Seelenpflege 2014-4
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<strong>Seelenpflege</strong><br />
in Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie<br />
Im Gelben erlebe ich Hoffnung<br />
Geschichten mit Behinderung<br />
Seelische Notlagen<br />
Musikalische Farblichtbewegungen<br />
Eric Arlin<br />
4 | <strong>2014</strong>
Editorial<br />
«Wir sind in Geschichten verstrickt ...»<br />
schreibt Johannes Gruntz-Stoll in seinem Beitrag über Geschichten<br />
mit Behinderung. Geschichten sind Teil unseres Lebens, sie<br />
haben ihre eigene Wirklichkeit und Faszination. Gruntz-Stoll hat<br />
Geschichten, die von Menschen mit Behinderungen erzählen,<br />
nicht nur gesammelt, sondern intensiv mit ihnen gearbeitet<br />
und sie als wesentliches Element in seine Lehrveranstaltungen<br />
einbezogen. «Seelische Notlagen bei Menschen mit kognitiven<br />
Beeinträchtigungen» stehen im Zentrum des Aufsatzes von Walter<br />
Dahlhaus. Er gibt nicht nur Einblick in die Situation der betroffenen<br />
Menschen, sondern auch wesentliche Hinweise für ihre<br />
Behandlung und ihren sozialen Einbezug. Aus einem Forschungsprojekt<br />
über «Musikalische Farblichtbewegungen» berichtet<br />
Maija Pietikäinen.<br />
Vor kurzem starb Eric Arlin, der die Bestrebungen in unseren Arbeitszusammenhängen<br />
seiner Generation massgeblich mitgeprägt hat.<br />
Aus seinem künstlerischen Oeuvre zeigen wir einige Beispiele.<br />
Wie immer bringen wir auch Hinweise auf Bücher, Ereignisse und<br />
Entwicklungen, die hoffentlich ebenfalls Ihr Interesse finden werden.<br />
Wir von der Redaktion wünschen Ihnen einen intensiven und<br />
erfüllten Herbst!
Inhalt<br />
Seite 6 «Der Mensch ist schön!»<br />
Seite 32<br />
Geschichten mit Behinderung<br />
Johannes Gruntz-Stoll<br />
Nicht nur bei der eigenen Lektüre,<br />
sondern vor allem auch beim Vorlesen<br />
von Texten erzählter Behinderung<br />
habe ich immer wieder die Erfahrung<br />
gemacht, dass Geschichten<br />
Zuhörerinnen und -hörer ganz<br />
anders anzusprechen vermögen als<br />
beispielsweise Abhandlungen<br />
oder Referate.<br />
Leben mit dem Kontext<br />
Begegnung mit Andreas Fischer<br />
Sebastian Jüngel<br />
«In einer Zeit von grossen<br />
Veränderungen und neuen Fragen<br />
müssen in Praxis und Ausbildung<br />
adäquate Antworten gefunden<br />
werden: Gefordert sind Sensibilität<br />
für das Ausklingen von alten und<br />
Mut im Finden von neuen Formen<br />
– beides immer mit Blick auf deren<br />
spirituellen Ursprung.»<br />
Seite 20<br />
Seelische Notlagen bei Menschen mit<br />
kognitiven Beeinträchtigungen<br />
Über den Umgang mit «Doppeldiagnosen»<br />
Walter J. Dahlhaus<br />
Seite 36<br />
«Im Gelben erlebe ich Hoffnung»<br />
Das Forschungsprojekt «Musikalische<br />
Farblichtbewegungen»<br />
Maija Pietikäinen<br />
Getragen wird jedweder diagnostische<br />
und therapeutische Ansatz von<br />
einem respektvollen Ansatz,<br />
in einer Erkrankung auch ein<br />
Verwirklichungsprinzip menschlichen<br />
Werdens zu sehen ...<br />
Aus dem Märchen Fundevogel (Foto: Ch. Dauner)<br />
4<br />
<strong>Seelenpflege</strong><br />
in Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie<br />
Im Gelben erlebe ich Hoffnung<br />
Geschichten mit Behinderung<br />
Seelische Notlagen<br />
Musikalische Farblichtbewegungen<br />
Eric Arlin<br />
4 | <strong>2014</strong><br />
Herausgeber:<br />
Konferenz für Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie<br />
Medizinische Sektion<br />
der Freien Hochschule für<br />
Geisteswissenschaften am Goetheanum<br />
Dornach (Schweiz)<br />
Redaktion:<br />
Rüdiger Grimm<br />
Bernhard Schmalenbach<br />
Gabriele Scholtes
Seite 42 Gedenken an Eric Arlin<br />
Seite 45<br />
mit ganzseitigen Abbildungen<br />
Rüdiger Grimm<br />
Fünfzig Jahre Choroi Musikinstrumentenbau<br />
Hans Rainer Kühn<br />
Seite 50<br />
«Etwas in die Tat umzusetzen»<br />
Ruedi Wälchli im Interview mit Rita<br />
Crettaz und Cem Hamurabi<br />
Seite 52<br />
Fünfzig Jahre Beaver Run<br />
Jan Göschel<br />
Entgegen seiner ansonsten<br />
bewusstseinseelenhaften, eher streng<br />
wirkenden Malweise konnte man von<br />
Eric Arlin auch einmal einen Gruss,<br />
z.B. zu Weihnachten mit duftigen,<br />
fliessenden Farben erhalten<br />
Seite 54<br />
Rezensionen<br />
Berichte<br />
Impressum<br />
Inserate<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 5
«Der Mensch ist schön!»<br />
Geschichten mit Behinderung<br />
Von Johannes Gruntz-Stoll<br />
Einleitung<br />
Kennen Sie das Theater HORA? Können Sie sich vorstellen, dass Menschen<br />
mit einer geistigen Behinderung Goethes Faust auf die Bühne bringen?<br />
Franz Hohler hat eine Aufführung des Theaters HORA besucht und dazu eine<br />
Geschichte geschrieben: Gespielt wurde «Faust 1 & 2» (Hohler 2013, S. 69);<br />
gestaltet hat der Autor eine Erzählung, welche zusammen mit über zwanzig<br />
weiteren «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll u.a. 2013) in der<br />
Anthologie «Alles wie immer?» (ebd.) erschienen ist. Alles wie immer? Erfahrungen<br />
von Menschen mit Behinderung sind in literarischen Texten zwar keine<br />
Seltenheit, müssen aber doch erst gesucht und entdeckt werden, bevor sie<br />
als «Erzählte Behinderung» (Gruntz-Stoll 2012) für Lektüre und Interpretation<br />
zugänglich sind.<br />
Behinderung und Literatur – zwei Begriffe umreissen ein weites Themenfeld<br />
und wecken eine Reihe von Fragen: Geht es um literarische Texte über Behinderung?<br />
Oder um Literatur von Menschen mit Behinderung? Oder um beides<br />
zugleich, wenn nämlich beispielsweise Autorinnen und Autoren mit Behinderung<br />
von eigenen Erfahrungen berichten? Gelten solche Erfahrungsberichte<br />
als literarische Texte? Und wie steht es neben dem Erzählen und Schreiben<br />
mit dem Lesen und Verstehen, mit dem Interpretieren und Inszenieren von<br />
Geschichten mit Behinderung? Für wen werden solche Texte verfasst und wie<br />
lassen sie sich verstehen? Hinter diesen Fragen stehen sowohl jene nach<br />
dem Verständnis von Behinderung und von Literatur, wie auch solche nach<br />
dem Verhältnis zwischen erzählten und erlebten Wirklichkeiten. Statt nun<br />
diese Fragen der Reihe nach und mehr oder weniger systematisch zu erör-<br />
6
Beiträge<br />
tern, habe ich mich dafür entschieden, einzelne Aspekte aufzugreifen und jeweils in<br />
einem Abschnitt zur Sprache zu bringen. Die Überlegungen bewegen sich dabei zwar<br />
im angesprochenen Themenfeld von Behinderung und Literatur, reflektieren aber<br />
zugleich meinen ganz persönlichen Blick auf diese Themen und setzen nicht mehr<br />
und nicht weniger als ein paar Wegmarken im abgesteckten Feld.<br />
«Erzählte Behinderung»<br />
Literarische Texte, in denen über Erfahrungen mit Behinderung berichtet wird, sind in<br />
aller Regel nicht als solche gekennzeichnet: Zwar gibt es vereinzelt Erzählungen und<br />
Romane, die bereits im Titel das Motiv ansprechen, aber mehrheitlich fehlen derartige<br />
Hinweise und erst die Lektüre eines Textes erschliesst mögliche Motivbezüge. Dabei<br />
können Behinderungen aus der Sicht von – tatsächlich oder bloss fiktiv – Betroffenen,<br />
deren Angehörigen, von Bezugs- oder anderen Personen geschildert werden, und die<br />
damit verbundenen Erfahrungen nehmen je nach Text mehr oder weniger Raum ein,<br />
sind je nachdem bloss marginal oder aber zentral für die Dramaturgie der Erzählung,<br />
die ihrerseits eine bestimmte Form erhält. Diese Andeutungen verweisen einerseits<br />
auf den weiten Horizont, in welchem «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll<br />
u.a. 2013) anzutreffen sind, und lösen anderseits Fragen nach Methoden und Kriterien<br />
aus, mit deren Hilfe sich solche Texte recherchieren und interpretieren lassen.<br />
In einer breit angelegten Studie habe ich unter dem Titel «Erzählte Behinderung»<br />
(Gruntz-Stoll 2012) auf die Ergebnisse mehrjähriger Recherchen Bezug genommen:<br />
Die gleichnamige Datenbank mit zunächst 234 erfassten Texten bildet die Voraussetzung<br />
der Untersuchung, welche «Grundlagen und Beispiele narrativer Heilpädagogik»<br />
(ebd.) vermittelt und Vorarbeiten insbesondere von Christian Mürner (1990 ff.)<br />
sowie von Peter Radtke (1982), Hans-Jörg Uther (1981) und anderen berücksichtigt.<br />
Die recherchierten Texte werden in der Datenbank anhand von vierzig Schlagwörtern<br />
aus zehn Kategorien erschlossen. Inzwischen umfasst die Datenbank Angaben<br />
zu 432 literarischen Texten über Erfahrungen mit Behinderung und ist im Internet<br />
frei zugänglich – unter der Adresse www.erzaehltebehinderung.ch. Einmal abgesehen<br />
von der damit gegebenen Möglichkeit der Textsuche entlang von ausgewählten<br />
Schlagwörtern erlaubt die Datenbank verschiedene Lesarten, wie sie von Franco<br />
Moretti als «Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte» (Moretti 2009) beschrieben<br />
werden: Insbesondere die Unterscheidung der konventionellen Textlektüre im<br />
Sinne des «Close Reading» (ebd. 10) vom so genannten «Distant Reading» (ebd., S.<br />
7), welches literarische Texte als Objekte in einen Zeithorizont stellt und auf diese<br />
Weise einer quantitativen Analyse zugänglich macht, ermöglicht ungewohnte Blicke<br />
auf «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll u.a. 2013).<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 7
Beiträge<br />
Auf diese Weise lässt sich beispielsweise das Motiv des Autismus in literarischen<br />
Texten nicht nur in Bezug auf Erscheinungsjahre und Häufigkeiten untersuchen, sondern<br />
darüber hinaus in Bezug zu Erzählperspektiven, Textsorten oder Geschlecht der<br />
Autorin bzw. des Autors setzen. Allerdings bleibt diese Form der distanzierten Lektüre<br />
vergleichsweise abstrakt, so dass es sich lohnt, die Tiefenschärfe beim Lesen zu variieren<br />
– im Sinne des «Focused Reading» (Gruntz-Stoll 2012, S. 84 f.), wie ich diese<br />
Lesart bezeichne. Dabei lassen sich beispielsweise Textgruppen bilden wie jene mit<br />
ausgewählten Erzählungen und Romanen von Urs Faes, in denen über «Michi Bub»<br />
(Faes 1992) berichtet wird: Gleichermassen lohnend und faszinierend ist dabei zu<br />
erkunden, wie eine literarische Figur vom Autor als Person geschaffen, in verschiedenen<br />
Texten mehrperspektivisch gestaltet wird und dabei ein Eigenleben entwickelt.<br />
Hier lassen sich sowohl die einzelnen Texte wie auch die gesamte Textgruppe interpretieren<br />
und darüber hinaus zu Texten anderer Autorinnen und Autoren in Bezug setzen,<br />
in denen das Zusammenleben mit einem Knaben mit kognitiver Beeinträchtigung aus<br />
der Erfahrungsperspektive eines Bruders geschildert wird.<br />
Die bibliografische Datenbank «Erzählte Behinderung» (Gruntz-Stoll 2012) ermöglicht<br />
solche und eine Vielzahl weiterer Recherchen, Analysen und Interpretationen;<br />
Studierende am Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie ISP der Pädagogischen<br />
Hochschule FHNW haben in den letzten Jahren im Rahmen von Masterarbeiten derartige<br />
Untersuchungen angestellt, welche beispielweise das Motiv der Behinderung in<br />
europäischen Volksmärchen, die Beziehung zwischen behinderten und nicht-behinderten<br />
Geschwistern in autobiografischen Texten oder Entwicklung und Wandel der<br />
Darstellung von Personen mit Autismus über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten<br />
fokussieren. Dabei werden jeweils – ganz im Sinne des «Focused Reading» (ebd., S.<br />
84 f.) – nicht nur die einzelnen Romane, Autobiografien oder Märchen gelesen und<br />
gedeutet, sondern immer auch ganze Textgruppen in Betracht gezogen und berücksichtigt<br />
– im Sinne eines hermeneutischen Oszillierens zwischen Teil und Ganzem<br />
bzw. zwischen Einzeltext und Textkorpus: Zwar sind die Möglichkeiten der Auseinandersetzung<br />
mit Behinderung und Literatur unter diesen Voraussetzungen nicht grenzenlos,<br />
aber doch weit gespannt und noch lange nicht ausgeschöpft.<br />
«Aus Geschichten lernen»<br />
Mit Blick auf die Fülle recherchierter «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll<br />
u.a. 2013) und die Bandbreite möglicher Lesarten und Textinterpretationen stellt<br />
sich die Frage nach dem Sinn derartiger Recherchen und dem Gewinn, der von der<br />
Lektüre und Interpretation literarischer Texte zu erwarten ist. Bereits vor über drei<br />
8
Beiträge<br />
Jahrzehnten haben Dieter Baacke und Theodor Schulze mit Blick auf das Verhältnis<br />
von Pädagogik und Literatur über Möglichkeiten zur «Einübung pädagogischen Verstehens»<br />
(Baacke u.a. 1979) nachgedacht und dabei einerseits autobiografische Texte<br />
ins Auge gefasst sowie anderseits Entwicklungsromane berücksichtigt: Im Sinne einer<br />
Gegenbewegung, aber auch als Beitrag zur Ergänzung und Erweiterung erziehungswissenschaftlicher<br />
Untersuchungen sollten literarische Texte als Quellen des pädagogischen<br />
Verstehens und Wissens erschlossen und genutzt werden. Der Buchtitel<br />
«Aus Geschichten lernen» (ebd.) war dabei gleichbedeutend mit dem Programm eines<br />
narrativen Zugangs zu pädagogischer Erkenntnis.<br />
Während sich erziehungswissenschaftliche Forschung in den siebziger Jahren des<br />
zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend quantitativer Methoden bedient und auf<br />
vergleichsweise objektive Verallgemeinerungen gezielt hat, ist eben dieser Paradigmenwechsel<br />
von einer eher geisteswissenschaftlich orientierten Pädagogik zu einer<br />
empirisch verfahrenden Erziehungswissenschaft zum Auslöser eines tiefen Unbehagens<br />
geworden: Bildung und Erziehung sind ja in erster Linie Erfahrungen von Individuen,<br />
haben also durchaus singulären Charakter und subjektive Qualitäten, selbst<br />
da, wo sie beispielsweise im Rahmen von Schulunterricht oder im Kontext von Erziehungsheimen<br />
institutionalisiert sind. Literarische Texte, in denen von Situationen<br />
und Prozessen der Bildung und Erziehung berichtet wird, vermitteln Einblicke sowohl<br />
in deren vergleichsweise objektive Bedingungen wie auch in die darin gemachten subjektiven<br />
Erfahrungen. Damit stellen derartige Berichte und Erzählungen eine Brücke<br />
zwischen individuellem Erleben und generalisierter Erkenntnis dar und ermöglichen<br />
einen doppelten Lernzuwachs, der sich auf das Wissen um situative Gegebenheiten<br />
ebenso bezieht wie auf das Verstehen besonderer Erlebnisse.<br />
Was auf Erfahrungen mit Bildung und Erziehung zutrifft, gilt nicht weniger für die<br />
Auseinandersetzung mit Behinderung im Erleben von Betroffenen, deren Angehörigen<br />
und Bezugspersonen: Auch hier handelt es sich stets zuallererst um individuelle<br />
Erfahrungen in sozialen Kontexten. Wer Menschen mit Behinderung verstehen will,<br />
findet in den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen wohl Hinweise und<br />
Anhaltspunkte, doch deren Bedeutung für das Individuum bleibt stets fragwürdig; im<br />
Gegensatz dazu erschliessen literarische Texte modellhaft Einblicke, ermöglichen Einsichten<br />
in individuelles Erleben. Damit erweitern und vertiefen sie das Wissen über<br />
mögliche Erfahrungen von Menschen mit Behinderung.<br />
Zusätzlich zu dieser Form der Wissensvermittlung dienen «Geschichten mit Behinderung»<br />
(Gruntz-Stoll u.a. 2013) aber auch der «Einübung pädagogischen Verstehens»<br />
(Baacke u.a. 1979): Das Lesen und Verstehen eines literarischen Textes wird dabei zur<br />
Vorlage oder zum Übungsbeispiel für Situationen zwischenmenschlicher Begegnung;<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 9
Beiträge<br />
auch und gerade im – familiären wie institutionellen – Zusammenleben von Menschen<br />
mit und ohne Behinderung bildet das Entziffern von Lebenszeichen als «Spur<br />
des Anderen» (Lévinas 20075) und das Verstehen von Verhaltensweisen als Ausdruck<br />
individueller Lebensgeschichten die Voraussetzung für Entwicklung und Lernen, für<br />
Bildung und Erziehung. Diese anspruchsvollen Prozesse lassen sich anhand von literarischen<br />
Texten reflektieren, die entsprechenden Kompetenzen durch Lektüre und<br />
Interpretation von «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll u.a. 2013) fördern.<br />
Schliesslich verweise ich auf die Bedeutung literarischer Texte über Erfahrungen<br />
mit Behinderung für Betroffene: Auf der Suche nach der eigenen Identität spielen<br />
Geschichten eine entscheidende Rolle, denn sie schildern Möglichkeiten der Auseinandersetzung<br />
mit und Bewältigung von Lebensaufgaben. Literarische Figuren<br />
erhalten dabei die Bedeutung von Rollen oder Kostümen, die ich mir beim Lesen vorübergehend<br />
aneigne – probeweise und auf Zeit; dauerhaft übernehme ich nur jene<br />
Züge und Eigenschaften, welche ich in mein aktuelles Selbstbild integrieren kann.<br />
Dabei handelt es sich um einen lebenslangen Prozess der Aktualisierung und Integration,<br />
bei dem die Sprache und das Erzählen nicht nur Medium und Instrument, sondern<br />
immer auch Prozess und Produkt ausmachen. So gesehen kann die Begegnung<br />
mit literarischen Texten über Erfahrungen mit Behinderung Betroffene bei der Suche<br />
nach der eigenen Identität unterstützen, indem sie Erfahrungen zur Sprache bringen<br />
und Erlebtes erzählen.<br />
«Mein Geheimnis gehört mir»<br />
Für die Auseinandersetzung mit ‹Behinderung und Literatur› gibt es also verschiedene<br />
Motive und Interessen – einerseits das «Lernen aus Geschichten» (Baacke u.a.<br />
1979) sowohl mit Blick auf die Erweiterung des Wissens wie auch bezogen auf ein<br />
vertieftes Verstehen und anderseits Analyse und Interpretation von Texten, wie sie<br />
sich im Rahmen des Forschungsprojekts «Erzählte Behinderung» (Gruntz-Stoll 2012)<br />
in verschiedene Richtungen erschliessen und untersuchen lassen. Bei derart weitgespanntem<br />
und vielversprechendem Nutzen treten andere Dimensionen literarischer<br />
Texte – zumindest scheinbar und vorübergehend – in den Hintergrund: Erzählungen<br />
und Geschichten, Romane und Novellen bieten Leserinnen und Lesern zunächst vor<br />
allem Spannung und Unterhaltung, und ihre Lektüre erfolgt in erster Linie aus der Lust<br />
am Lesen und Erleben. Dies gilt auch für jene Anthologien, in denen «Geschichten<br />
mit Behinderung» (Gruntz-Stoll u.a. 2013) von verschiedenen Autorinnen und Autoren<br />
versammelt sind: Neben den deklarierten Absichten der Herausgeber, mit der Textsammlung<br />
einen Beitrag zur Beachtung, zur Wahrnehmung und zum Verständnis der<br />
10
Beiträge<br />
Lebenssituationen von Menschen mit Behinderung zu leisten, steht bei jeder der insgesamt<br />
vier deutschsprachigen Geschichtensammlungen, welche zwischen 1970 und<br />
heute erschienen sind, das Interesse an literarischen Texten im Vordergrund.<br />
So hat die Schweizer Vereinigung Pro Infirmis vor über vierzig Jahren aus Anlass<br />
ihres fünfzigjährigen Bestehens unter dem Titel «Erfahrungen – Témoignage – Testimonianze»<br />
(Pro Infirmis 1970) Texte von vierzehn Autoren aus den verschiedenen<br />
Sprachregionen der Schweiz «zum Thema ‹Der Behinderte und seine Umwelt›»(ebd.)<br />
herausgegeben: Zwar verfolgt die Behindertenorganisation mit der Anthologie durchaus<br />
ein publizistisches und publikumsbezogenes Interesse, denn die Texte sollen «in<br />
der Bevölkerung Verständnis für die Probleme der Behinderten wecken» (ebd.); die<br />
beteiligten Autorinnen und Autoren hingegen erzählen ganz einfach Geschichten –<br />
Geschichten, die berühren und bewegen, begeistern und packen.<br />
«Erfahrungen – Témoignage – Testimonianze»<br />
14 Autoren zum Thema «Der Behinderte und seine Umwelt»<br />
Kurt Marti: Ja<br />
Peter Bichsel: Warum mir die Geschichte misslungen ist<br />
Walter M. Diggelmann: Die eigene Erfahrung<br />
Doris Morf: Den hat’s schön erwischt<br />
Jörg Steiner: Schnee bis in die Niederungen<br />
Herbert Meier: Verstummt<br />
Ernst P. Gerber: Martin<br />
Adolf Muschg: Statt einer Geschichte («Der Taubstumme»)<br />
Gérald Lucas: Deux extraits de «L’ Abcès»<br />
Corinna Bille: L’ enfant aveugle<br />
C-F. Landry: «Coupe du Monde»<br />
Felice Filippini: Al Dio del lavoro<br />
Mario Agliati: Visita ai ciechi<br />
Hendri Spescha: Nin<br />
Inhaltsübersicht «Erfahrungen – Témoignage – Testimonianze» (Pro Infirmis 1970)<br />
Nur wenige Jahre später erscheint unter dem Titel «Mein Geheimnis gehört mir»<br />
(Fischer 1974) eine Auswahl von Gedichten, Erzählungen und Romanpassagen,<br />
welche «Begegnungen mit <strong>Seelenpflege</strong>-bedürftigen Kindern und Erwachsenen»<br />
(ebd.) ermöglichen; der Herausgeber Bernhard Fischer weist in der Einführung zur<br />
Textsammlung darauf hin, dass Literatur ganz entscheidend zum Verständnis der<br />
Lebenssituation von Menschen mit Behinderung beitragen kann: «Hier habe ich mehr<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 11
Beiträge<br />
erfahren von dem Geheimnis, das diese Kinder auf ihrem Erdenwege begleitet. Der<br />
Dichter erinnert uns daran, den Menschen als Menschen nicht aus dem Auge zu verlieren.»<br />
(Ebd., S. 11) Die versammelten Texte und Textpassagen entstammen durchwegs<br />
der Weltliteratur, wobei deutschsprachige Autoren aus dem neunzehnten und<br />
zwanzigsten Jahrhundert einen Schwerpunkt bilden.<br />
«Mein Geheimnis gehört mir»<br />
Begegnungen mit <strong>Seelenpflege</strong>-bedürftigen Kindern und Erwachsenen in der Dichtung<br />
Theodor Storm: Wienke<br />
Adalbert Stifter: Ditha<br />
Gerhart Hauptmann: Tobias<br />
Herman Jülich: Glen<br />
Johannes Urzidil: Otti<br />
Juan Ramon Jiménez: Die kleine Hinkende<br />
Adalbert Stifter: Das kleine Mädchen mit dem grossen Haupte<br />
Johann Wolfgang von Goethe: Mignon<br />
Max Brod: Die Kinder in der Spornergasse<br />
Friedrich Doldinger: Ein Heldengeschlecht<br />
Conrad Ferdinand Meyer: Julian<br />
Franz Werfel: Junge Bettlerin an der Krücke<br />
Fedor M. Dostojewski: Lisaweta<br />
Pearl S. Buck: Die kleine Närrin<br />
Dylan Thomas: Der Bruder des Regens<br />
Conrad Ferdinand Meyer: Allerbarmen<br />
Herman Melville: Pip<br />
Charles Dickens: Barnaby und der Rabe Grip<br />
Joachim Ringelnatz: Besuch in der Landes-Heilanstalt<br />
John Steinbeck: Lennie<br />
Christine Lavant: Du hast meine Sinne verrückt<br />
Carl Jacob Burckhardt: Färber Hans<br />
Nelly Sachs: Die Schwachsinnige<br />
Inhaltsübersicht «Mein Geheimnis gehört mir» (Fischer 1974)<br />
Knapp zwanzig Jahre später legt Jörg Grond eine weitere Anthologie mit literarischen<br />
Texten erzählter Behinderung vor: Ähnlich wie bei dem von Pro infirmis herausgegebenen<br />
Band werden dafür Autorinnen und Autoren um Beiträge angefragt, und wiederum<br />
ist ein Jubiläum Anlass für das Buchprojekt: Zur Feier des 100-jährigen Bestehens<br />
des «Friedheims Weinfelden 1892-1992» (Grond 1992) verfassen neunzehn Schweizer<br />
Autorinnen und Autoren insgesamt dreissig Texte «über Menschen mit Behinde-<br />
12
Beiträge<br />
rungen», welche unter dem Titel «Im Schatten des Apfelbaumes» (ebd.) veröffentlicht<br />
werden. Und wie Pro infirmis mit der 1970 erschienenen Anthologie «Erfahrungen –<br />
Témoignage – Testimonianze» (Pro infirmis 1970) verfolgt der Herausgeber Jörg Grond<br />
das Ziel, mit Hilfe literarischer Texte «Brücken zu schlagen zwischen Behinderten und<br />
ihren Angehörigen einerseits und der breiten Öffentlichkeit anderseits» (Grond 1992,<br />
S. 259), denn «Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen leiden oft mehr an<br />
der sozialen Ächtung durch die Nichtbehinderten als an der Behinderung selber. Sie<br />
leiden am Umstand, dass sie mitten unter uns und doch am Rande leben, in Sonderwelten<br />
ausgesondert, zu Sonderfällen gemacht und geworden.» (Ebd.)<br />
«Im Schatten des Apfelbaumes»<br />
Schweizerische Schriftstellerinnen und Schriftsteller schreiben über Menschen mit Behinderungen<br />
Romie Lie: All dies<br />
Elsbeth Schneider: Flaumfedern<br />
Adelheid Duvanel: Vogel friss oder stirb<br />
Adelheid Duvanel: Ein kleiner, leerer Kreis<br />
Helen Meier: Lichtempfindlich<br />
Elsbeth Schneider: So wie Du<br />
Marianne Ulrich: Menschen am Weltrand – Franz<br />
Marianne Ulrich: Menschen am Weltrand – Florian<br />
Marianne Ulrich: Menschen am Weltrand – Valentin<br />
Elsbeth Schneider: Keine Grenze<br />
Theres Roth-Hunkeler: Stammhalter<br />
Eveline Hasler: Mongoloides Kind<br />
Urs Faes: Michi Bub<br />
Ruth Keller: Zwei Kinder<br />
Kristin T. Schnider: Fremde Schwestern<br />
Elsbeth Schneider: Wenn Du weggehst<br />
Esther Spinner: ruedi<br />
Theo Candinas: Afin<br />
Elsbeth Schneider: König bist Du<br />
Emil Zopfi: Meine Schwester<br />
Ruth Keller: Mongoloid<br />
Martin Hamburger: Aussehen<br />
Heinrich Kuhn: Seltsame Übereinstimmung<br />
Elsbeth Schneider: Und Du Sonnenkind<br />
Verena Wyss: Edgar<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 13
Beiträge<br />
Maya Hostettler: Michaela<br />
Elsbeth Schneider: Immer wieder<br />
Heinrich Wiesner: Rico. Ein Bericht<br />
Ruth Keller: Kein Echo<br />
Hansjörg Schertenleib: Märklins Heilige Nacht<br />
Inhaltsübersicht «Im Schatten des Apfelbaumes» (Grond 1992)<br />
Die angeführten Anthologien machen deutlich: Es gibt im deutschen Sprachraum eine<br />
Reihe von Textsammlungen, in denen Literatur und Behinderung zusammen kommen;<br />
dass zwei der drei erwähnten Sammelbände schweizerischen Ursprungs sind, mag<br />
ein blosser Zufall sein. Für Christian Mürner und mich war dies jedenfalls der Anstoss,<br />
die vergleichsweise junge Tradition mit einer aktuellen Anthologie weiterzuführen: Vor<br />
zwei Jahren haben wir denn auch Autorinnen und Autoren aus der Deutschschweiz<br />
zur Mitarbeit an der Textsammlung eingeladen und innert Jahresfrist zwei Dutzend<br />
Beiträge erhalten.<br />
«Alles wie immer?»<br />
Geschichten mit Behinderung<br />
Jürg Acklin: Hoppla!<br />
Gabrielle Alioth: Goldfisch<br />
Erica Brühlmann-Jecklin: Wädi. Eine Kinderzeit lang. Ein Leben lang<br />
Theo Candinas: Was einer ist, was einer war …<br />
Monica Cantieni: Toast<br />
Urs Faes: Michael Konrad<br />
Catalin Dorian Florescu: Wunderzeit<br />
Eleonore Frey: Schau mich an<br />
Christian Haller: Der Vorort von Nirgendwo<br />
Franz Hohler: Theater HORA!<br />
Arthur Honegger: Der Kleine<br />
Bernhard Jundt: Juliennng<br />
Christoph Keller: Samsa hat SMA!<br />
Erwin Koch: «Meinsch es ernst?» Doris und Josef. Die Geschichte einer Liebe<br />
Tim Krohn: Arven. Fragment<br />
Charles Lewinsky: Ziegelstein<br />
Klaus Merz: Report<br />
Milena Moser: Alles oder nichts<br />
Adrian Naef: Hier werden sie recht bekommen<br />
14
«Die Geheimnisse» (1989) Aquarell-Wandbild im Humanushaus in Beitenwil<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 15
Beiträge<br />
Maja Peter: Wie richtig<br />
Ralf Schlatter: Battine und dia Starnschnuppan<br />
Gerold Späth: Armin Salm<br />
Angelika Waldis: Mutter, wer bin ich<br />
Heinrich Wiesner: Sie war meine Nachbarin<br />
Verena Wyss: Schwarze Madonna<br />
Inhaltsübersicht «Alles wie immer?» (Gruntz-Stoll u.a. 2013)<br />
Im Unterschied zu den Vorgängeranthologien gab es für unser Buchprojekt weder<br />
einen festlichen Anlass noch eine gesellschaftspolitische Absicht: Sowohl Christian<br />
Mürner wie auch ich selber arbeiten seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />
im Themenfeld von Literatur und Behinderung und entwickeln – zunächst<br />
unabhängig voneinander, dann in wechselseitigem Austausch – das Konzept einer<br />
narrativen Heilpädagogik; in diesem Kontext haben wir auch die Idee einer aktuellen<br />
Textsammlung als gemeinsames Projekt formuliert und realisiert, so dass es inzwischen<br />
insgesamt gut neunzig «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll u.a. 2013)<br />
sind, welche die vier deutschsprachigen Anthologien umfassen. Es ist das Interesse<br />
an literarischen Texten, die Lust am Lesen, welche zur Auseinandersetzung mit den<br />
Geschichten der vier Textsammlungen anregt. Darüber hinaus ist jeder Text ein Beispiel<br />
dafür, dass und was sich «Aus Geschichten lernen» (Baacke u.a. 1979) lässt.<br />
Im Weitern bieten die neunzig Texte der Anthologien aus gut vierzig Jahren vielfältige<br />
Möglichkeiten exemplarischer Analyse und Interpretation im Sinne des «Focused Reading»<br />
(Gruntz-Stoll 2012, S. 84 f.).<br />
«In Geschichten verstrickt»<br />
Lesen und Lernen, Erkunden und Erforschen, Recherchieren und Interpretieren – das<br />
Spektrum der Auseinandersetzung mit literarischen Texten, in denen Erfahrungen<br />
mit Behinderung zur Sprache kommen, ist gross; doch woher rührt die Faszination,<br />
welche von derartigen Erzählungen, Romanen und Geschichten ausgeht? Nicht nur<br />
bei der eigenen Lektüre, sondern vor allem auch beim Vorlesen von Texten erzählter<br />
Behinderung habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Geschichten Zuhörerinnen<br />
und -hörer ganz anders anzusprechen vermögen als beispielsweise Abhandlungen<br />
oder Referate: Im Unterschied zu diesen Formen der Wissensvermittlung, die<br />
sich als vergleichsweise abstrakt und rational charakterisieren lassen, geht es in<br />
Geschichten um konkrete Erfahrungen, die mit Emotionen verbunden sind und schon<br />
daher auf Leserinnen oder Hörer unmittelbar wirken (vgl. Gruntz-Stoll 2008). Gerade<br />
16
Beiträge<br />
wo es um das Zusammenleben von Menschen geht, um Erfahrungen, die Menschen<br />
als Individuen in sozialen Zusammenhängen machen, greifen generalisierte Aussagen<br />
über empirisch gewonnene, quantifizierbare und in diesem Sinne wissenschaftlich<br />
gesicherte Sachverhalte meist zu kurz: Der einzelne Mensch foutiert sich im Zusammenleben<br />
mit andern Menschen um statistische Wahrscheinlichkeiten und verhält<br />
sich immer wieder unabhängig von berechneten Häufigkeiten und Regeln nach eigenen<br />
Gesetzen oder eben unberechenbar.<br />
Eben darum befinden sich Menschen immer wieder auf der Suche nach Möglichkeiten<br />
fürs eigene Denken und Handeln, fürs Verhalten und Verstehen anderer Menschen:<br />
Dabei werden Erfahrungen stets sprachlich verarbeitet, denn «Sein, das verstanden<br />
werden kann, ist Sprache» (Gadamer 1960, S. 450). Geschichten – auch und gerade<br />
solche aus dem Bereiche erzählter Behinderung – bieten dazu Vorlagen, zeigen Möglichkeiten<br />
des Erzählens und des Verstehens, denn «der einzige Zugang zu uns selbst<br />
erfolgt über die Geschichten, in die wir verstrickt sind. Der Zugang zu den andern Menschen<br />
über die Geschichten, in die sie verstrickt sind.» (Schapp 20044, S. 136) Es ist<br />
Wilhelm Schapp, der im Rahmen seiner «Philosophie der Geschichten» (Schapp 1981)<br />
die menschliche Lebenssituation mit den Worten umschrieben hat, dass Menschen<br />
immer und überall «in Geschichten verstrickt» (Schapp 2004) sind. Objektivierende<br />
Forschung, die sich auf beobacht- und berechenbare Quantitäten beschränkt, treibt<br />
erheblichen Aufwand, um eben diese Verstrickung zu vermeiden und bleibt doch stets<br />
«In Geschichten verstrickt» (ebd.), solange sie von Menschen betrieben wird. Literatur<br />
hingegen macht das Verstricktsein zum Thema, indem nicht nur Autorinnen und Autoren,<br />
sondern auch deren Figuren wechselseitige Beziehungen zueinander eingehen und<br />
gerade daraus den Stoff gewinnen, der aus fiktiven wie faktischen Erfahrungen gewoben<br />
ist. Dies gilt auch für «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll u.a. 2013), in<br />
denen es sowohl um erdachte wie auch um erlebte Wirklichkeiten geht, die allesamt<br />
im Horizont möglicher Erfahrungen angesiedelt sind: Hier können Leserinnen und Leser<br />
sich selbst und andere wiederfinden und können zugleich bei andern wie sich selbst<br />
unbekannte Züge und neue Möglichkeiten entdecken.<br />
Geschichten aber «müssen erzählt werden» (Marquard 2009, S. 60), denn «es gilt:<br />
Wir müssen erzählen, weil wir unsere Geschichten sind. » (ebd., S. 61) Odo Marquard<br />
knüpft an Wilhelm Schapps «Philosophie der Geschichten» (Schapp 1981) an und<br />
macht sich für «die Zukunft des Erzählens» (Marquard 2009) stark: «Narrare necesse<br />
est» (Marquard 2000) lautet denn auch die Botschaft, welche die Notwendigkeit des<br />
Erzählens betont – auch und gerade angesichts einer einseitigen Entwicklung von Wissenschaften,<br />
welche Verstrickungen weitgehend ausblenden und sich auch in Bezug<br />
auf Menschen und ihre Erfahrungen zunehmend auf Mess- und Zählbares beschränken.<br />
Die Verknüpfung der beiden Begriffe Literatur und Behinderung beinhaltet unter<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 17
Beiträge<br />
diesen Voraussetzungen auch eine Aufforderung – jene zum Lesen und Erzählen von<br />
Geschichten: Literarische Texte erweitern und vertiefen den Blick und das Verständnis<br />
für andere Menschen und deren Erfahrungen; damit ermöglichen und fördern sie – im<br />
Sinne von Fritz Breithaupt – «Kulturen der Empathie» (Breithaupt 2009).<br />
All dies gilt zweifellos auch für «Geschichten mit Behinderung» (Gruntz-Stoll u.a.<br />
2013); auch hier geht es darum, der «Spur des Anderen» (Lévinas 2007) zu folgen<br />
und das «Fremde (zu) lesen als das Eigene» (Koechlin u.a. 2013). Was dies bedeutet,<br />
zeigt Franz Hohler mit der Geschichte über einen Besuch des Theaters HORA: Aufgeführt<br />
werden «Faust 1 & 2» (Hohler 2013, S. 69) von Schauspielerinnen und -spielern<br />
mit unterschiedlichen Behinderungen; auch hier geht es also um Literatur und Behinderung,<br />
und der Autor erzählt von einzelnen Szenen, schildert Eindrücke und kommt<br />
zum Schluss: «Es ist unglaublich, wie blitzend ihre Augen geworden sind im Spiel,<br />
wie elegant ihre Hüften im Tanz, wie träumerisch ihre Gesichter in den Liebesszenen,<br />
wie leidenschaftlich ihre Bewegungen im Kampf, wie weit und gross ihre Stimmen im<br />
Gesang, es ist unglaublich und anrührend. Nach diesem Stück weiss ich wieder, was<br />
ich eigentlich schon lange weiss: ‹Der Mänsch isch schön!›» (Ebd. S. 70)<br />
Johannes Gruntz-Stoll, Prof. em. Dr. phil., geboren 1952 in Basel. Studium der<br />
Pädagogik, Philosophie und Ethnologie in Bern und Tübingen; 1986 Doktorat<br />
in Bern, 2000 Habilitation in Innsbruck; Lehrtätigkeit an den Universitäten<br />
Basel, Bern und Brixen.<br />
Forschungsschwerpunkte im Bereiche Erziehung und Literatur bzw. Erzählte<br />
Behinderung<br />
Literatur<br />
Baacke, Dieter & Schulze, Theodor (Hrsg.)(1979): Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen<br />
Verstehens. München (Juventa).<br />
Breithaupt, Fritz (2009): Kulturen der Empathie. Frankfurt (Suhrkamp).<br />
Faes, Urs (1992): Michi Bub. In: Grond, Jörg (1992) Im Schatten des Apfelbaumes. Frauenfeld (Huber).<br />
Faes, Urs (1994): Augenblicke im Paradies. Roman. Frankfurt (Suhrkamp).<br />
Faes, Urs (2000): Vom Lesen. In: Ders. u.a. (Hrsg.) Das Eigene und das Fremde. Festschrift für Urs<br />
Bitterli. Zürich (NZZ).<br />
Faes, Urs (2007): Liebesarchiv. Roman. Frankfurt (Suhrkamp).<br />
Fischer, Bernhard (Hrsg.)(1974): Mein Geheimnis gehört mir. Begegnungen mit <strong>Seelenpflege</strong>bedürftigen<br />
Kindern und Erwachsenen in der Dichtung. Stuttgart (Freies Geistesleben).<br />
Gadamer, Hans Georg (1960): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik.<br />
Tübingen (Mohr).<br />
18
Beiträge<br />
Grond, Jörg (Hrsg.)(1992): Im Schatten des Apfelbaums. Frauenfeld (Huber).<br />
Gruntz-Stoll, Johannes (2008): Vorlesen und Nachdenken. Aktuelle Themen und traditionelle<br />
Formen in der Vermittlung und Entwicklung heilpädagogischer Kompetenzen in Aus- und Weiterbildungsveranstaltungen.<br />
In: Biewer, Gottfried, Luciak, Mikael & Schwinge, Mirella (Hrsg.)(2008)<br />
Begegnung und Differenz: Menschen – Länder – Kulturen. Beiträge zur Heil- und Sonderpädagogik.<br />
Bad Heilbrunn (Klinkhardt).<br />
Gruntz-Stoll, Johannes (2012): Erzählte Behinderung. Grundlagen und Beispiele narrativer Heilpädagogik.<br />
Bern (Haupt).<br />
Gruntz-Stoll, Johannes & Mürner, Christian (Hrsg.)(2013): Alles wie immer. Geschichten mit Behinderung.<br />
Zürich (Chronos).<br />
Hohler, Franz (2013): Theater HORA! In: Gruntz-Stoll, Johannes & Mürner, Christian (Hrsg.) Alles wie<br />
immer? Geschichten mit Behinderung. Zürich (Chronos).<br />
Janett, Andri (2007): Behinderung in der Belletristik. Eine Auswahl ab 2000. In: Schweizerische Zeitschrift<br />
für Heilpädagogik. Jg. 2007. Nr. 7/8. Luzern (SZH).<br />
Koechlin, Annette & Gruntz-Stoll, Johannes (Hrsg.)(2013): Das Fremde lesen als das Eigene. Beiträge<br />
zur narrativen Heilpädagogik. Bern (Haupt).<br />
Lévinas, Emmanuel (1982; dt. 1983; 2007): Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie<br />
und Sozialphilosophie. Freiburg (Alber).<br />
Lüthi, Max (1966): Gebrechliche und Behinderte im Volksmärchen. In: Ders. (1970) Volksliteratur<br />
und Hochliteratur. Menschenbild – Thematik – Formstreben. Bern (Francke).<br />
Marquard, Odo (2000): Narrare necesse est. In: Die politische Meinung. Nr. 362/1.2000. S. 93-95.<br />
Marquard, Odo (2004): Die Philosophie der Geschichten und die Zukunft des Erzählens. In: Lembeck,<br />
Karl-Heinz (Hrsg.) Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm<br />
Schapps. Würzburg (Königshausen & Neumann).<br />
Moretti, Franco (2005; dt. 2009): Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte.<br />
Frankfurt (edition suhrkamp).<br />
Mürner, Christian (1990): Behinderung als Metapher. Pädagogik und Psychologie zwischen Wissenschaft<br />
und Kunst am Beispiel von Behinderten in der Literatur. Bern (Haupt).<br />
Mürner, Christian (Hrsg.)(1997): Das bucklige Männlein. Behinderte Menschen im Märchen zwischen<br />
Verherrlichung und Verniedlichung. Luzern (SZH).<br />
Mürner, Christian (2010): Erfundene Behinderungen. Bibliothek behinderter Figuren. Neu-Ulm (AG SPAK).<br />
Pro Infirmis (Hrsg.)(1970): Erfahrungen – Témoignage – Testimonianze. 14 Autoren zum Thema «Der<br />
Behinderte und seine Umwelt». Bern (Lukianos).<br />
Radtke, Peter (1982): Behinderte Menschen in Werken der Weltliteratur. Literatur – ein Abbild, das<br />
Wirklichkeit schafft. In: Kagelmann, H. Jürgen & Zimmermann, Rosmarie (Hrsg.) Massenmedien und<br />
Behinderte. Im besten Falle Mitleid? Weinheim (Beltz).<br />
Schapp, Wilhelm (1953; 2004): In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Frankfurt<br />
(Klostermann).<br />
Schapp, Wilhelm (1959; 1981): Philosophie der Geschichten. Frankfurt (Klostermann).<br />
Uther, Hans-Jörg (1981): Behinderte in populären Erzählungen. Studien zur historischen und vergleichenden<br />
Erzählforschung. Berlin (de Gruyter).<br />
Würtz, Hans (1931): Zerbrecht die Krücken. Krüppel-Probleme der Menschheit. Schicksalsstiefkinder<br />
aller Zeiten und Völker in Wort und Bild. Leipzig (Voss).<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 19
Seelische Notlagen bei Menschen mit kognitiven<br />
Beeinträchtigungen<br />
Über den Umgang mit «Doppeldiagnosen»<br />
Von Walter J. Dahlhaus<br />
Im November vergangenen Jahres fand eine Fachtagung der Fachverbände für<br />
Menschen mit Behinderungen in Kassel statt 1 , federführend unter der Leitung<br />
von Prof. Michael Seidel von den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel.<br />
Anliegen der Tagung war die Sorge um das Ausmass zusätzlich psychisch<br />
erkrankter seelenpflegebedürftiger Menschen und der erhebliche Mangel im<br />
Erkennen und Behandeln der hier betroffenen Menschen – Kinder, Jugendliche<br />
und vornehmlich Erwachsene, bei denen man den Begriff «Doppeldiagnose»<br />
verwendet.<br />
Der Begriff «Doppeldiagnosen» wird allgemein verstanden als das zusätzliche<br />
Auftreten einer psychischen Störung bzw. seelischen Erkrankung bei einer<br />
Person mit einer sogenannten geistigen Behinderung, also einer primären<br />
<strong>Seelenpflege</strong>bedürftigkeit (Dahlhaus 2011).<br />
Der Begriff der Diagnose meint hier die konkrete Umschreibung sowohl eines<br />
konstitutionellen Bildes als auch eines Krankheitsbildes mit dem Ziel, durch<br />
die tiefere Kenntnis dieser Bilder den Betroffenen adäquate Hilfe gewähren<br />
zu können. Der Begriff der Diagnose wird hier nicht als, wie gelegentlich geäussert,<br />
«Abstempeln» bzw. Stigmatisierung verstanden, sondern als Öffnung<br />
hin zu einem spezifischen therapeutischen Konzept.<br />
Eine aussagekräftige Studie über das Auftreten zusätzlicher seelischer Erkrankungen<br />
bei behinderten Menschen geht davon aus, dass bis zu 40% davon<br />
betroffen sind. D. h., ca. 40% der erwachsenen Bewohnerinnen und Bewohner<br />
sozialtherapeutischer Einrichtungen zeigen zusätzliche Zeichen einer konkreten<br />
psychiatrischen Erkrankung 2 . Dies wird differenziert in ca. 35 % der<br />
Betroffenen mit einer so definierten leichten Form einer geistigen Behinderung<br />
bis zu 45 % einer mittelgradigen bis schwersten geistigen Behinderung.<br />
Das ist eine grosse Zahl!<br />
20
Beiträge<br />
Im engeren Sinne kennen wir vor allem folgende konkreten psychiatrischen Erkrankungen:<br />
- Psychotische Erkrankungen,<br />
- Affektive Störungen (vor allem Manie und Depression),<br />
- Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen, hierzu zählen insb. auch die<br />
unterschiedlichen Formen einer posttraumatischen Belastungsstörung,<br />
- Borderline-Erkrankungen,<br />
- Zwangs- und Angststörungen,<br />
- Essstörungen,<br />
- Demenz.<br />
Es gelingt immer mehr, hinter den früher als «Verhaltensstörungen» negativ assoziierten<br />
Formen herausfordernden Verhaltens konkrete seelische Erkrankungen zu<br />
benennen und zunehmend adäquat zu behandeln. Ein Vorreiter im Erkennen und<br />
Beschreiben seelischer Erkrankungen bei behinderten Menschen, Anton Dosen<br />
beschreibt: «Im letzten Jahrzehnt wurde der grosse Rückstand der psychiatrischen<br />
Diagnostik und Behandlung von Menschen mit intellektueller Behinderung zum Teil<br />
aufgeholt. Während damals noch vor allem betont werden musste, dass Menschen<br />
mit einer intellektuellen Behinderung psychische Störungen – wie alle anderen Menschen<br />
auch – haben können, ist diese Tatsache heutzutage bekannt und weitgehend<br />
akzeptiert» (Dosen 2010).<br />
Eine wachsende Anzahl von Publikationen widmet sich dem Thema und konkretisiert<br />
die Besonderheiten von Diagnose und Therapie der Betroffenen (Schanze 2007; Lingg<br />
& Theunissen 2008).<br />
Eine wesentliche Gruppe der hier Betroffenen sind Bewohner mit selbst- und fremdaggressiven<br />
Verhaltensweisen, eben ausgeprägt herausforderndem Verhalten oder<br />
«Problemverhalten». Diese Bewohner fordern durch ihr Verhalten oft dichtere, Sicherheit<br />
vermittelnde Strukturen bzw. Beziehungen heraus (Heijkoop 2002).<br />
Immer mehr Untersuchende sehen gerade bei dieser Gruppe der betroffenen Menschen<br />
das komplexe Bild einer posttraumatischen Belastungsstörung.<br />
Als Ursache der besonderen Häufigkeit psychischer Störungen bei seelenpflegebedürftigen<br />
Menschen werden folgende Faktoren gesehen:<br />
- Unterschiedliche Formen von Hirnschädigungen, insbesondere einer frühkindlichen<br />
Hirnschädigung,<br />
- Erhebliche Beeinträchtigungen der psychosozialen Entwicklung,<br />
- Problematische biografische bzw. Sozialisationserfahrungen,<br />
- Stigmatisierung im äusseren Erscheinungsbild,<br />
- Verminderte Kompetenz für adäquates Coping (d. h. mangelnde Bewältigungsstrategien der<br />
eigenen Behinderung),<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 21
Beiträge<br />
- Genetische Bedingtheit (d. h. spezifische Belastungsfaktoren, z. B. bei Down-Syndrom,<br />
fragiles X-Syndrom, Smith-Magenis-Syndrom, Prader-Willy-Syndrom, Tuberöse Sklerose<br />
o.Ä. – auch als Verhaltensphänotyp beschrieben),<br />
- belastende Auswirkungen einer medikamentösen Behandlung im Sinne eines negativen<br />
Psychotropen Pharmakoeffekts.<br />
Im Weiteren sollen kurz konkrete psychiatrische Erkrankungen beschrieben werden.<br />
Psychosen/schizophrene Psychosen<br />
Die Schizophrenie kann als Urbild des psychotischen Krankheitsprozesses betrachtet<br />
werden. Die ganze menschliche Seele wird davon ergriffen – oft beginnend im<br />
Willensbereich mit einer tiefen Antriebsstörung, aufsteigend in den Gefühlsbereich<br />
mit erheblichen Gemütsschwankungen und heftigen Erregungen bis ins Denken mit<br />
ausgeprägter Beeinträchtigung in der Orientierung und verbunden mit den charakteristischen<br />
Denkveränderungen des Wahns und der Halluzinationen. Die Erkrankung<br />
erfasst den ganzen Menschen. In der Folge kommt es zu erheblichen Beeinträchtigungen<br />
der sozialen Lebensgestaltung. Die schizophrene Psychose stellt ein schweres<br />
Leiden dar – sowohl für den Betroffenen als auch für Angehörige und das Umfeld.<br />
Bedingt insbesondere durch hirnorganische Veränderungen und relativ häufige psychosoziale<br />
Belastungen in den frühen Entwicklungsjahren treten solche schweren<br />
psychotischen Zustände auch bei Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung<br />
relativ oft auf und stellen für sozialtherapeutische Einrichtungen eine grosse<br />
Herausforderung dar.<br />
Beispiel:<br />
Philipp S. 3 , ein seinerzeit 25-jähriger Mann, Z. n. Sauerstoffmangel unter der Geburt<br />
mit beeinträchtigter psychomotorischer Entwicklung. Herr S. zeigte sich von jeher still,<br />
gehemmt, nur sehr eingeschränkt kommunikativ. Dennoch ist er gut in Lebensbereich<br />
und Werkstatt der Einrichtung eingegliedert. Nach dem Auszug der Hauseltern – aus<br />
Rationalisierungsgründen wurde eine Nachtwache für mehrere Häuser gemeinsam<br />
eingerichtet – zeigt er sich über Monate verändert. Er zeigt sich noch stiller, magert<br />
ab, sein Blick wirkt angstvoll und zutiefst irritiert.<br />
Bei stark eingeschränkter sprachlicher Ausdrucksfähigkeit erfahren die Mitarbeitenden<br />
von ihm nach und nach: Er kann sich nachts nicht mehr in sein Bett legen, da – für<br />
sein Erleben – eine Flamme auf seinem Kopfkissen brennt; überdies erkennt er die<br />
Mitarbeitenden nicht mehr, wähnt sie als «böse Räuber».<br />
Es besteht eine paranoid-halluzinatorische schizophrene Psychose.<br />
22
«Die Schwelle» (1990) Aquarell-Wandbild auf einer Sichtbacksteinwand im Lehenhof<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 23
Beiträge<br />
Neben einer neuroleptischen Behandlung (Risperidon) mit dem Ziel der Angstberuhigung<br />
sowie der Minderung der Wahnhinhalte wird in der Einrichtung eine geschützte<br />
Wohnsituation geschaffen, die dem Bedürfnis nach Geborgenheit entspricht. Heileurythmie-Epochen<br />
(hier vor allem konsequentes Üben des Lautes E zur Kräftigung der<br />
Lebenskräfte) sowie eine Behandlung mit Hyoscyamus-Präparaten beruhigen die<br />
Situation langsam.<br />
Noch nach Jahren besteht eine verminderte Belastbarkeit und latente Ängstlichkeit. Die<br />
allopathische Medikation konnte bis auf eine kleine Restdosierung reduziert werden.<br />
Depression<br />
Es gibt unterschiedliche Formen depressiver Erkrankungen. Zum Teil treten sie in<br />
Phasen auf, die über Wochen bis Monate bestehen (Major-Depression bzw. endogene<br />
Depression). Als reaktive Depression beschreibt man eine anhaltende depressive Verstimmung,<br />
die als unmittelbare und anhaltende Folge eines belastenden Lebensereignisses<br />
auftritt. Dysthymie oder neurotische Depression, verbunden oft mit grosser<br />
Kränkbarkeit und verminderter Leistungsfähigkeit vor dem Hintergrund eines beeinträchtigten<br />
Selbstgefühls, kann sich lebensprägend auswirken.<br />
Als symptomatische Depressionen beschreiben wir depressive Stimmungslagen, die<br />
verschiedene innere Erkrankungen wie Krebserkrankung, Stoffwechselerkrankung,<br />
Schlaganfall, Herzerkrankung u. Ä. begleiten.<br />
Neben diesen auch als monopolare affektive Störungen beschriebenen Erkrankungen<br />
kennen wir bipolare affektive Störungen, wenn das Erscheinen einer Depression mit<br />
dem Auftreten manischer Phasen wechselt. Depressive Erkrankungen umfassen das<br />
Gesamt des Seelenlebens, beeinträchtigen Denk- bzw. kognitive Fähigkeiten, emotionale<br />
Seiten der Persönlichkeit sowie den Antrieb und die Aktivität.<br />
Beispiel:<br />
Julia G., 38 Jahre, Z. n. frühkindl. Hirnschädigung. Sie kommuniziert in 1-2 Wortsätzen.<br />
Seit Jahren zeigen sich wechselnde Stimmungslagen wobei die Amplitude der<br />
Schwankungen sich immer stärker ausprägt. Phasen von Tagen bis hin zu langen<br />
Wochen sind geprägt durch Wimmern, Weinen und Schreien; die Nächte sind stark<br />
beansprucht, sie zeigt tiefe Ringe um die Augen, hat wenig Appetit; sie erscheint<br />
schwer zugänglich, bei Aufforderungen treten zum Teil erhebliche fremd- sowie autoaggressive<br />
Verhaltensweisen auf. Ebenfalls besteht in diesen Phasen eine zunehmende<br />
Inkontinenz. Im Anschluss an solche Phasen treten Zeiten eines gesteigerten Antriebs<br />
und Mitteilungsdrangs auf, für eine Weile zeigt sie sich da spritzig und humorvoll bis<br />
24
Beiträge<br />
die Situation umschlägt in Unruhe bis spät in den Abend, verbunden mit wachsender<br />
Reizbarkeit und Verletzbarkeit. Nach diesen Phasen können Wochen eines relativen<br />
Ausgeglichen-Seins auftreten, allerdings mit leicht reduzierter Antriebslage im Sinne<br />
einer Erschöpfung.<br />
Die psychiatrische Diagnose beschreibt eine bipolare affektive Psychose mit den<br />
Polen der Depression und der Manie, mit einer anderen älteren Bezeichnung eine<br />
Zyklothymie. Nach der diagnostischen Klärung erfolgt zunächst ein medikamentöser<br />
Behandlungsversuch mit dem sogenannten Phasenprophylaktikum Lithium, nach<br />
über Monate ausbleibendem Behandlungserfolg wird auch Carbamazepin eingesetzt.<br />
Erst das Eindosieren des Neuroleptikums Quetiapin in höherer Dosierung lindert die<br />
Phasen deutlich.<br />
Im sozialtherapeutischen Rahmen erfolgt eine Begrenzung der Tätigkeit in der Werkstatt,<br />
der Arbeitstag beginnt um 10.00 Uhr, ein halber Tag ist ein Ruhetag, hier erfolgt<br />
ein Nährbad mit Nachruhe. Die Reduktion der Anforderungen scheint den verfügbaren<br />
Kräften angemessen. Ergänzende Medikation mit Aurum D 12. In der Heileurythmie<br />
werden vornehmlich seelische Übungen durchgeführt.<br />
Als ausdrücklich förderlich zeigt sich, dass die Mitarbeitenden die Verhaltensweisen<br />
nicht moralisch beurteilen, zunehmend den Krankheitswert hinter den Schwankungen<br />
sehen, neben der nun konsequent durchgeführten beschriebenen Struktur<br />
und Therapie.<br />
Angst- und Zwangsstörungen<br />
Jeder Mensch kennt Angst – Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer<br />
wieder veränderten Formen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tod – Angst<br />
gehört zu unserer menschlichen Existenz. Wir können an Angst wachsen, gerade<br />
auch, indem wir Mut, Hoffnung, Demut und Liebe entwickeln. Angst kann auch ein<br />
Wegweiser sein: Wenn wir uns ihr aufmerksam stellen und sie annehmen, bekommen<br />
wir mehr Zugang zu dem, was in uns nach Veränderung, nach Vertiefung sucht. So<br />
kann der offene Umgang mit eigenen Ängsten die Persönlichkeit stärken.<br />
Angst kann sich aber auch verselbständigen und das Leben eines Menschen zutiefst<br />
einengen. Es kann dann zu einem tiefen Leiden werden, das eine mögliche Erlebensfülle<br />
entscheidend trübt und überschattet. So sind Angststörungen die häufigste psychische<br />
Erkrankung überhaupt. Als Begleitung anderer seelischer Erkrankung, wie z.<br />
B. Depressionen oder Psychosen, aber auch als reine Angst als Phobie, als Angststörung<br />
oder auch in Form von Panikattacken.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 25
Beiträge<br />
Nahe verbunden der Angst sind die Zwangsstörungen, die unterschiedliche Ursachen<br />
haben. Dahinter kann eine Autismusspektrumstörung stehen, eine Psychose,<br />
Zwangsstörungen können aber auch ein ausgeprägtes Symptom sogenannter neurotischer<br />
Störungen sein, d. h. Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsreifung begleiten.<br />
Zwang ist praktisch immer auch mit Angst verbunden, Zwang versucht, Angst<br />
beherrschbar zu machen.<br />
Beispiel:<br />
Beate L. ist eine 29-jährige Bewohnerin mit einem Down-Syndrom. Im Haus der<br />
Bewohnerin kam es aus unterschiedlichen Gründen im Verlauf von zwei Jahren zu<br />
drei Todesfällen. Zunächst nur ganz verhalten, im Verlauf einiger Monate dann zunehmend,<br />
trat eine Zwangssymptomatik auf. Neben anfänglichen Ordnungszwängen in<br />
Bezug auf die Kleidung trat ein tickhaftes Verhalten auf mit ruckartigen Kopfbewegungen,<br />
dem Zwangsbedürfnis, bei der gemeinsamen Mahlzeit in Teller und Schüssel<br />
zu spucken, später grenzte sich der Bewegungsradius innerhalb der Einrichtung ein<br />
mit der Angst, über bestimmte Schwellen zu steigen. Im Zusammenhang mit einer<br />
Ausbreitung der Angstsymptomatik bis hin zu einer schweren Schlafstörung wurde<br />
eine zwangsmindernde antidepressive Therapie neben einer neuroleptischen Medikation<br />
eingerichtet. Insbesondere erhielt die Bewohnerin fast ausschliesslich eine<br />
Einzel-Betreuung, indem eine Betreuerin mit ihr die Mahlzeiten auf dem Zimmer im<br />
abgesonderten Bereich einnahm, sowie ein Mitarbeiter sie in einer einzelnen Werkstattsituation<br />
begleitete. Es wurde an dieser Stelle auch an eine stationäre Behandlung<br />
gedacht, in Ermangelung einer adäquaten Möglichkeit wurde eine heiminterne<br />
Lösung geschaffen, die durch die personelle Verdichtung Einschränkung in anderen<br />
Bereichen erbrachte, von der gesamten Einrichtung aber getragen wurde. Künstlerisch-therapeutisch<br />
wurde heileurythmisch gearbeitet, insbesondere aufrechtes<br />
Schreiten sowie die Laute G und I.<br />
In biografisch psychotherapeutischen Gesprächen wurden die Themen Sterben, Tod,<br />
Abschied behandelt. Nach ca. fünf Monaten dichter Begleitung konnte eine langsame<br />
Wiedereingliederung in kleinen Schritten in den Gruppenbereich und in den Werkstattbereich<br />
realisiert werden. Nach jetzt wenigen Jahren wird nur noch eine reduzierte<br />
allopathische Behandlung durchgeführt, ergänzt durch ein Goldpräparat und<br />
Johanniskraut. Es ist wieder eine weitgehende soziale Belastbarkeit erreicht. Eine<br />
gewisse Enge und ein erhöhtes Strukturbedürfnis bestehen noch, sie wirkt ernster<br />
aber auch gereifter.<br />
26
Beiträge<br />
Trauma/Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)<br />
«Unter einer traumatischen Erfahrung versteht man, dass die Situation überwältigend<br />
ist und dazu führt, dass man sich extrem ohnmächtig und hilflos fühlt. Ausserdem<br />
erlebt man Gefühle von Panik, Todesangst, Ekel» (Reddemann 2006).<br />
Neben schweren Formen einer Traumatisierung, insbesondere durch sexuelle Gewalt,<br />
äussere Gewalt, Kriegserlebnisse, Folter u. Ä. kennen wir auch den Bereich der emotionalen<br />
Traumatisierung, d. h. der schweren und erheblichen frühkindlichen Vernachlässigung<br />
und Deprivation.<br />
B. Senckel ergänzt dieses Spektrum durch spezifische Formen emotionaler Traumatisierung<br />
bei seelenpflegebedürftigen Menschen und fasst folgende Erfahrungen zusammen:<br />
- Der Mangel an grundlegender Annahme und Wertschätzung,<br />
- Sich wiederholende emotionale Verlassenheit und Trennung,<br />
- Abwertung, Zurücksetzung, Ausgrenzung,<br />
- Fremdbestimmung, Anpassungsdruck, Kontrolle,<br />
- Einschränkungen, Verweigerung der Selbstbestimmung (auch da, wo sie möglich wäre),<br />
- Perspektivlosigkeit (Senckel 2002)<br />
Hinter der vielfältigen Symptomatik, die Ausdruck einer posttraumatischen Belastungsstörung<br />
ist, finden sich neben Zeichen der Übererregung, wiederkehrenden<br />
überwältigenden Erinnerungen und Vermeidungsverhalten neben einer erheblichen<br />
Angstneigung, Formen einer sogenannten Dissoziation, d. h. einer schwerwiegenden<br />
Beeinträchtigung der leiblich- seelischen Integration.<br />
Wahrscheinlich müssen wir viele Kinder und insbesondere Erwachsene im Bereich der<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie vor diesem Hintergrund verstehen lernen.<br />
Beispiel:<br />
Bettina F. ist eine 35-jährige Bewohnerin einer Einrichtung. Mit grosser Wahrscheinlichkeit<br />
erlitt sie als Kind und Jugendliche sexuelle Gewalt im familiären Umfeld. In<br />
langjährig fürsorglicher heilpädagogischer und später sozialtherapeutischer Betreuung<br />
erwarb sie sich ein minimales Selbstvertrauen.<br />
Durch einen Übergriff eines Mitbewohners erlitt sie eine Retraumatisierung. Es traten<br />
dabei erhebliche Selbstverletzungstendenzen auf, indem sie sich den Arm mit einem<br />
Messer tief ritzte und Schrauben, Steine u. Ä. in die Wunde steckte. In der Exploration<br />
konnten ihre eingeschränkten sprachlichen Äusserungen dahingehend gedeutet<br />
werden, dass sie unter Flashbacks bzw. Intrusionen leidet (sich aufdrängenden Erinnerungen<br />
von traumatischen Erlebnissen), die jetzt zu Dissoziationen führen (schwere<br />
Lockerungen) und die Manipulationen geschehen, um ein Selbstgefühl wieder zu verstärken<br />
(«damit ich mich fühle»).<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 27
Beiträge<br />
Angelehnt an in der Trauma-Arbeit angewendete Imaginationsübungen (Reddemann<br />
2003) baute sie sich eine Kiste, in die sie bei aufkommenden «bösen Gedanken»<br />
(d. h. Ängsten in Zusammenhang mit Flasbacks) diese Gedanken deponieren konnte.<br />
Anfänglich musste die Massnahme verschiedentlich angepasst werden – seit Jahren<br />
treten keine Selbstverletzungen mehr auf.<br />
Ermöglicht wird diese therapeutische Intervention durch eine liebevoll-fürsorgliche<br />
Gruppen- sowie Werkstattführung, die das Grundbedürfnis eines verletzten Menschen<br />
nach seinem «sicheren Ort» – der sowohl in einer zwischenmenschlichen Beziehung<br />
wie im äusseren realen Ort realisiert werden muss – bietet.<br />
Weiterhin wird neuroleptisch behandelt, was die als tief bedrohlich erlebte Angst<br />
mildert. Durch kreatives Tun (vor allem Mandala-Malen) kann sie sich als gestaltend<br />
in der Welt erleben – was ein wesentliches Gegenbild zum Ausgeliefert-Sein des traumatisierten<br />
Menschen gesehen werden kann.<br />
Soweit einige Beispiele als Eindruck eines weiten und umfangreichen, aber hoch<br />
bedeutenden Spektrums.<br />
Der therapeutische Umgang in der Begleitung von Menschen mit Doppeldiagnosen<br />
stellt für alle Beteiligten eine grosse Herausforderung dar.<br />
Wichtig scheint mir die Zusammenarbeit mit einem psychiatrischen Facharzt, der über<br />
Kenntnisse einer differenzierten Psychopharmakotherapie verfügt. So sollte der verordnende<br />
Arzt über ein breites Wissen hinsichtlich der einsetzbaren Substanzgruppen<br />
verfügen, dabei sowohl das jeweilige Wirkspektrum kennen, als auch insbesondere<br />
sehr differenziert mögliche Nebenwirkungen erkennen können. Auch sollte er bei den<br />
betreuenden Heilpädagogen und Sozialtherapeutinnen den Blick für gewünschte und<br />
unerwünschte Wirkung eines Medikamentes schärfen helfen.<br />
Eine entsprechende allopathische Medikation spielt eine wichtige Ergänzung eines<br />
therapeutischen Rahmens dar, muss jedoch immer in ein differenziertes Gesamtkonzept<br />
eingebettet sein.<br />
Hier steht eine bewusst eingesetzte Beziehungsgestaltung im Mittelpunkt. Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie sind im Wesentlichen Beziehungsarbeit – in gesteigertem<br />
Masse im hier geschilderten Zusammenhang.<br />
Weiter bedarf es einer sozialen Struktur im Lebens- und Arbeitsbereich, die für den<br />
so Erkrankten hinreichend bewältigbar ist. Hilfreich ist hier der Ansatz, den Rudolf<br />
Steiner u. a. in einem Brief von 1915 erwähnt und der lautet, dass wir dem andern nur<br />
dann etwas sein können, wenn wir uns in seine Innenlage versetzen können (Steiner<br />
1987, zit. nach Grimm 2010, S. 28).<br />
28
Beiträge<br />
Neben der allopathischen Medikation, die vorrangig am jeweiligen Symptom ansetzt<br />
(und dadurch aber oft Beziehung und Zusammenarbeit mit dem Betroffenen überhaupt<br />
erst ermöglicht), stellt die vorrangig konstitutionsstärkend wirkende anthroposophische<br />
Medizin eine wichtige Wirkkomponente dar. Je nach Ansatz des<br />
behandelnden Arztes können hier auch homöopathische und phytotherapeutische<br />
Medikamente eingesetzt werden.<br />
Unverzichtbar in einem therapeutischen Gesamtkonzept ist Kunsttherapie. Hierzu<br />
zähle ich das breite Spektrum der Kunsttherapien, voran die Heileurythmie – Kunsttherapie<br />
bezeichne ich hier als Psychotherapie, da sie auch mit seelischen Mitteln<br />
bis in Struktur und Konstitution des Leibes wirkt – weiterhin auch die Gesprächspsychotherapie.<br />
Lange Zeit, als man noch von der klassischen Form der Psychotherapie ausgegangen<br />
ist, wurde diese als für nicht praktikabel in der Behandlung seelenpflegebedürftiger<br />
Menschen gesehen. Heute wissen wir zunehmend von differenzierten Formen von<br />
psychotherapeutischen Massnahmen. Diese Möglichkeiten sollten dringend weiter<br />
vertieft werden 4 .<br />
Gerade auch dies kann bedacht und berücksichtig werden: Psychotherapie ist – ob<br />
in Form von Kunsttherapie oder Gesprächstherapie – praktisch immer eine Einzel-<br />
Beziehung. Sie trägt das Urbild einer sicheren und Sicherheit gebenden Beziehung<br />
in sich und ist dadurch per se heilsam, wie auch Martin Buber es beschreibt: «In<br />
seinem Sein bestätigt will der Mensch durch den Menschen werden und will im Sein<br />
des Anderen eine Gegenwart haben. Die menschliche Person bedarf der Bestätigung,<br />
weil der Mensch als Mensch ihrer bedarf. Das Tier braucht nicht bestätigt werden,<br />
denn es ist, was es ist, unfraglich. Anders der Mensch: Aus dem Gattungsbereich der<br />
Natur ins Wagnis der einsamen Kategorie geschickt, von einem mitgeborenen Chaos<br />
umwittert, schaut er heimlich und scheu nach einem ja des Sein-Dürfens aus, das ihm<br />
nur von menschlicher Person zu menschlicher Person werden kann; einander reichen<br />
die Menschen das Himmelsbrot des Selbst-Sein.» (Buber 1953, S. 53)<br />
Somit will Therapie prinzipiell immer ein umfassender und ganzheitlicher Weg sein. Er<br />
gründet in der Haltung, dem Patienten (d. h. dem «Leidenden») gegenüber im achtungsvollen<br />
Umgang. Er umfasst Struktur und Setting der Umgebungsbedingungen, allopathische<br />
Medikation wie anthroposophische, homöopathische oder phytotherapeutische<br />
Medizin. Kunsttherapie und spezifische Psychotherapie komplettieren den Ansatz.<br />
Die jeweiligen Bedingungen und Möglichkeiten von Situation und Einrichtung erfordern<br />
gelegentlich ein pragmatisches Handeln – nur das Machbare kann gemacht<br />
werden. Dennoch sollten wir immer bemüht sein, jedweden Ansatz im Sinne und<br />
Dienste des Betroffenen wie seiner Umgebung zu verbessern und zu optimieren.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 29
Beiträge<br />
Rudolf Steiners wegweisende Hinweise in Bezug auf die Verbindung von Pädagogik<br />
und Behandlung wie Prophylaxe psychiatrischer Erkrankungen bedürfen weiterer<br />
Forschungsarbeit (Steiner 2000, S. 306). Sehr fruchtbare Ansätze für die Gestaltung<br />
eines hilfreich-therapeutischen Rahmens lassen sich hieraus ableiten und werden in<br />
vielen Einrichtungen praktiziert. Insbesondere können die Hinweise auf phasenspezifische<br />
Bedürfnisse hier hervorgehoben werden.<br />
Getragen wird jedweder diagnostische und therapeutische Ansatz von einem respektvollen<br />
Ansatz, in einer Erkrankung auch ein Verwirklichungsprinzip menschlichen<br />
Werdens zu sehen und von dem tiefen, in der Realität sich verwirklichenden Ansatz,<br />
hinter jedem Menschen – gleich welcher Konstitution bzw. von welchem Krankheitsbild<br />
geprägt und in der freien Persönlichkeitsgestaltung gehemmt – eine tief gesunde<br />
Individualität zu wissen und diese immer auch anzusprechen.<br />
Aber wir sprechen auch von einem grossen Leiden der Betroffenen – und einem grossen<br />
Leiden von Angehörigen und Mitarbeitenden an ihnen.<br />
Angesichts der grossen Zahl Betroffener (ca. ¼ bis ⅓ der Bewohnerinnen und<br />
Bewohner sozialtherapeutischer Einrichtungen) sollte der Themenkomplex «Doppeldiagnose»<br />
in Ausbildung und Fortbildung von Mitarbeitenden dringend verstärkt<br />
berücksichtigt werden.<br />
Das sind wir den betroffenen Menschen schuldig.<br />
Anmerkungen<br />
(1) «Psychische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung als praktische, konzeptionelle und<br />
sozialpolitische Herausforderung für die Behindertenhilfe», Fachtag der Fachverbände 15. Nov. 2013.<br />
(2) Zu finden in der Cooperstudie: Mental ill-healt in Adults with intellectual dis Abilities. In: British<br />
Journal of psychiatry 2007, 190, 27-35.<br />
(3) Die Namen sind jeweils geändert und verfremdet.<br />
(4) Siehe hierzu die Veröffentlichungen von Hans Peters: Psychotherapeutische Zugänge zu Menschen<br />
mit geistiger Behinderung im Verlag Klett-Cotta 1992 und Psychotherapie bei Menschen mit<br />
geistiger Behinderung, Verlag Tectum 2012. Ebenso in Sylvia Görres: Psychotherapie bei Menschen<br />
mit geistiger Behinderung, Verlag Klinkhardt 1992 und Cornelia Schrader: Mit den Augen die Seele<br />
bewegen im Lebenshilfe-Verlag 2012.<br />
Walter. J. Dahlhaus ist Heilpädagoge und Arzt für Psychiatrie / Psychotherapie.<br />
Niedergelassen in eigener Praxis in Merzhausen bei Freiburg,<br />
fachärztliche Mitbetreuung heilpädagogischer und sozialtherapeutischer<br />
Einrichtungen.<br />
30
Beiträge<br />
Literatur<br />
Buber, Martin (1953): Einsichten: Aus den Schriften gesammelt (9. Aufl.) Insel Verlag, Frankfurt/M.<br />
Dahlhaus, Walter J. (2011): Doppeldiagnosen. In: Punkt und Kreis. Ostern 2011, S. 8-13.<br />
Dosen, Anton (2010): Psychische Störungen, Verhaltensprobleme und intellektuelle Behinderung.<br />
Verlag Hogrefe, Göttingen.<br />
Heijkoop, Jacques (2002): Herausforderndes Verhalten von Menschen mit geistiger Behinderung.<br />
Verlag Beltz, Landsberg.<br />
Lingg, Albert; Theunissen, Georg (2008): Psychische Störungen und geistige Behinderungen. 5. Auflage<br />
Verlag Lambertus, Freiburg.<br />
Reddemann, Luise (2003): Imagination als heilende Kraft, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart.<br />
Reddemann, Luise (2006): Überlebenskunst. Verlag Klett-Cotta 2006, Stuttgart.<br />
Senkel, Barbara (2002): Senckel, Du bist ein weiter Baum, Verlag C. H. Beck, München.<br />
Schanze, Christian (2007): Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung.<br />
Verlag Schattauer, Stuttgart.<br />
Grimm, Rüdiger (2010): «…die dem physischen Körper zugrunde liegende Geistgestalt.» Rudolf Steiner<br />
über ‹Krüppelfürsorge› – Der Briefwechsel mit dem Biosophen und Tatdenker Willy Schlüter. In:<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong>, 2010-2, S. 26-42.<br />
Steiner, Rudolf (1976): Zur Entwicklung der Psychose. In: Geisteswissenschaft und Medizin (GA 312,<br />
Auflage 5). Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 31
Leben mit dem Kontext<br />
Begegnung mit Andreas Fischer<br />
von Sebastian Jüngel<br />
Andreas Fischer leitet seit 2006 die Höhere Fachschule für anthroposophische<br />
Heilpädagogik, Sozialpädagogik und Sozialtherapie (HFHS) in<br />
Dornach. Diese vermittelt mit derselben Selbstverständlichkeit anthroposophische<br />
Menschenkunde und «wissenschaftliche Heilpädagogik»,<br />
wie sie Fischer nennt. Mit beiden Ansätzen meint es die HFHS ernst: Wer<br />
den sozialen Prozess der künstlerischen Schulung nicht ernst nimmt,<br />
kann durchfallen. «Wir waren der erste Ausbildungsgang Sozialpädagogik<br />
HF, der in der Schweiz anerkannt wurde – grundsätzlich, nicht nur als<br />
anthroposophische Ausbildung», hält Andreas Fischer fest.<br />
Ein selbstverständlicher Partner im «System der Behindertenhilfe» zu<br />
sein, ist Anliegen von Andreas Fischer: «Die anthroposophische Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie muss sich in den Kontext stellen.» Der Kontext<br />
Schweiz ist traditionell humanistisch geprägt, in der Heilpädagogik besonders<br />
beeinflusst von Paul Moor («Nicht gegen den Fehler, sondern für das<br />
Fehlende») und Emil E. Kobi («Ein Kind ist normalerweise durch gestörte<br />
Verhältnisse störbar und wird dadurch in seinem Verhalten in störender<br />
Weise gestört»). Als praktischer Ansatz ist die anthroposophische Heilpädagogik<br />
jedoch seit jeher im Bildungs- und Sozialsystem integriert – die<br />
auf Initiative von Kinderpsychiater Jakob Lutz gegründete Sonnhalde war<br />
sogar schweizweit die erste Einrichtung für Menschen mit Autismus –, und<br />
das bedingt, staatlich beaufsichtigt zu sein, und berechtigt, öffentliche<br />
Gelder zu beziehen, was auch Absolventen einer anthroposophischen<br />
Ausbildung zu einem fairen Verdienst verhilft.<br />
32
Beiträge<br />
Gegenseitige Wahrnehmung und Austausch<br />
Andreas Fischer verstand früher selbst einmal seine Tätigkeit als die einer «Kulturinsel».<br />
Dadurch könne Sicherheit nach innen entwickelt und Substanz gehalten werden.<br />
Aber eben nicht auf Dauer: «Die Grenzen müssen durchlässig sein.» Als der 26-jährige<br />
Fischer nach einem Jahr Mitarbeit in einer anthroposophisch-heilpädagogischen<br />
Einrichtung in Järna zurück in die Schweiz als Schulleiter an ein anthroposophisches<br />
Sonderschulheim in Appenzell Ausserrhoden kam, glaubte er, die Welt neu erfinden<br />
zu müssen. «Ich wunderte mich, dass das niemand interessierte.» Fischer trat in den<br />
Turnverein ein und wirkte bei der Feuerwehr mit. «Mit meinem Interesse am Umfeld<br />
wuchs das Interesse des Umfeldes an dem, was wir taten.» Nach über 20-jähriger<br />
Tätigkeit dort übernahm Fischer von 1995 bis 2006 Verantwortung für den Verband<br />
für anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie Schweiz und pflegte weiter<br />
Andreas Fischer (Foto: M. Spalinger)<br />
den Dialog mit Kolleginnen und Kollegen ohne anthroposophischen Hintergrund.<br />
Brücken zu bauen zwischen «wissenschaftlicher» und «anthroposophischer» Heilpädagogik<br />
ist sein zentrales Anliegen, dabei gebildete Netzwerke werden bis heute<br />
gegenseitig genutzt, etwa wenn Fischer zu anderen Tagungen eingeladen wird oder an<br />
Universitäten wie Zürich und Fribourg anthroposophische Heilpädagogik lehrt.<br />
Verbunden damit ist die Aufgabe, über das anthroposophische Menschen- und Weltverständnis<br />
in nachvollziehbarer Weise zu sprechen, also statt anthroposophische<br />
Fachtermini zu benutzen, die von ihnen bezeichnete Phänomenologie zu beschreiben.<br />
Diese Fähigkeit verdankt Fischer nicht zuletzt seinem Ausbildungs- und Studienweg<br />
an öffentlichen Schulen und Universitäten, seiner anthroposophischen Ausbildung<br />
und Erfahrung sowie seiner ein anthroposophisches Thema aufgreifenden Promotion<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 33
Beiträge<br />
‹Zur Qualität der Beziehungsdienstleistung in Institutionen für Menschen mit Behinderun-gen›.<br />
Fischer nimmt Interesse an der anthroposophischen Perspektive wahr,<br />
etwa wenn er über basale Sinneserfahrungen und Verhaltensauffälligkeiten spricht<br />
und dabei ausführt, dass bei verhaltensauffälligen Kindern eher das Verhältnis zum<br />
Leib als ihr Verhalten gestört sei.<br />
Sorgen bereitet Fischer die schulische Heilpädagogik. Zum einen gibt es in der<br />
Schweiz keine auf Stufe Bachelor anerkannte anthroposophische Lehrerausbildung,<br />
zum anderen keine Möglichkeit, eine darauf aufbauende anthroposophische<br />
Ausbildung in schulischer Heilpädagogik auf Master-Stufe anzubieten; diese Ausbildungsgänge<br />
sind Universitäten und Fachhochschulen vorbehalten. «Es bleibt uns<br />
nichts anderes übrig, als uns beispielsweise mit Lehrveranstaltungen in Masterstudiengängen<br />
einzubringen und Studierende für das anthroposophische Menschenverständnis<br />
zu begeistern».<br />
Anthroposophie vermitteln, ohne sie überzustülpen<br />
Neben der Ausbildungsfrage sieht Fischer weitere Aufgabenfelder. «In einer Zeit von<br />
grossen Veränderungen und neuen Fragen müssen in Praxis und Ausbildung adäquate<br />
Antworten gefunden werden: Gefordert sind Sensibilität für das Ausklingen von alten<br />
und Mut im Finden von neuen Formen – beides immer mit Blick auf deren spirituellen<br />
Ursprung.» Eine weitere Herausforderung in der Praxis bestehe in der Spannung zwischen<br />
dem Bedürfnis nach Autonomie und der Notwendigkeit der Fürsorge. Ausserdem<br />
lebten in der multikulturell geprägten Schweiz in anthroposophischen Einrichtungen<br />
zunehmend Menschen aus verschiedenen kulturell-religiösen Hintergründen – bis zu<br />
80 Prozent der mehrfachbehinderten Kinder und Jugendlichen. Wie lässt sich angesichts<br />
der unterschiedlichen Wertvorstellungen Gemeinschaftsleben gestalten? Für die<br />
spätere Lebensphase sind Raum und Tätigkeiten für die über 60-Jährigen zu gestalten,<br />
von denen heute etwa zehnmal so viele wie vor gut 20 Jahren in den Einrichtungen leben.<br />
Die HFHS hat im Studienjahr <strong>2014</strong>/15 knapp 100 Studierende. Die Arbeit läuft gut,<br />
wird intern evaluiert und vom Kanton und Bund überprüft. Fischer freut sich aber vor<br />
allem, wenn Studierende rückmelden, dass sie sich freigelassen fühlen und sagen: «Das<br />
ermöglichte mir, einzusteigen. Ihr vermittelt Anthroposophie, ohne sie überzustülpen.»<br />
Zuweilen ist zu hören – und hier lässt Andreas Fischer einen gewissen Stolz erkennen<br />
–, dass jemand, der in der Ausbildung nicht gerade wegen seines anthroposophischen<br />
Interesses auffiel, nach einigen Jahren in einer anthroposophischen Einrichtung tätig ist.<br />
Sebastian Jüngel ist freier Autor und Redakteur der Wochenschrift «Das Goetheanum»<br />
34
«Christi Abstieg in die Unterwelt» (1987) Aquarell auf Karton (Vorstudie)<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 35
«Im Gelben erlebe ich Hoffnung»<br />
Das Forschungsprojekt «Musikalische Farblichtbewegungen»<br />
Von Maija Pietikäinen<br />
Einleitung<br />
In mehreren internationalen Forschungsstudien sind die günstigen Wirkungen<br />
von Licht, Farbe und Musik für das Wohlbefinden und für die Gesundheit des<br />
Menschen nachgewiesen worden. Es wurde beispielsweise festgestellt, dass<br />
Licht therapeutisch besonders bei der saisonalen Depression, aber auch bei<br />
verschiedenen physiologischen Prozessen oder präventiv bei einigen Autoimmun-Erkrankungen<br />
des Menschen wirksam ist. Vor allem bei den Farbtherapie-Experimenten<br />
in der Psychiatrie wurde die beruhigende und heilende<br />
Wirkung verschiedener Farben auf die Patienten wahrgenommen. Hier sind<br />
beispielsweise die positiven Resultate zu erwähnen, die in der gemeinsamen<br />
Studie der Filderklinik und der Universität Tübingen über die Wirkungen von<br />
rotem und blauem Licht (durch rote und blaue Gläser) auf die Herzratenvariabilität<br />
und die Atmung festgestellt werden konnten. Die Grundlage dazu bot<br />
die Metallfarblichttherapie, die Marianne Altmaier entwickelt hat.<br />
Das fünfjährige Forschungsprojekt «Brain and Music»(2008-2013) der Finnischen<br />
Akademie repräsentiert die aktuellen und interessanten multidisziplinären<br />
Ergebnisse über die rehabilitierende und heilende Wirkung der<br />
Musik auf die Gehirntätigkeit und auf das Gefühlsleben des Menschen. Die<br />
psychologische Forschung von Dr. Teppo Särkämö im erwähnten finnischen<br />
Projekt diente uns als Inspirationsquelle für unser Vorhaben. Seine Forschungsergebnisse<br />
spornen an, das Hören von Musik insbesondere nach<br />
dem Gehirninfarkt zur Rehabilitation anzuwenden. Sie zeigen, dass die Anregungen<br />
durch die Tonumgebung bei der Erholung nach dem Infarkt anhaltende<br />
plastische Veränderungen im Gehirn verursachen können. Zugleich hat<br />
er nachgewiesen, wie ein gesundes Areal im Gehirn durch die Musik für das<br />
geschädigte Gebiet die Situation kompensieren und verbessern kann.<br />
36
Beiträge<br />
Welche Resultate ergab dieses neue Forschungsprojekt, in dem das Licht, die Farbe,<br />
die Musik und die eurythmische Bewegung zusammengebracht wurden, obwohl die<br />
Forschungsmittel viel einfacher als im erwähnten Hightech und computerbasierten<br />
Musikprojekt waren?<br />
Hintergrund des Forschungsprojekts<br />
Rudolf Steiner wies 1920 in den Vorträgen des ersten Ärztekurses auf die bereits<br />
1908 entwickelte Farblichttherapie hin und betonte, dass dieses Heilverfahren<br />
etwas ist, was wohl in der Zukunft mehr berücksichtigt werden sollte, als es in der<br />
Vergangenheit immerhin schon an Beachtung gefunden hatte. Er schilderte in diesem<br />
Zusammenhang einerseits die «objektive Farblichttherapie» als direkte Wirkung des<br />
Lichtes und der Farbe auf die Organe, die wiederum vermittels des Umwegs über den<br />
Organismus auf das Ich des Menschen einwirken. Demgegenüber wird bei der «subjektiven<br />
Farblichttherapie» der Mensch in mit Farben ausgemalte Räume geführt, was<br />
eine direkte Wirkung auf das Ich ermöglicht. In diesem Zusammenhang hielt Steiner<br />
die Reihenfolge für wesentlich, indem man im Therapieprozess die Farben wechseln<br />
lässt, und er betonte beispielsweise die verschiedenen Wirkungen des Wechselrhythmus<br />
der blauen und roten Farbe.<br />
Diese Äusserungen erwecken Fragen, z.B. darüber, warum Steiner eben die besondere<br />
Bedeutung der Farblichttherapie in der Zukunft sah. Man kann vermuten, dass<br />
das mit der heutigen Überflutung der visuellen Kultur zusammenhängt, für deren Ausgleich<br />
ganz andere Mittel nötig sind. Diese Hinweise können schon als weitreichende<br />
Forschungshypothesen verstanden werden, die eine relevante Forschung mit adäquaten<br />
Mitteln fordern.<br />
Einige Ärzte interessierten sich für diese anfänglichen Impulse der Farbtherapie. Der<br />
deutsche Arzt Felix Peipers begann schon im Jahr 1908 dieses Heilverfahren bei den<br />
neurologischen und psychiatrischen Patienten mit Hilfe von blauen und roten Farbkammern<br />
in Zusammenarbeit mit Steiner zu verwirklichen. Um das Jahr 1950 entwickelte<br />
wiederum Dr. Karl König in Schottland zusammen mit dem Maler Carlo Pietzner aufgrund<br />
der Hinweise von Steiner die Farb-Licht-Therapie 1 für Kinder und Jugendliche mit<br />
Behinderungen, deren Gehirn in den motorischen Zentren geschädigt war. Dabei handelte<br />
es sich vor allem um Kinder mit spastischen Beeinträchtigungen oder Anfallserkrankungen.<br />
Karl König gewann seine Inspirationen bei der Entwicklung dieser Therapie<br />
von den Farbfenstern des ersten Goetheanums und Carlo Pietzner war fasziniert von<br />
den farbigen Schatten. Zur Umsetzung wurden grossformatige farbige Gläser und Musik<br />
angewendet, wozu die Eurythmistin Intervallbewegungen durchführte.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 37
Beiträge<br />
Als die schwedische Sängerin Valborg Werbeck-Svärdström Dr. Karl König in Aberdeen<br />
im Jahr 1951 besuchte, lernte sie die anfänglichen Farb-Licht-Therapieversuche<br />
kennen. Sie war davon so beeindruckt, dass sie begann, Musik dafür zu komponieren.<br />
So entstand die Komposition «Seelenwanderung. Licht- und Tontherapie», die sie<br />
gegen Ende der 1960er Jahre mit dem Musiker Jürgen Schriefer nochmals aufs neue<br />
bearbeitete. Er hat dieses Werk mit seinen kosmischen Dimensionen einen Anfang<br />
des neuen Oratoriums genannt.<br />
Zwei Schülerinnen von Valborg Werbeck-Svärdström, Dr. Ute Gerlach und die Heilpädagogin<br />
Helga Hammacher, führten seit den 1970er Jahren Experimente mit der Farb-<br />
Licht-Therapie im heilpädagogischen Heim «La Branche» in der Schweiz durch, die sie<br />
ergänzten mit der von Valborg Werbeck-Svärdström komponierten Musik. Nach Ute<br />
Gerlach konnten sie die günstigen Wirkungen vor allem bei Kindern mit cerebralen<br />
Bewegungsbeeinträchtigungen wahrnehmen.<br />
Die Farb-Licht-Therapie 2 , deren Anwendung und Entwicklung mit Dr. Karl König anfing,<br />
ist seit den 1950er Jahren in verschiedenster Weise in manchen heilpädagogischen<br />
Heimen in vielen europäischen Ländern und auch in den USA ausgeübt worden. Vor<br />
etwa zehn Jahren begannen die Farb-Licht-Therapeuten jährlich internationale Treffen<br />
zu arrangieren, bei denen Wahrnehmungen und Erfahrungen ausgetauscht und neue<br />
Konzepte und Programme für die Farb-Licht-Therapie entwickelt wurden. Das Verfahren<br />
kommt neben der Behandlung und Lockerung von Muskelkrämpfen bei Kindern<br />
mit Bewegungsbeeinträchtigungen auch bei Atemunregelmässigkeiten und für Kinder<br />
mit gestörter Wärmeregulation zum Tragen.<br />
Zweck des Projektes<br />
Das zweijährige Forschungsprojekt «Musikalische Farblichtbewegungen» wurde in<br />
den Jahren 2012-2013 in Zusammenarbeit mit dem Camphill-Heim Sylvia-koti in<br />
Lahti/Finnland durchgeführt. Zu der Forschungsgruppe gehörten in der Planungsphase<br />
zwei Ärzte und später als konsultierende Ärztin Jenny Josephson (England),<br />
der Kunsttherapeut Martin Gull und Dr. Maija Pietikäinen. Das Projekt wurde hauptsächlich<br />
von der finnischen Gyllenberg-Stiftung, aber auch von der Mahle- und Rudolf<br />
Hauschka-Stiftung finanziert.<br />
Als Probanden nahmen sieben Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen<br />
17 und 25 Jahren teil. Es wurden zwei achtwöchige Therapieperioden durchgeführt,<br />
in denen es um die Frage ging, wie die musikalischen Farblichtbewegungen, d.h. die<br />
Therapieganzheit der Farb-Licht-Therapie, Musik und Eurythmie auf die Tätigkeit des<br />
autonomen Nervensystems bei jungen Menschen wirken. Dies wurde durch die Parameter<br />
evaluiert, die den Zustand des autonomen Nervensystems spiegeln, wie die<br />
38
Beiträge<br />
Blutdruckwerte, die Herzfrequenzwerte und die physiotherapeutischen Messungen<br />
der Gelenkwinkel. Bei allen Teilnehmenden wurden die Blutdruckwerte und Herzfrequenzwerte<br />
vor und nach den Therapieperioden und auch vor und nach jedem<br />
Therapievorgang gemessen. Wegen der epileptischen Symptomatik standen bei vier<br />
Probanden morgens die Problematik beim Aufwachen und die Stimmungslage im<br />
Zentrum der Beobachtungen. Dazu wurden auch andere wichtige Wahrnehmungen im<br />
Verhalten dieser Teilnehmenden notiert.<br />
Als Musik wurde die «Licht- und Tontherapie» für vier Frauenstimmen und zwei Leiern<br />
von Valborg Werbeck-Svärdström angewendet, bei der nur mit Vokalen gesungen wird.<br />
Ergebnisse der Forschung<br />
Die Forschungsergebnisse geben kein völlig einheitliches Bild über die Wirkungen des<br />
Projekts auf die Jugendlichen, sondern es wurden individuelle Unterschiede festgestellt.<br />
Die Blutdruckparameter und teils die Herzfrequenzwerte in der Schwingungsweite<br />
und im Durchschnitt zeigen, dass der Therapieprozess jedoch eine stärkere<br />
Einwirkung auf den parasympathischen Teil des autonomen Nervensystems in beiden<br />
Therapieperioden hatte. So betont das Ergebnis die entspannende, beruhigende und<br />
genesende Funktion der parasympathischen Stimulation. Zwar wurde auch nachgewiesen,<br />
dass die Aktivierung des sympathischen Teils im autonomen Nervensystem<br />
bei einigen Jugendlichen zu bemerken war, was die Vitalität des Organismus stärkt<br />
und die Organfunktionen aktiviert. Kennzeichnend für diese Jugendlichen war ein<br />
durchschnittlich stärkerer Grad der Behinderung.<br />
Ausser bei einem Jugendlichen mit spastischen Symptomen wurde in der Beweglichkeit<br />
der Gelenkwinkel eine bedeutende Steigerung festgestellt, besonders in den<br />
Hüftgelenken und Schultergelenken. Diese Veränderungen betonen die entspannende<br />
Funktion der parasympathischen Stimulation auf die gespannten Muskeln,<br />
was deren Bewegungsweite steigert.<br />
Die Abnahme des erschwerten Aufwachens wurde in den systematischen Beobachtungen<br />
bei vier Jugendlichen mit epileptischen Symptomen besonders in der ersten<br />
Therapieperiode festgestellt. Die Schwankungsbreite war zwischen 1-43% in der<br />
ersten und zwischen 2-12% in der zweiten Periode. Auch wurde eine Zunahme von<br />
11% der positiven seelischen Stimmungen besonders bei einem Jugendlichen beobachtet,<br />
wobei die Veränderung in der ersten Therapieperiode 27% in die positive<br />
Richtung und in der zweiten 16% in die negative Richtung stattfand. Bei einem anderen<br />
Jugendlichen wurde auch beobachtet, dass die Unruhe beim Ausruhen nachmittags<br />
um 13% zurückging.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 39
Beiträge<br />
Ein bedeutendes, aber zugleich unerwartetes Beobachtungsresultat war eine offensichtliche<br />
Aktivierung der Sprachintention und des verbalen Kommunikationsbedarfes<br />
bei zwei Jugendlichen, die nicht sprechen können. Bei der Auswertung der<br />
Resultate wies Jenny Josephson darauf hin, dass Rudolf Steiner gerade über die<br />
Vokale als Erwecker der Sprache spricht. Deshalb hat man den Therapieprozess in der<br />
Eurythmie und in der Sprachtherapie weiter durchgeführt.<br />
Ausblick<br />
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die musikalischen Farblichtbewegungen<br />
eine betonte, aber keine alleinige Wirkung auf die Aktivierung und auf die Stimulation<br />
des parasympathischen Teils im autonomen Nervensystem hatten. Das Ergebnis<br />
hebt die entspannende, beruhigende und genesende Wirkung der Therapieganzheit auf<br />
die Organtätigkeiten und auf den Organismus hervor. Das Forschungsprojekt hatte auch<br />
Wirkung auf die Abnahme des problematischen Aufwachens und der Unruhe samt der<br />
Zunahme der positiven psychischen Stimmungen bei den Jugendlichen.<br />
Im Ganzen kann dieses Projekt neben den langen praktischen Erfahrungen und Wahrnehmungen<br />
als ein erster Schritt in der Forschung der Farb-Licht-Therapie gesehen<br />
werden. Es scheint lohnenswert, diesen therapeutischen Ansatz in seiner Wirksamkeit<br />
in weiteren Studien zu erforschen. Aus aktueller Sicht tritt aber als Frage auf,<br />
wie die Komplexität der therapeutischen Faktoren differenziert werden kann. Wenn<br />
in einer weiteren Forschung die Blutdruckwerte gemessen werden, ist zu empfehlen,<br />
dabei auch konsequenter zu berücksichtigen, dass eine Verzögerung bei deren Veränderungen<br />
charakteristisch ist.<br />
Das Projekt bietet auch Möglichkeiten zu gegenseitigem Austausch und zu weiterer<br />
Vernetzung auf dem Feld der anthroposophischen Therapie hinsichtlich dieser Therapieform,<br />
die so interessant, vielfältig und zukunftsweisend sein kann.<br />
Zum Abschluss nun noch das Zitat eines Jungen, der an dem Projekt teilgenommen<br />
hat und Folgendes über seine Farberlebnisse schreibt: «Blau ist der Beginn im Erreichen<br />
des Glücks. Wenn ich die orange Farbe sehe, habe ich das Gefühl, als ob ich an<br />
der Grenze des Himmels wäre, wo der Frieden waltet. Gelb gibt mir Vertrauen und<br />
Lebensfreude, im Gelben erlebe ich Hoffnung für meine Zukunft.»<br />
Anmerkungen<br />
(1) Wie in der Quelle zu sehen ist, nannte König diese Versuche Farben-Therapie.<br />
(2) Dafür gibt es auch einen Begriff Farb-Schatten-Therapie, aber heute wird stattdessen lieber um<br />
Farb-Licht-Therapie gesprochen.<br />
40
Beiträge<br />
Dr. Maija Pietikäinen, Lahti/Finnland. Studium der Sozialwissenschaften,<br />
Philosophie, Literatur, Pädagogik und Kunstgeschichte. Waldorfpädagogin<br />
und Gesangspädagogin. Zur Zeit tätig als freie Forscherin, Autorin für<br />
diverse Zeitschriften und Übersetzerin. Autorin der Biographie von Valborg<br />
Werbeck-Svärdström «Des Herzens Weltenschlag».<br />
Literatur<br />
Altmaier, Marianne (2010): Metallfarblichttherapie. Zur Forschung und Entwicklung einer neuen<br />
Therapie auf anthroposophischer Grundlage. Verlag Johannes M.Mayer & Co. Stuttgart.<br />
Altmaier, Marianne (2011): Zur Entwicklung der Metallfarblichttherapie 2001-2011. Lichtblick e.V.<br />
Glasatelier, Schwörstadt 2011.<br />
Gerlach, Ute (2008): Interview von Dr. Ute Gerlach 2.6.2008. Lübeck. (Interviewerin Maija Pietikäinen)<br />
Holick, MF (2004): Sunlight and vitamin D for bone heath and prevention of autoimmune diseases,<br />
cancers, and cardiovascular disease. The American journal of clinical nutrition VOL 80; S. 16785-88SS.<br />
Karjalainen, Rauli (2012): Musiikki sytyttää aivot (Die Musik zündet das Gehirn). Etelä-Suomen<br />
Sanomat 14.1.2012.<br />
König, Karl (o.J.): Grundlegende Bemerkungen zur Farben-Therapie gehirngeschädigter Kinder. Karl<br />
König Archiv, Camphill Schottland.<br />
Särkämö, Teppo (o.J.): Music in recovering brain. University of Helsinki. Faculty of Behavioural Sciences,<br />
Institute of Behavioural Sciences, Cognitive Brain Research Unit.<br />
Steiner, Rudolf (2000): Parantava kasvatus. Hoitopedagoginen kurssi. S. 43-46. Suomen lääkintäpedagoginen<br />
yhdistys ry. Helsinki. (Heilpädagogischer Kurs)<br />
Steiner, Rudolf (2001):: Geisteswissenschaft und Medizin (Erster Ärztekurs). Zwanzig Vorträge für<br />
Ärzte und Medizinstudierende (GA 312). Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />
Folgende Studien über die Wirkungen des Lichtes: Lewy, AJ; Kern, HA; Rosenthat, NE; Wehr, TA:<br />
Bright artifical light treatment of a manic-depressive patient with a seasonal mood cycle. Journal<br />
of Psychiatry VOL 139; S. 1496-1498 (1981)/Lewy, AJ; Sack, RL; Singer, CM; White, DM; Hoban,<br />
TM: Winter depression and the phase-shift hypothesis for bright light´s therapeutic effects: history<br />
and experimental evidence. Journal Biol Rhytms VOL 3; S. 121-134. (1988)/Brainard, GC; Sherry,<br />
D; Skwerer, RG; Waxler, M; Kelly, K; Rosenthal, NE: Effects of different wave lengths in seasonal<br />
disorder. Journal Affecktive Disorder VOL 29; S. 209-21 (1990)/Lee, TMC; Chan, CCH; Paterson, JG;<br />
Janzen, HL; Blashko, CA: Spectral properties of phototherapy for seasonal affective disorder: a metaanalysis.<br />
Acta America scandinavica VOL 96; S. 117-121 (1997).<br />
Dr. J.Vagedes; A.Steer-Reeh; Erste Forschungsergebnisse zur Wirkung von rotem und blauem Licht<br />
(durch rote und blaue Gläser gefärbtes Sonnenlicht) auf die Herzratenvariabilität und die Atmung.<br />
Filderklinik/Universität Tübingen. Im Werk von Marinne Altmaier (S.8)<br />
Tuning the Brain for Music. An international collaboration investigating the processing of music in<br />
the brain. Monitieteinen musiikin huippututkimusyksikkö. Suomen Akatemia. (Music Cognition<br />
Team/ Brain and Music Team)<br />
Informationen über Zerebralparese. www.bessersprechen.de<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 41
egüterte, hierarchische Welt, eine Familie mit<br />
bedeutenden Berufen, mit Dienstboten und<br />
scheinbar klaren Lebensverhältnissen, in der er<br />
seiner Abenteuerlust nachgehen, aber auch seine<br />
erwachende künstlerische Begabung entwickeln<br />
konnte. Die Brüchigkeit dieser Verhältnisse zeigte<br />
sich, als kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs<br />
sein Vater von der Gestapo als Jude verhaftet wurde<br />
und an den Folgen der Haft und Folter starb. Er<br />
verlor von da an all die früheren Bindungen und<br />
sozialen Beziehungen. Arlin erlebte sein Leben,<br />
wie er später schrieb, seitdem als «zwischen den<br />
Stühlen, weder Protestant noch Jude noch Atheist,<br />
weder Litauer noch Deutscher oder Franzose. Mein<br />
Leben lang sollte ich mich heimatlos fühlen».<br />
Eric Arlin 1995<br />
Eric Arlin<br />
25. Februar 1924 – 21. März <strong>2014</strong><br />
«Jetzt werde ich mir des zurückgelegten Weges<br />
bewusst, so wie man von ferne den Verlauf<br />
einer Bergstrasse bewundern kann, die<br />
man soeben befahren hat, ohne sich bisher<br />
die eindrucksvollen Steilabfälle, Tunnels und<br />
kühnen Brücken klargemacht zu haben. Welche<br />
kunstvollen Konstruktionen, um mir zu<br />
helfen, so viele Hindernisse zu überwinden»,<br />
schrieb Eric Arlin in seinem Rückblick auf ein<br />
reiches und erfülltes, von den Zeitereignissen<br />
tief geprägtes Leben, in dem sich ein<br />
starker Wille zur Selbstgestaltung ausdrückte.<br />
Eric Arlin wurde in eine «alte» Welt des litauischen<br />
Grossbürgertums hineingeboren, eine<br />
Arlin studierte Anfang der 40er Jahre an der Akademie<br />
der bildenden Künste und an der Kunstgewerbeschule<br />
in Königsberg, bevor er selbst verhaftet<br />
und in ein Lager in Ostpolen deportiert wurde.<br />
Von dort wurde er nach Frankreich verbracht, wo<br />
er Zwangsarbeit unter anderem in einem Bergwerk<br />
leisten musste. Durch Unterstützung der französischen<br />
Widerstandsbewegung konnte er schliesslich<br />
entfliehen und sich nach Paris durchschlagen,<br />
wo der 21-Jährige in den bewegten Nachkriegsjahren<br />
ein Durchkommen und die Verwirklichung<br />
seiner künstlerischen Ziele suchte.<br />
Der Erfolg als Grafiker blieb nicht aus. Zu gleicher<br />
Zeit begegnete Arlin der Anthroposophie, die<br />
ihn sofort bewegte und zu intensivem Studium<br />
veranlasste. Er wurde Schüler von Hilde Boos-<br />
Hamburger und kam mehrmals nach Dornach,<br />
wo er mit den führenden Anthroposophen der<br />
damaligen Zeit in Berührung kam. Wegweisend<br />
wurden die Begegnungen mit Werner Pache und<br />
Julia Bort, den Leitern des Sonnenhofs in Arlesheim.<br />
Sie führten dazu, den «klassischen Weg»<br />
eines Malers mit der Aussicht auf eine Professur<br />
in Paris aufzugeben und die Vertiefung der Anthroposophie<br />
in der Heilpädagogik zu suchen. Die<br />
Jahre dort mündeten in den Impuls, die anthroposophische<br />
Heilpädagogik wieder nach Frankreich<br />
zu bringen, denn die von Vala Berénce vor<br />
42
Gedenken<br />
dem Krieg begründeten Einrichtungen hatten<br />
ihre Arbeit aufgeben müssen und letztlich in<br />
der Schweiz einen neuen Standort gefunden.<br />
Die Geschichte von «Les Fontenottes», der von<br />
Eric Arlin und einigen Mitstreitern begründeten<br />
heilpädagogischen Einrichtung kann hier nicht<br />
im Detail erzählt werden. Auch sie ist eine Geschichte<br />
von Initiative, Widerständen und der<br />
Überwindung vieler Hindernisse. Zusammen<br />
mit seiner Frau Hélène und seiner Kollegenschaft<br />
entstand nicht nur eine vorbildliche anthroposophische<br />
Einrichtung für Heilpädagogik,<br />
sondern auch die Keimzelle für die später entstehenden<br />
weiteren Initiativen. Der Maler Eric<br />
Arlin wurde nicht nur Heilpädagoge, sondern<br />
war auch Initiativträger für die Zusammenarbeit<br />
der französischen Institute und die Begründung<br />
eines nationalen Verbandes für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie. Darüber hinaus war er seit<br />
jeher intensiv mit den Entwicklungen in den<br />
anderen Ländern, vor allem mit der Schweiz,<br />
vernetzt. Als Mitglied des «Arlesheimer Kreises»<br />
am Klinisch-Therapeutischen Institut, der von<br />
Ita Wegman begründeten Klinik, aus der auch<br />
der Sonnenhof hervorgegangen war, nahm er<br />
in den Nachkriegsjahren an den Treffen der hervorragenden<br />
Vertreter der Anthroposophie, die<br />
sich dem geistigen Strom Wegmans verbunden<br />
fühlten, teil.<br />
Arlin war auch Mitglied des «Internationalen<br />
Initiativkreises», dem Gremium, das den weltweiten<br />
Zusammenhalt der heilpädagogischen<br />
Initiativen pflegte und aus dem später die «Konferenz<br />
für Heilpädagogik und Sozialtherapie»<br />
entstanden ist. Auch ihr gehörte Eric Arlin viele<br />
Jahre, bis in die zweite Hälfte der 90er Jahre an.<br />
«Während all dieser Jahre war meine eigentliche<br />
Heimat in dieser Gruppe», schrieb er im Rückblick.<br />
Unkonventionell wie Arlin war, reiste er zu<br />
den verschiedenen Begegnungen und Tagungen<br />
mit dem eigenen Flugzeug an und nutzte die benachbarten<br />
Wiesen als Landeplatz.<br />
In alle den Jahren kam seine künstlerische<br />
Arbeit nicht zum Erliegen. In vielen anderen<br />
heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />
Einrichtungen und Gemeinschaften sind Werke<br />
von ihm zu finden. Er begriff seine Arbeit<br />
nicht nur als Ausdruck eines seigenen biografischen<br />
Willens, nicht nur als Bereicherung<br />
des Lebens anderer, sondern immer mehr als<br />
Mittel für gemeinschaftsbildende Aufgaben.<br />
Es entstanden – neun Jahre lang in intensiver<br />
Arbeit – grossformatige Wandmalereien oder<br />
Bilder an verschiedenen Orten. Sie erhielten<br />
ihre besondere Wirkung dadurch, dass Eric<br />
Arlin jeweils das Spezifische einer Menschengruppe,<br />
ihrem therapeutischen Auftrag und<br />
den Intentionen der Individualitäten gemäss<br />
zum Ausdruck zu bringen suchte.<br />
Die anthroposophische Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie und die anthroposophische<br />
Bewegung ganz allgemein haben Eric Arlin<br />
viel zu danken. Seine Biografie steht nicht<br />
nur für sich als erfülltes Leben, als Ringen mit<br />
den selbst gestellten und unvermutet hinzugekommenen<br />
Aufgaben, als immer währendes<br />
Suchen nach dem Eigentlichen. Es steht<br />
exemplarisch für eine Generation, deren tiefe<br />
Lebenserfahrungen, Erschütterungen und Herausforderungen<br />
in eine schöpferische Geste<br />
mündeten, deren Spuren die Basis für unser<br />
heutiges Handeln darstellen und zu Dankbarkeit<br />
und Bescheidenheit Anlass geben.<br />
Rüdiger Grimm<br />
Wir danken Mme Hélène Arlin und dem Möllmann-Verlag<br />
für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Bilder.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 43
44<br />
In meinem geheimen Garten» (1986) Aquarell auf Leinwand
Fünfzig Jahre Choroi Musikinstrumentenbau<br />
Von Hans Rainer Kühn<br />
Die Zeit zeigt, ob eine Initiative gut oder weniger<br />
gut gelungen ist. Und ob sie wirklich den Zeitgeist<br />
anspricht. Runde Jubiläen wie dieses laden<br />
dazu ein, sich diese Frage neu zu stellen.<br />
Jubiläen gab es schon einige bei Choroi – wir<br />
erinnern uns gut an das dreissigste, bei dem<br />
noch fast alle Pioniere der ersten Stunde dabei<br />
sein konnten, und das vierzigste, das Norbert<br />
Visser, der Gründer der Choroi-Bewegung,<br />
selbst nicht mehr erleben durfte, aber unterdessen<br />
bereits eine engagierte Gruppe von alten<br />
und neuen Mitarbeitern die Geschicke von<br />
Choroi tatkräftig weiterführte.<br />
Nun findet also tatsächlich das fünfzigste Jubiläum<br />
statt – ein halbes Jahrhundert auf einem<br />
besonderen musikalischen und sozialtherapeutischen<br />
Entwicklungsweg liegt hinter uns. Und noch<br />
immer liegen neue Aufgaben und Ziele vor uns.<br />
Dass es so lange erfolgreich lief, liegt sicher mit<br />
an dem besonderen Konstrukt dieser Institution<br />
‹Choroi› und an dem weitsichtigen, immer noch<br />
höchst aktuellen Konzept, das die Grundlage<br />
dieser Arbeit ist.<br />
Choroi wurde gegründet, um Raum für neue<br />
musikalische Ideen und Erkenntnisse zu schaffen,<br />
neue Instrumente zu kreieren, die diese<br />
Entwicklung unterstützen und gleichzeitig neue<br />
assoziative Formen der Teamarbeit in sozialtherapeutischen<br />
Zusammenhängen zu finden,<br />
auch über Landesgrenzen hinweg. Ein kleiner<br />
Vorgriff auf die Globalisierung sozusagen, ausgerichtet<br />
auf den Gedanken des gemeinsamen<br />
‹brüderlichen› Teilens und Handelns, bei dem<br />
der Mensch in der Mitte steht und das unser<br />
Arbeitsleben mehr denn je braucht.<br />
Am Anfang war der Ton<br />
Den Impuls zu dieser Entwicklung gab Anfang<br />
der 1960er Jahre der holländische Musiker und<br />
Komponist Norbert Visser. Schon in jungen Jahren<br />
bewegten ihn ‹neue Töne›, die über die bis<br />
dahin übliche Klangwelt hinausgingen.<br />
Angeregt durch Rudolf Steiners Angaben zur Musik<br />
und zum Instrumentenbau begann er eine intensive<br />
Forschung zum Wesen des Tons und des<br />
Musikalischen, deren Ergebnis in einer Reihe<br />
von Schriften, u.a. «Das Tongeheimnis der Materie»<br />
erörtert wurde. Daneben beschäftigte er sich<br />
bereits mit der Neuentwicklung von Instrumenten,<br />
zunächst im Geigen- und Leierbau.<br />
In der Zusammenarbeit mit dem holländischen<br />
Sozialreformer Bernard Lievegoed entstand<br />
schliesslich die Idee, neuartige Instrumente<br />
besonders für den pädagogischen Bereich zu<br />
entwickeln, die dann auch in ‹pädagogischen›<br />
bzw. sozialtherapeutischen Werkstätten gebaut<br />
werden sollten. Damit war ein dreifacher Impuls<br />
für die spätere Choroi-Instrumentenbau-<br />
Bewegung geboren: Musikerneuerung, die<br />
Entwicklung neuer Instrumente und Sozialtherapeutisch<br />
orientierter Instrumentenbau, der<br />
sozial benachteiligten Menschen die Möglichkeit<br />
geben soll, an diesen Erneuerungsimpulsen<br />
mitzuwirken.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 45
Beiträge<br />
Entwicklung ist das Ziel<br />
Die Idee fand sofort grossen Anklang bei Musikern<br />
und Pädagogen; erste Werkstätten wurden<br />
eingerichtet und es entstand 1964 die Stiftung<br />
‹Kind en Instrument›, die später in ‹Choroi Foundation›<br />
umbenannt wurde.<br />
Aus der Musikwelt, aus Schulen und Institutionen<br />
kamen auch sofort Anfragen und Anregungen<br />
für neue Instrumente: «Kann Choroi nicht<br />
kleinere Leiern für Kinder entwickeln, die trotzdem<br />
gut klingen?» «Die schulüblichen Blockflöten<br />
sind vom Klang zu statisch und nicht kindgerecht,<br />
wir brauchen ein ‹lebendiges› Instrument<br />
für Kinder!» «Wir brauchen Instrumente, die einfach<br />
zu spielen sind und die durch ihren besonderen<br />
Klang therapeutisch wirken...» Die Fülle<br />
dieser Fragen führte zur spontanen Inspiration<br />
und Imagination neuer Instrumentenkonzepte<br />
und in der Folge zu einer bis heute andauernden<br />
Entwicklung.<br />
Die Frage nach einer Flöte, die in ihrer Konzeption<br />
«wie eine Erweiterung des menschlichen<br />
Gesangs» wirken sollte, führte z.B. zur Entwicklung<br />
der offenen Choroiflöten und der Schulflöten,<br />
deren bekannteste Vertreterin wohl die<br />
Pentatonflöte ist, und von denen inzwischen<br />
hunderttausende in der ganzen Welt verbreitet<br />
sind. Dazu kamen die pentatonischen Kinderharfen<br />
und die Leierfamilie, deren klangliche<br />
und harmonische Qualitäten in der heutigen<br />
Zeit besonders wichtig sind, da sie eine therapeutisch<br />
ausgleichende Wirkung haben und<br />
den Menschen ‹zur Mitte führen› können.<br />
Schliesslich entstand eine ständig wachsende<br />
Schlaginstrumentenfamilie, die in breiter Vielfalt<br />
neue Klangqualitäten entdecken lässt.<br />
Klang der Zeit<br />
Choroi-Instrumente wollen eine Antwort sein<br />
auf – oft noch unbewusste – Hörbedürfnisse<br />
unserer Zeit. Jede Kulturepoche hat ihre besonderen<br />
Entwicklungsschwerpunkte und die<br />
Musik spiegelt das in entsprechender Weise<br />
wieder. Besonders deutlich ist die Beziehung:<br />
‹Architektur und Musik› – oder in unserer Zeit:<br />
‹Technik und Musik». Aus den anfänglichen,<br />
sehr obertönigen, nasalen Naturinstrumenten<br />
der frühen Menschheit entwickelten sich mit der<br />
Ausweitung der Architektur neue Instrumente,<br />
erst in der Renaissance erschuf man beispielsweise<br />
tiefere Melodie-Instrumente. Mit grösser<br />
werdenden Konzertsälen mussten Instrumente<br />
dann immer mehr an Tonumfang, Grösse, Lautstärke<br />
und Fülle gewinnen. Instrumente die hier<br />
nicht ‹mithalten› konnten, verschwanden und<br />
mit ihnen viele subtile Klangqualitäten.<br />
Erst im 20. Jahrhundert wurde den Menschen<br />
allmählich bewusst, wieviel inzwischen verloren<br />
war, es kam zu einer wahren Entdeckungswelle<br />
von Instrumenten ferner Länder und alter Zeiten.<br />
Aber das Rad lässt sich nicht einfach zurückdrehen,<br />
denn unsere Hörgewohnheiten und -erwartungen<br />
und unser Hörbewusstsein entwickeln<br />
sich weiter. Unsere Zeit fragt nach neuen Klängen.<br />
Eine Antwort darauf scheint die Welt der elektrisch-elektronischen<br />
Töne zu sein, die tatsächlich<br />
neuartig ist und zunächst zweifellos faszinieren<br />
kann. Je mehr man sich jedoch ernsthaft mit ihr<br />
beschäftigt, erlebt man, wie ‹seelenlos› der elektronisch<br />
erzeugte Klang tatsächlich ist, abgesehen<br />
davon, dass dem Musiker immer mehr die unmittelbare<br />
Gestaltungsmöglichkeit am Ton verloren<br />
geht, und dass dröhnende Lautstärke das viel intensivere<br />
‹Lauschen› ersetzt. Wer das – bewusst<br />
oder unbewusst – schliesslich ‹durchhört›, sucht<br />
nach anderen Tönen.<br />
Hier können die Choroi-Instrumente zu neuen<br />
Erfahrungen führen: Sie sind auf der einen<br />
Seite gerade für das ‹Hinhören› gebaut, für das<br />
Bewusstwerden subtilerer klanglicher, materieller<br />
und räumlicher Qualitäten. Auf der anderen<br />
Seite wird verstärkt an Instrumenten gearbeitet,<br />
die für jedermann/-frau/-kind überschaubar und<br />
einfach zu spielen sind, durch ihren besondern<br />
Klang überzeugen und einen freieren Umgang<br />
mit dem Thema ‹Musik machen› zulassen. Besonders<br />
für die gesunde Entwicklung von Kindern<br />
sind diese Aspekte heute immer wichtiger.<br />
Es würde den Rahmen sprengen, hier auf die<br />
baulichen Aspekte der Instrumente einzugehen.<br />
46
Beiträge<br />
Besondere Qualitäten sind vor allem der freie,<br />
‹räumliche› Ton, der durch besondere ‹Innenorgane›<br />
entsteht und die bewusste Balance von Polaritäten,<br />
wie z.B. rund – eckig, warm – lichthaft,<br />
die unter vielen Aspekten zur Wirkung kommen.<br />
Der praktische Alltag<br />
Montagmorgen in den Troxler-Haus Werkstätten,<br />
Wuppertal. Die Choroi-Werkstatt besteht seit<br />
Mitte der 1970er Jahre, früher als eigenständige<br />
Abteilung, inzwischen aus Gründen der Synergie<br />
mit der allgemeinen Schreinerei und der Möbelwerkstatt<br />
zur ‹HolzArt Manufaktur› vereinigt. Von<br />
den insgesamt über fünfzig Menschen mit Unterstützungsbedarf<br />
im Holzbereich arbeiten ca.<br />
zwanzig im Instrumentenbau, hier i.d.R. von zwei<br />
speziellen Fachanleitern und ein bis drei Hilfskräften<br />
und Ausbildungspraktikanten betreut.<br />
«Hallo Reinhold, kannst du bitte gleich noch die<br />
acht Kinderharfen besaiten? Eilige Bestellung,<br />
die morgen mit nach Holland muss.»<br />
«Na klar, mach ich, mach ich!» Reinhold W. reibt<br />
sich vergnügt die Hände, geht in den Stimmraum<br />
und ist ganz in seinem Element. Sein Spezialgebiet<br />
ist neben dem Feinschliff das Besaiten und<br />
Stimmen von Leiern und Harfen. Beim Besaiten<br />
hilft ihm eine junge Kollegin, die wie er, sehr<br />
musikbegeistert ist, der es jedoch aufgrund<br />
ihrer geistigen Behinderung nicht möglich ist,<br />
selbstständig zu arbeiten. Aber im Team mit<br />
Das Choroi-Sortiment<br />
Reinhold geht es, sie reicht ihm die Saiten, er<br />
korrigiert, wenn etwas nicht passen sollte. Beim<br />
anschliessenden Stimmen hört sie aufmerksam<br />
zu: Reinhold hat etwas, das sie auch gerne hätte<br />
(und wer nicht?): das absolute Gehör. Ohne jede<br />
technische Hilfe bringt er zielsicher und präzise<br />
jede Saite auf ihren Ton. Zwei bis dreimal wird so<br />
jedes Instrument durchgestimmt, bis es ‹stabil›<br />
ist und in die Endkontrolle und den Versand geht.<br />
Immer wieder taucht die Frage auf: Wie können<br />
Menschen mit Behinderungen so hochwertige<br />
Instrumente bauen, dazu noch mit soviel<br />
Handarbeit? Es geht, wenn man das Prinzip der<br />
Beim Stimmen der Leier<br />
Arbeitsteilung sinnvoll einsetzt. Wo dem Einzelnen<br />
bestimmte Arbeiten schwer fallen oder unmöglich<br />
sind, springen andere ein, die gerade<br />
das können; unterstützt von speziell ersonnenen<br />
Arbeitshilfen. Hier ist tägliche Kreativität<br />
der Teamleiter und viel Geduld bei den oft langen<br />
Lernprozessen angesagt. Wichtig ist stets<br />
die Frage: Was kann der Einzelne besonders<br />
gut? Welche Stärken sind da? Hier kann man<br />
manche Überraschung entdecken, vom technischen<br />
Genie bis zum absoluten Gehör. Eine<br />
Stärke kann aber auch im Sozialen liegen, und<br />
die besondere Atmosphäre, die Besucher in den<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 47
Beiträge<br />
Werkstätten immer wieder bemerken, hat sicher<br />
auch hier seine Ursache. Der Mensch steht im<br />
Mittelpunkt, und das ist gut so.<br />
Zum Konzept der Werkstatt gehört seit je, dass<br />
ein möglichst grosser Produktionszusammenhang<br />
für alle sichtbar wird. Angefangen vom Antransport<br />
der vorgesägten Baumstämme, dem<br />
fachgerechten Einlagern und Trocknen der Hölzer<br />
über den gesamten Fertigungslauf bis zum<br />
Verkauf und weltweiten Versand kann man alles<br />
direkt vor Ort miterleben. Anders als bei reiner<br />
Verpackungs- und Montagearbeit, den Eckpfeilern<br />
vieler Werkstätten, werden damit Grundzusammenhänge<br />
erkennbar bis hin zum ‹Global<br />
Playing›, da ein grosser Teil der Instrumente in<br />
eigener Regie weltweit exportiert wird. Nach den<br />
USA und Japan ist neuerdings China mit seiner<br />
wachsenden Waldorfbewegung ein interessanter<br />
Handelspartner. Letztentscheidend für den<br />
Erfolg ist dabei stets das wache Bewusstsein<br />
des Kunden für Qualität.<br />
Von Anfang an hat sich Choroi dieser Qualität<br />
verschrieben. Die Frage war nie: «Ist das schnell<br />
und einfach zu bauen und leicht zu verkaufen,<br />
sondern»: «Hat das Instrument das musikalische<br />
Potential und die Qualitäten, die wir – und<br />
hoffentlich die Kunden – wollen?» Es dauert<br />
meistens Jahre, bis ein neues Instrument aus<br />
einer Idee entwickelt und so ausgereift ist, dass<br />
es den akustischen und ästhetischen Anforderungen<br />
genügt. Auch der Aufbau einer Produktion<br />
stellt hohe Anforderungen an das Können<br />
der Teammitarbeiter. Oft muss man konventionelle<br />
Methoden beiseite lassen und völlig neue<br />
Wege gehen, damit die Herstellung im Rahmen<br />
unserer Werkstätten möglich wird: eigene Arbeitstechniken<br />
erfinden oder spezielle Maschinen<br />
und Vorrichtungen bauen. Dazu kommt die<br />
Mitorganisation von Verkauf und Promotion.<br />
Impuls und Gemeinschaft<br />
Hier trägt seit Jahrzehnten das besondere Konzept<br />
von Choroi: Für die beteiligten Werkstätten<br />
wird von der Choroi Association e.V. nach einer<br />
Anlaufzeit eine Produktionslizenz vergeben.<br />
Die damit verbundenen Kosten werden prozentual<br />
aus dem Umsatz der jeweiligen Werkstatt<br />
abgeführt und fliessen in das Budget der Association,<br />
das dann für zentrale Aufgaben, wie<br />
Marketing, Weiterbildung und Hilfestellungen<br />
verschiedener Art zur Verfügung steht.<br />
Besonders für neue Werkstätten besteht diese<br />
Hilfe meist in praktisch-fachlicher Assistenz<br />
durch erfahrene Kollegen aus anderen Werkstätten.<br />
Durch die Vielfalt der Produktionen,<br />
aber auch der einzelnen Talente, findet sich fast<br />
immer eine Lösung.<br />
Beratende Unterstützung ist auch zentrales<br />
Anliegen der regelmässigen Symposien der<br />
Werkstattleiter, des sogenannten Baurats, die<br />
bislang halbjährlich wechselnd in einer der<br />
Werkstätten stattfinden. Hier gibt es, neben<br />
fachlich-musikalisch-ökonomischen Themen auch<br />
die zwischenmenschliche Begegnung, die den<br />
Gesamtzusammenhalt über Jahrzehnte entscheidend<br />
mitgetragen hat.<br />
Zugleich werden Neuentwicklungen der einzelnen<br />
Werkstätten vorgestellt und das weitere<br />
Vorgehen besprochen. Diese Art der Zusammenarbeit<br />
hat beispiellos funktioniert, auch über<br />
Ländergrenzen hinweg. Mitentscheidend ist dabei,<br />
dass es keine Form des Konkurrenzkampfes<br />
wie sonst bei reinen Wirtschaftsunternehmen<br />
gibt (allenfalls eine eher sportlich verstandene),<br />
sondern dass die zu betreuenden Menschen<br />
Kern unserer Aufgabe sind. Der Instrumentenbau<br />
ist zwar Herzensangelegenheit – sonst sollte<br />
man es besser sein lassen –, aber letztlich<br />
Mittel zum Zweck. Wirtschaftliche Fragen, die<br />
es selbstverständlich gibt, konnten praktisch<br />
immer im brüderlichen Sinn der Dreigliederung<br />
gelöst werden.<br />
Zur Zeit gibt es zehn Choroi-Werkstätten in fünf<br />
Ländern. Die jüngste entstand vor wenigen Jahren<br />
in Tschechien. Ihre Grundlage: Einige musikalisch<br />
bewegte Menschen mit viel Idealismus<br />
und guten Ideen; ein altes, schwer sanierungsbedürftiges<br />
Dorfschulgebäude, kaum Finanzmittel,<br />
aber immenser Bedarf an Arbeitsmöglichkeiten<br />
für Menschen mit Unterstützungsbedarf.<br />
48
Beiträge<br />
Es gab über 600 Anfragen für acht mögliche<br />
Plätze. Staatliche Hilfen flossen spärlich und beschränkten<br />
sich eher auf Wohlwollen. Trotzdem<br />
gelang es auch hier, durch Mut, Initiative und<br />
die Solidargemeinschaft der Choroi-Werkstätten<br />
erste neue Arbeitsplätze für Menschen mit besonderen<br />
Bedürfnissen in einer unterversorgten<br />
Region zu schaffen.<br />
Ein Organismus entwickelt sich<br />
Auch das Wesen ‹Choroi› hat in den fünf Jahrzehnten<br />
eine deutliche Entwicklung gemacht.<br />
Bildeten in den anfänglichen Pionierjahren die<br />
Persönlichkeiten und Ideen der Gründerväter,<br />
N. Visser, B. Lievegoed und des wegweisenden<br />
Sozialtherapeuten Geert Mulder die Dreh- und<br />
Angelpunkte, so wurde Ende der 1980er Jahre<br />
eine neue Generation von Instrumentenbauern<br />
zunehmend aktiv. Die Notwendigkeit von neuen<br />
Arbeitsorganen und personenunabhängigen<br />
Organisationsstrukturen zeigte sich immer<br />
deutlicher, zumal alle Gründer schon in fortgeschrittenem<br />
Alter waren, und neue Arbeitsfelder<br />
ausgefüllt werden mussten.<br />
Der inzwischen stark gewachsene internationale<br />
Handel konnte nicht mehr dezentral aus kleinen<br />
lokalen Lagern versorgt werden und die bisherige<br />
Dachorganisation ‹Choroi Foundation› war als reine<br />
Stiftung nicht für praktische Organisationsabläufe<br />
geeignet. So entstand zunächst die ‹Choroi<br />
Association Ewiv› als neue Europäische Rechtsform,<br />
übrigens die erste gemeinnützige ‹Europäische<br />
wirtschaftliche Interessenvereinigung›<br />
in der gesamten EU. Ergänzt wurde sie durch ein<br />
‹Zentraldepot› im Troxler-Haus, das die weltweite<br />
Belieferung des Handels übernahm.<br />
2002 erfolgte eine weitere Umstrukturierung,<br />
um den Handel in externe Hände zu geben und<br />
damit den Vertrieb zu erweitern, verbunden mit<br />
einer geänderten Geschäftsführung mit deutlich<br />
grösseren Befugnissen. Das verlief leider nicht<br />
ganz reibungslos und führte zu einer Krise, die<br />
erst durch erneuten Wechsel der Geschäftsführung<br />
beigelegt werden konnte. Mit professioneller<br />
Beratung wurde die Association in einen e.V.<br />
überführt, dessen Mitglieder die Choroi-Werkstätten<br />
als juristische Personen sind. Daneben<br />
entstanden eine eigene Vertriebs-GmbH und<br />
verantwortliche Organe, wie z.B. der ‹Grundlagenausschuss›,<br />
der für Entwicklungs- und<br />
Qualitätsfragen zuständig ist, und in dem auch<br />
externe Musiker zu Wort kommen können.<br />
Natürlich sind mit jeder ‹Erfolgsstory› auch Risiken,<br />
Gefahren und besondere Anstrengungen<br />
verbunden, vom billigen Nachahmer – bisher<br />
meist aus den eigenen anthroposophischen<br />
Reihen – über allgemeine Rezession, ‹ewigtreue›<br />
Finanzfragen, bis zu den arbeitsintensiven<br />
Aufgaben von internationalem Handel und<br />
Kundenservice. Auch die Anforderungen in den<br />
Werkstätten sind überall gewachsen; knappe<br />
Personaldecke, bürokratischer Aufwand, der<br />
sich, gefühlt, alle sechs bis sieben Jahre verdoppelt<br />
und rückläufige staatliche Zuschüsse sind<br />
ein europaweites Problem. Oft gelingt es nur<br />
schwer, ein ausgeglichenes Wirtschaftsergebnis<br />
zu erreichen. Aufbauend auf fünfzig Jahren<br />
Erfahrung und bewährten weltweiten Kontakten<br />
mit Händlern und Musikern, entscheidend<br />
auch das Qualitätsbewusstsein der Kunden,<br />
schauen wir aber doch einigermassen optimistisch<br />
in die Zukunft.<br />
Die wartet schon mit neuen Aufgaben. In den<br />
meisten Werkstätten standen und stehen in<br />
diesen Jahren Generationswechsel an. Mit dem<br />
Ausscheiden von alterfahrenen Mitarbeitern<br />
hoffen wir natürlich gleichzeitig auf neue, junge<br />
Kollegen mit frischen Ideen und Impulsen für die<br />
Arbeit. Die interne Ausbildung wird in diesem<br />
Zusammenhang wieder neues Schwergewicht<br />
bekommen. Ein neues Konzept für einfache,<br />
aber qualitativ gute Instrumente für den Elementarbereich<br />
wartet ebenfalls auf Umsetzung.<br />
Und ein lange schon bewegter Wunsch ist die<br />
Einrichtung von Choroi-Werkstätten, z.B. in den<br />
USA und Japan und die Kooperation mit weiteren<br />
interessierten Partnern.<br />
Lassen wir die nächsten 50 Jahre beginnen…<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 49
Interview<br />
«Etwas in die Tat umzusetzen»<br />
Ruedi Wälchli im Interview mit Rita Crettaz und Cem Hamurabi<br />
Über 200 Menschen mit Behinderungen arbeiten europaweit in den verschiedenen Choroi-Werkstätten,<br />
und tragen somit die ganz wesentliche praktische Arbeit im organischen Arbeitszusammenhang des Teams.<br />
Exemplarisch stellen wir hier zwei Mitarbeitende aus der Werkstatt der Dorfgemeinschaft Humanus-Haus in<br />
Beitenwil/Schweiz vor. Rita Crettaz und Cem Hamurabi arbeiten seit mehreren Jahren im Choroi-Leierbau.<br />
Was hat euch bewogen, im Choroi-Leierbau zu arbeiten?<br />
Cem: Ich kam von der Schreinerei in den Leierbau. Ich arbeite hier, weil ich Erfahrungen im Bau von<br />
Leiern sammeln will. Die Leiern klingen schön, z.B. zwei Leiern im Zusammenspiel in einem Konzert.<br />
Rita: Ich spiele selber Musik und habe ein gutes Musikgehör. Nach zwanzig Jahren Weberei wechselte<br />
ich in den Leierbau. Nach dreizehn Jahren kenne ich den Bau der Leier. Ich mache gerne Feinarbeit.<br />
Die Eigenschaften des Holzes faszinieren mich. Früher arbeitete ich mit diesem Werkstoff in<br />
der Schreinerei von Mourne Grange (Nordirland). Diese Erfahrung bewog mich, wieder mit Holz zu<br />
arbeiten. Eben auf der Basis der Musik.<br />
Was geht euch bei dieser Arbeit leicht von der Hand und wo seid Ihr auf Unterstützung angewiesen?<br />
Cem: Die Instrumente spanne ich selber in der Hobelbank ein. Auch kann ich Fasen (schräge Kanten)<br />
selbständig feilen. Da ich nicht über die Linien feilen soll, brauche ich beim Feilen der Rundungen Hilfe.<br />
Rita: Achte ich auf die Vorgaben von Markus (Werkstattleiter), dann geht es gut voran. Ebenso bespreche<br />
ich mich mit ihm bei der Wahl der Werkzeuge und Hilfsmittel. Geht es darum, beim Fasen<br />
zwei Linien einzuhalten, wird dies für mich zur Geduldsprobe.<br />
Was bedeutet euch das Handwerk im Musikinstrumentenbau?<br />
Cem: Etwas in die Tat umzusetzen. Es bedeutet mir viel. Es ist schön zu sehen, wie die Leier Form annimmt.<br />
Ich staune, wenn sie zum Klingen kommt, weil dies ins Herz geht und etwas bewirkt. Auf das<br />
selber zustande Gebrachte bin ich stolz. Auf dem Instrument zu spielen, darin ist Harmonie und Klang.<br />
Rita: Der Moment in einer anderen Welt, die Wärme, die bei mir auf das Herz anspricht. Beim Stimmen<br />
höre ich die Schwankungen gut heraus. Das Handwerk macht mir Freude, weil ich für andere<br />
Leute etwas bauen kann, was ihnen gut tut.<br />
Wie erlebt ihr die Zusammenarbeit in der Belegschaft?<br />
Rita: Die Zusammenarbeit entspricht mir, weil diese sehr erbauend ist und mir entspricht. Die Gedanken<br />
sind positiv, was die Motivation für gemeinsame Aktivitäten fördert. Der Raum für kreatives<br />
Mitwirken wird mir gegeben.<br />
50
Interview<br />
Cem: Es ist toll mit dem Leierteam zusammen zu arbeiten. Wir helfen einander, z.B. beim Sommerfest<br />
und am Bazar. Mit Teamgeist erreicht man viel. Es wird ernsthaft gearbeitet, aber auch<br />
der Humor hat Platz.<br />
Rita, du spielst Leier. Wie hast du den Zugang zu diesem Instrument gefunden?<br />
Die Leier ist für mich ein Therapieinstrument, das mir hilft, innere Spannungen zu lösen. Ich<br />
spiele selber auch Leier im Einzelunterricht und im Dorforchester.<br />
Cem, als Sänger unterstützt du uns beim Singen im Morgenkreis. Wie erlebst du diesen Einstieg in<br />
die Arbeit?<br />
Sehr schön, dazu kann man eine zweite Stimme singen oder gar im Kanon. Ich erlebe dies als schönen<br />
Einstieg in die Arbeit.<br />
Welchen Bezug habt ihr zu der Choroi-Bewegung?<br />
Cem: Ich habe einen guten Bezug, weil ich beim Bau der Leiern mitwirke. Es ist interessant, wie die<br />
Harfe gebaut wird. Beim Lackieren haben die Instrumente einen schönen Farbton. Ich helfe auch<br />
beim Auffrischen der Choroi-Flöten und Handspiele.<br />
Rita: Choroi ist für mich wegen der Musik und dem Klang sehr wichtig. Choroi beinhaltet einen grossen<br />
Instrumentenbereich für die Therapien. Das Zusammenwirken der Werkstätten ist mir wichtig.<br />
Habt ihr Wünsche für die Werkstatt?<br />
Cem: Dass sie weiter erhalten bleibt und wir weiterhin als Team zusammenarbeiten können. Auch<br />
das Veranstalten von Konzerten soll weiterhin möglich sein.<br />
Rita: Ich wünsche mir, dass der Geist der Werkstatt erhalten bleibt und dass wir mit Instrumenten in<br />
anderen Formen experimentieren können. Auch, dass die kreativen Seiten verstärkt werden und wir<br />
bei entscheidenden Bauschritten dabei sein können.<br />
Cem: Alles Gute für die Werkstatt in der Zukunft. Ich freue mich wieder darauf, im neuen Jahr anzufangen.<br />
Aus dem Schwyzerdeutschen übertragen von Ruedi Wälchli.<br />
Rita Crettaz und Cem Hamurabi sind überzeugt von Choroi<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 51
Berichte<br />
Fünfzig Jahre Beaver Run<br />
Zusammengefasst von Jan Göschel<br />
Die Anfangsjahre<br />
Ursel Pietzner hat die Schulgemeinschaft Beaver<br />
Run (offizieller Name: Schulgemeinschaft «Camphill<br />
Special School») 1963 zusammen mit ihrem<br />
Mann Carlo im Auftrag von Karl König gegründet.<br />
Über diese Anfangszeit berichtet sie folgendes:<br />
Anfangs bestanden meine Aufgaben vor allem<br />
darin, das Scheckbuch zu führen und den offiziellen<br />
Schriftverkehr zu erledigen. Ich verwaltete<br />
also die Finanzen der Gemeinschaft und war<br />
Ansprechpartnerin und Sprecherin, die Beaver<br />
Run in den Beziehungen nach aussen vertrat.<br />
Später kamen dann die Aufnahmeprozesse<br />
dazu, sowohl für Kinder, die zu uns kommen<br />
wollten, als auch für Mitarbeitende. Da schon<br />
damals, wie auch heute noch, viele unserer Mitarbeiter<br />
aus dem Ausland kamen, fiel mir auch<br />
die Verantwortung für die Arbeit mit der Einwanderungsbehörde<br />
zu, also die Antragstellung für<br />
Visa, Aufenthaltsgenehmigungen und so weiter.<br />
Ich habe auch erwirken können, dass für junge<br />
Menschen in unserem heilpädagogischen Seminar<br />
Studentenvisa ausgestellt werden können.<br />
Widerstände und Herausforderungen ergaben<br />
sich oftmals dadurch, dass unsere Arbeit und<br />
Strukturen nicht so genau mit den allgemeinen<br />
rechtlichen Rahmenvorgaben übereinstimmten.<br />
Da ging es dann immer darum, Lösungen zu finden,<br />
die beiden Seiten gerecht werden. Oft fiel<br />
mir so die Aufgabe zu, für Beaver Run verschiedene<br />
Ausnahmeregelungen zu bewirken.<br />
Dann begann das Computerzeitalter – aber<br />
nicht für mich! Eine Zeitlang war ich in den 90er<br />
Jahren und auch zu Beginn des neuen Millenniums<br />
noch an den Aufnahmen neuer Mitarbeiter<br />
beteiligt. Dann kam aber der Zeitpunkt, mich<br />
auch von dieser Aufgabe zurückzuziehen.<br />
Eine der wichtigsten Aufgaben für die Zukunft<br />
von Beaver Run und für diejenigen, die jetzt<br />
in Leitungsfunktionen sind, wird es sein, Verantwortung<br />
weiterhin rechtzeitig an jüngere<br />
Mitarbeiter abzugeben. Verantwortung und<br />
Leitungsaufgaben sollten sich nie in einer Hand<br />
konzentrieren, sondern immer kollegial getragen<br />
werden. Dadurch lässt sich verhindern,<br />
dass Leitung zu Machtausübung wird. Ich sehe<br />
meine Aufgabe darin, die jüngere Generation,<br />
die jetzt die Verantwortung trägt, in ihren Ideen<br />
und Impulsen zu unterstützen, die durchaus<br />
auch anders sein können, als meine!<br />
Heutige Aufgaben sind erheblich komplexer<br />
Beim Rückblick des Leitungskreises auf die wesentlichen<br />
Themen der letzten Jahre zeigten sich<br />
zunächst einige Trends, die mit Entwicklungen<br />
im öffentlichen (Sonder-)Schulwesen im Zusammenhang<br />
stehen. Die nicht-programmatischen<br />
Anforderungen werden aufwendiger, gleichzeitig<br />
werden die finanziellen Mittel knapper. Hinzu<br />
kommt das immer stärker werdende politische<br />
Mandat zur (wenigstens räumlichen) Inklusion.<br />
Als privater Vertragspartner der öffentlichen<br />
Schulen spüren auch wir die Konsequenzen dieser<br />
Trends, die sich beispielsweise an den ansteigenden<br />
Zahlen der Tagesschüler gegenüber den<br />
abnehmenden der Heimschüler zeigen. Schüler,<br />
die einen Heimplatz bewilligt bekommen, haben<br />
heute deutlich komplexere Bedürfnisse. Und immer<br />
öfter müssen Eltern die Finanzierung für ihre<br />
Kinder auf dem Rechtsweg erkämpfen. Daher haben<br />
wir dieses Jahr die paradoxe Situation, dass<br />
wir zwar mehr Anfragen, Besuche und Anträge<br />
von Eltern auf Schulplätze haben als je zuvor,<br />
dass aber gleichzeitig im Januar noch nicht alle<br />
Klassen und Heimplätze belegt sind.<br />
Diese Situation erzeugt einerseits enormen<br />
Druck, sowohl finanziell als auch in Bezug auf<br />
den Verwaltungsaufwand. Andererseits lässt<br />
sich auch eine Herausforderung erkennen, in<br />
der Verwirklichung von Carlo Pietzners Idee<br />
des ‹Children’s Village› einen weiteren Schritt<br />
zu machen. In einem Vortrag am 30. November<br />
1977, wenige Tage vor dem vierzehnten Geburts-<br />
52
Berichte<br />
tag von Beaver Run sprach Carlo über die Gründungsidee<br />
als ‹Children’s Village›:<br />
«[The Children’s Village] would become a village<br />
for many people, not all of which would be working<br />
with and for children. But all of which would<br />
want to live in the vicinity of one another because<br />
of The Child, and because of each other. It was<br />
not to be a residential school. It was not meant to<br />
be a therapeutic community; although all of this<br />
would be incorporated as well. […] It would have<br />
certain areas in which it would be geographically<br />
and as a location strictly visible as a place, but it<br />
would be surrounded, loosely, by many other activities<br />
in the vicinity that would all together help<br />
to form the Children’s Village. […] It was to be a<br />
village for the child […], both physically, as well as<br />
within us.» (Carlo Pietzner, Unpublished Address<br />
to the Community, given on November 30, 1977 at<br />
Rainbow Hall, Beaver Run).<br />
Die Schulbusse, die sich zweimal täglich als<br />
lange gelbe Schlange den Hügel hochschieben,<br />
gehören vielleicht auch zu diesem Bild: Dass<br />
Beaver Run nicht mehr nur in Beaver Run ist,<br />
sondern viel stärker in seine geografische und<br />
gesellschaftliche Umgebung verwoben ist – als<br />
Gemeinschaft in konzentrischen Kreisen, als<br />
Schule, als Zentrum anthroposophischer Kultur,<br />
aber auch als gemeinnütziges Unternehmen,<br />
als Arbeitgeber und als Geschäftspartner.<br />
Dazu gehört ebenso die Mitgliedschaft zum<br />
Verband der Waldorfschulen in Nordamerika<br />
(AWSNA), das ‹Transition Program› für unsere<br />
18-21jährigen Schüler zur Vorbereitung auf das<br />
Erwachsenenleben und die ‹Camphill Academy›<br />
als Träger der heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />
Ausbildungen in Nordamerika.<br />
Für die kommenden Jahre sehen wir es als unsere<br />
Aufgabe, die Gründungsintuition von Beaver<br />
Run, die höchstens ansatzweise verwirklicht ist,<br />
imaginativ neu zu entfalten und aus ihr lebendige<br />
Leitbilder für die inzwischen sehr komplex<br />
gewordene Situation zu entwickeln. Das bedeutet<br />
auch eine Stärkung des Gemeinschaftsbildungsimpulses<br />
von Beaver Run gegenüber dem<br />
als professioneller Dienstleister aufgestellten<br />
Ein Blick auf das Schulgebäude der «Camphill Special School» (Foto: JG)<br />
Rechtsträger «Camphill Special School». Dazu<br />
gehört die praktische Orientierung an der sozialen<br />
Dreigliederung. Beaver Run sieht sich heute<br />
als eine Gemeinschaft, in der Lernen, Forschen,<br />
individuelle Entwicklung und Pflege der anthroposophischen<br />
Geisteswissenschaft einen hohen<br />
Stellenwert haben. Die Entwicklung des Einzelnen<br />
ist getragen von einem Zusammenleben,<br />
in dem die Familie als wahlverwandtschaftliche<br />
Gemeinschaft von Menschen, die aus freier Intention<br />
und Wärme ein gemeinsames Zuhause<br />
gestalten, im Mittelpunkt steht. Das wird dadurch<br />
möglich, dass wir als Lebensgemeinschaft<br />
die Verteilung unserer wirtschaftlichen und<br />
finanziellen Mittel von der Frage der Arbeitsleistung<br />
des einzelnen abkoppeln und uns am<br />
«sozialen Grundgesetz» orientieren, und dass<br />
wir unsere zentralen Entscheidungsprozesse<br />
kollegial tragen. Dieses sozialgestalterische Experiment<br />
weiterzuführen, ist uns ein zentrales<br />
Anliegen. Als Voraussetzung dafür sehen wir ein<br />
starkes Engagement für die Entwicklung eines<br />
engagierten und kompetenten Nachwuchses<br />
an Mitarbeitenden. Wir müssen aber auch angesichts<br />
der gegenwärtigen Herausforderungen<br />
wieder ein neues wirtschaftliches Gleichgewicht<br />
finden. Gelingt uns das, so können wir hoffentlich<br />
in den verschiedenen Aspekten unserer Tätigkeit<br />
zur Entwicklung zukunftsweisender Ideen<br />
und Modelle beitragen, deren Wirkung über das<br />
kleine Beaver Run hinaus in die Welt geht.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 53
Volker Frielingsdorf; Rüdiger<br />
Grimm; Brigitte Kaldenberg,<br />
Geschichte der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
Entwicklungslinien und Aufgabenfelder<br />
1920 -1980<br />
Verlag am Goetheanum &<br />
Athena Verlag Dornach 2013<br />
Edition Anthropos<br />
EUR: 45.- | CHF: 54,-<br />
Rezension: Angelika Gäch<br />
Neue Bücher<br />
Dieses ausführliche Fachbuch<br />
lässt wohl keinen Leser kalt,<br />
schildert es doch auf den über<br />
570 Seiten ausführlich und einprägsam<br />
wesentliche Aspekte<br />
der wechselvollen Schicksale<br />
des 20. Jahrhunderts. Je nach<br />
Geburtsjahr können ältere oder<br />
jüngere Lesende Abschnitte der<br />
eigenen Biografie wiederfinden.<br />
Und je nach Zeitabschnitt<br />
der behandelten sechs Dekaden<br />
von 1920 bis 1980 vermittelt<br />
die Darstellung sehr verschiedene<br />
Stimmungen von<br />
der Begeisterung der Pionierzeit,<br />
der Bedrängnis des NS-<br />
Regimes über den Wiederaufbau<br />
in der Nachkriegszeit bis zu den<br />
eigentlichen Nachdenklichkeits-<br />
Fragen der letzten geschilderten<br />
Jahre mit dem Ausblick auf künftige<br />
Aufgaben.<br />
Jedoch im Einzelnen:<br />
Die dem Buch vorangestellten<br />
Leitmotive von Pestalozzi, Goethe<br />
und Steiner umfassen die<br />
Jahre 1801 bis 1915 und weisen<br />
damit auf frühe Wurzeln hin.<br />
Absicht der Darstellung ist laut<br />
Einführung die «mehrfache Kontextualisierung<br />
der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik» im zeithistorischen<br />
und gesellschaftspolitischen<br />
Zusammenhang; unter<br />
Einbeziehung der Entwicklungen<br />
in der allgemeinen Heilpädagogik<br />
sowie auf dem Hintergrund<br />
der anthroposophischen Bewegung<br />
insgesamt als eines von<br />
deren Lebensfeldern. Weiter wird<br />
dargelegt, dass die fachwissenschaftlichen<br />
Veröffentlichungen zur<br />
Geschichte und Entwicklung der<br />
Sonder- und Heilpädagogik kaum<br />
Hinweise auf die anthroposophische<br />
Heilpädagogik enthalten<br />
und die wachsende und international<br />
aktive Bewegung umso mehr<br />
Fragen nach den eigenen Wurzeln,<br />
nach dem eigenen Selbstverständnis<br />
und dem mit anderen<br />
Richtungen gemeinsamen<br />
Ansatz stellen muss. Diese Fragen<br />
umfassen ein weites Feld von<br />
den Leitideen bis zum Alltagsleben,<br />
den Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten,<br />
der<br />
Entwicklung von Organisationsformen<br />
und dem Beitrag zu den<br />
sozialpraktischen und fachwissenschaftlichen<br />
Entwicklungen<br />
der jeweiligen Zeit mit ein.<br />
Die komplizierte und fragmentarische<br />
Quellenlage mit einerseits<br />
Prospekten oder Festschrif-<br />
54
Rezensionen<br />
ten und andererseits Erinnerungsliteratur<br />
sowie einigen wenigen<br />
historischen Darstellungen wird<br />
im Buch dargelegt. Das Buch-Projekt<br />
war überhaupt erst Anlass<br />
zum Aufbau eines materiellen<br />
und elektronischen Archivs in der<br />
Internationalen Konferenz für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie.<br />
Der Umfang der Recherche wird<br />
deutlich, wenn der Leser nach<br />
und nach entdeckt, wieviel Detail-<br />
Material über die internationale<br />
Entwicklung der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik in dem Buch<br />
eben auch enthalten ist.<br />
Die sechzig geschilderten Jahre<br />
sind in fünf unterschiedlich<br />
lange Abschnitte geteilt:<br />
- Die Begründung 1920-1925;<br />
- Die Jahre der ersten Ausbreitung<br />
1925-1933;<br />
- Totalitäre Bedrohung und Zweiter<br />
Weltkrieg 1939-1945;<br />
- Wiederaufbau, weitere Ausbreitung<br />
1945-1963;<br />
- Differenzierung und Institutionalisierung<br />
1963-1980;<br />
Es folgt ein Epilog mit Überblick<br />
über neuere Entwicklungen bis<br />
heute und ein Anhang mit Kurzbiografien.<br />
Der Lesbarkeit des umfangreichen<br />
Werkes kommt es sehr<br />
zugute, dass die Gliederung in<br />
den einzelnen Abschnitten sich<br />
entspricht: Ausgehend von der<br />
allgemeinen politischen, sozialen<br />
und gesellschaftlichen Situation<br />
geht es zur allgemeinen<br />
Lage der Heilpädagogik und auf<br />
diesem Hintergrund insbesondere<br />
der Situation der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik.<br />
Innerhalb dieser werden wiederum<br />
zunächst die äusseren Entwicklungen<br />
mit Neugründungen<br />
und Vernetzungen geschildert<br />
und danach die Aspekte der<br />
inneren Orientierung. Bei diesen<br />
auch fachlich divergierenden<br />
Gesichtspunkten deutet<br />
der Sprachstil auf die Anteile<br />
der verschiedenen Autoren – ein<br />
insgesamt belebender Faktor.<br />
Zu den einzelnen Zeitabschnitten:<br />
Die Begründungsphase der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik<br />
1920 bis 1925 fällt in die dramatische<br />
Nachkriegszeit mit ihren<br />
grossen politischen und ökonomischen<br />
Umbrüchen. Das Buch<br />
schildert, dass im Bereich der Bildung<br />
einerseits die Reformpädagogik<br />
neue Perspektiven eröffnet<br />
hatte, andererseits sich rassenhygienische<br />
Tendenzen erheblich<br />
ausbreiteten und Menschen<br />
mit Behinderung das Recht auf<br />
Entwicklung und Bildung absprachen.<br />
Auf diesem Zeithintergrund<br />
wendeten sich die anthroposophischen<br />
Impulse bildungs- und<br />
gesundheitspolitischen sozialen<br />
Aufgaben zu, zum Beispiel<br />
mit der Begründung der ersten<br />
Waldorfschule in Stuttgart, der<br />
anthroposophischen Medizin,<br />
der Dreigliederungsbewegung<br />
und der biologisch-dynamischen<br />
Landwirtschaft. Im Bereich der<br />
Heilpädagogik ist bemerkenswert,<br />
dass früh Arbeitsformen<br />
entwickelt wurden, die bis heute<br />
Bestand haben. So gründete<br />
Karl Schubert eine Sonderklasse<br />
unter dem Dach der Waldorfschule,<br />
Ita Wegman begann Heilpädagogik<br />
im klinischen Zusammenhang<br />
zu entwickeln, und die<br />
drei «Urheilpädagogen» Franz<br />
Löffler, Siegfried Pickert und Albrecht<br />
Strohschein – alle noch im<br />
Studentenalter – eröffneten die<br />
erste heilpädagogische Lebensgemeinschaft<br />
auf der Grundlage<br />
der Anthroposophie. Auf die<br />
Erfahrungen aus diesen Arbeitsbereichen<br />
konnte Rudolf Steiner<br />
sich bei seinem «Heilpädagogischen<br />
Kurs» im Frühsommer<br />
1924 stützen. Den komplexen<br />
Inhalten, der Konzeption und Wirkungsgeschichte<br />
des Heilpädagogischen<br />
Kurses widmet das Buch<br />
eine differenzierte Darstellung auf<br />
zwanzig ausführlichen Seiten.<br />
Die Jahre der ersten Ausbreitung<br />
1925-1933 schildern die<br />
Entwicklung des Sonnenhofes<br />
in Arlesheim/Schweiz zur zentralen<br />
Anlaufstelle der wachsenden<br />
heilpädagogischen Bewegung<br />
sowie die Folgegründungen<br />
der Urheilpädagogen Schloss Pilgramshain<br />
in Schlesien, Schloss<br />
Gerswalde in der Uckermark und<br />
Schloss Hamborn bei Paderborn<br />
sowie den Beginn anthroposophischer<br />
Heilpädagogik in den<br />
skandinavischen Ländern. Während<br />
in der allgemeinen Heilpädagogik<br />
ab 1922 von Hanselmann<br />
und Heller grosse Kongresse<br />
in München, Leipzig und<br />
Köln veranstaltet wurden, um die<br />
Gesamtgestalt der entstehenden<br />
Disziplin auszuarbeiten, hatte<br />
Ita Wegman den Weitblick und<br />
die Initiative, eine Zusammenarbeit<br />
mit den zuständigen Fürsorgeämtern<br />
zu beginnen, Vorträge<br />
in vielen deutschen Grossstädten<br />
zu veranstalten, internationale<br />
Kongresse anzuregen, z.B.<br />
1928 in London, 1929 in Amsterdam<br />
und 1930 in Camp Stakenberg<br />
und die Vernetzung der Einrichtungen<br />
durch einen überregionalen<br />
Verein zu initiieren. Es<br />
begeistert den Leser, mit welcher<br />
Innovationskraft von vielen<br />
Menschen durch Einsatz und Ideenreichtum<br />
sowie durch Begegnung<br />
und Austausch Grundkonzepte<br />
der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik entwickelt wurden:<br />
die Alltagskultur mit rhythmischer<br />
Zeitstruktur, sorgsame<br />
Umgebungsgestaltung und eine<br />
achtsame wertschätzende See-<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 55
Rezensionen<br />
lenhaltung im Sinne der «<strong>Seelenpflege</strong>».<br />
Die Kinderkonferenz<br />
als Suche eines gemeinsamen<br />
Weges und die Heilpädagogische<br />
Diagnostik nicht aus<br />
akademischer Begrifflichkeit sondern<br />
lebensbezogener Anschauung<br />
entwickelten sich ebenso wie<br />
die künstlerischen Therapien und<br />
die Pflege des religiösen Lebens<br />
in der erstaunlich kurzen Zeit von<br />
wenigen Jahren. Diese Entwicklungsdichte<br />
wurde von Ita Wegman<br />
intensiv gefördert durch<br />
menschliche Kontakte und Beratungen,<br />
durch Anregung von hausinternen<br />
Ausbildungen und<br />
durch von ihr angeregte Publikationen<br />
in der neu begründeten<br />
Zeitschrift NATURA.<br />
Ganz anders liest sich der dritte<br />
Abschnitt über die Zeit der totalitären<br />
Bedrohung und des Zweiten<br />
Weltkriegs 1939-1945. Die<br />
rassenhygienische Ideologie<br />
und Behindertenfeindlichkeit<br />
hatte natürlich immense Folgen<br />
für die anthroposophische Heilpädagogik.<br />
Nur durch geschicktes<br />
Lavieren, wohlmeinende<br />
Beamte und kreative Sabotage<br />
gelang einigen Einrichtungen<br />
dennoch die zeitweise Weiterarbeit.<br />
Das Leben in den Einrichtungen<br />
war «enthusiastisch und<br />
arm». Der Aussendruck erhöhte<br />
die Innen-Intensität. Ansonsten<br />
überlebte die Arbeit in Schutzräumen<br />
in der Schweiz, Holland,<br />
England und Skandinavien. Die<br />
Isolierung Ita Wegmans infolge<br />
der Zerwürfnisse in der Anthroposophischen<br />
Gesellschaft<br />
1935 hatte die Schwerpunkte<br />
der medizinischen und heilpädagogischen<br />
Initiativen ohnehin<br />
nach Holland und England verlagert.<br />
Zudem begann 1939 mit<br />
der Begründung Camphills durch<br />
Karl König und seine Mitarbeiter<br />
ein neuer Entwicklungsstrom,<br />
der nach 1945 eine enorme<br />
Dynamik entfalten konnte. Auch<br />
trotz des Todes der Koordinatorin<br />
Ita Wegman im März 1943 trat<br />
für die anthroposophische Heilpädagogik<br />
1945 keine Stunde<br />
Null ein, sondern das einheitliche<br />
Paradigma bewies eine<br />
tragfähige Kontinuität.<br />
Die im Buch als vierter Abschnitt<br />
beschriebene Phase des Wiederaufbaus<br />
und der weiteren Ausbreitung<br />
1945-1963 stand unter<br />
dem Zeichen des Wirtschaftswunders<br />
und des Bundessozialhilfegesetzes,<br />
aber auch der<br />
Differenzierung in zehn Sonderschulformen.<br />
Für die anthroposophische<br />
Heilpädagogik ergab<br />
sich trotz anfangs immenser Alltagsnöte<br />
eine zweite Pionierphase<br />
mit oft den gleichen Personen<br />
wie zuvor. Von der zentralen<br />
Anlaufstelle Sonnenhof<br />
in Arlesheim aus organisierte<br />
Werner Pache Hilfssendungen<br />
nach Deutschland, pflegte Kontakte<br />
und setzte sich für eine<br />
neue Vernetzung ein. Bereits ab<br />
1947 fanden regelmässige Treffen<br />
in der Schweiz, in Holland<br />
und später in Deutschland statt.<br />
Im Zusammenhang mit einer<br />
kontinuierlichen Gründungswelle<br />
in vielen europäischen<br />
Ländern und später auch in<br />
Australien, Neuseeland, Südafrika<br />
und Nordamerika wurde<br />
die Selbstvergewisserung und<br />
Entwicklung eines tragfähigen<br />
theoretischen und methodologischen<br />
Fundaments dringlich.<br />
Dazu kamen Aufgaben der<br />
fachlichen Differenzierung, der<br />
Entwicklung neuer Arbeitsbereiche<br />
und der Strukturierung<br />
einer Weltbewegung.<br />
Die grösste Nähe zu den heute<br />
aktuellen Fragen zeigt in dieser<br />
historischen Darstellung natürlich<br />
der letzte Abschnitt über die<br />
Differenzierung und Institutionalisierung<br />
1963-1980. Die intensiven<br />
politischen und gesellschaftlichen<br />
Umbrüche dieser<br />
Phase spiegelten sich auch<br />
in der veränderten Stellung der<br />
Menschen mit Behinderung in<br />
der Öffentlichkeit, der Arbeit der<br />
Selbsthilfeverbände, der Umorientierung<br />
des hoch differenzierten<br />
Sonderschulwesens zur<br />
Integration, der fachlichen Differenzierung,<br />
Entwicklung neuer<br />
Arbeitsstrukturen und Aufgabenfelder<br />
und stellten die anthroposophische<br />
Heilpädagogik vor<br />
grosse neue Herausforderungen.<br />
Wie sie diese aufgegriffen hat, ist<br />
hier im Detail geschildert.<br />
Der Epilog gibt einen Überblick<br />
über neuere Entwicklungen bis<br />
heute und regt damit zur intensiven<br />
Reflexion der komplexen<br />
aktuellen Fragen an. Insofern<br />
stellt er das komprimierteste<br />
und interessanteste Kapitel<br />
des Buches dar, das natürlich<br />
seine Aktualität aufgrund der<br />
zuvor ausführlich dargestellten<br />
Entwicklungsgeschichte<br />
erhält. Der Leser verlässt das<br />
Buch bereichert und dankbar<br />
für die Klarheit der Konzeption,<br />
die sorgfältige Verankerung<br />
im zeitgeschichtlichen<br />
Kontext und die fachlich differenzierte<br />
Darstellungsweise.<br />
Es wird ihm einmal mehr<br />
bewusst, mit welcher Kraft der<br />
Ursprungsimpuls wirksam ist,<br />
wie vieleMenschen er beflügelt<br />
hat, daran mitzuwirken<br />
und wie viele Aufgaben noch<br />
anzugehen sind.<br />
56
Termine<br />
Im Gespräch ...<br />
Lebensgestaltung – Lebensqualität – Lebensmotive<br />
von Brigitta Fankhauser<br />
Ein inklusives Symposium zur Entwicklung der<br />
Sozialtherapie vom 26. bis 29. Juni <strong>2014</strong> in der<br />
Camphill-Gemeinschaft Alt-Schönow, Berlin<br />
Auf Einladung der Sozialtherapeutischen Arbeitsgruppe<br />
der Konferenz für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie in Dornach begegneten sich<br />
zum zweiten Mal Menschen mit besonderen Bedürfnissen,<br />
Angehörige und Mitarbeitende zu<br />
Gesprächen über die Entwicklungsperspektiven<br />
der sozialtherapeutischen Arbeit.<br />
In den letzten Jahren haben sich einschneidende<br />
Entwicklungen und Veränderungen im<br />
Feld der anthroposophischen Einrichtungen<br />
für Sozialtherapie abgezeichnet, die mit den<br />
Umbrüchen und Veränderungen im Feld der sozialen<br />
Arbeit in enger Beziehung stehen. Nicht<br />
wenige Menschen empfinden angesichts dieser<br />
Situation Bedenken und Sorgen, wie wohl die<br />
Lebensqualität von Menschen mit Behinderung<br />
in Zukunft sein wird, wenn sich Traditionen und<br />
gewohnte Lebensbedingungen wandeln durch<br />
neues Denken über Behinderung, über soziales<br />
Handeln und insbesondere über das persönliche<br />
Leben unter institutionellen Bedingungen.<br />
Sich auf Augenhöhe zu begegnen, war für alle<br />
Teilnehmenden gleichermassen ein Übungsfeld<br />
und zugleich Realität. In den einführenden<br />
Referaten wurde aufmerksam gemacht auf die<br />
individuellen Bedürfnisse, die durch achtsame<br />
Begleitung und Unterstützung zu biografischen<br />
Veränderungen und Entwicklungen führen können.<br />
In sechs themenbezogenen Arbeits- und<br />
Gesprächsgruppen fand ein intensives Nachdenken<br />
und Austauschen über künftige Haltungen,<br />
Prozesse und Formen statt.<br />
Zu den prägenden Eindrücken der Tagung zählten<br />
die Beiträge von Menschen, die von ihren<br />
biografischen Erlebnissen, ihrem Leben in so-<br />
zialen und institutionellen Zusammenhängen<br />
und ihren Wünschen für ein gelingendes Leben<br />
erzählten. Sie erhöhten das Verantwortungsgefühl<br />
aller Teilnehmenden im Hinblick auf die Formulierung<br />
künftiger Ziele und Entwicklungen. Es<br />
war eine Spurensuche, im weiten Feld der anthroposophischen<br />
Sozialtherapie mehr zu verstehen<br />
von dem, was sich bisher entwickelt hat<br />
und von welchem Ausgangspunkt aus zukünftige<br />
Entwicklungen betrachtet werden müssen.<br />
Am Ende der Tagung entdeckten und formulierten<br />
wir weitere Schlüsselbegriffe wie Würde<br />
und Achtung, Ermutigung in der Lebensführung,<br />
Schulung in der Beziehungsgestaltung als einer<br />
Form von Friedensbeitrag im sozialen Leben und<br />
Fortschreiten der Inklusionsbewegung.<br />
Termine<br />
26. bis 29. Oktober <strong>2014</strong><br />
Lernen verstehen – den individuellen Ansatz finden<br />
Förderlehrertagung<br />
CH-Dornach, Goetheanum<br />
Info: www.paedagogik-goetheanum.ch<br />
26. November<br />
Arbeitstagung für Mitglieder von Trägerschaften<br />
und Leitungsgremien<br />
CH-Zürich<br />
Info: www.vahs.ch<br />
22. bis 25. April 2015<br />
Internationale Ausbildungstagung für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie<br />
mit Wissenschaftssymposium vom 24. bis 25. April<br />
DE-Kassel<br />
Info: www.khs@khsdornach.org<br />
Weitere Termin finden Sie auf unserer Internetseite<br />
unter: www.khs@khsdornach.org<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 4 | <strong>2014</strong> 57
<strong>Seelenpflege</strong> in Heilpädagogik und Sozialtherapie 33. Jahrgang <strong>2014</strong> Heft 4<br />
Impressum<br />
Herausgegeben von der Konferenz für Heil pädagogik und<br />
Sozialtherapie in der Medizinischen Sektion der Freien<br />
Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum, Dornach<br />
(Schweiz) www.khsdornach.org<br />
Redaktion<br />
Dr. Rüdiger Grimm<br />
Dr. Bernhard Schmalenbach<br />
Gabriele Scholtes (Dipl.-Heilpädagogin)<br />
Administration<br />
Pascale Hoffmann<br />
Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich.<br />
Abonnementspreise CHF Euro<br />
Abonnement 42.-- 32.--<br />
Studierende/Senioren 27.-- 20.--<br />
Einzelheft (zuzügl. Porto) 15.-- 10.--<br />
Organisationsabonnement<br />
ab fünf Hefte 300.-- 250.--<br />
Weitere Informationen unter: www.seelenpflege.info<br />
Das Abonnement ist jederzeit kündbar.<br />
Layout<br />
Roland Maus<br />
Satz<br />
Gabriele Scholtes, Rüdiger Grimm<br />
Druck<br />
Uehlin Druck und Medienhaus<br />
Inh. Hubert Mößner<br />
Hohe-Flum-Strasse 40<br />
DE-79650 Schopfheim<br />
Anschrift<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong><br />
Ruchti-Weg 9, CH-4143 Dornach<br />
Telefon: +41 61-701 84 85<br />
eMail: zs@khsdornach.org<br />
Website: www.seelenpflege.info<br />
Verlag der Konferenz für Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie, Dornach<br />
ISSN 1420-5564<br />
Mediadaten: www.seelenpflege.info<br />
------------------ ---------------------------------------------------------------<br />
Ich abonniere jetzt!<br />
die Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong><br />
in Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie<br />
zum Preis von CHF 42.-- | Euro 32.-- (Studierende und Senioren 27.-- | 20.--) pro Jahr. Das Abonnement<br />
ist jederzeit kündbar. Mein Abonnement beginnt mit der nächsten Ausgabe.<br />
Name<br />
Strasse<br />
Land | PLZ | Ort<br />
Telefon<br />
Email<br />
Datum, Unterschrift
Johannes-Schule Küsnacht / ZH<br />
Heilpädagogische Schule für den Bezirk Meilen / ZH<br />
www.johannesschule.ch<br />
Infolge Pensionierung unserer Kollegin suchen wir für eine Mittelstufenklasse auf Beginn<br />
Schuljahr 2015/2016 eine / einen<br />
schulische Heilpädagogin / schulischen Heilpädagogen (100%)<br />
oder eine Lehrperson mit der Bereitschaft, eine heilpädagogische Ausbildung zu absolvieren.<br />
Wir arbeiten auf Grundlage der anthroposophischen Heilpädagogik.<br />
Bitte nehmen Sie Kontakt auf mit<br />
Christoph Frei<br />
Schulleitung<br />
Sonnenrain 40 | CH-8700 Küsnacht | Mail: christoph.frei@johannesschule.ch<br />
Tel. 044 913 60 30 (direkt) oder 044 913 60 10 (Schulsekretariat)<br />
Die Gemeinschaft in Kehna<br />
sucht ab sofort<br />
pädagogisch qualifizierte Persönlichkeiten<br />
Was Sie erwartet:<br />
für die Teamleitung einer Hausgemeinschaft<br />
• Zehn interessierte Zeitgenossen und -genossinnen, mit denen man die Gegenwart entdecken kann<br />
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Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung, die Sie bitte richten an: Michael Gehrke | Kenenstr. 6 | DE-35096 Kehna<br />
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