MÄA-02-24 online
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TITELTHEMA<br />
Münchner Ärztliche Anzeigen<br />
Prof. Dr. Christoph Wewetzer ist<br />
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie<br />
und Psychotherapie<br />
und Chefarzt der Münchner Kirinus<br />
Tagesklinik für Kinder und Jugendliche.<br />
Foto: Kirinus<br />
Der Zwang sucht sich<br />
oft Dinge, die für die<br />
Menschen besonders<br />
schlimm wären.<br />
Prof. Dr. Christoph Wewetzer<br />
Medikament in welcher Dosierung<br />
sinnvoll ist. Serotonin-Aufnahmehemmer<br />
wie Sertralin müssen wir<br />
beim Zwang oft sehr viel höher<br />
dosieren als bei einer Depression.<br />
Für welche Patient*innen kommt<br />
die Behandlung in einer Tagesklinik<br />
in Frage?<br />
Bei nicht so schwer betroffenen Kindern<br />
und Jugendlichen, die noch zur<br />
Schule gehen können, genügt oft<br />
eine ambulante Behandlung. Sobald<br />
man aber mehrere Termine pro<br />
Woche für eine Expositionstherapie<br />
braucht, ist das ambulant meistens<br />
schwer zu leisten. Manchmal<br />
braucht es auch eine vollstationäre<br />
Behandlung, denn bei Zwangsstörungen<br />
sind die Eltern oft extrem<br />
eingebunden. Sie müssen z.B. Türen<br />
aufhalten, Lösungsmittel kaufen,<br />
oder dürfen manche Zimmer nicht<br />
betreten, und das kann für Berufstätige<br />
im Alltag sehr anstrengend sein.<br />
Bei unserer teilstationären Behandlung<br />
kommen die Kinder und<br />
Jugendlichen morgens zu uns und<br />
werden hier auch beschult. Teilweise<br />
haben sie vormittags schon einige<br />
diagnostische Maßnahmen.<br />
Nachmittags gehen sie in die Therapie.<br />
Eine teilstationäre Behandlung<br />
ist natürlich schöner für Kinder und<br />
Jugendliche, weil sie dann nicht aus<br />
ihrem Umfeld herausgerissen werden,<br />
sondern abends und am<br />
Wochenende noch Freunde treffen<br />
und zu Hause sein können.<br />
Welche zusätzlichen Therapien<br />
bieten Sie an?<br />
Wir arbeiten immer multimodal, d.h.<br />
wir haben eine intensive Einzeltherapie,<br />
die wir mit vielen Expositionen in<br />
der Intensivphase steigern. Außerdem<br />
beteiligt sich auch unser Team<br />
aus Pflegekräften und Sozialpädagog*innen<br />
an den Expositionen.<br />
Denn laut neueren Studien ist es<br />
entscheidend, diese regelmäßig und<br />
häufig durchzuführen. Viele von<br />
Zwangsstörungen Betroffene haben<br />
komorbide Störungen wie Ängste.<br />
Daher bieten wir auch Gruppen zur<br />
sozialen Kompetenz, Angstbewältigung,<br />
Körperwahrnehmung, Kunstund<br />
Sporttherapie an. Schon morgens<br />
setzen wir mit den Patient*innen<br />
Tagesziele und machen Achtsamkeitsübungen.<br />
Wie lange geht die Behandlung?<br />
In mittelschweren bis schweren Fällen<br />
behandeln wir zehn bis zwölf<br />
Wochen. Im letzten Drittel oder Viertel<br />
der Behandlung gehen die Kinder<br />
von uns aus wieder in ihre Heimatschulen,<br />
damit sie wieder in ein normales<br />
Belastungssystem kommen.<br />
Nach der Schule besprechen wir,<br />
wie es war, ob es Zwänge gab. Was<br />
nach der Corona-Pandemie leider<br />
sehr zugenommen hat, ist der Schulabsentismus.<br />
Wir haben einige<br />
schulängstliche, trennungsängstliche<br />
Kinder, die teilweise bis zu zwei<br />
Jahre lang nicht mehr in der Schule<br />
waren. Allerdings sind die meisten<br />
Kinder mit Zwangsstörungen sehr<br />
leidensfähig. Sie gehen möglichst<br />
lange in die Schule, auch wenn sie<br />
sich dabei extrem belasten und quälen.<br />
Welche Rolle spielen Angehörige<br />
bei der Therapie?<br />
Die Leitlinie ist da sehr eindeutig: Die<br />
Familie muss von Anfang an einbezogen<br />
werden. Wie schon beschrieben,<br />
sind die Eltern ja meistens<br />
sowieso massiv eingebunden. Wir<br />
besprechen das mit den Patient*innen<br />
und sagen zum Beispiel: „Ab<br />
nächster Woche wird die Mama Dir<br />
nicht mehr die Türen aufmachen<br />
oder jeden Tag eine neue Flasche<br />
Duschlotion kaufen“. Wir machen<br />
auch zu Hause Expositionsübungen<br />
mit den Jugendlichen, denn der<br />
Zwang ist häufig im häuslichen<br />
Umfeld am stärksten. Zusätzlich zu<br />
den Einzelelterngesprächen bieten<br />
wir alle 14 Tage eine Elterngruppe<br />
dazu an, wie sie z.B. mit Medien oder<br />
mit Krisen umgehen können.<br />
Wie einfach oder schwer ist es,<br />
Patient*innen bei Ihnen unterzubringen?<br />
Wir haben 40 Plätze für Jugendliche<br />
zwischen 13 und 18 Jahren. Derzeit<br />
können wir oft innerhalb von drei<br />
oder vier Wochen einen Platz anbieten.<br />
Kinder und Jugendliche mit<br />
Zwängen nehmen wir auch gern ein<br />
bisschen früher, weil das einer unserer<br />
Schwerpunkte ist. Kinder- und<br />
Jugendpsychiater*innen, Pädiater*innen<br />
und niedergelassene Psychotherapeut*innen<br />
können die Kinder<br />
über eine Einweisung hier vorstellen.<br />
Wir freuen uns, wenn wir von<br />
den Einweiser*innen noch einen<br />
Befundbericht bekommen. Vor der<br />
Behandlung führen wir stets noch<br />
ein Vorgespräch, damit sich die<br />
Jugendlichen entscheiden können,<br />
ob sie wirklich zu uns kommen<br />
möchten. Denn eine so anstrengende<br />
Behandlung macht gegen ihren<br />
Willen keinen Sinn. Nicht zu behandeln<br />
ist aber keine Option, denn der<br />
Zwang geht nicht von alleine weg.<br />
Das Gespräch führte Stephanie Hügler