Das Gehirn schläft nie
02.04.2024
02.04.2024
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2<br />
Bieler Tagblatt<br />
Samstagsinterview<br />
«<strong>Das</strong> <strong>Gehirn</strong> <strong>schläft</strong> <strong>nie</strong>»<br />
Was passiert mit unserem Hirn, wenn wir regelmässig schlecht schlafen? Und wieso gibt es<br />
nach der Zeitumstellung mehr Verkehrsunfälle? Hans Pihan, Chef-Neurologe am Bieler Spitalzentrum,<br />
gibt einen Einblick in unser kompliziertestes Organ.<br />
Interview: Hannah Frei<br />
Hans Pihan, wie viel Schlaf<br />
brauchen Sie, um gut durch<br />
den Tag zu kommen?<br />
Hans Pihan: Um zu arbeiten, reichen<br />
vier bis fünf Stunden. <strong>Das</strong><br />
geht aber nur eine begrenzte Zeit<br />
lang. Richtig wohl fühle ich mich<br />
erst mit sechseinhalb Stunden.<br />
Wie viele Stunden Schlaf<br />
braucht der Durchschnittsmensch?<br />
In der Schlafmedizin werden<br />
durchschnittlich sieben Stunden<br />
als optimal diskutiert. Der<br />
Schlafbedarf ist aber sehr individuell.<br />
Es gibt die Lang- und die<br />
Kurzschlafenden. Manche haben<br />
einen Schlaf-Wach-Rhythmus,<br />
der länger als 24 Stunden<br />
dauert, also länger als einen Tag.<br />
Diese Menschen neigen dazu,<br />
abends sehr spät ins Bett zu gehen.<br />
Bei anderen ist dieser Rhythmus<br />
kürzer als 24 Stunden. Sie gehen<br />
gerne früh ins Bett und stehen<br />
auch früh auf. Und dann gibt<br />
es eine Bandbreite dazwischen.<br />
Haben wir alle grundsätzlich<br />
die gleiche Fähigkeit, mit<br />
Schlafmangel auszukommen?<br />
Nein, die ist sehr unterschiedlich<br />
ausgeprägt. Viele dieser Eigenschaften<br />
sind biologisch bedingt,<br />
wie etwa die Körpergrösse<br />
und verschiedene sportliche Fähigkeiten.<br />
Deshalb lohnt es sich,<br />
seinen Schlafbedarf zu kennen<br />
und in seinem persönlichen Rahmen<br />
die Prioritäten zu setzen. Ist<br />
es mir wichtig, viel zu arbeiten<br />
oder eine mehrtägige Bergtour<br />
zu machen, reichen wenige Stunden<br />
Schlaf über einen gewissen<br />
Zeitraum. Zur Erholung braucht<br />
man dann aber mehr, um sich<br />
wieder ganz wohlzufühlen.<br />
Manche Menschen behaupten,<br />
sie kämen langfristig mit<br />
vier Stunden Schlaf zurecht.<br />
Ist das gesund?<br />
Wenig Schlaf muss sich nicht<br />
zwingend negativ auf das Wohlbefinden<br />
und auf die Hirngesundheit<br />
auswirken. Es gibt Menschen,<br />
die kommen ganz gut mit<br />
vier Stunden zurecht. Bedenkt<br />
man jedoch, dass das Hirn auch<br />
im Schlaf sehr viele Funktionen<br />
wahrnimmt, erscheinen mir vier<br />
Stunden dann doch sehr knapp.<br />
Heute geht man zudem davon<br />
aus, dass die Entwicklung neurodegenerativer<br />
Erkrankungen, wie<br />
etwa Alzheimer, gefördert werden<br />
kann, wenn man nicht genügend<br />
<strong>schläft</strong> oder die Schlafqualität<br />
schlecht ist.<br />
Was passiert nachts im <strong>Gehirn</strong>?<br />
<strong>Das</strong> würde ich gerne im Detail<br />
verstehen. Da tappen wir heute<br />
noch im Dunkeln. Die Medizin<br />
geht davon aus, dass gewisse<br />
Abfallprodukte im <strong>Gehirn</strong>, welche<br />
die ganze Zeit über anfallen,<br />
im Schlaf besser abtransportiert<br />
werden. Ob das wirklich am<br />
Schlafen liegt oder primär daran,<br />
dass wir horizontal positio<strong>nie</strong>rt<br />
sind oder das Hirn nachts anders<br />
arbeitet als am Tag, ist noch unklar.<br />
Der Energieverbrauch des<br />
<strong>Gehirn</strong>s ist gemessen an seinem<br />
Anteil am gesamten Körpergewicht<br />
sehr hoch. Es wiegt nur<br />
zwei Prozent unseres Körpergewichts,<br />
verbraucht aber 20 Prozent<br />
unserer Energie. Und zwar<br />
weitgehend unabhängig davon,<br />
ob wir schlafen oder wach sind.<br />
Im Schlaf verarbeiten wir die Erlebnisse<br />
des Tages, und das neu<br />
Gelernte wird im Schlaf gefestigt.<br />
<strong>Das</strong> ist besonders in den Jugendjahren<br />
und in der Zeit von<br />
Ausbildung und Studium zentral.<br />
Vom Energieverbrauch aus betrachtet<br />
<strong>schläft</strong> das <strong>Gehirn</strong> <strong>nie</strong>; es<br />
arbeitet auch nachts.<br />
Wie kann Schlafmangel unser<br />
<strong>Gehirn</strong> schädigen?<br />
Vermutet wird, dass bei zu wenig<br />
Schlaf oder bei schlechter Schlafqualität<br />
gewisse Stoffwechselprodukte<br />
ungenügend entsorgt werden.<br />
Diese können die Hirnfunktion<br />
beeinträchtigen oder sich<br />
im <strong>Gehirn</strong> ablagern, was zu einer<br />
Nervenzellschädigung führen<br />
und neurodegenerative Prozesse<br />
auslösen kann. Hierdurch kann<br />
zum Beispiel die Entwicklung einer<br />
Alzheimer- oder auch Parkinson-Erkrankung<br />
begünstigt werden.<br />
Vor etwa zehn Jahren wurde<br />
das sogenannte glymphatische<br />
System entdeckt: <strong>Das</strong> sind Kanäle,<br />
über welche die Abfallstoffe<br />
im <strong>Gehirn</strong> entsorgt werden. Und<br />
das geschieht primär während<br />
des Schlafs. Man kann also nicht<br />
empfehlen, wenig zu schlafen.<br />
Ob es aber besser ist, sechs Stunden<br />
am Stück zu schlafen oder,<br />
wie Cristiano Ronaldo, vier- bis<br />
fünfmal 90 Minuten, aufgeteilt<br />
über den Tag, ist eine andere<br />
Frage.<br />
Was halten Sie von diesen<br />
90‐Minuten‐Schläfchen?<br />
Aus neurologischer Sicht ist<br />
dem nichts Grundsätzliches entgegenzusetzen.<br />
Für den erholsamen<br />
Schlaf ist vor allem der<br />
Tiefschlaf von Bedeutung. Dieser<br />
dauert in der ersten Schlafphase<br />
in der Nacht etwa 30 bis 40<br />
Minuten und verkürzt sich in den<br />
folgenden. Bei viermal 90 Minuten<br />
gehe ich davon aus, dass genügend<br />
Tiefschlaf bezogen wird.<br />
Also sind Pausen während des<br />
Schlafs kein Störfaktor?<br />
Absolut nicht. <strong>Das</strong>s wir abends<br />
ins Bett gehen und morgens<br />
aufstehen, ist historisch gesehen<br />
die Folge der Industrialisierung<br />
und der Verfügbarkeit von Licht<br />
am Abend. Die längste Zeit in<br />
der Menschheitsgeschichte ging<br />
man beim Eindunkeln ins Bett.<br />
Gegen Mitternacht wachte man<br />
auf, machte Feuer, sprach zusammen<br />
und legte sich später<br />
noch einmal schlafen, bis es hell<br />
wurde. Heute zieht man den Arbeitstag<br />
bis abends durch, entspannt<br />
dann mit den Medien<br />
und geht meist zu spät ins Bett.<br />
Für die Arbeit müssen dann die<br />
meisten zu früh und mehr oder<br />
weniger ausgeschlafen raus. <strong>Das</strong><br />
ist ein kulturelles Phänomen.<br />
Biologisch gesehen fehlt in unserer<br />
Zeit den meisten die Möglichkeit,<br />
90 Minuten Schlaf am<br />
Tag nachzuholen. Grundsätzlich<br />
kann man sagen, dass man heute<br />
weniger <strong>schläft</strong> als vor 30 Jahren.<br />
<strong>Das</strong> heisst, wir schlafen tendenziell<br />
zu wenig?<br />
Genau. <strong>Das</strong> grösste Problem ist,<br />
dass wir am Limit schlafen, uns<br />
also ständig an der Grenze bewegen.<br />
Kommt dann noch die<br />
Umstellung auf Sommerzeit dazu,<br />
wird es eng. Für viele ist die<br />
Umstellung auf die Sommerzeit<br />
daher ein Stressfaktor.<br />
Für Sie auch?<br />
Ja. Besonders, wenn ich mit zu<br />
wenig Schlaf in die Woche starte.<br />
Dann spüre ich die Zeitumstellung<br />
eine ganze Zeit lang. Und<br />
das geht nicht nur mir so, das<br />
hat man untersucht: Am Montag<br />
nach der Zeitumstellung sterben<br />
statistisch gesehen mehr Menschen<br />
in Spitälern, Gerichtsurteile<br />
sind strenger, es gibt mehr<br />
Verkehrsunfälle. Zu wenig Schlaf<br />
beeinflusst also unser Verhalten.<br />
Wer müde ist, wird ungeduldiger,<br />
lässt sich in der Regel weniger<br />
Zeit, um Entscheide zu überdenken.<br />
<strong>Das</strong> merke ich auch bei<br />
mir: Bin ich unausgeschlafen,<br />
sind die Sprechstunden kürzer.<br />
Ob die Qualität meiner Arbeit<br />
auch davon betroffen ist, kann<br />
ich nicht beurteilen.<br />
Kann man sich an wenig<br />
Schlaf gewöhnen?<br />
Nur bedingt. Wer chronisch<br />
schlecht <strong>schläft</strong>, gewöhnt sich<br />
zwar an diesen Zustand. Menschen<br />
mit chronischen Schlafstörungen<br />
merken jedoch häufig<br />
einfach nicht mehr richtig,<br />
dass sie schläfrig sind. Die damit<br />
«Wer müde<br />
ist, lässt sich<br />
in der Regel<br />
weniger Zeit,<br />
um<br />
Entscheide zu<br />
überdenken.»<br />
verbundenen Konzentrationsprobleme<br />
erlauben meist das<br />
Erledigen von Routinen. Bei<br />
anspruchsvollen Tätigkeiten wie<br />
zum Beispiel beim Autofahren<br />
besteht jedoch ein erhöhtes Unfallrisiko.<br />
Chronische Schlafstörungen<br />
können sich auch auf das<br />
emotionale Wohlbefinden auswirken.<br />
Man erträgt weniger, die<br />
Zündschnur wird kürzer, und<br />
das Sozialleben kann darunter<br />
leiden.<br />
Inwiefern spielt die Ernährung<br />
eine Rolle beim Schlafen?<br />
Die kann einen grossen<br />
Einfluss haben. Der Schlaf-<br />
Wach-Rhythmus wird über das<br />
natürliche Hormon Melatonin<br />
gesteuert. Dessen Bildung kann<br />
man fördern und damit auch<br />
das Einschlafen. Von manchen<br />
Grosseltern wurde zum Beispiel<br />
das Glas Milch vor dem Einschlafen<br />
empfohlen. Tatsächlich<br />
kann ein darin enthaltener Eiweissbaustein<br />
in Melatonin umgewandelt<br />
werden. Dieser ist<br />
auch in Nüssen und verschiedenen<br />
Gemüsen enthalten. Eine<br />
leichte und richtige Ernährung<br />
am Abend kann die Produktion<br />
von Melatonin fördern.<br />
So <strong>schläft</strong> man leichter ein. Isst<br />
man abends aber viel und das<br />
Falsche, kann die Belastung des<br />
Stoffwechsels den Schlaf negativ<br />
beeinflussen. Fast noch wichtiger<br />
als die Ernährung ist es aber,<br />
dass man abends zur Ruhe kommen<br />
kann. Wem das nicht gelingt,<br />
dem hilft auch leichte Kost<br />
wenig.<br />
Wie kommt es, dass Seniorinnen<br />
und Senioren häufig sehr<br />
früh morgens aufwachen?<br />
<strong>Das</strong> ist ein Phänomen des Älterwerdens.<br />
Der Nachtschlaf verändert<br />
sich im Alter häufig. Die Tiefschlafphasen<br />
werden kürzer, der<br />
Schlaf wird leichter, man wacht<br />
häufiger und auch früher auf. Es<br />
kommt aber auch hier nicht nur<br />
auf die Schlafdauer an, sondern<br />
auch auf die Qualität. <strong>Das</strong> sieht<br />
man beispielsweise bei denjenigen,<br />
die an der sogenannten<br />
Schlafapnoe leiden. Betroffene<br />
schlafen viel, aber nicht gut, das<br />
heisst nur oberflächlich. Die Behinderung<br />
der Atmung im Schlaf<br />
weckt die Betroffenen. Sie sind<br />
häufig den ganzen Tag schläfrig,<br />
auch dann, wenn sie nachts<br />
neun Stunden und am Tag auch<br />
noch einmal zwei Stunden schlafen.<br />
Ihnen fehlt der Tiefschlaf.<br />
Was hindert uns nebst Schlafkrankheiten<br />
daran, in die Tiefschlafphase<br />
zu kommen?<br />
Hohe berufliche Anforderungen,<br />
emotionaler Stress, Lärm. Aber<br />
auch die klassischen Schlafmittel<br />
und Alkohol. Diese beiden<br />
machen den Schlaf oberflächlicher,<br />
die Schlafqualität wird also<br />
verschlechtert. <strong>Das</strong> erwähnte<br />
Cristiano-Ronaldo-System funktio<strong>nie</strong>rt<br />
nur, wenn wir pro Tag insgesamt<br />
zirka zwei Stunden Tiefschlaf<br />
erreichen. Zehn Stunden<br />
oberflächlicher Schlaf kann das<br />
nicht ersetzen.<br />
«Hätten wir<br />
lediglich<br />
Kerzenlicht,<br />
würden wir<br />
wohl alle viel<br />
früher ins Bett<br />
gehen.»<br />
Weshalb werden Schlafmittel<br />
denn überhaupt verschrieben?<br />
Weil es doch besser ist, eine gewisse<br />
Zeit oberflächlich zu schlafen<br />
als gar nicht. Auch Ärztinnen<br />
und Ärzte nehmen das manchmal<br />
nach dem Nachtdienst, wenn<br />
sie tagsüber kein Auge zubringen<br />
und am Abend wieder arbeiten<br />
müssen. Wichtig für alle<br />
ist es jedoch, Schlafmittel nur<br />
über wenige Tage einzunehmen.<br />
Sonst lernt man, dass man ohne<br />
gar nicht mehr einschlafen kann.<br />
Bei älteren Menschen kommt<br />
die Sturzgefährdung hinzu, die<br />
unter Schlafmittelkonsum deutlich<br />
ansteigt.<br />
Wie kommt es, dass man<br />
nachts aufwacht und nicht<br />
wieder einschlafen kann?<br />
Womöglich, weil man eben nicht<br />
richtig in den Tiefschlaf findet<br />
oder sofort aufwacht, sobald<br />
man im leichten Schlaf Geräusche<br />
hört. <strong>Das</strong> ist häufig bei jungen<br />
Eltern der Fall. Hier zeigt<br />
sich, dass die psychologische Erwartungshaltung,<br />
zum Beispiel<br />
die Sorge um das Kind dazu<br />
führt, dass sie ständig aufwachen.<br />
In meiner Erfahrung leiden<br />
vor allem Mütter unter Leichtschlaf,<br />
wachen nachts zehnmal<br />
auf, auch dann, wenn das Kind<br />
gar nicht wirklich weint. Ein anderer<br />
häufiger Faktor fürs Aufwachen<br />
ist der abendliche Konsum<br />
von Alkohol. Der beruhigende<br />
Effekt wird nachts abgebaut,<br />
es kommt zu einem sogenannten<br />
Rebound mit frühzeitiger Aktivierung<br />
des Wachzustandes.<br />
Was sind die häufigsten Ursachen<br />
für Schlafstörungen?<br />
In den meisten Fällen sind es<br />
äussere Umstände, wie eben die<br />
abendliche Bildschirmzeit, der<br />
Lebensstil oder psychische Belastungen.<br />
Schlafstörung können<br />
aber auch durch neurologische<br />
Krankheiten ausgelöst werden.<br />
Hans Pihan ist seit 2018 Chefarzt der
Bieler Tagblatt<br />
3<br />
Samstag, 30. März 2024<br />
Wochenkommentar<br />
<strong>Das</strong> Kaskadenmodell<br />
ist kontraproduktiv<br />
Neurologie am Spitalzentrum Biel. Ihn stresst die Zeitumstellung – besonders nach anstrengenden Tagen.<br />
Bild: Matthias Käser<br />
Neben der Schlafapnoe und dem<br />
Restless-Legs-Syndrom sind das<br />
häufig Nervenschmerzen oder<br />
eben neurodegenerative Krankheiten<br />
wie Alzheimer oder Parkinson.<br />
Vielen fällt es ab und an<br />
schwer, abends ein‐ oder<br />
nachts durchzuschlafen. Ab<br />
wann sollte man sich Hilfe suchen?<br />
Sobald ein Leidensdruck besteht.<br />
Viele haben ja so ihre<br />
Tricks, um wieder besser einzuschlafen.<br />
Ich empfehle einen<br />
leichten Ausdauersport am frühen<br />
Abend. Nützen die eigenen<br />
Versuche nichts, ist es sinnvoll,<br />
sich Hilfe zu holen. Häufig<br />
sind die Faktoren psychologisch<br />
und hängen mit den Lebensumständen<br />
oder dem Lebensstil<br />
zusammen. Aber nicht<br />
immer: Es gibt Krankheiten wie<br />
die Schlafapnoe, die behandelt<br />
werden können. Und praktisch<br />
alle Hirnkrankheiten beeinflussen<br />
den Schlaf. Meist machen<br />
sie einen müde und erhöhen<br />
den Schlafbedarf. Bei vielen gibt<br />
es wirksame medikamentöse Behandlungen.<br />
Was passiert mit dem Körper,<br />
wenn man eine Woche nicht<br />
<strong>schläft</strong>?<br />
Man wird sehr krank. Dazu wurden<br />
Langzeitexperimente durchgeführt.<br />
<strong>Das</strong>s man krank wird,<br />
liegt aber nicht am Energieverbrauch,<br />
wie es etwa bei sportlichen<br />
Aktivitäten der Fall ist.<br />
Der Energieverbrauch des <strong>Gehirn</strong>s<br />
ist weitgehend konstant, also<br />
auch nachts. Ich vermute, dass<br />
extremes Wachsein das Entsorgen<br />
von Stoffwechsel-Abfallprodukten<br />
verhindert und diese Stoffe,<br />
ähnlich wie bei einem schweren<br />
Kater, die Hirnfunktion zunehmend<br />
einschränken.<br />
Wie kann man guten Schlaf<br />
trai<strong>nie</strong>ren?<br />
Guten Schlaf messen wir ja an<br />
dem Wohlgefühl, das wir dann<br />
am Tag haben. Mit dieser Erfahrung<br />
kann man seine Gewohnheiten<br />
ändern. Meist sind<br />
es äussere Umstände, die uns<br />
vom Schlafen abhalten. Der Beruf,<br />
Ausgang, das Smartphone,<br />
der Fernseher. Darauf haben<br />
wir Einfluss. Hätten wir lediglich<br />
Kerzenlicht, würden wir wohl alle<br />
viel früher ins Bett gehen.<br />
Zur Person<br />
• arbeitet seit 2007 in der Neurologie<br />
des Spitalzentrums Biel<br />
(SZB) tätig<br />
• ist seit 2011 leitender Arzt in der<br />
Neurologie und Leiter der Memory<br />
Clinic am SZB<br />
• amtet seit 2018 als Chefarzt<br />
Neurologie am SZB<br />
• studierte an der Universität<br />
Tübingen (DE), zog 1996 in die<br />
Schweiz<br />
• arbeitete unter anderem am<br />
Berner Inselspital und der Schulthess<br />
Klinik (haf)<br />
An diesem Wochenende geht die<br />
Schweizer Fussballmeisterschaft<br />
weiter. Dabei kommt es auch<br />
wieder zu sogenannten Hochrisikospielen,<br />
beispielsweise zu jenem<br />
zwischen dem FC Basel und<br />
dem FC Zürich. Bei diesem Aufeinandertreffen<br />
ist es in der Vergangenheit<br />
durchaus schon zu<br />
Gewalt gekommen.<br />
Hat seither die Zahl von Gewaltphänomenen<br />
im Zusammenhang<br />
mit Fussballspielen zugenommen?<br />
Geht es nach der Konferenz<br />
der Kantonalen Justiz- und<br />
Polizeidirektoren, dann ja. Man<br />
müsse der zunehmenden Fangewalt<br />
endlich Herr werden, lautet<br />
der Tenor, die Einführung<br />
des sogenannten Kaskadenmodells<br />
sei darum auch gegen den<br />
Widerstand der Liga, der Klubs<br />
und Fanvertreter unumgänglich.<br />
<strong>Das</strong> Kaskadenmodell sieht unterschiedliche<br />
Massnahmen für unterschiedliche<br />
Vorfälle vor und<br />
führt Automatismen und Kollektivstrafen<br />
ein. So sind Sektorsperrungen<br />
in den Stadien möglich,<br />
aber auch gleich der Entzug der<br />
Bewilligung für ganze Spiele. Tabellen,<br />
welche die Schritte erläutern,<br />
sind in einprägsamen Farben<br />
gehalten. Von Gelb zu Rot werden<br />
die Strafen immer schärfer, die<br />
Darstellung gemahnt an ein Feuer,<br />
das immer heisser brennt.<br />
Nun lässt sich zwar keineswegs<br />
wegdiskutieren, dass es im<br />
Schweizer Fussball immer wieder<br />
zu unschönen Vorfällen kommt.<br />
Aber, so Alain Brechbühl, Projektverantwortlicher<br />
der Forschungsstelle<br />
Gewalt bei Sportveranstaltungen<br />
an der Universität Bern<br />
kürzlich gegenüber «Blick»: In<br />
der letzten Saison gab es «so wenige<br />
Fälle mit schweren gewaltsamen<br />
Auseinandersetzungen (…)<br />
wie noch <strong>nie</strong> seit dem Start der<br />
Erhebung dieser Zahlen 2018».<br />
Und: «Doch die Zwischenfälle,<br />
die es leider immer gibt, werden<br />
medial stark thematisiert, und damit<br />
kommt auch die Politik unter<br />
Druck zum Handeln.»<br />
Anders gesagt: Weil Aufregung<br />
geschürt wird, glauben die Behörden,<br />
die Massnahmen verschärfen<br />
zu müssen. <strong>Das</strong> ist Populismus.<br />
Denn ob das Kaskadenmodell<br />
die Lage tatsächlich<br />
verbessert, darf bezweifelt werden.<br />
Aus der Wissenschaft jedenfalls<br />
schlägt ihm Skepsis entgegen.<br />
Vielmehr besteht die Gefahr,<br />
dass das Vorgehen, das einseitig<br />
der Repression mehr Gewicht<br />
gibt, eine Eskalationsspirale<br />
in Gang setzt. Die Fronten dürften<br />
sich verhärten, und auch die<br />
gemässigten Fans in den Kurven<br />
könnten sich zu Protestaktionen<br />
genötigt sehen. «Auf kollektive<br />
Strafen folgen kollektive Antworten»,<br />
so lautete die Losung<br />
kürzlich in zahlreichen Stadien<br />
als Antwort auf die ausgesprochenen<br />
Sektorsperren.<br />
Diese Sektorsperren haben zudem<br />
Zweifel aufkommen lassen,<br />
dass die Behörden das Kaskadenmodell<br />
mit Augenmass oder<br />
schon nur seiner Bestimmung<br />
gemäss anwenden werden. Bei<br />
den jüngsten Massnahmen wurden<br />
nämlich teilweise gleich mal<br />
ein paar Stufen des Modells übersprungen.<br />
Hinzu kommt, dass aus<br />
rechtsstaatlicher Sicht das Prinzip<br />
der Kollektivstrafen höchst fragwürdig<br />
ist. Warum sollen Hunderte,<br />
unter Umständen gar Tausende<br />
unbescholtene Matchbesucher<br />
für die Verfehlungen einzelner<br />
Hitzköpfe büssen, welche diese<br />
nicht einmal im oder ums Stadion<br />
begangen haben? <strong>Das</strong>s jemand<br />
für die Taten eines anderen<br />
bestraft wird, widerspricht einem<br />
der fundamentalen Prinzipien<br />
unseres Rechtsstaats. <strong>Das</strong>s<br />
es gerade Justiz- und Polizeidirektoren<br />
sind, die es ritzen, ist<br />
höchst problematisch. Und womöglich<br />
illegal: Dank der angestrebten<br />
Verfahren, etwa seitens<br />
des FC Zürich, aber auch von Privatpersonen,<br />
werden sich die Gerichte<br />
mit einzelnen Punkten des<br />
Kaskadenmodells befassen – und<br />
Recht sprechen.<br />
Zudem ist nicht einsehbar, warum<br />
der Fussball anders behandelt<br />
werden sollte als andere Bereiche<br />
der Gesellschaft. An der letzten<br />
Street Parade in Zürich gab<br />
es 41 Festnahmen. Der Deliktkatalog:<br />
Raub, Körperverletzung,<br />
Drohung, Gewalt und Drohung<br />
gegen Beamte, Diebstahl, Drogenhandel.<br />
Aus Sicht der Polizei<br />
sei der Anlass «grösstenteils<br />
friedlich» verlaufen, war in der<br />
Berichterstattung zu lesen. Käme<br />
stattdessen am Techno-Fest<br />
das Kaskadenmodell zum Einsatz,<br />
würde wohl beim nächsten<br />
Mal die Lautstärke gedrosselt,<br />
2025 nur noch die Hälfte der<br />
Soundmobile eingesetzt werden<br />
dürfen und 2026 fände die Street<br />
Parade nicht mehr statt.<br />
Zweifellos ist jeder Gewaltvorfall<br />
einer zu viel. Und es gilt anzuerkennen,<br />
dass die Lage komplex<br />
und einzelne Situationen für die<br />
Polizei alles andere als leicht zu<br />
lösen sind, wenn die Verhältnismässigkeit<br />
gewahrt werden soll.<br />
Die eine einfache Lösung gibt<br />
es schlicht nicht. Nötig ist aber<br />
eine nüchterne Betrachtung dessen,<br />
was tatsächlich passiert – der<br />
Zuschauerboom der Super League<br />
zeigt ja gerade, dass der Besuch<br />
eines Fussballspiels so gefährlich<br />
nicht sein kann. Nötig<br />
ist die konsequente Verfolgung<br />
von Einzeltätern. Nötig sind erneute<br />
Dialoge aller involvierten<br />
Seiten mit dem Ziel der Deeskalation<br />
– auch die Vertreter<br />
der Fankurven müssen dabei ihre<br />
Verantwortung wahrnehmen.<br />
Was aber sicher nicht zur Beruhigung<br />
führt, ist ein Instrumentarium,<br />
das rechtsstaatlich fragwürdig<br />
ist, das Risiko einer Eskalation<br />
in seinem Mechanismus eingeschrieben<br />
hat und nicht von allen<br />
Seiten mitgetragen wird.<br />
Tobias Graden<br />
tobias.graden@bielertagblatt.ch