Alexander Brandl: Hoffnungsschimmern (Leseprobe)
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Du darfst<br />
Ich singe jetzt. Fühlt sich komisch an, das zu sagen. Nachdem ich mir fast<br />
35 Jahre lang eingeredet habe, dass ich nicht singen kann. Ehrlich gesagt:<br />
Mein Talent ist ausbaufähig. Nicht jeder Ton sitzt. Ein Startenor wird aus<br />
mir sicher nicht. Nur denke ich inzwischen: Na und?<br />
Ich kann nicht besser singen als vor, sagen wir, zehn Jahren. Meine Stimmbänder<br />
sind dieselben. Trotzdem habe ich damals keinen Ton herausgebracht.<br />
Meine Kehle war wie zugeschnürt, wenn mir jemand ein Liedblatt hingehalten<br />
hat. Was ist jetzt anders? Meine Gesangs lehrerin hat mich auf eine Fährte<br />
gebracht. Gleich in meiner ersten Gesangsstunde. Nach ein paar Tönen klappt<br />
sie ihr Klavier zu, lächelt mich an und sagt: „Junge, du bist hier nicht bei der<br />
Arbeit. Du musst nicht Töne produzieren. Du darfst einfach singen.“<br />
Das war wie Musik in meinen Ohren. Dürfen. Nicht müssen. Nicht sollen.<br />
Dürfen. Jesus sagt: „Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen:<br />
Sie arbeiten nicht.“ Das will ich auch: Wachsen, mich ent wickeln, aufblühen.<br />
Ohne gleich in einen Arbeitstrott zu kommen. Ohne zu denken: Ich muss<br />
etwas ableisten, abarbeiten. Ich singe jetzt. Einfach so. Nicht weil ich muss.<br />
Sondern weil ich darf.<br />
ALEXANDER BRANDL<br />
10