzustülpen.»<br />

Zuweilen ist zu hören – und hier lässt Andreas Fischer einen gewissen Stolz erkennen<br />

–, dass jemand, der in der Ausbildung nicht gerade wegen seines anthroposophischen<br />

Interesses auffiel, nach einigen Jahren in einer anthroposophischen Einrichtung tätig ist.<br />

Sebastian Jüngel ist freier Autor und Redakteur der Wochenschrift «Das Goetheanum»<br />

34


«Christi Abstieg in die Unterwelt» (1987) Aquarell auf Karton (Vorstudie)<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 35


«Im Gelben erlebe ich Hoffnung»<br />

Das Forschungsprojekt «Musikalische Farblichtbewegungen»<br />

Von Maija Pietikäinen<br />

Einleitung<br />

In mehreren internationalen Forschungsstudien sind die günstigen Wirkungen<br />

von Licht, Farbe und Musik für das Wohlbefinden und für die Gesundheit des<br />

Menschen nachgewiesen worden. Es wurde beispielsweise festgestellt, dass<br />

Licht therapeutisch besonders bei der saisonalen Depression, aber auch bei<br />

verschiedenen physiologischen Prozessen oder präventiv bei einigen Autoimmun-Erkrankungen<br />

des Menschen wirksam ist. Vor allem bei den Farbtherapie-Experimenten<br />

in der Psychiatrie wurde die beruhigende und heilende<br />

Wirkung verschiedener Farben auf die Patienten wahrgenommen. Hier sind<br />

beispielsweise die positiven Resultate zu erwähnen, die in der gemeinsamen<br />

Studie der Filderklinik und der Universität Tübingen über die Wirkungen von<br />

rotem und blauem Licht (durch rote und blaue Gläser) auf die Herzratenvariabilität<br />

und die Atmung festgestellt werden konnten. Die Grundlage dazu bot<br />

die Metallfarblichttherapie, die Marianne Altmaier entwickelt hat.<br />

Das fünfjährige Forschungsprojekt «Brain and Music»(2008-2013) der Finnischen<br />

Akademie repräsentiert die aktuellen und interessanten multidisziplinären<br />

Ergebnisse über die rehabilitierende und heilende Wirkung der<br />

Musik auf die Gehirntätigkeit und auf das Gefühlsleben des Menschen. Die<br />

psychologische Forschung von Dr. Teppo Särkämö im erwähnten finnischen<br />

Projekt diente uns als Inspirationsquelle für unser Vorhaben. Seine Forschungsergebnisse<br />

spornen an, das Hören von Musik insbesondere nach<br />

dem Gehirninfarkt zur Rehabilitation anzuwenden. Sie zeigen, dass die Anregungen<br />

durch die Tonumgebung bei der Erholung nach dem Infarkt anhaltende<br />

plastische Veränderungen im Gehirn verursachen können. Zugleich hat<br />

er nachgewiesen, wie ein gesundes Areal im Gehirn durch die Musik für das<br />

geschädigte Gebiet die Situation kompensieren und verbessern kann.<br />

36


Beiträge<br />

Welche Resultate ergab dieses neue Forschungsprojekt, in dem das Licht, die Farbe,<br />

die Musik und die eurythmische Bewegung zusammengebracht wurden, obwohl die<br />

Forschungsmittel viel einfacher als im erwähnten Hightech und computerbasierten<br />

Musikprojekt waren?<br />

Hintergrund des Forschungsprojekts<br />

Rudolf Steiner wies 1920 in den Vorträgen des ersten Ärztekurses auf die bereits<br />

1908 entwickelte Farblichttherapie hin und betonte, dass dieses Heilverfahren<br />

etwas ist, was wohl in der Zukunft mehr berücksichtigt werden sollte, als es in der<br />

Vergangenheit immerhin schon an Beachtung gefunden hatte. Er schilderte in diesem<br />

Zusammenhang einerseits die «objektive Farblichttherapie» als direkte Wirkung des<br />

Lichtes und der Farbe auf die Organe, die wiederum vermittels des Umwegs über den<br />

Organismus auf das Ich des Menschen einwirken. Demgegenüber wird bei der «subjektiven<br />

Farblichttherapie» der Mensch in mit Farben ausgemalte Räume geführt, was<br />

eine direkte Wirkung auf das Ich ermöglicht. In diesem Zusammenhang hielt Steiner<br />

die Reihenfolge für wesentlich, indem man im Therapieprozess die Farben wechseln<br />

lässt, und er betonte beispielsweise die verschiedenen Wirkungen des Wechselrhythmus<br />

der blauen und roten Farbe.<br />

Diese Äusserungen erwecken Fragen, z.B. darüber, warum Steiner eben die besondere<br />

Bedeutung der Farblichttherapie in der Zukunft sah. Man kann vermuten, dass<br />

das mit der heutigen Überflutung der visuellen Kultur zusammenhängt, für deren Ausgleich<br />

ganz andere Mittel nötig sind. Diese Hinweise können schon als weitreichende<br />

Forschungshypothesen verstanden werden, die eine relevante Forschung mit adäquaten<br />

Mitteln fordern.<br />

Einige Ärzte interessierten sich für diese anfänglichen Impulse der Farbtherapie. Der<br />

deutsche Arzt Felix Peipers begann schon im Jahr 1908 dieses Heilverfahren bei den<br />

neurologischen und psychiatrischen Patienten mit Hilfe von blauen und roten Farbkammern<br />

in Zusammenarbeit mit Steiner zu verwirklichen. Um das Jahr 1950 entwickelte<br />

wiederum Dr. Karl König in Schottland zusammen mit dem Maler Carlo Pietzner aufgrund<br />

der Hinweise von Steiner die Farb-Licht-Therapie 1 für Kinder und Jugendliche mit<br />

Behinderungen, deren Gehirn in den motorischen Zentren geschädigt war. Dabei handelte<br />

es sich vor allem um Kinder mit spastischen Beeinträchtigungen oder Anfallserkrankungen.<br />

Karl König gewann seine Inspirationen bei der Entwicklung dieser Therapie<br />

von den Farbfenstern des ersten Goetheanums und Carlo Pietzner war fasziniert von<br />

den farbigen Schatten. Zur Umsetzung wurden grossformatige farbige Gläser und Musik<br />

angewendet, wozu die Eurythmistin Intervallbewegungen durchführte.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 37


Beiträge<br />

Als die schwedische Sängerin Valborg Werbeck-Svärdström Dr. Karl König in Aberdeen<br />

im Jahr 1951 besuchte, lernte sie die anfänglichen Farb-Licht-Therapieversuche<br />

kennen. Sie war davon so beeindruckt, dass sie begann, Musik dafür zu komponieren.<br />

So entstand die Komposition «Seelenwanderung. Licht- und Tontherapie», die sie<br />

gegen Ende der 1960er Jahre mit dem Musiker Jürgen Schriefer nochmals aufs neue<br />

bearbeitete. Er hat dieses Werk mit seinen kosmischen Dimensionen einen Anfang<br />

des neuen Oratoriums genannt.<br />

Zwei Schülerinnen von Valborg Werbeck-Svärdström, Dr. Ute Gerlach und die Heilpädagogin<br />

Helga Hammacher, führten seit den 1970er Jahren Experimente mit der Farb-<br />

Licht-Therapie im heilpädagogischen Heim «La Branche» in der Schweiz durch, die sie<br />

ergänzten mit der von Valborg Werbeck-Svärdström komponierten Musik. Nach Ute<br />

Gerlach konnten sie die günstigen Wirkungen vor allem bei Kindern mit cerebralen<br />

Bewegungsbeeinträchtigungen wahrnehmen.<br />

Die Farb-Licht-Therapie 2 , deren Anwendung und Entwicklung mit Dr. Karl König anfing,<br />

ist seit den 1950er Jahren in verschiedenster Weise in manchen heilpädagogischen<br />

Heimen in vielen europäischen Ländern und auch in den USA ausgeübt worden. Vor<br />

etwa zehn Jahren begannen die Farb-Licht-Therapeuten jährlich internationale Treffen<br />

zu arrangieren, bei denen Wahrnehmungen und Erfahrungen ausgetauscht und neue<br />

Konzepte und Programme für die Farb-Licht-Therapie entwickelt wurden. Das Verfahren<br />

kommt neben der Behandlung und Lockerung von Muskelkrämpfen bei Kindern<br />

mit Bewegungsbeeinträchtigungen auch bei Atemunregelmässigkeiten und für Kinder<br />

mit gestörter Wärmeregulation zum Tragen.<br />

Zweck des Projektes<br />

Das zweijährige Forschungsprojekt «Musikalische Farblichtbewegungen» wurde in<br />

den Jahren 2012-2013 in Zusammenarbeit mit dem Camphill-Heim Sylvia-koti in<br />

Lahti/Finnland durchgeführt. Zu der Forschungsgruppe gehörten in der Planungsphase<br />

zwei Ärzte und später als konsultierende Ärztin Jenny Josephson (England),<br />

der Kunsttherapeut Martin Gull und Dr. Maija Pietikäinen. Das Projekt wurde hauptsächlich<br />

von der finnischen Gyllenberg-Stiftung, aber auch von der Mahle- und Rudolf<br />

Hauschka-Stiftung finanziert.<br />

Als Probanden nahmen sieben Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen<br />

17 und 25 Jahren teil. Es wurden zwei achtwöchige Therapieperioden durchgeführt,<br />

in denen es um die Frage ging, wie die musikalischen Farblichtbewegungen, d.h. die<br />

Therapieganzheit der Farb-Licht-Therapie, Musik und Eurythmie auf die Tätigkeit des<br />

autonomen Nervensystems bei jungen Menschen wirken. Dies wurde durch die Parameter<br />

evaluiert, die den Zustand des autonomen Nervensystems spiegeln, wie die<br />

38


Beiträge<br />

Blutdruckwerte, die Herzfrequenzwerte und die physiotherapeutischen Messungen<br />

der Gelenkwinkel. Bei allen Teilnehmenden wurden die Blutdruckwerte und Herzfrequenzwerte<br />

vor und nach den Therapieperioden und auch vor und nach jedem<br />

Therapievorgang gemessen. Wegen der epileptischen Symptomatik standen bei vier<br />

Probanden morgens die Problematik beim Aufwachen und die Stimmungslage im<br />

Zentrum der Beobachtungen. Dazu wurden auch andere wichtige Wahrnehmungen im<br />

Verhalten dieser Teilnehmenden notiert.<br />

Als Musik wurde die «Licht- und Tontherapie» für vier Frauenstimmen und zwei Leiern<br />

von Valborg Werbeck-Svärdström angewendet, bei der nur mit Vokalen gesungen wird.<br />

Ergebnisse der Forschung<br />

Die Forschungsergebnisse geben kein völlig einheitliches Bild über die Wirkungen des<br />

Projekts auf die Jugendlichen, sondern es wurden individuelle Unterschiede festgestellt.<br />

Die Blutdruckparameter und teils die Herzfrequenzwerte in der Schwingungsweite<br />

und im Durchschnitt zeigen, dass der Therapieprozess jedoch eine stärkere<br />

Einwirkung auf den parasympathischen Teil des autonomen Nervensystems in beiden<br />

Therapieperioden hatte. So betont das Ergebnis die entspannende, beruhigende und<br />

genesende Funktion der parasympathischen Stimulation. Zwar wurde auch nachgewiesen,<br />

dass die Aktivierung des sympathischen Teils im autonomen Nervensystem<br />

bei einigen Jugendlichen zu bemerken war, was die Vitalität des Organismus stärkt<br />

und die Organfunktionen aktiviert. Kennzeichnend für diese Jugendlichen war ein<br />

durchschnittlich stärkerer Grad der Behinderung.<br />

Ausser bei einem Jugendlichen mit spastischen Symptomen wurde in der Beweglichkeit<br />

der Gelenkwinkel eine bedeutende Steigerung festgestellt, besonders in den<br />

Hüftgelenken und Schultergelenken. Diese Veränderungen betonen die entspannende<br />

Funktion der parasympathischen Stimulation auf die gespannten Muskeln,<br />

was deren Bewegungsweite steigert.<br />

Die Abnahme des erschwerten Aufwachens wurde in den systematischen Beobachtungen<br />

bei vier Jugendlichen mit epileptischen Symptomen besonders in der ersten<br />

Therapieperiode festgestellt. Die Schwankungsbreite war zwischen 1-43% in der<br />

ersten und zwischen 2-12% in der zweiten Periode. Auch wurde eine Zunahme von<br />

11% der positiven seelischen Stimmungen besonders bei einem Jugendlichen beobachtet,<br />

wobei die Veränderung in der ersten Therapieperiode 27% in die positive<br />

Richtung und in der zweiten 16% in die negative Richtung stattfand. Bei einem anderen<br />

Jugendlichen wurde auch beobachtet, dass die Unruhe beim Ausruhen nachmittags<br />

um 13% zurückging.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 39


Beiträge<br />

Ein bedeutendes, aber zugleich unerwartetes Beobachtungsresultat war eine offensichtliche<br />

Aktivierung der Sprachintention und des verbalen Kommunikationsbedarfes<br />

bei zwei Jugendlichen, die nicht sprechen können. Bei der Auswertung der<br />

Resultate wies Jenny Josephson darauf hin, dass Rudolf Steiner gerade über die<br />

Vokale als Erwecker der Sprache spricht. Deshalb hat man den Therapieprozess in der<br />

Eurythmie und in der Sprachtherapie weiter durchgeführt.<br />

Ausblick<br />

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die musikalischen Farblichtbewegungen<br />

eine betonte, aber keine alleinige Wirkung auf die Aktivierung und auf die Stimulation<br />

des parasympathischen Teils im autonomen Nervensystem hatten. Das Ergebnis<br />

hebt die entspannende, beruhigende und genesende Wirkung der Therapieganzheit auf<br />

die Organtätigkeiten und auf den Organismus hervor. Das Forschungsprojekt hatte auch<br />

Wirkung auf die Abnahme des problematischen Aufwachens und der Unruhe samt der<br />

Zunahme der positiven psychischen Stimmungen bei den Jugendlichen.<br />

Im Ganzen kann dieses Projekt neben den langen praktischen Erfahrungen und Wahrnehmungen<br />

als ein erster Schritt in der Forschung der Farb-Licht-Therapie gesehen<br />

werden. Es scheint lohnenswert, diesen therapeutischen Ansatz in seiner Wirksamkeit<br />

in weiteren Studien zu erforschen. Aus aktueller Sicht tritt aber als Frage auf,<br />

wie die Komplexität der therapeutischen Faktoren differenziert werden kann. Wenn<br />

in einer weiteren Forschung die Blutdruckwerte gemessen werden, ist zu empfehlen,<br />

dabei auch konsequenter zu berücksichtigen, dass eine Verzögerung bei deren Veränderungen<br />

charakteristisch ist.<br />

Das Projekt bietet auch Möglichkeiten zu gegenseitigem Austausch und zu weiterer<br />

Vernetzung auf dem Feld der anthroposophischen Therapie hinsichtlich dieser Therapieform,<br />

die so interessant, vielfältig und zukunftsweisend sein kann.<br />

Zum Abschluss nun noch das Zitat eines Jungen, der an dem Projekt teilgenommen<br />

hat und Folgendes über seine Farberlebnisse schreibt: «Blau ist der Beginn im Erreichen<br />

des Glücks. Wenn ich die orange Farbe sehe, habe ich das Gefühl, als ob ich an<br />

der Grenze des Himmels wäre, wo der Frieden waltet. Gelb gibt mir Vertrauen und<br />

Lebensfreude, im Gelben erlebe ich Hoffnung für meine Zukunft.»<br />

Anmerkungen<br />

(1) Wie in der Quelle zu sehen ist, nannte König diese Versuche Farben-Therapie.<br />

(2) Dafür gibt es auch einen Begriff Farb-Schatten-Therapie, aber heute wird stattdessen lieber um<br />

Farb-Licht-Therapie gesprochen.<br />

40


Beiträge<br />

Dr. Maija Pietikäinen, Lahti/Finnland. Studium der Sozialwissenschaften,<br />

Philosophie, Literatur, Pädagogik und Kunstgeschichte. Waldorfpädagogin<br />

und Gesangspädagogin. Zur Zeit tätig als freie Forscherin, Autorin für<br />

diverse Zeitschriften und Übersetzerin. Autorin der Biographie von Valborg<br />

Werbeck-Svärdström «Des Herzens Weltenschlag».<br />

Literatur<br />

Altmaier, Marianne (2010): Metallfarblichttherapie. Zur Forschung und Entwicklung einer neuen<br />

Therapie auf anthroposophischer Grundlage. Verlag Johannes M.Mayer & Co. Stuttgart.<br />

Altmaier, Marianne (2011): Zur Entwicklung der Metallfarblichttherapie 2001-2011. Lichtblick e.V.<br />

Glasatelier, Schwörstadt 2011.<br />

Gerlach, Ute (2008): Interview von Dr. Ute Gerlach 2.6.2008. Lübeck. (Interviewerin Maija Pietikäinen)<br />

Holick, MF (2004): Sunlight and vitamin D for bone heath and prevention of autoimmune diseases,<br />

cancers, and cardiovascular disease. The American journal of clinical nutrition VOL 80; S. 16785-88SS.<br />

Karjalainen, Rauli (2012): Musiikki sytyttää aivot (Die Musik zündet das Gehirn). Etelä-Suomen<br />

Sanomat 14.1.2012.<br />

König, Karl (o.J.): Grundlegende Bemerkungen zur Farben-Therapie gehirngeschädigter Kinder. Karl<br />

König Archiv, Camphill Schottland.<br />

Särkämö, Teppo (o.J.): Music in recovering brain. University of Helsinki. Faculty of Behavioural Sciences,<br />

Institute of Behavioural Sciences, Cognitive Brain Research Unit.<br />

Steiner, Rudolf (2000): Parantava kasvatus. Hoitopedagoginen kurssi. S. 43-46. Suomen lääkintäpedagoginen<br />

yhdistys ry. Helsinki. (Heilpädagogischer Kurs)<br />

Steiner, Rudolf (2001):: Geisteswissenschaft und Medizin (Erster Ärztekurs). Zwanzig Vorträge für<br />

Ärzte und Medizinstudierende (GA 312). Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />

Folgende Studien über die Wirkungen des Lichtes: Lewy, AJ; Kern, HA; Rosenthat, NE; Wehr, TA:<br />

Bright artifical light treatment of a manic-depressive patient with a seasonal mood cycle. Journal<br />

of Psychiatry VOL 139; S. 1496-1498 (1981)/Lewy, AJ; Sack, RL; Singer, CM; White, DM; Hoban,<br />

TM: Winter depression and the phase-shift hypothesis for bright light´s therapeutic effects: history<br />

and experimental evidence. Journal Biol Rhytms VOL 3; S. 121-134. (1988)/Brainard, GC; Sherry,<br />

D; Skwerer, RG; Waxler, M; Kelly, K; Rosenthal, NE: Effects of different wave lengths in seasonal<br />

disorder. Journal Affecktive Disorder VOL 29; S. 209-21 (1990)/Lee, TMC; Chan, CCH; Paterson, JG;<br />

Janzen, HL; Blashko, CA: Spectral properties of phototherapy for seasonal affective disorder: a metaanalysis.<br />

Acta America scandinavica VOL 96; S. 117-121 (1997).<br />

Dr. J.Vagedes; A.Steer-Reeh; Erste Forschungsergebnisse zur Wirkung von rotem und blauem Licht<br />

(durch rote und blaue Gläser gefärbtes Sonnenlicht) auf die Herzratenvariabilität und die Atmung.<br />

Filderklinik/Universität Tübingen. Im Werk von Marinne Altmaier (S.8)<br />

Tuning the Brain for Music. An international collaboration investigating the processing of music in<br />

the brain. Monitieteinen musiikin huippututkimusyksikkö. Suomen Akatemia. (Music Cognition<br />

Team/ Brain and Music Team)<br />

Informationen über Zerebralparese. www.bessersprechen.de<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 41


egüterte, hierarchische Welt, eine Familie mit<br />

bedeutenden Berufen, mit Dienstboten und<br />

scheinbar klaren Lebensverhältnissen, in der er<br />

seiner Abenteuerlust nachgehen, aber auch seine<br />

erwachende künstlerische Begabung entwickeln<br />

konnte. Die Brüchigkeit dieser Verhältnisse zeigte<br />

sich, als kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs<br />

sein Vater von der Gestapo als Jude verhaftet wurde<br />

und an den Folgen der Haft und Folter starb. Er<br />

verlor von da an all die früheren Bindungen und<br />

sozialen Beziehungen. Arlin erlebte sein Leben,<br />

wie er später schrieb, seitdem als «zwischen den<br />

Stühlen, weder Protestant noch Jude noch Atheist,<br />

weder Litauer noch Deutscher oder Franzose. Mein<br />

Leben lang sollte ich mich heimatlos fühlen».<br />

Eric Arlin 1995<br />

Eric Arlin<br />

25. Februar 1924 – 21. März <strong>2014</strong><br />

«Jetzt werde ich mir des zurückgelegten Weges<br />

bewusst, so wie man von ferne den Verlauf<br />

einer Bergstrasse bewundern kann, die<br />

man soeben befahren hat, ohne sich bisher<br />

die eindrucksvollen Steilabfälle, Tunnels und<br />

kühnen Brücken klargemacht zu haben. Welche<br />

kunstvollen Konstruktionen, um mir zu<br />

helfen, so viele Hindernisse zu überwinden»,<br />

schrieb Eric Arlin in seinem Rückblick auf ein<br />

reiches und erfülltes, von den Zeitereignissen<br />

tief geprägtes Leben, in dem sich ein<br />

starker Wille zur Selbstgestaltung ausdrückte.<br />

Eric Arlin wurde in eine «alte» Welt des litauischen<br />

Grossbürgertums hineingeboren, eine<br />

Arlin studierte Anfang der 40er Jahre an der Akademie<br />

der bildenden Künste und an der Kunstgewerbeschule<br />

in Königsberg, bevor er selbst verhaftet<br />

und in ein Lager in Ostpolen deportiert wurde.<br />

Von dort wurde er nach Frankreich verbracht, wo<br />

er Zwangsarbeit unter anderem in einem Bergwerk<br />

leisten musste. Durch Unterstützung der französischen<br />

Widerstandsbewegung konnte er schliesslich<br />

entfliehen und sich nach Paris durchschlagen,<br />

wo der 21-Jährige in den bewegten Nachkriegsjahren<br />

ein Durchkommen und die Verwirklichung<br />

seiner künstlerischen Ziele suchte.<br />

Der Erfolg als Grafiker blieb nicht aus. Zu gleicher<br />

Zeit begegnete Arlin der Anthroposophie, die<br />

ihn sofort bewegte und zu intensivem Studium<br />

veranlasste. Er wurde Schüler von Hilde Boos-<br />

Hamburger und kam mehrmals nach Dornach,<br />

wo er mit den führenden Anthroposophen der<br />

damaligen Zeit in Berührung kam. Wegweisend<br />

wurden die Begegnungen mit Werner Pache und<br />

Julia Bort, den Leitern des Sonnenhofs in Arlesheim.<br />

Sie führten dazu, den «klassischen Weg»<br />

eines Malers mit der Aussicht auf eine Professur<br />

in Paris aufzugeben und die Vertiefung der Anthroposophie<br />

in der Heilpädagogik zu suchen. Die<br />

Jahre dort mündeten in den Impuls, die anthroposophische<br />

Heilpädagogik wieder nach Frankreich<br />

zu bringen, denn die von Vala Berénce vor<br />

42


Gedenken<br />

dem Krieg begründeten Einrichtungen hatten<br />

ihre Arbeit aufgeben müssen und letztlich in<br />

der Schweiz einen neuen Standort gefunden.<br />

Die Geschichte von «Les Fontenottes», der von<br />

Eric Arlin und einigen Mitstreitern begründeten<br />

heilpädagogischen Einrichtung kann hier nicht<br />

im Detail erzählt werden. Auch sie ist eine Geschichte<br />

von Initiative, Widerständen und der<br />

Überwindung vieler Hindernisse. Zusammen<br />

mit seiner Frau Hélène und seiner Kollegenschaft<br />

entstand nicht nur eine vorbildliche anthroposophische<br />

Einrichtung für Heilpädagogik,<br />

sondern auch die Keimzelle für die später entstehenden<br />

weiteren Initiativen. Der Maler Eric<br />

Arlin wurde nicht nur Heilpädagoge, sondern<br />

war auch Initiativträger für die Zusammenarbeit<br />

der französischen Institute und die Begründung<br />

eines nationalen Verbandes für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie. Darüber hinaus war er seit<br />

jeher intensiv mit den Entwicklungen in den<br />

anderen Ländern, vor allem mit der Schweiz,<br />

vernetzt. Als Mitglied des «Arlesheimer Kreises»<br />

am Klinisch-Therapeutischen Institut, der von<br />

Ita Wegman begründeten Klinik, aus der auch<br />

der Sonnenhof hervorgegangen war, nahm er<br />

in den Nachkriegsjahren an den Treffen der hervorragenden<br />

Vertreter der Anthroposophie, die<br />

sich dem geistigen Strom Wegmans verbunden<br />

fühlten, teil.<br />

Arlin war auch Mitglied des «Internationalen<br />

Initiativkreises», dem Gremium, das den weltweiten<br />

Zusammenhalt der heilpädagogischen<br />

Initiativen pflegte und aus dem später die «Konferenz<br />

für Heilpädagogik und Sozialtherapie»<br />

entstanden ist. Auch ihr gehörte Eric Arlin viele<br />

Jahre, bis in die zweite Hälfte der 90er Jahre an.<br />

«Während all dieser Jahre war meine eigentliche<br />

Heimat in dieser Gruppe», schrieb er im Rückblick.<br />

Unkonventionell wie Arlin war, reiste er zu<br />

den verschiedenen Begegnungen und Tagungen<br />

mit dem eigenen Flugzeug an und nutzte die benachbarten<br />

Wiesen als Landeplatz.<br />

In alle den Jahren kam seine künstlerische<br />

Arbeit nicht zum Erliegen. In vielen anderen<br />

heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />

Einrichtungen und Gemeinschaften sind Werke<br />

von ihm zu finden. Er begriff seine Arbeit<br />

nicht nur als Ausdruck eines seigenen biografischen<br />

Willens, nicht nur als Bereicherung<br />

des Lebens anderer, sondern immer mehr als<br />

Mittel für gemeinschaftsbildende Aufgaben.<br />

Es entstanden – neun Jahre lang in intensiver<br />

Arbeit – grossformatige Wandmalereien oder<br />

Bilder an verschiedenen Orten. Sie erhielten<br />

ihre besondere Wirkung dadurch, dass Eric<br />

Arlin jeweils das Spezifische einer Menschengruppe,<br />

ihrem therapeutischen Auftrag und<br />

den Intentionen der Individualitäten gemäss<br />

zum Ausdruck zu bringen suchte.<br />

Die anthroposophische Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie und die anthroposophische<br />

Bewegung ganz allgemein haben Eric Arlin<br />

viel zu danken. Seine Biografie steht nicht<br />

nur für sich als erfülltes Leben, als Ringen mit<br />

den selbst gestellten und unvermutet hinzugekommenen<br />

Aufgaben, als immer währendes<br />

Suchen nach dem Eigentlichen. Es steht<br />

exemplarisch für eine Generation, deren tiefe<br />

Lebenserfahrungen, Erschütterungen und Herausforderungen<br />

in eine schöpferische Geste<br />

mündeten, deren Spuren die Basis für unser<br />

heutiges Handeln darstellen und zu Dankbarkeit<br />

und Bescheidenheit Anlass geben.<br />

Rüdiger Grimm<br />

Wir danken Mme Hélène Arlin und dem Möllmann-Verlag<br />

für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Bilder.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 43


44<br />

In meinem geheimen Garten» (1986) Aquarell auf Leinwand


Fünfzig Jahre Choroi Musikinstrumentenbau<br />

Von Hans Rainer Kühn<br />

Die Zeit zeigt, ob eine Initiative gut oder weniger<br />

gut gelungen ist. Und ob sie wirklich den Zeitgeist<br />

anspricht. Runde Jubiläen wie dieses laden<br />

dazu ein, sich diese Frage neu zu stellen.<br />

Jubiläen gab es schon einige bei Choroi – wir<br />

erinnern uns gut an das dreissigste, bei dem<br />

noch fast alle Pioniere der ersten Stunde dabei<br />

sein konnten, und das vierzigste, das Norbert<br />

Visser, der Gründer der Choroi-Bewegung,<br />

selbst nicht mehr erleben durfte, aber unterdessen<br />

bereits eine engagierte Gruppe von alten<br />

und neuen Mitarbeitern die Geschicke von<br />

Choroi tatkräftig weiterführte.<br />

Nun findet also tatsächlich das fünfzigste Jubiläum<br />

statt – ein halbes Jahrhundert auf einem<br />

besonderen musikalischen und sozialtherapeutischen<br />

Entwicklungsweg liegt hinter uns. Und noch<br />

immer liegen neue Aufgaben und Ziele vor uns.<br />

Dass es so lange erfolgreich lief, liegt sicher mit<br />

an dem besonderen Konstrukt dieser Institution<br />

‹Choroi› und an dem weitsichtigen, immer noch<br />

höchst aktuellen Konzept, das die Grundlage<br />

dieser Arbeit ist.<br />

Choroi wurde gegründet, um Raum für neue<br />

musikalische Ideen und Erkenntnisse zu schaffen,<br />

neue Instrumente zu kreieren, die diese<br />

Entwicklung unterstützen und gleichzeitig neue<br />

assoziative Formen der Teamarbeit in sozialtherapeutischen<br />

Zusammenhängen zu finden,<br />

auch über Landesgrenzen hinweg. Ein kleiner<br />

Vorgriff auf die Globalisierung sozusagen, ausgerichtet<br />

auf den Gedanken des gemeinsamen<br />

‹brüderlichen› Teilens und Handelns, bei dem<br />

der Mensch in der Mitte steht und das unser<br />

Arbeitsleben mehr denn je braucht.<br />

Am Anfang war der Ton<br />

Den Impuls zu dieser Entwicklung gab Anfang<br />

der 1960er Jahre der holländische Musiker und<br />

Komponist Norbert Visser. Schon in jungen Jahren<br />

bewegten ihn ‹neue Töne›, die über die bis<br />

dahin übliche Klangwelt hinausgingen.<br />

Angeregt durch Rudolf Steiners Angaben zur Musik<br />

und zum Instrumentenbau begann er eine intensive<br />

Forschung zum Wesen des Tons und des<br />

Musikalischen, deren Ergebnis in einer Reihe<br />

von Schriften, u.a. «Das Tongeheimnis der Materie»<br />

erörtert wurde. Daneben beschäftigte er sich<br />

bereits mit der Neuentwicklung von Instrumenten,<br />

zunächst im Geigen- und Leierbau.<br />

In der Zusammenarbeit mit dem holländischen<br />

Sozialreformer Bernard Lievegoed entstand<br />

schliesslich die Idee, neuartige Instrumente<br />

besonders für den pädagogischen Bereich zu<br />

entwickeln, die dann auch in ‹pädagogischen›<br />

bzw. sozialtherapeutischen Werkstätten gebaut<br />

werden sollten. Damit war ein dreifacher Impuls<br />

für die spätere Choroi-Instrumentenbau-<br />

Bewegung geboren: Musikerneuerung, die<br />

Entwicklung neuer Instrumente und Sozialtherapeutisch<br />

orientierter Instrumentenbau, der<br />

sozial benachteiligten Menschen die Möglichkeit<br />

geben soll, an diesen Erneuerungsimpulsen<br />

mitzuwirken.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 45


Beiträge<br />

Entwicklung ist das Ziel<br />

Die Idee fand sofort grossen Anklang bei Musikern<br />

und Pädagogen; erste Werkstätten wurden<br />

eingerichtet und es entstand 1964 die Stiftung<br />

‹Kind en Instrument›, die später in ‹Choroi Foundation›<br />

umbenannt wurde.<br />

Aus der Musikwelt, aus Schulen und Institutionen<br />

kamen auch sofort Anfragen und Anregungen<br />

für neue Instrumente: «Kann Choroi nicht<br />

kleinere Leiern für Kinder entwickeln, die trotzdem<br />

gut klingen?» «Die schulüblichen Blockflöten<br />

sind vom Klang zu statisch und nicht kindgerecht,<br />

wir brauchen ein ‹lebendiges› Instrument<br />

für Kinder!» «Wir brauchen Instrumente, die einfach<br />

zu spielen sind und die durch ihren besonderen<br />

Klang therapeutisch wirken...» Die Fülle<br />

dieser Fragen führte zur spontanen Inspiration<br />

und Imagination neuer Instrumentenkonzepte<br />

und in der Folge zu einer bis heute andauernden<br />

Entwicklung.<br />

Die Frage nach einer Flöte, die in ihrer Konzeption<br />

«wie eine Erweiterung des menschlichen<br />

Gesangs» wirken sollte, führte z.B. zur Entwicklung<br />

der offenen Choroiflöten und der Schulflöten,<br />

deren bekannteste Vertreterin wohl die<br />

Pentatonflöte ist, und von denen inzwischen<br />

hunderttausende in der ganzen Welt verbreitet<br />

sind. Dazu kamen die pentatonischen Kinderharfen<br />

und die Leierfamilie, deren klangliche<br />

und harmonische Qualitäten in der heutigen<br />

Zeit besonders wichtig sind, da sie eine therapeutisch<br />

ausgleichende Wirkung haben und<br />

den Menschen ‹zur Mitte führen› können.<br />

Schliesslich entstand eine ständig wachsende<br />

Schlaginstrumentenfamilie, die in breiter Vielfalt<br />

neue Klangqualitäten entdecken lässt.<br />

Klang der Zeit<br />

Choroi-Instrumente wollen eine Antwort sein<br />

auf – oft noch unbewusste – Hörbedürfnisse<br />

unserer Zeit. Jede Kulturepoche hat ihre besonderen<br />

Entwicklungsschwerpunkte und die<br />

Musik spiegelt das in entsprechender Weise<br />

wieder. Besonders deutlich ist die Beziehung:<br />

‹Architektur und Musik› – oder in unserer Zeit:<br />

‹Technik und Musik». Aus den anfänglichen,<br />

sehr obertönigen, nasalen Naturinstrumenten<br />

der frühen Menschheit entwickelten sich mit der<br />

Ausweitung der Architektur neue Instrumente,<br />

erst in der Renaissance erschuf man beispielsweise<br />

tiefere Melodie-Instrumente. Mit grösser<br />

werdenden Konzertsälen mussten Instrumente<br />

dann immer mehr an Tonumfang, Grösse, Lautstärke<br />

und Fülle gewinnen. Instrumente die hier<br />

nicht ‹mithalten› konnten, verschwanden und<br />

mit ihnen viele subtile Klangqualitäten.<br />

Erst im 20. Jahrhundert wurde den Menschen<br />

allmählich bewusst, wieviel inzwischen verloren<br />

war, es kam zu einer wahren Entdeckungswelle<br />

von Instrumenten ferner Länder und alter Zeiten.<br />

Aber das Rad lässt sich nicht einfach zurückdrehen,<br />

denn unsere Hörgewohnheiten und -erwartungen<br />

und unser Hörbewusstsein entwickeln<br />

sich weiter. Unsere Zeit fragt nach neuen Klängen.<br />

Eine Antwort darauf scheint die Welt der elektrisch-elektronischen<br />

Töne zu sein, die tatsächlich<br />

neuartig ist und zunächst zweifellos faszinieren<br />

kann. Je mehr man sich jedoch ernsthaft mit ihr<br />

beschäftigt, erlebt man, wie ‹seelenlos› der elektronisch<br />

erzeugte Klang tatsächlich ist, abgesehen<br />

davon, dass dem Musiker immer mehr die unmittelbare<br />

Gestaltungsmöglichkeit am Ton verloren<br />

geht, und dass dröhnende Lautstärke das viel intensivere<br />

‹Lauschen› ersetzt. Wer das – bewusst<br />

oder unbewusst – schliesslich ‹durchhört›, sucht<br />

nach anderen Tönen.<br />

Hier können die Choroi-Instrumente zu neuen<br />

Erfahrungen führen: Sie sind auf der einen<br />

Seite gerade für das ‹Hinhören› gebaut, für das<br />

Bewusstwerden subtilerer klanglicher, materieller<br />

und räumlicher Qualitäten. Auf der anderen<br />

Seite wird verstärkt an Instrumenten gearbeitet,<br />

die für jedermann/-frau/-kind überschaubar und<br />

einfach zu spielen sind, durch ihren besondern<br />

Klang überzeugen und einen freieren Umgang<br />

mit dem Thema ‹Musik machen› zulassen. Besonders<br />

für die gesunde Entwicklung von Kindern<br />

sind diese Aspekte heute immer wichtiger.<br />

Es würde den Rahmen sprengen, hier auf die<br />

baulichen Aspekte der Instrumente einzugehen.<br />

46


Beiträge<br />

Besondere Qualitäten sind vor allem der freie,<br />

‹räumliche› Ton, der durch besondere ‹Innenorgane›<br />

entsteht und die bewusste Balance von Polaritäten,<br />

wie z.B. rund – eckig, warm – lichthaft,<br />

die unter vielen Aspekten zur Wirkung kommen.<br />

Der praktische Alltag<br />

Montagmorgen in den Troxler-Haus Werkstätten,<br />

Wuppertal. Die Choroi-Werkstatt besteht seit<br />

Mitte der 1970er Jahre, früher als eigenständige<br />

Abteilung, inzwischen aus Gründen der Synergie<br />

mit der allgemeinen Schreinerei und der Möbelwerkstatt<br />

zur ‹HolzArt Manufaktur› vereinigt. Von<br />

den insgesamt über fünfzig Menschen mit Unterstützungsbedarf<br />

im Holzbereich arbeiten ca.<br />

zwanzig im Instrumentenbau, hier i.d.R. von zwei<br />

speziellen Fachanleitern und ein bis drei Hilfskräften<br />

und Ausbildungspraktikanten betreut.<br />

«Hallo Reinhold, kannst du bitte gleich noch die<br />

acht Kinderharfen besaiten? Eilige Bestellung,<br />

die morgen mit nach Holland muss.»<br />

«Na klar, mach ich, mach ich!» Reinhold W. reibt<br />

sich vergnügt die Hände, geht in den Stimmraum<br />

und ist ganz in seinem Element. Sein Spezialgebiet<br />

ist neben dem Feinschliff das Besaiten und<br />

Stimmen von Leiern und Harfen. Beim Besaiten<br />

hilft ihm eine junge Kollegin, die wie er, sehr<br />

musikbegeistert ist, der es jedoch aufgrund<br />

ihrer geistigen Behinderung nicht möglich ist,<br />

selbstständig zu arbeiten. Aber im Team mit<br />

Das Choroi-Sortiment<br />

Reinhold geht es, sie reicht ihm die Saiten, er<br />

korrigiert, wenn etwas nicht passen sollte. Beim<br />

anschliessenden Stimmen hört sie aufmerksam<br />

zu: Reinhold hat etwas, das sie auch gerne hätte<br />

(und wer nicht?): das absolute Gehör. Ohne jede<br />

technische Hilfe bringt er zielsicher und präzise<br />

jede Saite auf ihren Ton. Zwei bis dreimal wird so<br />

jedes Instrument durchgestimmt, bis es ‹stabil›<br />

ist und in die Endkontrolle und den Versand geht.<br />

Immer wieder taucht die Frage auf: Wie können<br />

Menschen mit Behinderungen so hochwertige<br />

Instrumente bauen, dazu noch mit soviel<br />

Handarbeit? Es geht, wenn man das Prinzip der<br />

Beim Stimmen der Leier<br />

Arbeitsteilung sinnvoll einsetzt. Wo dem Einzelnen<br />

bestimmte Arbeiten schwer fallen oder unmöglich<br />

sind, springen andere ein, die gerade<br />

das können; unterstützt von speziell ersonnenen<br />

Arbeitshilfen. Hier ist tägliche Kreativität<br />

der Teamleiter und viel Geduld bei den oft langen<br />

Lernprozessen angesagt. Wichtig ist stets<br />

die Frage: Was kann der Einzelne besonders<br />

gut? Welche Stärken sind da? Hier kann man<br />

manche Überraschung entdecken, vom technischen<br />

Genie bis zum absoluten Gehör. Eine<br />

Stärke kann aber auch im Sozialen liegen, und<br />

die besondere Atmosphäre, die Besucher in den<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 47


Beiträge<br />

Werkstätten immer wieder bemerken, hat sicher<br />

auch hier seine Ursache. Der Mensch steht im<br />

Mittelpunkt, und das ist gut so.<br />

Zum Konzept der Werkstatt gehört seit je, dass<br />

ein möglichst grosser Produktionszusammenhang<br />

für alle sichtbar wird. Angefangen vom Antransport<br />

der vorgesägten Baumstämme, dem<br />

fachgerechten Einlagern und Trocknen der Hölzer<br />

über den gesamten Fertigungslauf bis zum<br />

Verkauf und weltweiten Versand kann man alles<br />

direkt vor Ort miterleben. Anders als bei reiner<br />

Verpackungs- und Montagearbeit, den Eckpfeilern<br />

vieler Werkstätten, werden damit Grundzusammenhänge<br />

erkennbar bis hin zum ‹Global<br />

Playing›, da ein grosser Teil der Instrumente in<br />

eigener Regie weltweit exportiert wird. Nach den<br />

USA und Japan ist neuerdings China mit seiner<br />

wachsenden Waldorfbewegung ein interessanter<br />

Handelspartner. Letztentscheidend für den<br />

Erfolg ist dabei stets das wache Bewusstsein<br />

des Kunden für Qualität.<br />

Von Anfang an hat sich Choroi dieser Qualität<br />

verschrieben. Die Frage war nie: «Ist das schnell<br />

und einfach zu bauen und leicht zu verkaufen,<br />

sondern»: «Hat das Instrument das musikalische<br />

Potential und die Qualitäten, die wir – und<br />

hoffentlich die Kunden – wollen?» Es dauert<br />

meistens Jahre, bis ein neues Instrument aus<br />

einer Idee entwickelt und so ausgereift ist, dass<br />

es den akustischen und ästhetischen Anforderungen<br />

genügt. Auch der Aufbau einer Produktion<br />

stellt hohe Anforderungen an das Können<br />

der Teammitarbeiter. Oft muss man konventionelle<br />

Methoden beiseite lassen und völlig neue<br />

Wege gehen, damit die Herstellung im Rahmen<br />

unserer Werkstätten möglich wird: eigene Arbeitstechniken<br />

erfinden oder spezielle Maschinen<br />

und Vorrichtungen bauen. Dazu kommt die<br />

Mitorganisation von Verkauf und Promotion.<br />

Impuls und Gemeinschaft<br />

Hier trägt seit Jahrzehnten das besondere Konzept<br />

von Choroi: Für die beteiligten Werkstätten<br />

wird von der Choroi Association e.V. nach einer<br />

Anlaufzeit eine Produktionslizenz vergeben.<br />

Die damit verbundenen Kosten werden prozentual<br />

aus dem Umsatz der jeweiligen Werkstatt<br />

abgeführt und fliessen in das Budget der Association,<br />

das dann für zentrale Aufgaben, wie<br />

Marketing, Weiterbildung und Hilfestellungen<br />

verschiedener Art zur Verfügung steht.<br />

Besonders für neue Werkstätten besteht diese<br />

Hilfe meist in praktisch-fachlicher Assistenz<br />

durch erfahrene Kollegen aus anderen Werkstätten.<br />

Durch die Vielfalt der Produktionen,<br />

aber auch der einzelnen Talente, findet sich fast<br />

immer eine Lösung.<br />

Beratende Unterstützung ist auch zentrales<br />

Anliegen der regelmässigen Symposien der<br />

Werkstattleiter, des sogenannten Baurats, die<br />

bislang halbjährlich wechselnd in einer der<br />

Werkstätten stattfinden. Hier gibt es, neben<br />

fachlich-musikalisch-ökonomischen Themen auch<br />

die zwischenmenschliche Begegnung, die den<br />

Gesamtzusammenhalt über Jahrzehnte entscheidend<br />

mitgetragen hat.<br />

Zugleich werden Neuentwicklungen der einzelnen<br />

Werkstätten vorgestellt und das weitere<br />

Vorgehen besprochen. Diese Art der Zusammenarbeit<br />

hat beispiellos funktioniert, auch über<br />

Ländergrenzen hinweg. Mitentscheidend ist dabei,<br />

dass es keine Form des Konkurrenzkampfes<br />

wie sonst bei reinen Wirtschaftsunternehmen<br />

gibt (allenfalls eine eher sportlich verstandene),<br />

sondern dass die zu betreuenden Menschen<br />

Kern unserer Aufgabe sind. Der Instrumentenbau<br />

ist zwar Herzensangelegenheit – sonst sollte<br />

man es besser sein lassen –, aber letztlich<br />

Mittel zum Zweck. Wirtschaftliche Fragen, die<br />

es selbstverständlich gibt, konnten praktisch<br />

immer im brüderlichen Sinn der Dreigliederung<br />

gelöst werden.<br />

Zur Zeit gibt es zehn Choroi-Werkstätten in fünf<br />

Ländern. Die jüngste entstand vor wenigen Jahren<br />

in Tschechien. Ihre Grundlage: Einige musikalisch<br />

bewegte Menschen mit viel Idealismus<br />

und guten Ideen; ein altes, schwer sanierungsbedürftiges<br />

Dorfschulgebäude, kaum Finanzmittel,<br />

aber immenser Bedarf an Arbeitsmöglichkeiten<br />

für Menschen mit Unterstützungsbedarf.<br />

48


Beiträge<br />

Es gab über 600 Anfragen für acht mögliche<br />

Plätze. Staatliche Hilfen flossen spärlich und beschränkten<br />

sich eher auf Wohlwollen. Trotzdem<br />

gelang es auch hier, durch Mut, Initiative und<br />

die Solidargemeinschaft der Choroi-Werkstätten<br />

erste neue Arbeitsplätze für Menschen mit besonderen<br />

Bedürfnissen in einer unterversorgten<br />

Region zu schaffen.<br />

Ein Organismus entwickelt sich<br />

Auch das Wesen ‹Choroi› hat in den fünf Jahrzehnten<br />

eine deutliche Entwicklung gemacht.<br />

Bildeten in den anfänglichen Pionierjahren die<br />

Persönlichkeiten und Ideen der Gründerväter,<br />

N. Visser, B. Lievegoed und des wegweisenden<br />

Sozialtherapeuten Geert Mulder die Dreh- und<br />

Angelpunkte, so wurde Ende der 1980er Jahre<br />

eine neue Generation von Instrumentenbauern<br />

zunehmend aktiv. Die Notwendigkeit von neuen<br />

Arbeitsorganen und personenunabhängigen<br />

Organisationsstrukturen zeigte sich immer<br />

deutlicher, zumal alle Gründer schon in fortgeschrittenem<br />

Alter waren, und neue Arbeitsfelder<br />

ausgefüllt werden mussten.<br />

Der inzwischen stark gewachsene internationale<br />

Handel konnte nicht mehr dezentral aus kleinen<br />

lokalen Lagern versorgt werden und die bisherige<br />

Dachorganisation ‹Choroi Foundation› war als reine<br />

Stiftung nicht für praktische Organisationsabläufe<br />

geeignet. So entstand zunächst die ‹Choroi<br />

Association Ewiv› als neue Europäische Rechtsform,<br />

übrigens die erste gemeinnützige ‹Europäische<br />

wirtschaftliche Interessenvereinigung›<br />

in der gesamten EU. Ergänzt wurde sie durch ein<br />

‹Zentraldepot› im Troxler-Haus, das die weltweite<br />

Belieferung des Handels übernahm.<br />

2002 erfolgte eine weitere Umstrukturierung,<br />

um den Handel in externe Hände zu geben und<br />

damit den Vertrieb zu erweitern, verbunden mit<br />

einer geänderten Geschäftsführung mit deutlich<br />

grösseren Befugnissen. Das verlief leider nicht<br />

ganz reibungslos und führte zu einer Krise, die<br />

erst durch erneuten Wechsel der Geschäftsführung<br />

beigelegt werden konnte. Mit professioneller<br />

Beratung wurde die Association in einen e.V.<br />

überführt, dessen Mitglieder die Choroi-Werkstätten<br />

als juristische Personen sind. Daneben<br />

entstanden eine eigene Vertriebs-GmbH und<br />

verantwortliche Organe, wie z.B. der ‹Grundlagenausschuss›,<br />

der für Entwicklungs- und<br />

Qualitätsfragen zuständig ist, und in dem auch<br />

externe Musiker zu Wort kommen können.<br />

Natürlich sind mit jeder ‹Erfolgsstory› auch Risiken,<br />

Gefahren und besondere Anstrengungen<br />

verbunden, vom billigen Nachahmer – bisher<br />

meist aus den eigenen anthroposophischen<br />

Reihen – über allgemeine Rezession, ‹ewigtreue›<br />

Finanzfragen, bis zu den arbeitsintensiven<br />

Aufgaben von internationalem Handel und<br />

Kundenservice. Auch die Anforderungen in den<br />

Werkstätten sind überall gewachsen; knappe<br />

Personaldecke, bürokratischer Aufwand, der<br />

sich, gefühlt, alle sechs bis sieben Jahre verdoppelt<br />

und rückläufige staatliche Zuschüsse sind<br />

ein europaweites Problem. Oft gelingt es nur<br />

schwer, ein ausgeglichenes Wirtschaftsergebnis<br />

zu erreichen. Aufbauend auf fünfzig Jahren<br />

Erfahrung und bewährten weltweiten Kontakten<br />

mit Händlern und Musikern, entscheidend<br />

auch das Qualitätsbewusstsein der Kunden,<br />

schauen wir aber doch einigermassen optimistisch<br />

in die Zukunft.<br />

Die wartet schon mit neuen Aufgaben. In den<br />

meisten Werkstätten standen und stehen in<br />

diesen Jahren Generationswechsel an. Mit dem<br />

Ausscheiden von alterfahrenen Mitarbeitern<br />

hoffen wir natürlich gleichzeitig auf neue, junge<br />

Kollegen mit frischen Ideen und Impulsen für die<br />

Arbeit. Die interne Ausbildung wird in diesem<br />

Zusammenhang wieder neues Schwergewicht<br />

bekommen. Ein neues Konzept für einfache,<br />

aber qualitativ gute Instrumente für den Elementarbereich<br />

wartet ebenfalls auf Umsetzung.<br />

Und ein lange schon bewegter Wunsch ist die<br />

Einrichtung von Choroi-Werkstätten, z.B. in den<br />

USA und Japan und die Kooperation mit weiteren<br />

interessierten Partnern.<br />

Lassen wir die nächsten 50 Jahre beginnen…<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 49


Interview<br />

«Etwas in die Tat umzusetzen»<br />

Ruedi Wälchli im Interview mit Rita Crettaz und Cem Hamurabi<br />

Über 200 Menschen mit Behinderungen arbeiten europaweit in den verschiedenen Choroi-Werkstätten,<br />

und tragen somit die ganz wesentliche praktische Arbeit im organischen Arbeitszusammenhang des Teams.<br />

Exemplarisch stellen wir hier zwei Mitarbeitende aus der Werkstatt der Dorfgemeinschaft Humanus-Haus in<br />

Beitenwil/Schweiz vor. Rita Crettaz und Cem Hamurabi arbeiten seit mehreren Jahren im Choroi-Leierbau.<br />

Was hat euch bewogen, im Choroi-Leierbau zu arbeiten?<br />

Cem: Ich kam von der Schreinerei in den Leierbau. Ich arbeite hier, weil ich Erfahrungen im Bau von<br />

Leiern sammeln will. Die Leiern klingen schön, z.B. zwei Leiern im Zusammenspiel in einem Konzert.<br />

Rita: Ich spiele selber Musik und habe ein gutes Musikgehör. Nach zwanzig Jahren Weberei wechselte<br />

ich in den Leierbau. Nach dreizehn Jahren kenne ich den Bau der Leier. Ich mache gerne Feinarbeit.<br />

Die Eigenschaften des Holzes faszinieren mich. Früher arbeitete ich mit diesem Werkstoff in<br />

der Schreinerei von Mourne Grange (Nordirland). Diese Erfahrung bewog mich, wieder mit Holz zu<br />

arbeiten. Eben auf der Basis der Musik.<br />

Was geht euch bei dieser Arbeit leicht von der Hand und wo seid Ihr auf Unterstützung angewiesen?<br />

Cem: Die Instrumente spanne ich selber in der Hobelbank ein. Auch kann ich Fasen (schräge Kanten)<br />

selbständig feilen. Da ich nicht über die Linien feilen soll, brauche ich beim Feilen der Rundungen Hilfe.<br />

Rita: Achte ich auf die Vorgaben von Markus (Werkstattleiter), dann geht es gut voran. Ebenso bespreche<br />

ich mich mit ihm bei der Wahl der Werkzeuge und Hilfsmittel. Geht es darum, beim Fasen<br />

zwei Linien einzuhalten, wird dies für mich zur Geduldsprobe.<br />

Was bedeutet euch das Handwerk im Musikinstrumentenbau?<br />

Cem: Etwas in die Tat umzusetzen. Es bedeutet mir viel. Es ist schön zu sehen, wie die Leier Form annimmt.<br />

Ich staune, wenn sie zum Klingen kommt, weil dies ins Herz geht und etwas bewirkt. Auf das<br />

selber zustande Gebrachte bin ich stolz. Auf dem Instrument zu spielen, darin ist Harmonie und Klang.<br />

Rita: Der Moment in einer anderen Welt, die Wärme, die bei mir auf das Herz anspricht. Beim Stimmen<br />

höre ich die Schwankungen gut heraus. Das Handwerk macht mir Freude, weil ich für andere<br />

Leute etwas bauen kann, was ihnen gut tut.<br />

Wie erlebt ihr die Zusammenarbeit in der Belegschaft?<br />

Rita: Die Zusammenarbeit entspricht mir, weil diese sehr erbauend ist und mir entspricht. Die Gedanken<br />

sind positiv, was die Motivation für gemeinsame Aktivitäten fördert. Der Raum für kreatives<br />

Mitwirken wird mir gegeben.<br />

50


Interview<br />

Cem: Es ist toll mit dem Leierteam zusammen zu arbeiten. Wir helfen einander, z.B. beim Sommerfest<br />

und am Bazar. Mit Teamgeist erreicht man viel. Es wird ernsthaft gearbeitet, aber auch<br />

der Humor hat Platz.<br />

Rita, du spielst Leier. Wie hast du den Zugang zu diesem Instrument gefunden?<br />

Die Leier ist für mich ein Therapieinstrument, das mir hilft, innere Spannungen zu lösen. Ich<br />

spiele selber auch Leier im Einzelunterricht und im Dorforchester.<br />

Cem, als Sänger unterstützt du uns beim Singen im Morgenkreis. Wie erlebst du diesen Einstieg in<br />

die Arbeit?<br />

Sehr schön, dazu kann man eine zweite Stimme singen oder gar im Kanon. Ich erlebe dies als schönen<br />

Einstieg in die Arbeit.<br />

Welchen Bezug habt ihr zu der Choroi-Bewegung?<br />

Cem: Ich habe einen guten Bezug, weil ich beim Bau der Leiern mitwirke. Es ist interessant, wie die<br />

Harfe gebaut wird. Beim Lackieren haben die Instrumente einen schönen Farbton. Ich helfe auch<br />

beim Auffrischen der Choroi-Flöten und Handspiele.<br />

Rita: Choroi ist für mich wegen der Musik und dem Klang sehr wichtig. Choroi beinhaltet einen grossen<br />

Instrumentenbereich für die Therapien. Das Zusammenwirken der Werkstätten ist mir wichtig.<br />

Habt ihr Wünsche für die Werkstatt?<br />

Cem: Dass sie weiter erhalten bleibt und wir weiterhin als Team zusammenarbeiten können. Auch<br />

das Veranstalten von Konzerten soll weiterhin möglich sein.<br />

Rita: Ich wünsche mir, dass der Geist der Werkstatt erhalten bleibt und dass wir mit Instrumenten in<br />

anderen Formen experimentieren können. Auch, dass die kreativen Seiten verstärkt werden und wir<br />

bei entscheidenden Bauschritten dabei sein können.<br />

Cem: Alles Gute für die Werkstatt in der Zukunft. Ich freue mich wieder darauf, im neuen Jahr anzufangen.<br />

Aus dem Schwyzerdeutschen übertragen von Ruedi Wälchli.<br />

Rita Crettaz und Cem Hamurabi sind überzeugt von Choroi<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 51


Berichte<br />

Fünfzig Jahre Beaver Run<br />

Zusammengefasst von Jan Göschel<br />

Die Anfangsjahre<br />

Ursel Pietzner hat die Schulgemeinschaft Beaver<br />

Run (offizieller Name: Schulgemeinschaft «Camphill<br />

Special School») 1963 zusammen mit ihrem<br />

Mann Carlo im Auftrag von Karl König gegründet.<br />

Über diese Anfangszeit berichtet sie folgendes:<br />

Anfangs bestanden meine Aufgaben vor allem<br />

darin, das Scheckbuch zu führen und den offiziellen<br />

Schriftverkehr zu erledigen. Ich verwaltete<br />

also die Finanzen der Gemeinschaft und war<br />

Ansprechpartnerin und Sprecherin, die Beaver<br />

Run in den Beziehungen nach aussen vertrat.<br />

Später kamen dann die Aufnahmeprozesse<br />

dazu, sowohl für Kinder, die zu uns kommen<br />

wollten, als auch für Mitarbeitende. Da schon<br />

damals, wie auch heute noch, viele unserer Mitarbeiter<br />

aus dem Ausland kamen, fiel mir auch<br />

die Verantwortung für die Arbeit mit der Einwanderungsbehörde<br />

zu, also die Antragstellung für<br />

Visa, Aufenthaltsgenehmigungen und so weiter.<br />

Ich habe auch erwirken können, dass für junge<br />

Menschen in unserem heilpädagogischen Seminar<br />

Studentenvisa ausgestellt werden können.<br />

Widerstände und Herausforderungen ergaben<br />

sich oftmals dadurch, dass unsere Arbeit und<br />

Strukturen nicht so genau mit den allgemeinen<br />

rechtlichen Rahmenvorgaben übereinstimmten.<br />

Da ging es dann immer darum, Lösungen zu finden,<br />

die beiden Seiten gerecht werden. Oft fiel<br />

mir so die Aufgabe zu, für Beaver Run verschiedene<br />

Ausnahmeregelungen zu bewirken.<br />

Dann begann das Computerzeitalter – aber<br />

nicht für mich! Eine Zeitlang war ich in den 90er<br />

Jahren und auch zu Beginn des neuen Millenniums<br />

noch an den Aufnahmen neuer Mitarbeiter<br />

beteiligt. Dann kam aber der Zeitpunkt, mich<br />

auch von dieser Aufgabe zurückzuziehen.<br />

Eine der wichtigsten Aufgaben für die Zukunft<br />

von Beaver Run und für diejenigen, die jetzt<br />

in Leitungsfunktionen sind, wird es sein, Verantwortung<br />

weiterhin rechtzeitig an jüngere<br />

Mitarbeiter abzugeben. Verantwortung und<br />

Leitungsaufgaben sollten sich nie in einer Hand<br />

konzentrieren, sondern immer kollegial getragen<br />

werden. Dadurch lässt sich verhindern,<br />

dass Leitung zu Machtausübung wird. Ich sehe<br />

meine Aufgabe darin, die jüngere Generation,<br />

die jetzt die Verantwortung trägt, in ihren Ideen<br />

und Impulsen zu unterstützen, die durchaus<br />

auch anders sein können, als meine!<br />

Heutige Aufgaben sind erheblich komplexer<br />

Beim Rückblick des Leitungskreises auf die wesentlichen<br />

Themen der letzten Jahre zeigten sich<br />

zunächst einige Trends, die mit Entwicklungen<br />

im öffentlichen (Sonder-)Schulwesen im Zusammenhang<br />

stehen. Die nicht-programmatischen<br />

Anforderungen werden aufwendiger, gleichzeitig<br />

werden die finanziellen Mittel knapper. Hinzu<br />

kommt das immer stärker werdende politische<br />

Mandat zur (wenigstens räumlichen) Inklusion.<br />

Als privater Vertragspartner der öffentlichen<br />

Schulen spüren auch wir die Konsequenzen dieser<br />

Trends, die sich beispielsweise an den ansteigenden<br />

Zahlen der Tagesschüler gegenüber den<br />

abnehmenden der Heimschüler zeigen. Schüler,<br />

die einen Heimplatz bewilligt bekommen, haben<br />

heute deutlich komplexere Bedürfnisse. Und immer<br />

öfter müssen Eltern die Finanzierung für ihre<br />

Kinder auf dem Rechtsweg erkämpfen. Daher haben<br />

wir dieses Jahr die paradoxe Situation, dass<br />

wir zwar mehr Anfragen, Besuche und Anträge<br />

von Eltern auf Schulplätze haben als je zuvor,<br />

dass aber gleichzeitig im Januar noch nicht alle<br />

Klassen und Heimplätze belegt sind.<br />

Diese Situation erzeugt einerseits enormen<br />

Druck, sowohl finanziell als auch in Bezug auf<br />

den Verwaltungsaufwand. Andererseits lässt<br />

sich auch eine Herausforderung erkennen, in<br />

der Verwirklichung von Carlo Pietzners Idee<br />

des ‹Children’s Village› einen weiteren Schritt<br />

zu machen. In einem Vortrag am 30. November<br />

1977, wenige Tage vor dem vierzehnten Geburts-<br />

52


Berichte<br />

tag von Beaver Run sprach Carlo über die Gründungsidee<br />

als ‹Children’s Village›:<br />

«[The Children’s Village] would become a village<br />

for many people, not all of which would be working<br />

with and for children. But all of which would<br />

want to live in the vicinity of one another because<br />

of The Child, and because of each other. It was<br />

not to be a residential school. It was not meant to<br />

be a therapeutic community; although all of this<br />

would be incorporated as well. […] It would have<br />

certain areas in which it would be geographically<br />

and as a location strictly visible as a place, but it<br />

would be surrounded, loosely, by many other activities<br />

in the vicinity that would all together help<br />

to form the Children’s Village. […] It was to be a<br />

village for the child […], both physically, as well as<br />

within us.» (Carlo Pietzner, Unpublished Address<br />

to the Community, given on November 30, 1977 at<br />

Rainbow Hall, Beaver Run).<br />

Die Schulbusse, die sich zweimal täglich als<br />

lange gelbe Schlange den Hügel hochschieben,<br />

gehören vielleicht auch zu diesem Bild: Dass<br />

Beaver Run nicht mehr nur in Beaver Run ist,<br />

sondern viel stärker in seine geografische und<br />

gesellschaftliche Umgebung verwoben ist – als<br />

Gemeinschaft in konzentrischen Kreisen, als<br />

Schule, als Zentrum anthroposophischer Kultur,<br />

aber auch als gemeinnütziges Unternehmen,<br />

als Arbeitgeber und als Geschäftspartner.<br />

Dazu gehört ebenso die Mitgliedschaft zum<br />

Verband der Waldorfschulen in Nordamerika<br />

(AWSNA), das ‹Transition Program› für unsere<br />

18-21jährigen Schüler zur Vorbereitung auf das<br />

Erwachsenenleben und die ‹Camphill Academy›<br />

als Träger der heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />

Ausbildungen in Nordamerika.<br />

Für die kommenden Jahre sehen wir es als unsere<br />

Aufgabe, die Gründungsintuition von Beaver<br />

Run, die höchstens ansatzweise verwirklicht ist,<br />

imaginativ neu zu entfalten und aus ihr lebendige<br />

Leitbilder für die inzwischen sehr komplex<br />

gewordene Situation zu entwickeln. Das bedeutet<br />

auch eine Stärkung des Gemeinschaftsbildungsimpulses<br />

von Beaver Run gegenüber dem<br />

als professioneller Dienstleister aufgestellten<br />

Ein Blick auf das Schulgebäude der «Camphill Special School» (Foto: JG)<br />

Rechtsträger «Camphill Special School». Dazu<br />

gehört die praktische Orientierung an der sozialen<br />

Dreigliederung. Beaver Run sieht sich heute<br />

als eine Gemeinschaft, in der Lernen, Forschen,<br />

individuelle Entwicklung und Pflege der anthroposophischen<br />

Geisteswissenschaft einen hohen<br />

Stellenwert haben. Die Entwicklung des Einzelnen<br />

ist getragen von einem Zusammenleben,<br />

in dem die Familie als wahlverwandtschaftliche<br />

Gemeinschaft von Menschen, die aus freier Intention<br />

und Wärme ein gemeinsames Zuhause<br />

gestalten, im Mittelpunkt steht. Das wird dadurch<br />

möglich, dass wir als Lebensgemeinschaft<br />

die Verteilung unserer wirtschaftlichen und<br />

finanziellen Mittel von der Frage der Arbeitsleistung<br />

des einzelnen abkoppeln und uns am<br />

«sozialen Grundgesetz» orientieren, und dass<br />

wir unsere zentralen Entscheidungsprozesse<br />

kollegial tragen. Dieses sozialgestalterische Experiment<br />

weiterzuführen, ist uns ein zentrales<br />

Anliegen. Als Voraussetzung dafür sehen wir ein<br />

starkes Engagement für die Entwicklung eines<br />

engagierten und kompetenten Nachwuchses<br />

an Mitarbeitenden. Wir müssen aber auch angesichts<br />

der gegenwärtigen Herausforderungen<br />

wieder ein neues wirtschaftliches Gleichgewicht<br />

finden. Gelingt uns das, so können wir hoffentlich<br />

in den verschiedenen Aspekten unserer Tätigkeit<br />

zur Entwicklung zukunftsweisender Ideen<br />

und Modelle beitragen, deren Wirkung über das<br />

kleine Beaver Run hinaus in die Welt geht.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 53


Volker Frielingsdorf; Rüdiger<br />

Grimm; Brigitte Kaldenberg,<br />

Geschichte der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

Entwicklungslinien und Aufgabenfelder<br />

1920 -1980<br />

Verlag am Goetheanum &<br />

Athena Verlag Dornach 2013<br />

Edition Anthropos<br />

EUR: 45.- | CHF: 54,-<br />

Rezension: Angelika Gäch<br />

Neue Bücher<br />

Dieses ausführliche Fachbuch<br />

lässt wohl keinen Leser kalt,<br />

schildert es doch auf den über<br />

570 Seiten ausführlich und einprägsam<br />

wesentliche Aspekte<br />

der wechselvollen Schicksale<br />

des 20. Jahrhunderts. Je nach<br />

Geburtsjahr können ältere oder<br />

jüngere Lesende Abschnitte der<br />

eigenen Biografie wiederfinden.<br />

Und je nach Zeitabschnitt<br />

der behandelten sechs Dekaden<br />

von 1920 bis 1980 vermittelt<br />

die Darstellung sehr verschiedene<br />

Stimmungen von<br />

der Begeisterung der Pionierzeit,<br />

der Bedrängnis des NS-<br />

Regimes über den Wiederaufbau<br />

in der Nachkriegszeit bis zu den<br />

eigentlichen Nachdenklichkeits-<br />

Fragen der letzten geschilderten<br />

Jahre mit dem Ausblick auf künftige<br />

Aufgaben.<br />

Jedoch im Einzelnen:<br />

Die dem Buch vorangestellten<br />

Leitmotive von Pestalozzi, Goethe<br />

und Steiner umfassen die<br />

Jahre 1801 bis 1915 und weisen<br />

damit auf frühe Wurzeln hin.<br />

Absicht der Darstellung ist laut<br />

Einführung die «mehrfache Kontextualisierung<br />

der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik» im zeithistorischen<br />

und gesellschaftspolitischen<br />

Zusammenhang; unter<br />

Einbeziehung der Entwicklungen<br />

in der allgemeinen Heilpädagogik<br />

sowie auf dem Hintergrund<br />

der anthroposophischen Bewegung<br />

insgesamt als eines von<br />

deren Lebensfeldern. Weiter wird<br />

dargelegt, dass die fachwissenschaftlichen<br />

Veröffentlichungen zur<br />

Geschichte und Entwicklung der<br />

Sonder- und Heilpädagogik kaum<br />

Hinweise auf die anthroposophische<br />

Heilpädagogik enthalten<br />

und die wachsende und international<br />

aktive Bewegung umso mehr<br />

Fragen nach den eigenen Wurzeln,<br />

nach dem eigenen Selbstverständnis<br />

und dem mit anderen<br />

Richtungen gemeinsamen<br />

Ansatz stellen muss. Diese Fragen<br />

umfassen ein weites Feld von<br />

den Leitideen bis zum Alltagsleben,<br />

den Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten,<br />

der<br />

Entwicklung von Organisationsformen<br />

und dem Beitrag zu den<br />

sozialpraktischen und fachwissenschaftlichen<br />

Entwicklungen<br />

der jeweiligen Zeit mit ein.<br />

Die komplizierte und fragmentarische<br />

Quellenlage mit einerseits<br />

Prospekten oder Festschrif-<br />

54


Rezensionen<br />

ten und andererseits Erinnerungsliteratur<br />

sowie einigen wenigen<br />

historischen Darstellungen wird<br />

im Buch dargelegt. Das Buch-Projekt<br />

war überhaupt erst Anlass<br />

zum Aufbau eines materiellen<br />

und elektronischen Archivs in der<br />

Internationalen Konferenz für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie.<br />

Der Umfang der Recherche wird<br />

deutlich, wenn der Leser nach<br />

und nach entdeckt, wieviel Detail-<br />

Material über die internationale<br />

Entwicklung der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik in dem Buch<br />

eben auch enthalten ist.<br />

Die sechzig geschilderten Jahre<br />

sind in fünf unterschiedlich<br />

lange Abschnitte geteilt:<br />

- Die Begründung 1920-1925;<br />

- Die Jahre der ersten Ausbreitung<br />

1925-1933;<br />

- Totalitäre Bedrohung und Zweiter<br />

Weltkrieg 1939-1945;<br />

- Wiederaufbau, weitere Ausbreitung<br />

1945-1963;<br />

- Differenzierung und Institutionalisierung<br />

1963-1980;<br />

Es folgt ein Epilog mit Überblick<br />

über neuere Entwicklungen bis<br />

heute und ein Anhang mit Kurzbiografien.<br />

Der Lesbarkeit des umfangreichen<br />

Werkes kommt es sehr<br />

zugute, dass die Gliederung in<br />

den einzelnen Abschnitten sich<br />

entspricht: Ausgehend von der<br />

allgemeinen politischen, sozialen<br />

und gesellschaftlichen Situation<br />

geht es zur allgemeinen<br />

Lage der Heilpädagogik und auf<br />

diesem Hintergrund insbesondere<br />

der Situation der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik.<br />

Innerhalb dieser werden wiederum<br />

zunächst die äusseren Entwicklungen<br />

mit Neugründungen<br />

und Vernetzungen geschildert<br />

und danach die Aspekte der<br />

inneren Orientierung. Bei diesen<br />

auch fachlich divergierenden<br />

Gesichtspunkten deutet<br />

der Sprachstil auf die Anteile<br />

der verschiedenen Autoren – ein<br />

insgesamt belebender Faktor.<br />

Zu den einzelnen Zeitabschnitten:<br />

Die Begründungsphase der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik<br />

1920 bis 1925 fällt in die dramatische<br />

Nachkriegszeit mit ihren<br />

grossen politischen und ökonomischen<br />

Umbrüchen. Das Buch<br />

schildert, dass im Bereich der Bildung<br />

einerseits die Reformpädagogik<br />

neue Perspektiven eröffnet<br />

hatte, andererseits sich rassenhygienische<br />

Tendenzen erheblich<br />

ausbreiteten und Menschen<br />

mit Behinderung das Recht auf<br />

Entwicklung und Bildung absprachen.<br />

Auf diesem Zeithintergrund<br />

wendeten sich die anthroposophischen<br />

Impulse bildungs- und<br />

gesundheitspolitischen sozialen<br />

Aufgaben zu, zum Beispiel<br />

mit der Begründung der ersten<br />

Waldorfschule in Stuttgart, der<br />

anthroposophischen Medizin,<br />

der Dreigliederungsbewegung<br />

und der biologisch-dynamischen<br />

Landwirtschaft. Im Bereich der<br />

Heilpädagogik ist bemerkenswert,<br />

dass früh Arbeitsformen<br />

entwickelt wurden, die bis heute<br />

Bestand haben. So gründete<br />

Karl Schubert eine Sonderklasse<br />

unter dem Dach der Waldorfschule,<br />

Ita Wegman begann Heilpädagogik<br />

im klinischen Zusammenhang<br />

zu entwickeln, und die<br />

drei «Urheilpädagogen» Franz<br />

Löffler, Siegfried Pickert und Albrecht<br />

Strohschein – alle noch im<br />

Studentenalter – eröffneten die<br />

erste heilpädagogische Lebensgemeinschaft<br />

auf der Grundlage<br />

der Anthroposophie. Auf die<br />

Erfahrungen aus diesen Arbeitsbereichen<br />

konnte Rudolf Steiner<br />

sich bei seinem «Heilpädagogischen<br />

Kurs» im Frühsommer<br />

1924 stützen. Den komplexen<br />

Inhalten, der Konzeption und Wirkungsgeschichte<br />

des Heilpädagogischen<br />

Kurses widmet das Buch<br />

eine differenzierte Darstellung auf<br />

zwanzig ausführlichen Seiten.<br />

Die Jahre der ersten Ausbreitung<br />

1925-1933 schildern die<br />

Entwicklung des Sonnenhofes<br />

in Arlesheim/Schweiz zur zentralen<br />

Anlaufstelle der wachsenden<br />

heilpädagogischen Bewegung<br />

sowie die Folgegründungen<br />

der Urheilpädagogen Schloss Pilgramshain<br />

in Schlesien, Schloss<br />

Gerswalde in der Uckermark und<br />

Schloss Hamborn bei Paderborn<br />

sowie den Beginn anthroposophischer<br />

Heilpädagogik in den<br />

skandinavischen Ländern. Während<br />

in der allgemeinen Heilpädagogik<br />

ab 1922 von Hanselmann<br />

und Heller grosse Kongresse<br />

in München, Leipzig und<br />

Köln veranstaltet wurden, um die<br />

Gesamtgestalt der entstehenden<br />

Disziplin auszuarbeiten, hatte<br />

Ita Wegman den Weitblick und<br />

die Initiative, eine Zusammenarbeit<br />

mit den zuständigen Fürsorgeämtern<br />

zu beginnen, Vorträge<br />

in vielen deutschen Grossstädten<br />

zu veranstalten, internationale<br />

Kongresse anzuregen, z.B.<br />

1928 in London, 1929 in Amsterdam<br />

und 1930 in Camp Stakenberg<br />

und die Vernetzung der Einrichtungen<br />

durch einen überregionalen<br />

Verein zu initiieren. Es<br />

begeistert den Leser, mit welcher<br />

Innovationskraft von vielen<br />

Menschen durch Einsatz und Ideenreichtum<br />

sowie durch Begegnung<br />

und Austausch Grundkonzepte<br />

der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik entwickelt wurden:<br />

die Alltagskultur mit rhythmischer<br />

Zeitstruktur, sorgsame<br />

Umgebungsgestaltung und eine<br />

achtsame wertschätzende See-<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 55


Rezensionen<br />

lenhaltung im Sinne der «<strong>Seelenpflege</strong>».<br />

Die Kinderkonferenz<br />

als Suche eines gemeinsamen<br />

Weges und die Heilpädagogische<br />

Diagnostik nicht aus<br />

akademischer Begrifflichkeit sondern<br />

lebensbezogener Anschauung<br />

entwickelten sich ebenso wie<br />

die künstlerischen Therapien und<br />

die Pflege des religiösen Lebens<br />

in der erstaunlich kurzen Zeit von<br />

wenigen Jahren. Diese Entwicklungsdichte<br />

wurde von Ita Wegman<br />

intensiv gefördert durch<br />

menschliche Kontakte und Beratungen,<br />

durch Anregung von hausinternen<br />

Ausbildungen und<br />

durch von ihr angeregte Publikationen<br />

in der neu begründeten<br />

Zeitschrift NATURA.<br />

Ganz anders liest sich der dritte<br />

Abschnitt über die Zeit der totalitären<br />

Bedrohung und des Zweiten<br />

Weltkriegs 1939-1945. Die<br />

rassenhygienische Ideologie<br />

und Behindertenfeindlichkeit<br />

hatte natürlich immense Folgen<br />

für die anthroposophische Heilpädagogik.<br />

Nur durch geschicktes<br />

Lavieren, wohlmeinende<br />

Beamte und kreative Sabotage<br />

gelang einigen Einrichtungen<br />

dennoch die zeitweise Weiterarbeit.<br />

Das Leben in den Einrichtungen<br />

war «enthusiastisch und<br />

arm». Der Aussendruck erhöhte<br />

die Innen-Intensität. Ansonsten<br />

überlebte die Arbeit in Schutzräumen<br />

in der Schweiz, Holland,<br />

England und Skandinavien. Die<br />

Isolierung Ita Wegmans infolge<br />

der Zerwürfnisse in der Anthroposophischen<br />

Gesellschaft<br />

1935 hatte die Schwerpunkte<br />

der medizinischen und heilpädagogischen<br />

Initiativen ohnehin<br />

nach Holland und England verlagert.<br />

Zudem begann 1939 mit<br />

der Begründung Camphills durch<br />

Karl König und seine Mitarbeiter<br />

ein neuer Entwicklungsstrom,<br />

der nach 1945 eine enorme<br />

Dynamik entfalten konnte. Auch<br />

trotz des Todes der Koordinatorin<br />

Ita Wegman im März 1943 trat<br />

für die anthroposophische Heilpädagogik<br />

1945 keine Stunde<br />

Null ein, sondern das einheitliche<br />

Paradigma bewies eine<br />

tragfähige Kontinuität.<br />

Die im Buch als vierter Abschnitt<br />

beschriebene Phase des Wiederaufbaus<br />

und der weiteren Ausbreitung<br />

1945-1963 stand unter<br />

dem Zeichen des Wirtschaftswunders<br />

und des Bundessozialhilfegesetzes,<br />

aber auch der<br />

Differenzierung in zehn Sonderschulformen.<br />

Für die anthroposophische<br />

Heilpädagogik ergab<br />

sich trotz anfangs immenser Alltagsnöte<br />

eine zweite Pionierphase<br />

mit oft den gleichen Personen<br />

wie zuvor. Von der zentralen<br />

Anlaufstelle Sonnenhof<br />

in Arlesheim aus organisierte<br />

Werner Pache Hilfssendungen<br />

nach Deutschland, pflegte Kontakte<br />

und setzte sich für eine<br />

neue Vernetzung ein. Bereits ab<br />

1947 fanden regelmässige Treffen<br />

in der Schweiz, in Holland<br />

und später in Deutschland statt.<br />

Im Zusammenhang mit einer<br />

kontinuierlichen Gründungswelle<br />

in vielen europäischen<br />

Ländern und später auch in<br />

Australien, Neuseeland, Südafrika<br />

und Nordamerika wurde<br />

die Selbstvergewisserung und<br />

Entwicklung eines tragfähigen<br />

theoretischen und methodologischen<br />

Fundaments dringlich.<br />

Dazu kamen Aufgaben der<br />

fachlichen Differenzierung, der<br />

Entwicklung neuer Arbeitsbereiche<br />

und der Strukturierung<br />

einer Weltbewegung.<br />

Die grösste Nähe zu den heute<br />

aktuellen Fragen zeigt in dieser<br />

historischen Darstellung natürlich<br />

der letzte Abschnitt über die<br />

Differenzierung und Institutionalisierung<br />

1963-1980. Die intensiven<br />

politischen und gesellschaftlichen<br />

Umbrüche dieser<br />

Phase spiegelten sich auch<br />

in der veränderten Stellung der<br />

Menschen mit Behinderung in<br />

der Öffentlichkeit, der Arbeit der<br />

Selbsthilfeverbände, der Umorientierung<br />

des hoch differenzierten<br />

Sonderschulwesens zur<br />

Integration, der fachlichen Differenzierung,<br />

Entwicklung neuer<br />

Arbeitsstrukturen und Aufgabenfelder<br />

und stellten die anthroposophische<br />

Heilpädagogik vor<br />

grosse neue Herausforderungen.<br />

Wie sie diese aufgegriffen hat, ist<br />

hier im Detail geschildert.<br />

Der Epilog gibt einen Überblick<br />

über neuere Entwicklungen bis<br />

heute und regt damit zur intensiven<br />

Reflexion der komplexen<br />

aktuellen Fragen an. Insofern<br />

stellt er das komprimierteste<br />

und interessanteste Kapitel<br />

des Buches dar, das natürlich<br />

seine Aktualität aufgrund der<br />

zuvor ausführlich dargestellten<br />

Entwicklungsgeschichte<br />

erhält. Der Leser verlässt das<br />

Buch bereichert und dankbar<br />

für die Klarheit der Konzeption,<br />

die sorgfältige Verankerung<br />

im zeitgeschichtlichen<br />

Kontext und die fachlich differenzierte<br />

Darstellungsweise.<br />

Es wird ihm einmal mehr<br />

bewusst, mit welcher Kraft der<br />

Ursprungsimpuls wirksam ist,<br />

wie vieleMenschen er beflügelt<br />

hat, daran mitzuwirken<br />

und wie viele Aufgaben noch<br />

anzugehen sind.<br />

56


Termine<br />

Im Gespräch ...<br />

Lebensgestaltung – Lebensqualität – Lebensmotive<br />

von Brigitta Fankhauser<br />

Ein inklusives Symposium zur Entwicklung der<br />

Sozialtherapie vom 26. bis 29. Juni <strong>2014</strong> in der<br />

Camphill-Gemeinschaft Alt-Schönow, Berlin<br />

Auf Einladung der Sozialtherapeutischen Arbeitsgruppe<br />

der Konferenz für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie in Dornach begegneten sich<br />

zum zweiten Mal Menschen mit besonderen Bedürfnissen,<br />

Angehörige und Mitarbeitende zu<br />

Gesprächen über die Entwicklungsperspektiven<br />

der sozialtherapeutischen Arbeit.<br />

In den letzten Jahren haben sich einschneidende<br />

Entwicklungen und Veränderungen im<br />

Feld der anthroposophischen Einrichtungen<br />

für Sozialtherapie abgezeichnet, die mit den<br />

Umbrüchen und Veränderungen im Feld der sozialen<br />

Arbeit in enger Beziehung stehen. Nicht<br />

wenige Menschen empfinden angesichts dieser<br />

Situation Bedenken und Sorgen, wie wohl die<br />

Lebensqualität von Menschen mit Behinderung<br />

in Zukunft sein wird, wenn sich Traditionen und<br />

gewohnte Lebensbedingungen wandeln durch<br />

neues Denken über Behinderung, über soziales<br />

Handeln und insbesondere über das persönliche<br />

Leben unter institutionellen Bedingungen.<br />

Sich auf Augenhöhe zu begegnen, war für alle<br />

Teilnehmenden gleichermassen ein Übungsfeld<br />

und zugleich Realität. In den einführenden<br />

Referaten wurde aufmerksam gemacht auf die<br />

individuellen Bedürfnisse, die durch achtsame<br />

Begleitung und Unterstützung zu biografischen<br />

Veränderungen und Entwicklungen führen können.<br />

In sechs themenbezogenen Arbeits- und<br />

Gesprächsgruppen fand ein intensives Nachdenken<br />

und Austauschen über künftige Haltungen,<br />

Prozesse und Formen statt.<br />

Zu den prägenden Eindrücken der Tagung zählten<br />

die Beiträge von Menschen, die von ihren<br />

biografischen Erlebnissen, ihrem Leben in so-<br />

zialen und institutionellen Zusammenhängen<br />

und ihren Wünschen für ein gelingendes Leben<br />

erzählten. Sie erhöhten das Verantwortungsgefühl<br />

aller Teilnehmenden im Hinblick auf die Formulierung<br />

künftiger Ziele und Entwicklungen. Es<br />

war eine Spurensuche, im weiten Feld der anthroposophischen<br />

Sozialtherapie mehr zu verstehen<br />

von dem, was sich bisher entwickelt hat<br />

und von welchem Ausgangspunkt aus zukünftige<br />

Entwicklungen betrachtet werden müssen.<br />

Am Ende der Tagung entdeckten und formulierten<br />

wir weitere Schlüsselbegriffe wie Würde<br />

und Achtung, Ermutigung in der Lebensführung,<br />

Schulung in der Beziehungsgestaltung als einer<br />

Form von Friedensbeitrag im sozialen Leben und<br />

Fortschreiten der Inklusionsbewegung.<br />

Termine<br />

26. bis 29. Oktober <strong>2014</strong><br />

Lernen verstehen – den individuellen Ansatz finden<br />

Förderlehrertagung<br />

CH-Dornach, Goetheanum<br />

Info: www.paedagogik-goetheanum.ch<br />

26. November<br />

Arbeitstagung für Mitglieder von Trägerschaften<br />

und Leitungsgremien<br />

CH-Zürich<br />

Info: www.vahs.ch<br />

22. bis 25. April 2015<br />

Internationale Ausbildungstagung für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie<br />

mit Wissenschaftssymposium vom 24. bis 25. April<br />

DE-Kassel<br />

Info: www.khs@khsdornach.org<br />

Weitere Termin finden Sie auf unserer Internetseite<br />

unter: www.khs@khsdornach.org<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 57


<strong>Seelenpflege</strong> in Heilpädagogik und Sozialtherapie 33. Jahrgang <strong>2014</strong> Heft 4<br />

Impressum<br />

Herausgegeben von der Konferenz für Heil pädagogik und<br />

Sozialtherapie in der Medizinischen Sektion der Freien<br />

Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum, Dornach<br />

(Schweiz) www.khsdornach.org<br />

Redaktion<br />

Dr. Rüdiger Grimm<br />

Dr. Bernhard Schmalenbach<br />

Gabriele Scholtes (Dipl.-Heilpädagogin)<br />

Administration<br />

Pascale Hoffmann<br />

Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich.<br />

Abonnementspreise CHF Euro<br />

Abonnement 42.-- 32.--<br />

Studierende/Senioren 27.-- 20.--<br />

Einzelheft (zuzügl. Porto) 15.-- 10.--<br />

Organisationsabonnement<br />

ab fünf Hefte 300.-- 250.--<br />

Weitere Informationen unter: www.seelenpflege.info<br />

Das Abonnement ist jederzeit kündbar.<br />

Layout<br />

Roland Maus<br />

Satz<br />

Gabriele Scholtes, Rüdiger Grimm<br />

Druck<br />

Uehlin Druck und Medienhaus<br />

Inh. Hubert Mößner<br />

Hohe-Flum-Strasse 40<br />

DE-79650 Schopfheim<br />

Anschrift<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong><br />

Ruchti-Weg 9, CH-4143 Dornach<br />

Telefon: +41 61-701 84 85<br />

eMail: zs@khsdornach.org<br />

Website: www.seelenpflege.info<br />

Verlag der Konferenz für Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie, Dornach<br />

ISSN 1420-5564<br />

Mediadaten: www.seelenpflege.info<br />

------------------ ---------------------------------------------------------------<br />

Ich abonniere jetzt!<br />

die Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong><br />

in Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie<br />

zum Preis von CHF 42.-- | Euro 32.-- (Studierende und Senioren 27.-- | 20.--) pro Jahr. Das Abonnement<br />

ist jederzeit kündbar. Mein Abonnement beginnt mit der nächsten Ausgabe.<br />

Name<br />

Strasse<br />

Land | PLZ | Ort<br />

Telefon<br />

Email<br />

Datum, Unterschrift


Johannes-Schule Küsnacht / ZH<br />

Heilpädagogische Schule für den Bezirk Meilen / ZH<br />

www.johannesschule.ch<br />

Infolge Pensionierung unserer Kollegin suchen wir für eine Mittelstufenklasse auf Beginn<br />

Schuljahr 2015/2016 eine / einen<br />

schulische Heilpädagogin / schulischen Heilpädagogen (100%)<br />

oder eine Lehrperson mit der Bereitschaft, eine heilpädagogische Ausbildung zu absolvieren.<br />

Wir arbeiten auf Grundlage der anthroposophischen Heilpädagogik.<br />

Bitte nehmen Sie Kontakt auf mit<br />

Christoph Frei<br />

Schulleitung<br />

Sonnenrain 40 | CH-8700 Küsnacht | Mail: christoph.frei@johannesschule.ch<br />

Tel. 044 913 60 30 (direkt) oder 044 913 60 10 (Schulsekretariat)<br />

Die Gemeinschaft in Kehna<br />

sucht ab sofort<br />

pädagogisch qualifizierte Persönlichkeiten<br />

Was Sie erwartet:<br />

für die Teamleitung einer Hausgemeinschaft<br />

• Zehn interessierte Zeitgenossen und -genossinnen, mit denen man die Gegenwart entdecken kann<br />

• Ein engagiertes und kompetentes Mitarbeiterteam<br />

• Hohe Eigenverantwortung in stabilem strukturellem Rahmen<br />

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• Auch Mitarbeiter-Paare sind willkommen<br />

Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung, die Sie bitte richten an: Michael Gehrke | Kenenstr. 6 | DE-35096 Kehna<br />

Weiteres finden Sie unter: www.in-kehna.de | Gerne informieren wir Sie näher: info@in-kehna.de | +49 6421 974466

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