frings. Das Misereor-Magazin 1/2024: Ab in den Garten!
Ab in den Garten! Ein Heft über Gemeinschaft, Gewinn und Genuss. www.misereor.de/magazin
Ab in den Garten!
Ein Heft über Gemeinschaft, Gewinn und Genuss.
www.misereor.de/magazin
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<strong>Misereor</strong> und Slow Food<br />
Wir brauchen mehr<br />
Geme<strong>in</strong>schaftsgärten<br />
Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong><br />
<strong>Das</strong> Comeback<br />
des Gemüsegartens<br />
Querbeet <strong>in</strong> Bolivien<br />
Mit Urban Gar<strong>den</strong><strong>in</strong>g<br />
gegen die Armut<br />
<strong>Ab</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />
<strong>Garten</strong>!<br />
E<strong>in</strong> Heft<br />
über Geme<strong>in</strong>schaft,<br />
Gew<strong>in</strong>n und<br />
Genuss
EDITORIAL<br />
INHALT<br />
Vor e<strong>in</strong>iger Zeit stellten Gäste<br />
von <strong>Misereor</strong> aus Kolumbien<br />
bei ihrer Ankunft <strong>in</strong> Deutschland<br />
unmittelbar fest: „Bei euch ist<br />
es recht grün.“ Ob und wie<br />
grün e<strong>in</strong>e Stadt wirkt, ist subjektiv<br />
unterschiedlich. Die Beobachtung<br />
unserer Gäste, die aus ländlichen Regionen<br />
kommen und Teile der Betonlandschaft Bogotás kennen,<br />
unterstreicht <strong>den</strong>noch, wie wichtig kle<strong>in</strong>e Flecken Natur<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stadt s<strong>in</strong>d. Freizeitgestaltung, Raum für gesundes<br />
Leben, Möglichkeiten der Begegnung, persönliches<br />
Wohlbef<strong>in</strong><strong>den</strong>, e<strong>in</strong> Mehr an Biodiversität und Verständnis<br />
für die Kreisläufe <strong>in</strong> der Natur. Unser <strong>Magaz<strong>in</strong></strong> zeigt,<br />
dass e<strong>in</strong> <strong>Garten</strong> all das se<strong>in</strong> kann: das private Paradies <strong>in</strong><br />
Bran<strong>den</strong>burg, der bio<strong>in</strong>tensive Gemüseanbau im Ökodorf,<br />
der Stadtgarten auf kle<strong>in</strong>stem Raum im bolivianischen<br />
El Alto oder die Corona-Gärten zur Selbstversorgung<br />
<strong>in</strong> Peru oder auf <strong>den</strong> Philipp<strong>in</strong>en.<br />
Foto: Klaus Mellenth<strong>in</strong><br />
LIEBE LESERINNEN<br />
UND LESER!<br />
Gärtnern liegt nicht nur im Trend, es ist zugleich s<strong>in</strong>nvoll.<br />
Der Weltklimarat führt e<strong>in</strong> Drittel der Erderwärmung auf<br />
das aktuelle Ernährungssystem zurück und empfiehlt für<br />
die Zukunft mehr Saisonalität, Regionalität, Vielfalt und<br />
weniger tierische Produkte.<br />
Es ist zu wenig bekannt, wie sehr Gärten das soziale Gefüge<br />
von Geme<strong>in</strong>schaften zum Positiven bee<strong>in</strong>flussen<br />
und Erderwärmung m<strong>in</strong>dern können.<br />
Lassen Sie sich durch dieses <strong>fr<strong>in</strong>gs</strong>-<strong>Magaz<strong>in</strong></strong> mitnehmen<br />
<strong>in</strong> die Gärten unserer Welt, oder nehmen Sie das Heft mit<br />
<strong>in</strong> Ihren <strong>Garten</strong> oder an e<strong>in</strong>en grünen Fleck <strong>in</strong> Ihrer Stadt.<br />
E<strong>in</strong>e erfrischende Lektüre wünscht Ihnen herzlich<br />
Ihr<br />
Pirm<strong>in</strong> Spiegel<br />
<strong>Misereor</strong><br />
GESICHTER DIESER AUSGABE<br />
Seite 2<br />
SCHWERPUNKT:<br />
AB IN DEN GARTEN!<br />
FOTOSTRECKE<br />
Die Welt als <strong>Garten</strong><br />
Seite 4<br />
BRANDENBURG<br />
Kat Menschiks grünes Paradies<br />
Seite 8<br />
GUT ZU WISSEN<br />
Wie e<strong>in</strong> Blumenkasten<br />
die Welt veränderte<br />
Seite 12<br />
BOLIVIEN<br />
Kle<strong>in</strong>e Stadtgärten,<br />
großer Unterschied<br />
Seite 14<br />
SELBSTVERSORGUNG<br />
Gärtnern im Lockdown<br />
Seite 18<br />
SLOW FOOD UND MISEREOR<br />
Gärten und gesunde Ernährung<br />
Seite 22<br />
INFOGRAFIK<br />
Obst- und Gemüsekonsum<br />
Seite 27<br />
FAIRER HANDEL<br />
Glückliche Blumen<br />
Seite 28<br />
Foto Titel: Klaus Mellenth<strong>in</strong><br />
Lebensaufgabe <strong>Garten</strong>: Der Grubber<br />
von Illustrator<strong>in</strong> Kat Menschik kommt<br />
regelmäßig zum E<strong>in</strong>satz.
SIEBEN LINDEN<br />
<strong>Das</strong> Comeback<br />
der Gemüsegärtnerei<br />
Seite 31<br />
HISTORIE<br />
Die Marktgärten von Paris<br />
Seite 35<br />
WEITERDENKEN<br />
Foto: Aldo Pavan via Getty Images<br />
28<br />
Die Nachfrage nach<br />
nachhaltig produzierten<br />
und fair gehandelten<br />
Pflanzen wächst<br />
PHILIPPINEN<br />
Mangobäume für die Zukunft<br />
Seite 36<br />
BERGBAU IN BRASILIEN<br />
Wenn das Wasser verschw<strong>in</strong>det<br />
Seite 39<br />
BILDBAND<br />
Rooted<br />
Grün er<strong>in</strong>nert an zu Hause<br />
Seite 42<br />
MISEREOR IN AKTION<br />
Waldgärten <strong>in</strong> Haiti<br />
Seite 44<br />
Foto: Kathr<strong>in</strong> Harms<br />
31<br />
<strong>Das</strong> Ökodorf Sieben<br />
L<strong>in</strong><strong>den</strong> produziert<br />
e<strong>in</strong>en Großteil se<strong>in</strong>er<br />
Lebensmittel selbst<br />
KOLUMNE<br />
Me<strong>in</strong> Leben<br />
ohne grünen Daumen<br />
Seite 46<br />
RÄTSEL<br />
Wer hat’s gesagt?<br />
Seite 48<br />
IMPRESSUM<br />
Seite 49<br />
Foto: Florian Kopp<br />
39<br />
Die Zerstörung von<br />
Natur- und Lebensraum<br />
<strong>in</strong> Brasilien betrifft<br />
auch die K<strong>in</strong>der<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
1
Foto: Silvana Kopp<br />
Foto: Jörg Steck (BFF/DGPh)<br />
Porträt auf Seite 8<br />
und Reportage auf Seite 36<br />
KLAUS MELLENTHIN<br />
Den Fotografen Klaus Mellenth<strong>in</strong> hat der<br />
Besuch im Bran<strong>den</strong>burger <strong>Garten</strong> von<br />
Kat Menschik sehr <strong>in</strong>spiriert und gefreut.<br />
Normalerweise ist der Berl<strong>in</strong>er Wannsee<br />
mit se<strong>in</strong>em Grün und Wasser für ihn e<strong>in</strong><br />
großer Park-<strong>Garten</strong>, <strong>in</strong> <strong>den</strong> er e<strong>in</strong>taucht<br />
und <strong>den</strong> er für se<strong>in</strong>e Erholung nutzt. Se<strong>in</strong><br />
kle<strong>in</strong>es Boot nutzt er wie e<strong>in</strong> schwimmendes<br />
<strong>Garten</strong>haus, <strong>in</strong> dem er von Frühl<strong>in</strong>g<br />
bis Herbst auch mehrmals <strong>in</strong> der Woche<br />
Texte schreibt und über das Leben nach<strong>den</strong>kt.<br />
2<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
Fotostory auf Seite 14<br />
und Reportage auf Seite 39<br />
FLORIAN KOPP<br />
Fotograf Florian Kopp lebt mit se<strong>in</strong>er Familie<br />
<strong>in</strong> Brasilien. Dort f<strong>in</strong>det er wie hier<br />
auf e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Hof im atlantischen<br />
Regenwald Brasiliens <strong>in</strong> der Natur Ruhe<br />
und Inspiration. Und dort entstehen viele<br />
se<strong>in</strong>er schönen Bilder. Ebenso gerne<br />
arbeitet er mit Menschen, die gärtnern<br />
und dabei nicht auf Chemie setzen, sondern<br />
natürliche Prozesse und Zusammenhänge<br />
zu nutzen wissen wie die Stadtgärtner<strong>in</strong>nen<br />
<strong>in</strong> Bolivien.
ANNETTE JENSEN<br />
Foto: Klaus Mellenth<strong>in</strong> Foto: Britta Knäbel<br />
Reportage auf Seite 31<br />
<strong>Das</strong>s Pferdemist e<strong>in</strong> hervorragender Dünger<br />
ist, hat Reporter<strong>in</strong> Annette Jensen im<br />
Ökodorf Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> erlebt. <strong>Das</strong>s auch<br />
menschliche Ausscheidungen wertvolle<br />
Nährstoffe enthalten, gilt dagegen als<br />
Tabu. <strong>Das</strong> will unsere Autor<strong>in</strong><br />
mit ihrem aktuellen Buch<br />
„Holy Shit – der Wert unserer<br />
H<strong>in</strong>terlassenschaften“ ändern.<br />
Dar<strong>in</strong> zeigt Jensen nicht nur,<br />
wie Kanalisation und Kunstdünger<br />
unsere Nahrungsgrundlagen<br />
gefähr<strong>den</strong>, sondern<br />
stellt auch e<strong>in</strong>e hochengagierte<br />
Bewegung vor, die<br />
längst an der Sanitär- und<br />
Nährstoffwende arbeitet.<br />
ULI HAGER<br />
Als K<strong>in</strong>d stibitzte Uli Hager gerne Blumen<br />
aus Nachbars Gärten, um sie ihrer Mutter<br />
zu schenken, selbst Pf<strong>in</strong>gstrosen<br />
waren vor ihr nicht sicher. Heute betreibt<br />
sie <strong>in</strong> Aachen e<strong>in</strong>e Gärtnerei mit lokalem<br />
Schnittblumenanbau und verkauft im angeschlossenen<br />
La<strong>den</strong> Sträuße mit Blumen<br />
vom eigenen Feld. Für diese Ausgabe<br />
hat sich die Gärtner<strong>in</strong> und <strong>Garten</strong>landschaftsplaner<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>en Bildband über Mikrogärten<br />
<strong>in</strong> Flüchtl<strong>in</strong>gscamps näher angesehen.<br />
Foto: Anna Wawra<br />
Reportage auf Seite 36<br />
CONSTANZE BANDOWSKI<br />
Constanze Bandowski träumt manchmal<br />
von e<strong>in</strong>em unabhängigen Leben auf dem<br />
Land, e<strong>in</strong>em <strong>Garten</strong> mit Permakultur,<br />
Schafen, Solarstrom und e<strong>in</strong>em Brunnen.<br />
Dann fällt ihr aber ihr miserabler grüner<br />
Daumen e<strong>in</strong>. Wenn die Sehnsucht nach<br />
Natur zu groß wird, fährt sie am liebsten<br />
an die Schlei im Nor<strong>den</strong> Schleswig-Holste<strong>in</strong>s<br />
oder e<strong>in</strong>fach an die Elbe. Für das<br />
<strong>fr<strong>in</strong>gs</strong>-<strong>Magaz<strong>in</strong></strong> war sie aber bei <strong>den</strong><br />
Aetas auf <strong>den</strong> Philipp<strong>in</strong>en.<br />
Buchbesprechung auf Seite 42<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
3
FOTOSTRECKE<br />
Titelthema:<br />
<strong>Ab</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />
<strong>Garten</strong><br />
UND INS WASSER<br />
Foto: Son Nguyen/iStock.com<br />
Im vietnamesischen Long An im Moc-Hoa-Distrikt ernten<br />
Bäuer<strong>in</strong>nen auf traditionelle Weise Wasserlilien, die <strong>in</strong><br />
<strong>den</strong> zahlreichen Flüssen des Mekongdeltas wachsen. Die<br />
jährliche Flut ist Teil des Lebens im Mekong. Jedes Jahr<br />
während der Regenzeit steigt der Wasserstand der Flüsse<br />
an und lagert auch <strong>in</strong> <strong>den</strong> Wasserlilien-Gärten Schlamm<br />
mit organischem Material an. Gleichzeitig wäscht die Flut<br />
Salz und Düngemittel aus und br<strong>in</strong>gt Plankton und zahlreiche<br />
Fischarten mit sich. Die Wassergärten erreichen<br />
die Frauen mit ihren hölzernen Langbooten. Aus der Luft<br />
betrachtet gleicht die Ernte mit ihren Farben und Gerüchen<br />
e<strong>in</strong>em s<strong>in</strong>nlichen Tanz. Die Wasserlilie ist das Symbol<br />
des Mekongdeltas. Sie wird auf <strong>den</strong> lokalen Märkten<br />
verkauft und <strong>in</strong> der traditionellen Küche verwandt.<br />
4<br />
EINS<strong>2024</strong>
Titelthema:<br />
<strong>Ab</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />
<strong>Garten</strong><br />
UND IN DIE VERTIKALE<br />
<strong>Das</strong> Parkroyal ist e<strong>in</strong> Luxushotel <strong>in</strong> der City von S<strong>in</strong>gapur,<br />
das für se<strong>in</strong>e vertikalen Gärten bekannt ist.<br />
Auf mehr als 15.000 Quadratmetern sprießt im<br />
ganzen Gebäude üppiges Grün. Gleichzeitig setzt<br />
das Hotel auf umweltfreundliche Lösungen von Solaranlagen<br />
bis zum Regenauffangbecken, um weniger<br />
Wasser zu verbrauchen. Die Energie, die das<br />
Parkroyal durch verschie<strong>den</strong>e Maßnahmen e<strong>in</strong>spart,<br />
kann 680 Haushalte e<strong>in</strong> Jahr lang mit Strom<br />
versorgen. <strong>Das</strong> Gebäude ist e<strong>in</strong> Beispiel für <strong>den</strong><br />
Trend <strong>in</strong> Großstädten, mehr nachhaltige, bepflanzte<br />
Gebäude zu schaffen, die das Klima <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />
Städten verbessern und die Hitze reduzieren. In<br />
vielen überbevölkerten asiatische Städten bil<strong>den</strong><br />
vertikale Gärten die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit, neue<br />
Grünflächen zu schaffen.<br />
Foto: Aad Clemens/iStock.com<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
5
Titelthema:<br />
<strong>Ab</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />
<strong>Garten</strong><br />
UND IN DIE GEMEINSCHAFT<br />
10.000 Geme<strong>in</strong>schaftsgärten mit lokalen, frischen<br />
Lebensmitteln zu schaffen, ist das Ziel e<strong>in</strong>er Initiative<br />
„Gärten <strong>in</strong> Afrika“ von Slow Food International,<br />
die es schon seit 2011 gibt. In 35 afrikanischen<br />
Ländern wur<strong>den</strong> bereits für mehr als<br />
50.000 Menschen über 3.600 nachhaltige Nutzgärten<br />
<strong>in</strong> Schulen, Dörfern und an Stadtperipherien<br />
<strong>in</strong>itiiert. Dabei spielt die Wissensvermittlung<br />
zwischen <strong>den</strong> Generationen und die Weitergabe<br />
von traditionellen und überlieferten Techniken<br />
e<strong>in</strong>e wichtige Rolle, um Ernährungssouveränität<br />
und Lebensmittelsicherheit zu fördern und Lösungen<br />
für aktuelle Krisen wie Klimawandel und Biodiversitätsverlust<br />
zu f<strong>in</strong><strong>den</strong>. Zudem wurde e<strong>in</strong> tragfähiges<br />
Slow-Food-Netzwerk aufgebaut, das e<strong>in</strong>en<br />
Wandel <strong>in</strong> <strong>den</strong> lokalen Geme<strong>in</strong>schaften bewirkt.<br />
6<br />
EINS<strong>2024</strong>
Foto: Slow Food<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
7
8<br />
EINS<strong>2024</strong>
PORTRÄT<br />
<strong>Das</strong> Paradies liegt <strong>in</strong> Bran<strong>den</strong>burg. Zwischen schnurgera<strong>den</strong> Alleen, ausgedehnten W<strong>in</strong>dparks,<br />
tristen Dörfern und endlosen Feldern bef<strong>in</strong>det es sich gleich h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em Feldste<strong>in</strong>haus<br />
aus dem vorletzten Jahrhundert.<br />
Text von Michael Mondry<br />
Fotos von Klaus Mellenth<strong>in</strong><br />
H<strong>in</strong>term Haus kniet Kat Menschik als leuchtender<br />
Farbfleck mit rosa Latzhose und gelbem T-Shirt <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em ihrer Tomatenbeete und b<strong>in</strong>det die schweren,<br />
violett-farbigen Früchte hoch. Die Tomate nimmt unbestritten<br />
e<strong>in</strong>e Sonderrolle im Leben der Berl<strong>in</strong>er Illustrator<strong>in</strong><br />
und Künstler<strong>in</strong> e<strong>in</strong>, ebenso wie ihr 4.000 Quadratmeter<br />
großer <strong>Garten</strong>, der tägliche Arbeitsstelle, geteilter Lebensraum,<br />
regenerierender Rückzugsort, aber auch andauernde<br />
Quelle der Freude und Inspiration ist. „Für mich und me<strong>in</strong>en<br />
Mann ist unser <strong>Garten</strong> so e<strong>in</strong>e Art Lebensaufgabe gewor<strong>den</strong>.<br />
Wir wollen der Natur mit dem Land, was wir<br />
haben, etwas zurückgeben.<br />
Deshalb nennen wir unseren<br />
<strong>Garten</strong> immer die Bio-Insel<br />
„Vielleicht ist<br />
und versuchen, wirklich alles<br />
im S<strong>in</strong>ne der Natur für<br />
ja der S<strong>in</strong>n des<br />
die Tiere, für die Biodiversität<br />
zu gestalten.“<br />
Ganzen, dass e<strong>in</strong><br />
In der chaotisch-überbor<strong>den</strong><strong>den</strong><br />
Vielfalt der Blumen-<br />
<strong>Garten</strong> e<strong>in</strong>fach<br />
beete nach dem heimlichen<br />
glücklich macht.“<br />
Motto „Mehr ist mehr“ spiegelt<br />
sich das <strong>in</strong> allen Ecken<br />
wider. Erkennbar ist aber<br />
auch die Liebe zu Sichtachsen und e<strong>in</strong>er <strong>Garten</strong>-Ästhetik,<br />
die das Zufällige beherrschbar macht. In <strong>den</strong> letzten 20 Jahren<br />
ist so mit Hilfe von „Learn<strong>in</strong>g by Do<strong>in</strong>g“ und zahlreichen<br />
Internet-Tutorials e<strong>in</strong> Permakultur-<strong>Garten</strong> entstan<strong>den</strong>,<br />
der ohne Umgraben, ohne Düngung, nur mit Mulchen auskommt.<br />
Für Kat Menschik, die sich selber als echtes Stadtk<strong>in</strong>d<br />
bezeichnet und mitten <strong>in</strong> Prenzlauer Berg aufgewachsen<br />
ist, war es immer e<strong>in</strong> Traum, e<strong>in</strong> altes Bauernhaus zu<br />
kaufen, um es sanieren zu können. <strong>Das</strong>s um das Haus auch<br />
Viele Produkte<br />
aus der Natur s<strong>in</strong>d<br />
Quelle der Inspiration:<br />
Zahlreiche<br />
Details aus dem<br />
<strong>Garten</strong> tauchen <strong>in</strong><br />
<strong>den</strong> Illustrationen<br />
wieder auf<br />
Der Frühsommer, wenn<br />
die Tulpen und der Flieder<br />
blühen, ist die Liebl<strong>in</strong>gsjahreszeit<br />
von Kat Menschik<br />
e<strong>in</strong> <strong>Garten</strong> lag, „wurde mir erst schmerzhaft bewusst, als<br />
ich vor der Aufgabe stand, 4.000 Quadratmeter Wiese runtersensen<br />
zu müssen“, er<strong>in</strong>nert sie sich. „Schon während<br />
der Umbauarbeiten am Haus habe ich so e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Gewürz-,<br />
Kräuter- und Blumenbeet angelegt und wurde<br />
immer dafür ausgelacht, wie man auf e<strong>in</strong>er riesigen Baustelle<br />
e<strong>in</strong> Blumenbeet anlegen kann.“ E<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Ecke zu<br />
haben, um e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>en Kaffee zu tr<strong>in</strong>ken, hat sie aber<br />
schon damals genossen. „Und das ist ja vielleicht der S<strong>in</strong>n<br />
des Ganzen, dass e<strong>in</strong> <strong>Garten</strong> e<strong>in</strong>fach glücklich macht.“<br />
Der Zopf aus Knoblauchknollen, die blaue, verwitterte<br />
Bank mit der Aufschrift „Dumme rennen, Kluge warten, Weise<br />
gehen <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>Garten</strong>“, der Dachbalken mit alten Hirschgeweihen<br />
und Probedrucken <strong>in</strong> der Keramik-Werkstatt:<br />
Alles wird weiterverwendet, kreativ umgestaltet und bekommt<br />
se<strong>in</strong>e eigene Aufwertung. Dabei behält die Natur<br />
viel Raum, es herrscht e<strong>in</strong>e zwanglose Ästhetik, die <strong>den</strong><br />
EINS<strong>2024</strong><br />
9
„Schon der Gedanke<br />
an Pläne<br />
zieht mir die<br />
Schuhe aus vor<br />
Langeweile.“<br />
Blick für Details erkennen lässt. Jedes Jahr wird e<strong>in</strong> neues<br />
<strong>Garten</strong>projekt begonnen, so s<strong>in</strong>d nach und nach der<br />
Schwimmteich, die Sauna und zuletzt der Pavillon und der<br />
Geräteschuppen „Im Paradies“ dazugekommen. In jedem<br />
W<strong>in</strong>kel atmen Haus und <strong>Garten</strong> die Lebensweise ihrer jetzigen<br />
Besitzer*<strong>in</strong>nen, aber auch die Geschichte längst weitergezogener<br />
Bewohner*<strong>in</strong>nen: Secondhand-<strong>Garten</strong>stühle, Kissen<br />
und Leuchten erzählen von Flohmarktbesuchen und<br />
der Lust aufs Recyceln; auf der Ziegelwand des alten Schobers<br />
ist e<strong>in</strong>e uralte, unbeholfene Zeichnung e<strong>in</strong>es unbekannten<br />
Bauern mit Mistgabel erhalten, die Keramiktöpfe<br />
haben das Moos von vielen <strong>Garten</strong>jahren angesetzt.<br />
Kat Menschik sitzt mittlerweile an ihrer Töpferscheibe.<br />
Ihre Werkstatt ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em der historischen Schober untergebracht.<br />
Die Künstler<strong>in</strong> stellt hier ihre Schmuckserie aus<br />
Porzellan her oder auch unverkäufliche kle<strong>in</strong>e Zierbecher<br />
für die Geburtstage ihren Freund<strong>in</strong>nen und Freunde, alles<br />
<strong>in</strong> Handarbeit und mit <strong>in</strong>dividuellen Motiven. Der Wechsel<br />
zwischen <strong>Garten</strong>pflege, Töpferei und natürlich der Arbeit<br />
an ihren Illustrationen geschieht dabei je nach Stimmung<br />
10 EINS<strong>2024</strong><br />
<strong>Garten</strong>-Projekt<br />
während der Corona-Zeit:<br />
<strong>den</strong> Geräteschuppen hat Kat<br />
Menschik sorgfältig bemalt<br />
und Tagesform. „Ich weiß auch nicht, was bei<br />
mir da irgendwie falsch läuft, aber ich kann<br />
ke<strong>in</strong>e Pläne machen. Schon der Gedanke daran<br />
zieht mir die Schuhe aus vor Langeweile.“ Gibt<br />
es hier Parallelen zwischen der Lebense<strong>in</strong>stellung<br />
von Kat Menschik und ihrem <strong>Garten</strong>, <strong>den</strong><br />
sie <strong>in</strong> ihrem Buch „Der gol<strong>den</strong>e Grubber“ als<br />
„Freigeist mit starkem Charakter“ beschreibt?<br />
Aufgewachsen <strong>in</strong> Ostberl<strong>in</strong> verbr<strong>in</strong>gt Kat Menschik<br />
ihre Jugend <strong>in</strong> <strong>den</strong> 80er Jahren <strong>in</strong> der DDR,<br />
mit der es, wie sie sich er<strong>in</strong>nert, damals schon<br />
bergab g<strong>in</strong>g. „Wir haben uns viele Freiheiten e<strong>in</strong>fach<br />
herausgenommen, für die man vielleicht<br />
noch e<strong>in</strong> Jahrzehnt vorher <strong>in</strong> das Gefängnis gekommen<br />
wäre. Es war wirklich e<strong>in</strong>e wilde freie<br />
Jugend. Nach dem <strong>Ab</strong>itur mit 18 b<strong>in</strong> ich im Sommer<br />
<strong>in</strong> so e<strong>in</strong> <strong>Ab</strong>risshaus <strong>in</strong> Prenzlauer Berg gezogen,<br />
und lauter Punks wohnten um mich rum.<br />
Wir s<strong>in</strong>d wirklich je<strong>den</strong> Tag ausgegangen auf illegale<br />
Konzerte, heimliche Ausstellungseröffnungen,<br />
auf irgendwelche Partys.“ Nach der Ausbildung<br />
zur Schaufensterdekorateur<strong>in</strong> beg<strong>in</strong>nt Kat<br />
Menschik dann e<strong>in</strong> Studium des Kommunikationsdesigns.<br />
Prägend s<strong>in</strong>d auch die zwei Austauschjahre<br />
<strong>in</strong> Paris, wo sie geme<strong>in</strong>sam mit Kommilitonen<br />
das monatliche Comicmagaz<strong>in</strong> „Spunk“ herausgibt und so<br />
zum ersten Mal Zeichnungen veröffentlicht: „So <strong>in</strong> Postkartengröße<br />
kopierte kle<strong>in</strong>e Heftchen mit Schnips-Gummi zusammengehalten.<br />
Die haben wir <strong>in</strong> <strong>den</strong> Comiclä<strong>den</strong> angeboten.<br />
<strong>Das</strong> hat gut funktioniert, weil Paris damals voll davon<br />
war.“ Zurück <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> gründet sie mit Kommiliton*<strong>in</strong>nen<br />
<strong>den</strong> Millionen-Verlag, der wenig bekannten Comic-Zeichner*<strong>in</strong>nen<br />
und schon bekannten Größen abseits des Ma<strong>in</strong>streams<br />
e<strong>in</strong>e Plattform bietet. „Andreas Platthaus, Comicexperte<br />
bei der FAZ, hat uns auf der Leipziger Buchmesse entdeckt,<br />
und am nächsten Tag stand <strong>in</strong> der Zeitung: <strong>Das</strong> ist<br />
das Beste, was Deutschland zurzeit zu bieten hat. Am Tag<br />
„<strong>Das</strong> Haus verlassen“:<br />
E<strong>in</strong>e Geschichte<br />
um e<strong>in</strong><br />
Feldste<strong>in</strong>haus von<br />
der Autor<strong>in</strong> Jacquel<strong>in</strong>e<br />
Kornmüller,<br />
illustriert von Kat<br />
Menschik mit<br />
vielen Details aus<br />
ihrer Umgebung
Jedes Objekt ist e<strong>in</strong> Unikat:<br />
In der Keramikwerkstatt<br />
im alten Schober entstehen<br />
Schmuck und Geschenke<br />
ihrer Meisterschulprüfung ruft Andreas Platthaus an und<br />
fragt, ob Kat Menschik für die FAZ zeichnen möchte.<br />
22 Jahre und 1.145 Zeichnungen später illustriert Kat<br />
Menschik noch immer das Fernsehprogramm der Sonntagszeitung.<br />
Dabei ist sie ihrer Arbeitsweise treu geblieben: Die<br />
Umrisse wer<strong>den</strong> mit typisch kräftigem Tusche-Strich vorgezeichnet.<br />
Dann wird die Zeichnung e<strong>in</strong>gescannt. <strong>Das</strong> Retuschieren,<br />
Schattieren und Kolorieren passiert dann am<br />
Computer. Seit 2016 gestaltet die 56-Jährige so auch Buchprojekte,<br />
wie die „Illustrierte Reihe“ für <strong>den</strong> Berl<strong>in</strong>er Galiani<br />
Verlag mit ihren Liebl<strong>in</strong>gserzählungen von Franz Kafka,<br />
E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe. Oder sie etabliert sich<br />
zur Liebl<strong>in</strong>gsillustrator<strong>in</strong> des japanischen Erfolgsautors<br />
Haruki Murakami. Und dann gibt es da noch viele andere<br />
Herzensprojekte, wie e<strong>in</strong> Kochbuch mit unprätentiösen Gerichten,<br />
das knallbunte Plakat mit über 60 Tomatensorten<br />
oder das <strong>Garten</strong>buch „Der gol<strong>den</strong>e Grubber – von großen<br />
Momenten und kle<strong>in</strong>en Niederlagen im <strong>Garten</strong>jahr“.<br />
Wie sehr <strong>Garten</strong> und Haus die künstlerische Arbeit von<br />
Kat Menschik <strong>in</strong>spirieren, zeigt nicht nur ihr letztes Buchprojekt<br />
mit der Autor<strong>in</strong> Jacquel<strong>in</strong>e Kornmüller „<strong>Das</strong> Haus<br />
verlassen“, <strong>in</strong> dem sie zahlreiche Details aus ihrer Umgebung<br />
illustriert hat. In ihren Zeichnungen tauchen immer<br />
wieder Pflanzen und Tiere auf, Ornamente, Muster, organische<br />
Formen, die sie überall <strong>in</strong> ihrer Umgebung f<strong>in</strong>det, aufnimmt<br />
und rastlos verarbeitet.<br />
„Mir ist me<strong>in</strong> ganzes<br />
Leben lang schon präsent,<br />
dass man nichts ver-<br />
„Man darf nichts<br />
geu<strong>den</strong> darf, nichts h<strong>in</strong>ausschieben.<br />
<strong>Das</strong> versuche<br />
vergeu<strong>den</strong>, nichts<br />
ich zu leben. Und deshalb<br />
h<strong>in</strong>ausschieben.<br />
<strong>Das</strong> versuche ich<br />
zu leben.“<br />
Liebl<strong>in</strong>gspflanze und<br />
Inspiration für Bücher und<br />
Plakate: Über 60 Tomatensorten<br />
wachsen im <strong>Garten</strong><br />
schaffe ich vielleicht auch so viel, weil ich das immer gleich<br />
mache und Lust darauf habe. Wenn ich die Idee habe, das<br />
Bad mal lila zu streichen, dann b<strong>in</strong> ich e<strong>in</strong> paar M<strong>in</strong>uten<br />
später schon am <strong>Ab</strong>kleben und Ausprobieren.“<br />
Ihr Paradies hat die Künstler<strong>in</strong> bereits gefun<strong>den</strong>. „Ich b<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong> bisschen so e<strong>in</strong> Glücksk<strong>in</strong>d“, bekennt Kat Menschik nach<strong>den</strong>klich.<br />
„Vielleicht ist das zum Teil e<strong>in</strong>e Haltungsfrage, die<br />
ich mir mit der Zeit angeeignet habe. Sich bewusst zu machen,<br />
dass wir <strong>in</strong> dem größten möglichen Luxus leben, zur<br />
Kenntnis zu nehmen, wie gut es uns geht.“ Sagt es und ist<br />
schon wieder unterwegs <strong>in</strong> ihren Tomatenbeeten auf der<br />
Suche nach <strong>den</strong> kle<strong>in</strong>en D<strong>in</strong>gen, die glücklich machen. „Als<br />
letztens e<strong>in</strong> kurzer Regenguss kam, b<strong>in</strong> ich mit e<strong>in</strong>em<br />
Trockentuch durch alle Beete gerannt und habe jede Tomate<br />
e<strong>in</strong>zeln abgetrocknet.“<br />
Michael Mondry arbeitet als Redakteur bei <strong>Misereor</strong>. In se<strong>in</strong>em Wohnort <strong>in</strong><br />
Köln hat er nur e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Stadtgarten zu betreuen.<br />
Klaus Mellenth<strong>in</strong> lebt <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und fotografiert Persönlichkeiten aus Politik,<br />
Wirtschaft und Kultur und zu vielfältigen gesellschaftlichen Themen.<br />
EINS<strong>2024</strong> 11
1<br />
Wo die Fuchsien blühen<br />
Rosen, Jasm<strong>in</strong>, Fuchsien, Chrysanthemen<br />
und Rhodo<strong>den</strong>dren blühen <strong>in</strong> Gärten<br />
überall auf der Welt. Viele dieser Sorten<br />
stammen aus fernen Ländern. Diese Entwicklung<br />
ist vor allem dem Wardschen Kasten<br />
zu verdanken. E<strong>in</strong>e schlichte Kiste,<br />
die der englische Arzt und Naturforscher<br />
Nathaniel Bagshaw Ward 1829 entwickelte.<br />
Se<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong>dung fiel <strong>in</strong> die Zeit<br />
der globalen kolonialen<br />
Expansion.<br />
Der<br />
Wardsche Kasten –<br />
wie e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Idee<br />
vor fast 200 Jahren<br />
<strong>den</strong> weltweiten<br />
Pflanzentransport<br />
revolutionierte<br />
Text von<br />
Birgit-Sara Fabianek<br />
Foto Wardscher Kasten: Nationaal Museum van Wereldculturen, Amsterdam; Illustration: iStock.com<br />
12<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
2<br />
Farne und Palmen<br />
als Statussymbol<br />
Im 18. Jahrhundert wur<strong>den</strong> exotische<br />
Pflanzen aus Asien, Amerika und Australien<br />
zum Statussymbol der Vermögen<strong>den</strong> <strong>in</strong> Europa.<br />
Doch nur e<strong>in</strong>e von 100 Pflanzen überlebte<br />
damals die weite Seereise. Die Pflanzen<br />
mussten an Deck untergebracht wer<strong>den</strong>,<br />
wo sie viel Platz brauchten, weil sie der salzigen<br />
Gischt und meist großen Temperaturund<br />
Feuchtigkeitsschwankungen ausgesetzt<br />
waren. Wurde das<br />
Süßwasser an Bord knapp,<br />
vertrockneten sie.
3<br />
E<strong>in</strong>e<br />
revolutionäre Idee<br />
In e<strong>in</strong>em H<strong>in</strong>terhofexperiment<br />
entdeckte der Botaniker Ward, dass<br />
Pflanzen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em luftdicht verschlossenen<br />
Glasbehälter lange Zeit ohne zusätzliches<br />
Wasser überleben können.<br />
Erst mithilfe dieser bahnbrechen<strong>den</strong><br />
Entwicklung wurde der massenhafte<br />
Transport von Pflanzen auch auf<br />
langen Schiffspassagen<br />
möglich.<br />
4<br />
Wer alles profitierte<br />
Die neue Transportmethode erfreute<br />
nicht nur Pflanzenfreunde, sondern beschleunigte<br />
auch <strong>den</strong> globalen Austausch<br />
wichtiger Nutzpflanzen im Auftrag europäischer<br />
Kolonialmächte. In <strong>den</strong> Kästen reisten etwa<br />
Hanf, Tee, Gummi und Ch<strong>in</strong>ar<strong>in</strong>de um die Welt,<br />
weil England, Frankreich, Spanien und Portugal<br />
sie <strong>in</strong> ihren Kolonien anbauen wollten. So<br />
segelte 1848 Robert Fortune nach Ch<strong>in</strong>a<br />
und verschiffte 20.000 Teesetzl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong><br />
Wardschen Kästen nach Indien. Ihre<br />
Blätter eroberten als Assam und<br />
Darjeel<strong>in</strong>g die Welt.<br />
5<br />
Kaum erforschte<br />
Umweltgeschichte<br />
Der Wardsche Kasten war nicht nur<br />
an der kolonialen Ausbeutung, sondern<br />
auch an komplexen ökologischen Veränderungen<br />
beteiligt. Denn die Kisten enthielten<br />
auch Erde, dar<strong>in</strong> wur<strong>den</strong> unbeabsichtigt<br />
auch immer Insekten und Krankheitserreger<br />
um die Welt geschickt. E<strong>in</strong>ige davon<br />
wur<strong>den</strong> zu e<strong>in</strong>er Bedrohung für die<br />
Ökosysteme, <strong>in</strong> die sie umgesiedelt<br />
wur<strong>den</strong>, darunter der Kaffeerost,<br />
der im heutigen Sri Lanka<br />
ausbrach.<br />
6<br />
Und heute<br />
In <strong>den</strong> 1940er Jahren<br />
verboten die meisten Länder die<br />
E<strong>in</strong>fuhr von Erde, deshalb wurde die<br />
Produktion des Wardschen Kastens nach<br />
und nach e<strong>in</strong>gestellt. Heute können<br />
lebende Pflanzen ohne Erde transportiert,<br />
<strong>in</strong> Plastik e<strong>in</strong>gewickelt<br />
und direkt an Kontrollstellen<br />
geschickt wer<strong>den</strong>, bevor sie<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Land e<strong>in</strong>geführt<br />
wer<strong>den</strong>.<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
13
BOLIVIEN<br />
El Alto ist <strong>in</strong>s Kraut geschossen.<br />
Auf <strong>den</strong> staubigen Straßen herrschen<br />
Armut, Angst und Gewalt.<br />
<strong>Ab</strong>er mittendr<strong>in</strong>, <strong>in</strong> <strong>den</strong> Stadtgärten,<br />
bauen Frauen wie Perpetua Condori<br />
e<strong>in</strong>e andere, bessere Zukunft an:<br />
Für sich, ihre Familien und die ganze Stadt.<br />
Text von Suzanne Lemken<br />
Fotos von Florian Kopp<br />
14<br />
EINS<strong>2024</strong>
Perpetua Condori<br />
arbeitet täglich stun<strong>den</strong>lang<br />
an ihrer grünen Oase. <strong>Ab</strong>er<br />
diese Mühe lohnt sich.<br />
E<strong>in</strong> Stück<br />
heile Welt: Hier im<br />
Familiengarten können<br />
sich <strong>Ab</strong>diel und se<strong>in</strong> Bruder<br />
<strong>Ab</strong>ner frei bewegen. Dies<br />
ist auf El Altos gefährlichen<br />
Straßen unmöglich, weil<br />
Armut und Gewalt das<br />
Viertel prägen.<br />
„Ich habe extra Rezepte<br />
entwickelt, die<br />
K<strong>in</strong>der mögen. <strong>Das</strong>s<br />
sie Geschmack an gesun<strong>den</strong><br />
Gerichten f<strong>in</strong><strong>den</strong>,<br />
ist so wichtig.“<br />
E<strong>in</strong> H<strong>in</strong>terhof, e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Beet, zwei selbst gebaute Gewächshäuser,<br />
bespannt mit gelber Kunststoffplane. Perpetua<br />
Condori ist froh über ihren <strong>Garten</strong>: Hier wachsen<br />
Mangold, Salat, Sp<strong>in</strong>at, Karotten und Rote Bete. Erdbeerpflanzen<br />
hängen <strong>in</strong> Töpfen an <strong>den</strong> Wän<strong>den</strong>. Aus leeren<br />
Getränkeflaschen sprießen Kräuter. Und immer gibt es<br />
auch Platz für Blumen. Dieser <strong>Garten</strong> ist e<strong>in</strong>e Oase, <strong>in</strong><br />
der die ganze Familie Frie<strong>den</strong> f<strong>in</strong>det. Dafür arbeiten alle<br />
hart. Auch <strong>Ab</strong>diel und <strong>Ab</strong>ner, sieben und neun Jahre alt,<br />
s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>zwischen erfahrene Nachwuchsgärtner. „Die Jungs<br />
helfen immer mit“, berichtet Perpetua Condori stolz. Als<br />
sie vor Jahren vom Land nach El Alto kam, fand sie bei<br />
der <strong>Misereor</strong>-Partnerorganisation FOCAPACI Starthilfe für<br />
ihren Stadtgarten – Infos, Saatgut, Material und Beratung.<br />
Heute ist sie selbst Multiplikator<strong>in</strong> für das Projekt<br />
und begleitet andere Familien.<br />
EINS<strong>2024</strong> 15
Auf dem Markt verkaufen<br />
viele Familien ihre<br />
Produkte. FOCAPACI bietet<br />
Setzl<strong>in</strong>ge und Saatgut an.<br />
Spielerisch haben<br />
<strong>Ab</strong>diel und <strong>Ab</strong>ner viel<br />
im Stadtgarten gelernt.<br />
<strong>Das</strong> stärkt sie fürs Leben.<br />
Durch Kurse,<br />
Märkte und Nachbarschaftstreffen,<br />
optimiert<br />
mithilfe gezielter Sozialforschung,<br />
stärkt <strong>Misereor</strong>-<br />
Partner FOCAPACI die Geme<strong>in</strong>schaft.<br />
Schon die Kle<strong>in</strong>sten<br />
wachsen mit dem Projekt auf.<br />
<strong>Das</strong> verbreitet es <strong>in</strong> der<br />
Bevölkerung.<br />
16<br />
EINS<strong>2024</strong>
„Wenn wir zu <strong>den</strong><br />
Gruppentreffen<br />
gehen und die anderen<br />
Familien besuchen,<br />
erleben die<br />
K<strong>in</strong>der ganz selbstverständlich<br />
e<strong>in</strong>e<br />
gute Geme<strong>in</strong>schaft.“<br />
Hohe Mauern<br />
umschließen w<strong>in</strong>zige,<br />
triste Grundstücke <strong>in</strong><br />
El Alto und erzählen<br />
davon, dass die Angst<br />
vor Krim<strong>in</strong>alität<br />
hier ständig präsent<br />
ist.<br />
Gesunde Ernährung ist <strong>in</strong> El Alto<br />
nicht selbstverständlich. Hier suchen<br />
immer mehr Menschen Zuflucht,<br />
<strong>den</strong>en anderswo die Lebensgrundlage<br />
weggebrochen ist.<br />
So kam auch Perpetua Condori mit ihrem Mann <strong>in</strong> die<br />
Stadt – um festzustellen, dass die Arbeit unsicher und<br />
selten gut bezahlt ist. Auch wenn die Familien von El Alto<br />
bis zu 80 Prozent ihres E<strong>in</strong>kommens für Lebensmittel aufwen<strong>den</strong>,<br />
reicht es meist nur für e<strong>in</strong>fache Sattmacher.<br />
Viele Erwachsene s<strong>in</strong>d krank und viele K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> der Entwicklung<br />
verzögert. E<strong>in</strong> weiteres Problem: Wo man e<strong>in</strong>ander<br />
kaum kennt und es ke<strong>in</strong>e Perspektiven gibt, wuchert<br />
die Krim<strong>in</strong>alität. Diesen Herausforderungen begegnet<br />
das Stadtgärten-Konzept der <strong>Misereor</strong>-Partnerorganisation<br />
FOCAPACI auf mehreren Ebenen.<br />
Zunächst dadurch, dass die Familien<br />
im Projekt sich und ihr Umfeld mit gesunder<br />
Nahrung versorgen. Mittelbar dadurch,<br />
dass Schulungen, Märkte und gegenseitige<br />
Besuche aus Frem<strong>den</strong> Nachbarn machen,<br />
die e<strong>in</strong>ander zur Seite stehen. So verwandelt<br />
sich El Alto, Radieschen für Radieschen<br />
– <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue, lebenswerte Stadt.<br />
Räume zum Aufatmen,<br />
für die Großen<br />
und die Kle<strong>in</strong>en: Wo<br />
FOCAPACI die Menschen<br />
im Rahmen<br />
des Projekts zusammenbr<strong>in</strong>gt,<br />
geht es<br />
bunt und fröhlich zu.<br />
Mehr Informationen<br />
über das Stadtgarten-<br />
Projekt und Möglichkeiten<br />
zur Unterstützung unter:<br />
misereor.de/bolivienbrasilien-stadtgaerten<br />
Eltern und K<strong>in</strong>der<br />
sorgen geme<strong>in</strong>sam für <strong>den</strong><br />
Stadtgarten – das tut dem<br />
Familienleben spürbar gut.<br />
Suzanne Lemken, Fundraiser<strong>in</strong> bei <strong>Misereor</strong>, <strong>in</strong>formiert über die Late<strong>in</strong>amerika-Spen<strong>den</strong>projekte<br />
und lädt zu kreativen Spen<strong>den</strong>aktionen e<strong>in</strong>.<br />
Florian Kopp lebt <strong>in</strong> Rio de Janeiro, Brasilien. Als Fotograf dokumentiert er<br />
soziale und ökologische Konflikte <strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika.<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
17
Terence Lopez hat während der Coronapandemie<br />
auf <strong>den</strong> Philipp<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>sam mit Tagelöhnern<br />
Gärten zur Selbstversorgung angelegt. Hier erzählt<br />
er, wie es dazu kam und was er daraus gelernt hat.<br />
Protokoll von Birgit-Sara Fabianek<br />
Fotos von Raffy Lerma<br />
Die Situation der städtischen Armen<br />
<strong>in</strong> der Pandemie<br />
T. L.: Die Maßnahmen gegen Covid-19<br />
haben die Tagelöhner auf <strong>den</strong> Philipp<strong>in</strong>en<br />
<strong>in</strong> extreme Armut katapultiert. Präsi<strong>den</strong>t<br />
Rodrigo Duterte hat das Land<br />
2020 von e<strong>in</strong>em Tag auf <strong>den</strong> anderen<br />
mit e<strong>in</strong>em Lockdown nach <strong>in</strong>nen und<br />
außen dicht gemacht. Es wurde alles<br />
abgeriegelt, alle Lä<strong>den</strong> waren geschlossen,<br />
der Verkehr wurde lahmgelegt<br />
und es gab Ausgangssperren, die militärisch<br />
überwacht wur<strong>den</strong>. Bis<br />
2021 wurde das Land immer wieder<br />
zugemacht. Bereits während<br />
des ersten Lockdowns waren<br />
die Armen sehr hungrig, weil<br />
es kaum Versorgung gab.<br />
Zu dieser Zeit arbeitete ich als<br />
Freiwilliger für die „Nationale<br />
Allianz der städtischen Armen“<br />
<strong>in</strong> Quezon-City und <strong>in</strong> Pandi,<br />
e<strong>in</strong>er von <strong>in</strong>formellen Siedler<strong>in</strong>nen<br />
und Siedlern besetzten Geme<strong>in</strong>de<br />
nördlich von Manila. Die<br />
Nationale Allianz ist e<strong>in</strong>e große<br />
Organisation auf <strong>den</strong> gesamten Philipp<strong>in</strong>en,<br />
sehr konsequent, sehr fortschrittlich.<br />
Wir dachten darüber nach,<br />
was wir dem Hunger, der dort überall<br />
herrschte, entgegensetzen könnten.<br />
Die Regierung reagierte nicht auf die<br />
Appelle der Armen, die je<strong>den</strong> Tag ums<br />
Überleben kämpften.<br />
<strong>Das</strong> besetzte Dorf <strong>in</strong> Pandi<br />
Ich hatte Kontakt zu e<strong>in</strong>em besetzten<br />
Dorf <strong>in</strong> Pandi. Dort leben <strong>in</strong>formelle<br />
Siedler<strong>in</strong>nen und Siedler <strong>in</strong> besetzten<br />
Häusern. Als der Lockdown kam, durften<br />
sie nicht mehr aus dem Haus. Sie<br />
konnten nicht mehr arbeiten und hatten<br />
deshalb ke<strong>in</strong> Geld mehr für Essen.<br />
Zuerst habe ich für diese Menschen Lebensmittelsammlungen<br />
organisiert, später<br />
habe ich Obst- und Gemüsespen<strong>den</strong><br />
von Bio-Bauernhöfen aus der Umgebung<br />
bekommen, weil diese ihre<br />
Waren nicht mehr verkaufen konnten.<br />
Wir haben geme<strong>in</strong>sam mit der Good<br />
Food Company, die etwas für die Armen<br />
<strong>in</strong> der Stadt tun wollte, an jedem Wo-<br />
18<br />
EINS<strong>2024</strong>
Rey de la Cruz hält<br />
frisch geerntete<br />
Bittermelonen und<br />
Okraschoten aus<br />
se<strong>in</strong>em städtischen<br />
<strong>Garten</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> Hän<strong>den</strong><br />
EINS<strong>2024</strong><br />
19
chenende vegane Gerichte aus diesen<br />
Bio-Produkten gekocht und haben sie<br />
dann unter <strong>den</strong> Armen verteilt. <strong>Das</strong><br />
war mit der Zeit sehr erschöpfend.<br />
Wie aus Tagelöhnern Gärtner wer<strong>den</strong><br />
Irgendwann hatte ich die Idee: Lasst<br />
uns unser eigenes Essen produzieren!<br />
Denn es sah nicht so aus, als ob der<br />
Lockdown bald aufgehoben wer<strong>den</strong><br />
würde und die Pandemie vorbei wäre.<br />
Ich habe me<strong>in</strong>en Vorschlag <strong>in</strong> <strong>den</strong> Geme<strong>in</strong><strong>den</strong><br />
vorgestellt und diskutiert:<br />
Viele wollten es ausprobieren, aber sie<br />
cher Zeit leicht anzubauen s<strong>in</strong>d und<br />
wie man die Ernte zubereitet. Ich habe<br />
<strong>in</strong> dieser Zeit Spen<strong>den</strong> gesammelt, um<br />
Saatgut und Geräte zu kaufen.<br />
Wir haben die Gärten auf ungenutztem<br />
Land angelegt. Die Gebäude, die<br />
darauf stan<strong>den</strong>, waren ursprünglich<br />
für das Militär und die Polizei gebaut<br />
wor<strong>den</strong>, aber sie waren seit Jahren verlassen<br />
und baufällig. Vor acht Jahren<br />
hatten sich Obdachlose aus der Umgebung<br />
selbst organisiert und diese Häuser<br />
besetzt. In Pandi haben sich rund<br />
12.000 Leute niedergelassen, etwa<br />
Emelisa Araco<br />
hat während der Coronapandemie<br />
am Stadtrand von<br />
Manila das Gärtnern gelernt<br />
wussten nicht wie. Man muss wissen,<br />
auf <strong>den</strong> Philipp<strong>in</strong>en kann man <strong>in</strong><br />
jedem Monat des Jahres damit beg<strong>in</strong>nen,<br />
e<strong>in</strong>en <strong>Garten</strong> anzulegen.<br />
Ich b<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Bauer, aber ich hatte<br />
Kontakte zu Gruppen, die sich mit<br />
Landwirtschaft und biologischem Anbau<br />
auskannten, die habe ich mobilisiert,<br />
um Workshops zu geben und die<br />
Leute zu schulen: Wie man <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong><br />
vorbereitet, welche Pflanzen <strong>in</strong> welzweie<strong>in</strong>halbtausend<br />
Familien. Bis zum<br />
Lockdown wäre niemand dieser Menschen,<br />
die sich je<strong>den</strong> Tag aufs Neue Arbeit<br />
suchen mussten, auf die Idee gekommen,<br />
im <strong>Garten</strong> zu arbeiten und<br />
sich selbst zu versorgen.<br />
Ich habe die etwa e<strong>in</strong>hundert Gärtner<strong>in</strong>nen<br />
und Gärtner, die sich dem<br />
Projekt angeschlossen haben, jede<br />
Woche besucht, um zu sehen, wie es<br />
ihnen geht und was sie brauchen. Sie<br />
Die Armen<br />
mussten je<strong>den</strong><br />
Tag ums Überleben<br />
kämpfen<br />
waren sehr organisiert. <strong>Das</strong> half ihnen<br />
auch, sich gegen <strong>den</strong> Staat zu wehren,<br />
der viele Menschen während der Covid-Maßnahmen<br />
drangsalierte. E<strong>in</strong>mal<br />
habe ich erlebt, wie Polizei und Militär<br />
kamen, während wir <strong>in</strong> <strong>den</strong> Gärten<br />
arbeiteten. Ich unterhielt mich gerade<br />
mit <strong>den</strong> Müttern aus der Geme<strong>in</strong>de,<br />
als die Polizei mich festnehmen<br />
wollte. Da setzten mich die Mütter auf<br />
e<strong>in</strong> Motorrad, sodass ich entkommen<br />
konnte.<br />
Die Menschen aus Payatas<br />
Zur selben Zeit leitete ich geme<strong>in</strong>sam<br />
mit Aktivisten <strong>in</strong> Manila zusätzlich<br />
das Gärtnern <strong>in</strong> Conta<strong>in</strong>ern an. Die<br />
Projekte lagen <strong>in</strong> Quezon-City, <strong>in</strong> Payatas,<br />
e<strong>in</strong>e der größten und am meisten<br />
von Armut betroffenen Geme<strong>in</strong><strong>den</strong>.<br />
Die Geme<strong>in</strong>schaften dort überleben<br />
im Müll. Während der <strong>Ab</strong>riegelung<br />
gab es wochenlang ke<strong>in</strong>en Deponiebetrieb,<br />
und die Menschen hatten ke<strong>in</strong>e<br />
Möglichkeit, Geld für <strong>den</strong> nächsten<br />
Tag zu verdienen, um zu überleben.<br />
Deshalb unsere Idee, das Nötigste zum<br />
Leben <strong>in</strong> Conta<strong>in</strong>ern selbst anzupflanzen,<br />
anderswo war ke<strong>in</strong> Platz dafür.<br />
Selbst das Land, um die Conta<strong>in</strong>er aufzustellen,<br />
war knapp.<br />
Unsere Idee:<br />
das Nötigste<br />
zum Leben<br />
<strong>in</strong> Conta<strong>in</strong>ern<br />
selbst anpflanzen<br />
20<br />
EINS<strong>2024</strong>
Die Menschen <strong>in</strong> Payatas mussten bereits<br />
20 Jahre vorher ums Überleben<br />
kämpfen, als sie Opfer e<strong>in</strong>es Erdrutsches<br />
aus Müll wur<strong>den</strong>. Viele starben,<br />
<strong>den</strong>n ihre Häuser hatten sie auf dem<br />
Müll errichtet. Sie arbeiten je<strong>den</strong> Tag<br />
auf der Deponie, suchen das Brauchbare<br />
aus dem Müll, der von Lastwagen<br />
angeliefert wird, sortieren es und verkaufen<br />
es an Recycl<strong>in</strong>g-Unternehmen<br />
weiter.<br />
<strong>Das</strong> Conta<strong>in</strong>er-<strong>Garten</strong>projekt haben<br />
wir mit 20 Haushalten begonnen. Wir<br />
sammelten Spen<strong>den</strong> und<br />
kauften davon für je<strong>den</strong><br />
Haushalt e<strong>in</strong> Set aus Behälter,<br />
Erde, Saatgut und Geräten.<br />
Die Menschen aus<br />
Payatas hatten ebenso wenig<br />
Ahnung vom Gärtnern<br />
wie die <strong>in</strong>formellen Siedler<br />
aus Pandi und wir haben<br />
sie ebenso dar<strong>in</strong> geschult.<br />
<strong>Das</strong> Conta<strong>in</strong>ergärtnern<br />
haben die Menschen<br />
e<strong>in</strong> Jahr lang beibehalten, bis der Lockdown<br />
aufgehoben wurde. Danach haben<br />
sie ihren Alltag wieder aufgenommen,<br />
das Gärtnern geriet <strong>in</strong> <strong>den</strong> H<strong>in</strong>tergrund<br />
und wurde schließlich aufgegeben.<br />
Ihr Alltag auf der Deponie lässt<br />
ihnen ke<strong>in</strong>en Raum, nachhaltiger zu<br />
leben.<br />
Was die <strong>Garten</strong>arbeit gebracht hat<br />
Die Gärten der <strong>in</strong>formellen Siedler <strong>in</strong><br />
Pandi existieren dagegen noch. Die<br />
Gärtner<strong>in</strong>nen und Gärtner dort hatten<br />
es etwas leichter, urbanes<br />
Gärtnern zu<br />
e<strong>in</strong>em Teil ihres Alltags<br />
zu machen. Neben<br />
dem Ziel, sich<br />
selbst zu versorgen,<br />
um nicht zu hungern,<br />
hat das Gärtnern<br />
diejenigen, die<br />
mitgemacht haben,<br />
gestärkt und ihre Widerstandsfähigkeit<br />
erhöht.<br />
Sie hatten das<br />
Gefühl, etwas tun zu<br />
können. Sie s<strong>in</strong>d eigentlich<br />
unsichtbar. Niemand <strong>in</strong>teressiert<br />
sich für ihre Situation, staatliche<br />
Stellen schon gar nicht.<br />
Auch wer arm<br />
ist, hat das<br />
Recht, über<br />
gesunde<br />
Lebensmittel<br />
nachzu <strong>den</strong>ken<br />
E<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d pflückt<br />
e<strong>in</strong>e noch unreife<br />
Aratilis-Beere vom<br />
Baum. E<strong>in</strong> Teil der<br />
Ernte aus <strong>den</strong> städtischen<br />
Gärten wird<br />
auch auf kle<strong>in</strong>en<br />
Märkten angeboten.<br />
Was ich aus dieser Zeit gelernt habe<br />
Ich habe erlebt, wie sich das Bewusstse<strong>in</strong><br />
ändern kann: Die Armen <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />
Städten, die während der Pandemie ihr<br />
eigenes Essen angebaut haben, wissen<br />
Terence Lopez ist <strong>in</strong> der Bewegung der<br />
städtischen Armen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Außenbezirken<br />
von Manila aktiv. Er hat während<br />
der Coronapandemie, <strong>in</strong> der die Philipp<strong>in</strong>en<br />
<strong>den</strong> umfassendsten Lockdown weltweit<br />
verhängten, Gärten angelegt mit<br />
<strong>den</strong> Menschen, die <strong>in</strong> dieser Zeit zu<br />
wenig von dem hatten, was man zum<br />
Leben braucht. Lopez lebt <strong>in</strong> der Stadtgeme<strong>in</strong>de<br />
Pandi auf <strong>den</strong> Philipp<strong>in</strong>en,<br />
knapp 30 Kilometer von Manila entfernt.<br />
Er arbeitet aktuell beim Asian People‘s<br />
Exchange für Ernährungssouveränität<br />
und Agrarökologie. <strong>Das</strong> Projekt ist Teil<br />
des Pesticide Action Network Asia Pacific<br />
(PAN AP), das sich für die Beseitigung<br />
von Pestizi<strong>den</strong> <strong>in</strong> Lebensmitteln<br />
im asiatisch-pazifischen Raum e<strong>in</strong>setzt.<br />
<strong>Misereor</strong> ist Partner dieses Netzwerks.<br />
jetzt, dass die billigen Lebensmittel<br />
nicht unbed<strong>in</strong>gt die Nahrungsmittel<br />
s<strong>in</strong>d, die sie brauchen. Wenn es zu Katastrophen<br />
kommt, erhalten sie heute<br />
nicht mehr nur Nudeln oder Konserven.<br />
Stattdessen fordern sie von ihren<br />
lokalen Regierungen: „Unterstützt unsere<br />
Gärten oder kauft für uns Bio-Produkte<br />
von <strong>den</strong> Bauern!“ Da gibt es<br />
noch viel zu tun. <strong>Ab</strong>er Projekte wie<br />
diese haben auf je<strong>den</strong> Fall Auswirkungen<br />
auf die E<strong>in</strong>stellung zu Lebensmitteln.<br />
Zum Beispiel auf die Erkenntnis:<br />
Auch wer arm ist, hat das Recht, über<br />
gesunde Lebensmittel nachzu<strong>den</strong>ken.<br />
Um das zu verstärken und wirklich<br />
etwas zu verändern, haben wir Aktivisten<br />
e<strong>in</strong>e Koalition von E<strong>in</strong>zelnen gegründet,<br />
die Erkenntnisse aus unseren<br />
<strong>Garten</strong>projekten auf nationaler Ebene<br />
voranzubr<strong>in</strong>gen. <strong>Das</strong> macht mich zuversichtlich.<br />
Birgit-Sara Fabianek lebt als freie Journalist<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />
Aachen und schreibt gern über konstruktive Ideen<br />
und Menschen, die Mut machen.<br />
Raffy Lerma lebt und arbeitet als freier Fotojournalist<br />
<strong>in</strong> Manila. Dort ist er um die fotografische<br />
Dokumentation des Drogenkriegs bemüht.<br />
Verschie<strong>den</strong>e Gemüsesorten<br />
für<br />
<strong>den</strong> Marktverkauf<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
21
„In Afrika sprießen<br />
überall Gärten,<br />
das ist e<strong>in</strong>e Revolution“<br />
Fotos: Marco del Comune, Klaus Mellenth<strong>in</strong><br />
22<br />
EINS<strong>2024</strong>
INTERVIEW<br />
Edward Mukiibi, <strong>in</strong>ternationaler Präsi<strong>den</strong>t von Slow Food und Pirm<strong>in</strong> Spiegel, Hauptgeschäftsführer<br />
von <strong>Misereor</strong>, im Videogespräch über die Bedeutung von Gärten für e<strong>in</strong>e gesunde<br />
Ernährung, die Weitergabe von Wissen und Saatgut und was sie als K<strong>in</strong>der über <strong>Garten</strong>arbeit<br />
gelernt haben.<br />
<strong>Das</strong> Gespräch moderierte Birgit-Sara Fabianek<br />
„Familiäre Landwirtschaft<br />
ist<br />
immens wichtig<br />
für die globale<br />
Ernährungssicherheit.“<br />
Pirm<strong>in</strong> Spiegel<br />
Was verb<strong>in</strong>det <strong>Misereor</strong><br />
und Slow Food?<br />
Pirm<strong>in</strong> Spiegel: Vor e<strong>in</strong>igen Jahren haben<br />
<strong>Misereor</strong> und Slow Food Deutschland<br />
zum Jubiläumsjahr von Luthers<br />
Reformation 95 Thesen für Kopf und<br />
Bauch präsentiert und e<strong>in</strong>e Reformation<br />
des globalen Ernährungssystems<br />
gefordert. Denn Ernährungs<strong>in</strong>dustrie<br />
und Chemiekonzerne behaupten immer<br />
wieder aufs Neue, dass wir mehr<br />
und hoch<strong>in</strong>dustrielle Lebensmittel brauchen,<br />
um <strong>in</strong> Zukunft bis zu zehn Milliar<strong>den</strong><br />
Menschen ernähren zu können.<br />
Von unseren Partnern <strong>in</strong> Afrika,<br />
Asien und Late<strong>in</strong>amerika wissen wir,<br />
dass der größte Anteil der Lebensmittel,<br />
der weltweit Menschen satt macht<br />
und gesund erhält, aus lokaler Landwirtschaft<br />
mit kle<strong>in</strong>teiligen Strukturen<br />
stammt. Diese familiäre Landwirtschaft<br />
und ihre teilweise geme<strong>in</strong>schaftlich<br />
bewirtschafteten Gärten<br />
und Felder s<strong>in</strong>d immens wichtig für<br />
die globale Ernährungssicherheit und<br />
ebenso für <strong>den</strong> Erhalt der Artenvielfalt.<br />
Den kle<strong>in</strong>en, unabhängigen Produzenten,<br />
die so viel für unsere gesunde<br />
Ernährung und unsere Ökosysteme<br />
tun, vor Ort und auf der <strong>in</strong>ternationalen<br />
Bühne mehr Gewicht und Gehör<br />
zu verschaffen, das verb<strong>in</strong>det Slow<br />
Food und <strong>Misereor</strong>.<br />
Sie s<strong>in</strong>d beide <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bauernfamilie<br />
aufgewachsen, der e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> der Pfalz und<br />
der andere <strong>in</strong> Uganda. Was haben Sie <strong>in</strong><br />
Ihrer K<strong>in</strong>dheit über <strong>Garten</strong>arbeit und<br />
Selbstversorgung gelernt?<br />
Edward Mukiibi: Unsere Farm lag <strong>in</strong> der<br />
Nähe des Viktoriasees. Ich habe als<br />
K<strong>in</strong>d von me<strong>in</strong>en Eltern gelernt, welche<br />
Leistung dar<strong>in</strong> steckt, gesunde<br />
Nahrungsmittel anzubauen. Welche<br />
Entwicklungsmöglichkeiten dar<strong>in</strong> liegen,<br />
sich um se<strong>in</strong> Land zu kümmern –<br />
nicht nur, um Nahrung herzustellen<br />
und <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong> zu nutzen, sondern<br />
auch, wie man <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong> und se<strong>in</strong><br />
Ökosystem tatsächlich schützen und<br />
fördern kann. Auf unserer Farm haben<br />
wir ganz verschie<strong>den</strong>e Sorten angebaut:<br />
Kaffee, Bananen, Bohnen, Gemüse,<br />
es gab unterschiedliche Obstbäume<br />
und auch Kakao. All das wuchs nebene<strong>in</strong>ander.<br />
Dieses Nebene<strong>in</strong>ander hat<br />
uns dabei geholfen, uns auch dann<br />
selbst zu versorgen, wenn es aus Klimagrün<strong>den</strong><br />
Probleme mit der Ernte<br />
gab. Denn irgendwas war immer reif,<br />
mal Bohnen, mal Süßkartoffeln. So<br />
habe ich schon als K<strong>in</strong>d erlebt, welche<br />
Vorteile e<strong>in</strong> vielfältiger Anbau bietet,<br />
um satt zu wer<strong>den</strong>. Deshalb baue ich<br />
bis heute immer noch die gleichen<br />
alten Sorten an.<br />
Foto: <strong>Misereor</strong><br />
Bei e<strong>in</strong>em Besuch<br />
<strong>in</strong> Madagaskar begleiten<br />
K<strong>in</strong>der Pirm<strong>in</strong> Spiegel durch<br />
ihren Familiengarten<br />
Heißt das, Sie s<strong>in</strong>d Präsi<strong>den</strong>t von<br />
Slow Food und gleichzeitig Landwirt?<br />
Mukiibi: Genau. Ich b<strong>in</strong> aktiver Landwirt,<br />
das ist me<strong>in</strong> erster Beruf. Ich arbeite<br />
jedes Wochenende im <strong>Garten</strong>,<br />
wenn ich zu Hause <strong>in</strong> Uganda b<strong>in</strong>.<br />
Letztes Wochenende haben wir zum<br />
Beispiel Mais und Bohnen gepflanzt.<br />
Wir bewirtschaften außerdem e<strong>in</strong>e Bananenplantage<br />
und bestellen e<strong>in</strong>en<br />
großen <strong>Garten</strong>.<br />
Und Sie, Herr Spiegel?<br />
Spiegel: Nach dem <strong>Ab</strong>itur habe ich<br />
kurz Landwirtschaft studiert, aber ich<br />
b<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> aktiver Landwirt. Trotzdem<br />
prägt mich die Erdverbun<strong>den</strong>heit me<strong>in</strong>er<br />
K<strong>in</strong>dheit bis heute, sie gehört zu<br />
me<strong>in</strong>er DNA. Ich kannte <strong>in</strong> unserem<br />
Dorf <strong>in</strong> der Pfalz je<strong>den</strong> Acker und<br />
jedes Bächle<strong>in</strong>, unser Hof hatte von<br />
EINS<strong>2024</strong> 23
Foto: Isaac Kasamani/AFP via Getty Images<br />
In Uganda besucht<br />
Edward Mukiibi e<strong>in</strong>e von vielen<br />
Schulen, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en Slow<br />
Food Gärten angelegt hat<br />
allem e<strong>in</strong> bisschen: E<strong>in</strong>en <strong>Garten</strong> mit<br />
Gemüse, Obst, Kräutern und Beeren,<br />
Felder mit Rüben, Weizen und We<strong>in</strong><br />
und auch e<strong>in</strong> paar Kühe. Ich b<strong>in</strong> mit<br />
dem Trecker auf die Wiese gefahren,<br />
habe Gras gemäht, das Vieh gefüttert<br />
und überall mitgemacht. <strong>Das</strong> hat mir<br />
sehr geholfen, als ich später <strong>in</strong> Brasilien<br />
viele Jahre mit Bauernfamilien gelebt<br />
habe, die kle<strong>in</strong>ere Flächen vielfältig<br />
bewirtschafteten.<br />
Herr Mukiibi, Sie haben für Slow Food<br />
<strong>in</strong> Uganda vor knapp 15 Jahren e<strong>in</strong>e Art<br />
<strong>Garten</strong>-Revolution <strong>in</strong>itiiert: Worum geht<br />
es <strong>in</strong> Ihrem Projekt „Gärten <strong>in</strong> Afrika“?<br />
Mukiibi: <strong>Das</strong> Projekt haben wir gestartet,<br />
weil wir erlebt haben, dass für<br />
viele Schul- oder Dorfgeme<strong>in</strong>schaften<br />
eigene Gärten der Schlüssel dafür s<strong>in</strong>d,<br />
sich ausgewogen ernähren zu können.<br />
Und wir wussten, wie wichtig es ist,<br />
dieses Wissen und die Fähigkeiten an<br />
die nächste Generation weiterzugeben,<br />
damit sie erhalten bleiben. Und<br />
wir wollten damit auch das schlechte<br />
Image überw<strong>in</strong><strong>den</strong>, das bis dah<strong>in</strong> mit<br />
Landwirtschaft verbun<strong>den</strong> war: Als ich<br />
zur Schule g<strong>in</strong>g, wur<strong>den</strong> wir zur Strafe<br />
für schlechtes Benehmen auf <strong>den</strong><br />
Schulacker geschickt. Wir wollen unserer<br />
Jugend dagegen klarmachen, dass<br />
e<strong>in</strong>e lokale, unabhängige und vielfältige<br />
Landwirtschaft Zukunft hat und sie<br />
selbst Teil der Lebensmittelerzeugung<br />
auf ihrem Kont<strong>in</strong>ent wer<strong>den</strong> kann.<br />
Wie erfolgreich ist Ihr Projekt?<br />
Mukiibi: Unser Hauptziel war es, zu zeigen,<br />
wie wichtig Gärten für unseren<br />
Kont<strong>in</strong>ent s<strong>in</strong>d. Inzwischen gibt es <strong>in</strong> 35<br />
afrikanischen Ländern mehr als 5.000<br />
aktive Gärten, sie sprießen überall.<br />
<strong>Das</strong> ist wirklich e<strong>in</strong>e Revolution bei<br />
uns. Wir erleben auch, mit welcher Lei<strong>den</strong>schaft<br />
und Begeisterung viele Geme<strong>in</strong>schaftsgärtner*<strong>in</strong>nen<br />
<strong>in</strong>zwischen<br />
ihr Saatgut tauschen und teilen und<br />
dass diese Gärten zu Orten der Begegnung<br />
wer<strong>den</strong>, auch um sich politisch<br />
auszutauschen. Wir sehen, wie K<strong>in</strong>der<br />
sich <strong>in</strong> Slow-Food-Gärten treffen und<br />
enthusiastisch über e<strong>in</strong>zelne Anbausorten<br />
diskutieren oder darüber sprechen,<br />
welchen Nährwert diese oder je-<br />
24<br />
EINS<strong>2024</strong>
„Wo es Vielfalt<br />
im <strong>Garten</strong> gibt,<br />
können sich Menschen<br />
gesund<br />
und ausreichend<br />
ernähren.“<br />
Edward Mukiibi<br />
ne Pflanze hat. Sie lernen dort so viel.<br />
Diese Gärten erleichtern es <strong>den</strong> Menschen,<br />
sich wieder damit ause<strong>in</strong>anderzusetzen,<br />
was sie essen und wie man<br />
Lebensmittel anbaut. <strong>Das</strong> Thema wird<br />
so wieder zu e<strong>in</strong>em Teil ihrer Realität.<br />
Was können wir hier bei uns von Afrika<br />
über regionale Versorgung lernen?<br />
Spiegel: Ich sehe das Gärten-<strong>in</strong>-Afrika-<br />
Projekt als mächtige Inspiration: Auch<br />
unsere Städte und Geme<strong>in</strong><strong>den</strong> brauchen<br />
mehr öffentliche Räume, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en<br />
Menschen geme<strong>in</strong>sam etwas anpflanzen<br />
und e<strong>in</strong>en eigenen Beitrag zu<br />
ihrer Ernährung leisten und dadurch<br />
Nahrung wieder schätzen lernen. Urban<br />
Gar<strong>den</strong><strong>in</strong>g, Vergrünung, Balkon-Anbau<br />
und lokale, solidarische Landwirtschaftsgeme<strong>in</strong>schaften<br />
– das s<strong>in</strong>d alles Schritte<br />
und Beiträge h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er verträglicheren<br />
und nachhaltigeren Produktion<br />
von Lebensmitteln. Wir brauchen<br />
diesen Weg, um weniger <strong>in</strong>tensiv und<br />
<strong>in</strong>dustriell hergestellte Lebensmittel<br />
zu konsumieren und die damit e<strong>in</strong>hergehen<strong>den</strong><br />
versteckten Kosten wie<br />
die Auslaugung der Bö<strong>den</strong>, Wasserverbrauch,<br />
Treibhausgasemissionen oder<br />
Verlust der Artenvielfalt zu verr<strong>in</strong>gern.<br />
Herr Mukiibi, welche Unterstützung<br />
brauchen Ihre Ideen aus Ländern wie<br />
Deutschland?<br />
Mukiibi: Aus me<strong>in</strong>er Sicht ist es wichtig,<br />
dass Menschen aus Deutschland<br />
und Europa verstehen, dass die Politik<br />
<strong>in</strong> ihren Ländern Auswirkungen auf<br />
uns hat. Zum Beispiel, wenn Milch,<br />
Fleisch oder Eier aus Europa exportiert<br />
wer<strong>den</strong> und dann <strong>in</strong> Tassen und auf<br />
Tellern <strong>in</strong> Westafrika lan<strong>den</strong>. <strong>Das</strong> rui-<br />
Drei Fragen<br />
zum <strong>Ab</strong>schied<br />
Pirm<strong>in</strong> Spiegel ist seit 2012 Hauptgeschäftsführer<br />
von <strong>Misereor</strong>. Ende Juni wird er nach<br />
12 Jahren das bischöfliche Werk für Entwicklungszusammenarbeit<br />
verlassen.<br />
Was waren die wichtigsten Momente<br />
Ihrer Arbeit <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten 12 Jahren?<br />
Schwer zu sagen. An erster Stelle die<br />
vielfältigen Begegnungen mit Menschen<br />
<strong>in</strong> Süd und Nord. Dann: 2015<br />
wurde die Enzyklika Laudato si’ veröffentlicht,<br />
Wegbereiter<strong>in</strong> für die<br />
Amazoniensynode. Im selben Jahr<br />
die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vere<strong>in</strong>ten<br />
Nationen und die COP <strong>in</strong><br />
Paris mit dem Ziel, die Erderwärmung<br />
auf 1,5 Grad zu begrenzen.<br />
D<strong>in</strong>ge, die bisher als unterschiedlich<br />
wahrgenommen wur<strong>den</strong>, wur<strong>den</strong> zusammengedacht.<br />
Ergebnis: wir brauchen<br />
e<strong>in</strong> neues Modell für globale<br />
Entwicklung, das Säulen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Kultur der Achtsamkeit hat, im Geme<strong>in</strong>wohl<br />
und <strong>in</strong> der <strong>in</strong>tegralen Ökologie.<br />
Die Amazoniensynode 2019 erlebte<br />
ich als e<strong>in</strong>e starke Vision.<br />
Was haben Sie aus Ihrer Zeit<br />
als Landpfarrer im Nordosten Brasiliens<br />
am Rande des Amazonasgebiets<br />
mitgenommen?<br />
Geduld lernte ich, ebenso, dass Genügsamkeit<br />
und E<strong>in</strong>fachheit reich<br />
machen können. <strong>Das</strong>s Entwicklung<br />
<strong>den</strong> Vulnerablen nützen muss und<br />
es nicht die e<strong>in</strong>e Lösung für Probleme<br />
gibt, ebenso wenig die e<strong>in</strong>e richtige<br />
Sicht auf die Welt. Auf unsere globalen<br />
Herausforderungen wer<strong>den</strong> wir<br />
nur Antworten f<strong>in</strong><strong>den</strong>, wenn wir <strong>den</strong><br />
verschie<strong>den</strong>en Stimmen Raum geben,<br />
ihre eigenen Lösungen zu f<strong>in</strong><strong>den</strong>.<br />
Foto: Rentke/<strong>Misereor</strong><br />
Was wünschen Sie sich<br />
für die Zeit nach <strong>Misereor</strong>?<br />
Weiterh<strong>in</strong> h<strong>in</strong>auszugehen über die<br />
eigenen Planquadrate; e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nstiftende<br />
Arbeit zu tun und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Beziehungsgeflecht<br />
zu leben, das reich<br />
macht. Ebenso, dass mir das Lei<strong>den</strong><br />
anderer nicht gleichgültig wird – dabei<br />
helfen mir Spiritualität und Erdung.<br />
Begegnungen mit<br />
Menschen <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a:<br />
Genügsamkeit und E<strong>in</strong>fachheit<br />
können reich machen<br />
weiter auf Seite 26<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
25
„Wir wollen<br />
unserer Jugend<br />
klarmachen, dass<br />
e<strong>in</strong>e lokale, unabhängige<br />
und<br />
vielfältige Landwirtschaft<br />
Zukunft<br />
hat.“<br />
Edward Mukiibi<br />
niert unsere lokale Produktion vor Ort,<br />
auch wenn es nicht beabsichtigt ist.<br />
Europäischen Wähler*<strong>in</strong>nen sollte bewusst<br />
se<strong>in</strong>, dass sie sich auch für uns<br />
für bessere politische Entscheidungen<br />
e<strong>in</strong>setzen. Wir wollen zum Beispiel e<strong>in</strong><br />
Institut für afrikanische Ernährung<br />
aufbauen, um das vorhan<strong>den</strong>e Wissen<br />
zu sammeln und besser zu verteilen<br />
und weitergeben zu können. Und um<br />
Geme<strong>in</strong>schaften, die auf Selbstversorgung<br />
setzen wollen, Hilfe anzubieten.<br />
Dafür brauchen wir Ressourcen. Es<br />
wäre gut, wenn der Globale Nor<strong>den</strong> Initiativen<br />
wie diese unterstützt.<br />
Verborgener Hunger existiert nicht<br />
nur im Globalen Sü<strong>den</strong>, sondern ist<br />
auch <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong> wachsendes<br />
Problem: Oft s<strong>in</strong>d es K<strong>in</strong>der, die übergewichtig<br />
und unterernährt zugleich s<strong>in</strong>d,<br />
weil ihnen Vitam<strong>in</strong>e und M<strong>in</strong>eralstoffe<br />
fehlen: Haben Sie e<strong>in</strong>e Lösung dafür?<br />
Mukiibi: Verborgener Hunger ist auch<br />
<strong>in</strong> Afrika e<strong>in</strong> wachsendes Problem, vor<br />
allem bei Schulk<strong>in</strong>dern. <strong>Das</strong> sehen wir<br />
zum Beispiel <strong>in</strong> Malawi und Sambia,<br />
wo 90 Prozent der Schulk<strong>in</strong>der täglich<br />
nur e<strong>in</strong> Gericht aus Mais und Bohnen<br />
zu essen bekommen. Und auch <strong>in</strong><br />
Uganda beobachten wir, dass K<strong>in</strong>der,<br />
die zur Schule gehen, 20 Tage im<br />
Monat nur Reis und Bohnen essen,<br />
ohne andere Lebensmittel und Nährstoffe<br />
zu sich zu nehmen.<br />
Woran liegt das?<br />
Mukiibi: <strong>Das</strong> liegt am Verlust der Artenvielfalt.<br />
Dort, wo es Schulgärten<br />
wie von unserem Projekt „Gärten <strong>in</strong><br />
Afrika“ gibt, können wir dieses Problem<br />
überw<strong>in</strong><strong>den</strong> und gesundes und<br />
nährstoffreiches Essen anbieten, <strong>in</strong>dem<br />
wir dort neben Bohnen ganz verschie<strong>den</strong>e<br />
Gemüsesorten anbauen wie<br />
Süßkartoffeln, Frühl<strong>in</strong>gszwiebeln, Paprika<br />
oder Avocados und auch Obst<br />
wie Bananen. Diese traditionelle mehrdimensionale<br />
Anbauweise bewahrt die<br />
K<strong>in</strong>der vor verborgenem Hunger und<br />
versorgt sie mit allem, was sie brauchen.<br />
<strong>Das</strong> gilt ebenso für die Geme<strong>in</strong>schaftsgärten:<br />
Überall dort, wo große<br />
Monokulturen angebaut wer<strong>den</strong>, haben<br />
Sie lange Hungerzeiten oder verborgenen<br />
Hunger. Unsere Erfahrungen<br />
zeigen klar: Dort, wo es Vielfalt im<br />
<strong>Garten</strong> gibt, können sich Menschen gesund<br />
und ausreichend ernähren.<br />
Was ist Ihre Lösung, Herr Spiegel?<br />
Spiegel: Für e<strong>in</strong>e „Lösung“ sollten alle<br />
Involvierten zusammenkommen. Notwendig<br />
dafür ist: Es sollte verb<strong>in</strong>dliche<br />
Richtl<strong>in</strong>ien dafür geben, dass jedes<br />
K<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> Deutschland ebenso wie überall<br />
auf der Welt, zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e gesunde<br />
und ausgewogene Mahlzeit <strong>in</strong><br />
K<strong>in</strong>dertagesstätte oder Schule erhält.<br />
Diese Mahlzeit sollte kostenlos se<strong>in</strong>,<br />
weil jedes K<strong>in</strong>d das Recht auf e<strong>in</strong>e gesunde<br />
Ernährung hat. Außerdem fordern<br />
wir geme<strong>in</strong>sam mit Slow Food<br />
e<strong>in</strong>e agrarökologische Wende, weg<br />
von der kapital<strong>in</strong>tensiven Landwirtschaft,<br />
h<strong>in</strong> zu mehr Vielfalt und kle<strong>in</strong>eren<br />
Strukturen. Zur Ernährungswende<br />
gehört auch e<strong>in</strong>e stärker pflanzenbasierte<br />
Ernährung, sodass nicht<br />
mehr 40 bis 50 Prozent der Agrarflächen<br />
weltweit für <strong>den</strong> Anbau von<br />
Futtermitteln verwendet wer<strong>den</strong>. Und<br />
wir müssen die Lebensmittelverschwendung<br />
e<strong>in</strong>dämmen – die bei uns, weil<br />
zu viel weggeworfen wird, und die im<br />
Globalen Sü<strong>den</strong>, weil oft die Infrastruktur<br />
fehlt, um Lebensmittel zeitgerecht<br />
weiterzuverarbeiten oder zu verbrauchen<br />
und sie zu häufig zu verrotten<br />
drohen.<br />
Entwicklungszusammenarbeit steht<br />
<strong>in</strong> der Kritik. Sie sei nicht mehr zeitgemäß,<br />
heißt es: Wie sehen Sie das?<br />
Spiegel: Ich stimme zu, dass e<strong>in</strong>e Entwicklungszusammenarbeit,<br />
die paternalistische<br />
Strukturen und <strong>Ab</strong>hängigkeiten<br />
unterstützt, überwun<strong>den</strong> wer<strong>den</strong><br />
muss.<br />
Mukiibi: Richtig. E<strong>in</strong>e Entwicklungszusammenarbeit,<br />
die neokoloniale Ten<strong>den</strong>zen<br />
unterstützt, lehnen wir ab.<br />
<strong>Ab</strong>er e<strong>in</strong>e Entwicklungsarbeit, die Geme<strong>in</strong>schaften<br />
und Menschen vor Ort<br />
stärkt und sie dar<strong>in</strong> unterstützt, unabhängiger<br />
und widerstandsfähiger zu<br />
wer<strong>den</strong>, ihre Rechte e<strong>in</strong>zufordern und<br />
mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen,<br />
erleben wir als sehr hilfreich.<br />
Diese Art der Entwicklungszusammenarbeit,<br />
wie sie auch <strong>Misereor</strong> leistet,<br />
heißen wir willkommen.<br />
Edward Mukiibi ist 2022 zum <strong>in</strong>ternationalen Präsi<strong>den</strong>ten von Slow<br />
Food gewählt wor<strong>den</strong>. Zuvor war der Agrarökonom aus Uganda Stellvertreter<br />
von Slow Food-Gründer Carlo Petr<strong>in</strong>i. Der Sohn e<strong>in</strong>er Bauernfamilie<br />
gilt als e<strong>in</strong>er der e<strong>in</strong>flussreichsten Agronomen Afrikas. Es ist<br />
ihm gelungen, mit Slow Food Initiativen wie etwa dem Projekt „Gärten<br />
<strong>in</strong> Afrika“ Ugandas Landwirtschaftssektor zu reformieren und ihn nachhaltiger<br />
zu machen. <strong>Das</strong> ostafrikanische Land gilt mit se<strong>in</strong>en fruchtbaren<br />
Bö<strong>den</strong> und dem mil<strong>den</strong> Klima als Gemüsegarten Ostafrikas. Bis vor<br />
wenigen Jahren setzte die Regierung noch auf <strong>den</strong> Ausbau der <strong>in</strong>dustrialisierten<br />
Landwirtschaft, <strong>in</strong>zwischen ist Uganda e<strong>in</strong>es der wenigen<br />
Länder weltweit, die e<strong>in</strong>e agrarökologische Wende begonnen haben.<br />
26<br />
EINS<strong>2024</strong>
INFOGRAFIK<br />
Noch immer s<strong>in</strong>d viele Menschen nicht e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der Lage,<br />
genug Kalorien zu sich zu nehmen, um satt zu wer<strong>den</strong>.<br />
Kommentiert von Lutz Depenbusch,<br />
Referent für Ländliche Entwicklung bei <strong>Misereor</strong><br />
Konsum von Obst und Gemüse<br />
pro Person und Tag<br />
400 g 390 g<br />
Empfohlene<br />
Aufnahme<br />
Weltweite<br />
Produktion (2017)<br />
190 g<br />
Weltweiter Konsum<br />
Gemüse<br />
Quellen: fao.de; Harris, J. et al. (2023) – Fruits and vegetables for healthy diets<br />
81 g<br />
Weltweiter Konsum<br />
Obst<br />
Zero Hunger<br />
<strong>in</strong> weiter Ferne<br />
Die Welt hat sich das Ziel gesetzt,<br />
bis 2030 <strong>den</strong> Hunger zu besiegen.<br />
Bei der derzeitigen Entwicklung<br />
wer<strong>den</strong> jedoch 58 Länder<br />
nicht mal e<strong>in</strong> niedriges Hungerniveau<br />
erreichen.<br />
Quelle:<br />
welthunger<strong>in</strong>dex.org<br />
„Wegen fehlender Kühlung<br />
wird vieles schlecht und die Menschen<br />
<strong>in</strong> vielen Ländern können sich Obst und<br />
Gemüse nicht leisten.“<br />
Der perfekte Speiseplan, um <strong>den</strong> Planeten zu retten<br />
Der Planet leidet massiv unter unseren Essgewohnheiten. Deshalb haben<br />
Forschende e<strong>in</strong>en Speiseplan entwickelt, der die natürlichen Grenzen des Planeten<br />
berücksichtigt und e<strong>in</strong>e gesunde Ernährung aller Menschen sicherstellen will.<br />
„Ohne e<strong>in</strong> deutliches<br />
E<strong>in</strong>greifen wer<strong>den</strong><br />
im Jahr 2030 immer noch fast<br />
600 Millionen Menschen<br />
unter chronischem<br />
Hunger lei<strong>den</strong>.“<br />
IInfografik: Infotext Berl<strong>in</strong><br />
Quelle: statista.de<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
27
FAIRER HANDEL<br />
Die Nachfrage nach nachhaltig produzierten und<br />
fair gehandelten Blumen und Pflanzen wächst.<br />
<strong>Ab</strong>er die Produzenten verdienen immer noch zu wenig.<br />
Nicht nur <strong>in</strong> Afrika, sondern auch bei uns.<br />
Text von: Mart<strong>in</strong>a Hahn<br />
Foto: Aldo Pavan via Getty Images<br />
28<br />
EINS<strong>2024</strong>
Schwer liegt der Duft der Rosen über<br />
der riesigen Packhalle der Farm.<br />
<strong>Ab</strong>er Agnes Chebii hat nicht das<br />
Meer von Farben, Rot, Gelb, Rosé oder Lila<br />
im Blick. Sie konzentriert sich auf die<br />
empf<strong>in</strong>dlichen Köpfe der Blumen, die<br />
frisch geschnitten und entdornt vor ihr<br />
auf dem Pult liegen und die ihrer Familie<br />
e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>kommen sichern. Erst wenn Chebii,<br />
Teamleiter<strong>in</strong> auf der Karen-Roses-<br />
Farm <strong>in</strong> Kenia, die Blätter der Blüten geprüft<br />
hat, die hier für <strong>den</strong> Fairen Handel<br />
wachsen, wer<strong>den</strong> die Stiele im Akkordtempo<br />
auf 80 oder 40 Zentimeter gekappt, immer zwölf auf<br />
e<strong>in</strong> Stück Karton gelegt, zu e<strong>in</strong>em Bündel gerollt, mit dem<br />
Fairtrade-Etikett beklebt und auf ihre Reise nach Europa geschickt.<br />
Zwei Tage später und 6.370 Kilometer weiter nördlich<br />
zieht Katr<strong>in</strong> Jahn nache<strong>in</strong>ander neun rosa Rosen aus dem<br />
Eimer, <strong>den</strong> Strauß hat e<strong>in</strong>e Kund<strong>in</strong> geordert, sie möchte<br />
fair gehandelte Ware. Katr<strong>in</strong> Jahn hat mit zwei Freun<strong>den</strong><br />
<strong>den</strong> Blumenhandel „Marsano“ gegründet, sie beschäftigt 35<br />
Männer und Frauen und ist Fördermitglied der Slowflower-<br />
Bewegung. Auf dem Bo<strong>den</strong> und <strong>in</strong> <strong>den</strong> Glasregalen des liebevoll<br />
e<strong>in</strong>gerichteten La<strong>den</strong>s stehen Blumen <strong>in</strong> großen Vasen<br />
und Töpfen. Von der Decke hängen Trockensträuße. „Wir<br />
werfen ke<strong>in</strong>e Blumen weg, Nachhaltigkeit ist uns wichtig“,<br />
sagt Jahn. Im Sommer hat sie nur Schnittblumen vom eigenen<br />
Feld im Sortiment, Dahlien, Cosmeen, Amaranthus<br />
oder Gladiolen – aber zwischen Oktober und März bietet<br />
Jahn Blumen aus der ganzen Welt an, auch Rosen mit dem<br />
Fairtrade-Siegel. „Anders können wir im W<strong>in</strong>ter <strong>den</strong> Bedarf<br />
an Ware, auch an nachhaltiger, gar nicht stillen.“<br />
2,7 Milliar<strong>den</strong> Euro geben die Deutschen jährlich für Blumen<br />
aus. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d im Schnitt pro Kopf 35 Euro, so der Zentralverband<br />
<strong>Garten</strong>bau (ZVG). Allerd<strong>in</strong>gs kann die europäische<br />
Blumenproduktion diese<br />
Nachfrage nicht befriedigen.<br />
Blumen s<strong>in</strong>d<br />
das viertwichtigste<br />
Fairtrade-<br />
Produkt nach<br />
Kakao, Kaffee<br />
und Bananen<br />
Foto: Aldo Marsano Pavan via Getty Images<br />
Kenia ist Deutschlands zweitgrößter<br />
Lieferant für Rosen.<br />
Neun von zehn Rosen wer<strong>den</strong><br />
importiert, 1,3 Milliar<strong>den</strong> Stiele<br />
pro Jahr. Doch das blühende<br />
Geschäft mit Rosen ist häufig<br />
Katr<strong>in</strong> Jahn erntet<br />
im Sommer die Blumen<br />
für ihren La<strong>den</strong> auf zwei eigenen<br />
Feldern <strong>in</strong> Bran<strong>den</strong>burg<br />
e<strong>in</strong> schmutziges: Miserable Löhne für die Pflücker*<strong>in</strong>nen,<br />
kaputte Masken für Mitarbeitende, die im Pestizidnebel stehen,<br />
oder unbezahlte Überstun<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d auf vielen konventionell<br />
arbeiten<strong>den</strong> Blumenplantagen <strong>in</strong> Afrika und Late<strong>in</strong>amerika<br />
eher Regel als Ausnahme. Auch überdüngte Seen<br />
und kaputte Bö<strong>den</strong> rund um die meist riesigen Blumenfarmen<br />
<strong>in</strong> Übersee kratzen am Image der Rosen. Auch wegen<br />
solcher Missstände achten immer mehr Verbraucher*<strong>in</strong>nen<br />
bei Blumen und Pflanzen darauf, dass sie bio, regional oder<br />
fair erzeugt wor<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d. Inzwischen stammt jede dritte<br />
Rose, die <strong>in</strong> Deutschland über <strong>den</strong> La<strong>den</strong>tisch geht, aus e<strong>in</strong>er<br />
Fairtrade-Blumenfarm, 464 Millionen Stiele alle<strong>in</strong> im<br />
Jahr 2023, e<strong>in</strong> Umsatz von 128 Millionen Euro. Blumen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>zwischen<br />
das viertwichtigste Fairtrade-Produkt nach Kakao,<br />
Kaffee und Bananen.<br />
Auch die nachhaltige Slowflower-Bewegung hat <strong>in</strong><br />
Deutschland Zulauf: Die Gärtner*<strong>in</strong>nen und Florist*<strong>in</strong>nen<br />
bieten Blumen, Stau<strong>den</strong> und Setzl<strong>in</strong>ge vom eigenen Feld an,<br />
etliche von ihnen s<strong>in</strong>d biozertifiziert.<br />
Und die Nische wächst. Die Berl<strong>in</strong>er Florist<strong>in</strong> Jahn etwa<br />
erntet im Sommer die Blumen für ihren Marsano-La<strong>den</strong> auf<br />
zwei eigenen Feldern <strong>in</strong> Bran<strong>den</strong>burg. Sie verwendet dort<br />
Bio-Saatgut und erzeugt <strong>den</strong> Kompost selbst. Pestizide, synthetischer<br />
Dünger und Monokulturen s<strong>in</strong>d tabu. All das<br />
s<strong>in</strong>d wichtige Kriterien für die Slowflower-Bewegung, sagt<br />
Emma Auerbach, Sprecher<strong>in</strong> von Slowflower Deutschland –<br />
ebenso wie Regionalität: „Wir bauen nur an, was zu Jahreszeit<br />
und Klima passt.“ Damit verzichten etliche Slowflower-<br />
Mitglieder zwischen November und März auf e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>kommen<br />
durch Schnittblumen. Auskömmlich wirtschaften<br />
kann kaum e<strong>in</strong> Betrieb, die meisten arbeiten alle<strong>in</strong>e oder<br />
EINS<strong>2024</strong> 29
Wir bauen nur an,<br />
was zu Jahreszeit<br />
und Klima passt<br />
In e<strong>in</strong>em zertifizierten<br />
Unternehmen wer<strong>den</strong><br />
Fairtrade-Rosen für <strong>den</strong> Versand<br />
nach Europa vorbereitet<br />
zu zweit und auf weit unter e<strong>in</strong>em<br />
Hektar Land. Ihnen hilft, dass sie die<br />
Blumen im eigenen La<strong>den</strong> oder über<br />
Selbstpflückmodelle verkaufen. Damit<br />
bleibt mehr vom Verkaufspreis<br />
bei ihnen.<br />
Auch Fairtrade International (FI)<br />
hat die Menschen im Blick, die Pflanzen<br />
pflegen und ernten. Seit 2002 zertifiziert<br />
die Dachorganisation im Globalen<br />
Sü<strong>den</strong> Farmunternehmen, die<br />
Rosen züchten. Nach <strong>den</strong> FI-Richtl<strong>in</strong>ien<br />
arbeiten weltweit 73 Blumen-Zu-<br />
Auf der Fiduga- Blumenfarm<br />
<strong>in</strong> Uganda<br />
wer<strong>den</strong> Setzl<strong>in</strong>ge für<br />
lieferer mit 71.000 Arbeiter*<strong>in</strong>nen.<br />
die Niederlande produziert.<br />
Umliegende<br />
<strong>Das</strong> bedeutet: Die Farm darf ke<strong>in</strong>e<br />
K<strong>in</strong>der beschäftigen. Sie muss feste<br />
Farmer beklagen <strong>den</strong><br />
hohen Pestizidausstoß<br />
und Wasserschaften<br />
zulassen und Frauen för-<br />
Arbeitsverträge ausstellen, Gewerkknappheitdern.<br />
E<strong>in</strong>e Fairtrade-Farm muss das<br />
Regenwasser auffangen, Brauchwasser<br />
filtern, die Rosen per Tröpfchen bewässern, <strong>Ab</strong>fälle kompostieren<br />
und <strong>den</strong> E<strong>in</strong>satz von Pestizi<strong>den</strong> reduzieren. Dafür<br />
darf die Karen-Roses-Farm an je<strong>den</strong> Stängel das blau-grüne<br />
Siegel anbr<strong>in</strong>gen.<br />
Für die Arbeiter<strong>in</strong>nen wie Agnes Chebii bedeutet das Siegel<br />
auf <strong>den</strong> Rosen zudem, dass sie <strong>in</strong> Kenia aufgrund des<br />
von Fairtrade auf Blumenfarmen e<strong>in</strong>geführten Basis-Lohns<br />
mehr Geld bekommen als jene, die <strong>in</strong> Kenia auf e<strong>in</strong>er nicht<br />
zertifizierten Farm arbeiten. Doch trotz besserer Bed<strong>in</strong>gungen<br />
liegt auch Chebiis Monatslohn<br />
nur 35 Prozent über der Armutsgrenze,<br />
e<strong>in</strong> existenzsichernder<br />
Lohn läge dreimal so hoch.<br />
„Wir wissen, dass die Blumenarbeiter<strong>in</strong>nen<br />
mehr verdienen müssten“,<br />
räumt Claudia Brück e<strong>in</strong>, sie sitzt<br />
im Vorstand von Fairtrade Deutschland.<br />
„Deswegen müssen die Blumen<br />
bei uns teurer wer<strong>den</strong>.“<br />
S<strong>in</strong>d angesichts dieser globalen<br />
Lieferketten nur regional produzierte<br />
Blumen oder andernfalls<br />
der Verzicht auf gekaufte Blumen<br />
wirklich nachhaltig? Ne<strong>in</strong>, sagt<br />
Klaus Piepel, bis 2020 Afrikareferent von <strong>Misereor</strong> und heute<br />
Aufsichtsrat von Fairtrade Deutschland. „Wer nur konsumiert,<br />
was die Natur <strong>in</strong> der eigenen Region zur Verfügung<br />
stellt, nimmt h<strong>in</strong>, dass Leute im Globalen Sü<strong>den</strong> ke<strong>in</strong> E<strong>in</strong>kommen<br />
durch bestimmte Produkte haben oder dieses E<strong>in</strong>kommen<br />
verlieren.“ Deutschland exportiere Agrarprodukte<br />
und Fleisch <strong>in</strong> alle Welt. „Den Ländern<br />
im Globalen Sü<strong>den</strong> jetzt vorzuschreiben,<br />
dasselbe bitteschön<br />
se<strong>in</strong> zu lassen, weil es dem Klima<br />
schade oder Blumen re<strong>in</strong>er Luxus<br />
seien, ist sche<strong>in</strong>heilig.“<br />
Fair erzeugte Blumen und<br />
Topfpflanzen aus Übersee erkennen<br />
Sie am Fairtrade-Siegel, dessen Entwicklung<br />
von <strong>Misereor</strong> mit unterstützt wurde:<br />
www.fairtrade-deutschland.de<br />
Anbieter für nachhaltige Schnittblumen<br />
aus hiesigem Anbau f<strong>in</strong><strong>den</strong> sich unter:<br />
www.slowflower-bewegung.de<br />
Mart<strong>in</strong>a Hahn ist freie Journalist<strong>in</strong> aus Berl<strong>in</strong>. Seit 20 Jahren recherchiert sie<br />
weltweit zu <strong>den</strong> Themen Fairer Handel und nachhaltiger Konsum.<br />
Fotos: Hartmut Fiebig (o.), Hartmut Schwarzbach (u.)<br />
30<br />
EINS<strong>2024</strong>
DEUTSCHLAND<br />
<strong>Das</strong> Ökodorf Sieben<br />
L<strong>in</strong><strong>den</strong> produziert<br />
e<strong>in</strong>en Großteil<br />
se<strong>in</strong>er Lebensmittel<br />
selbst<br />
Text von Annette Jensen<br />
Fotos von Kathr<strong>in</strong> Harms<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
31
Pestizid-E<strong>in</strong>satz<br />
wird im Ökodorf<br />
vermie<strong>den</strong>: Kapuz<strong>in</strong>erkresse<br />
und Tagetes<br />
schützen das Gemüse<br />
vor Nemato<strong>den</strong> und<br />
Läusen<br />
Ökodorf Sieben<br />
L<strong>in</strong><strong>den</strong>: Früher war hier e<strong>in</strong><br />
riesiger, konventionell bewirtschafteter<br />
Getreideacker<br />
In e<strong>in</strong>er dünn besiedelten Gegend 50 Kilometer nordöstlich<br />
von Wolfsburg liegt das Ökodorf Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong>. Als<br />
die ersten Bewohner*<strong>in</strong>nen vor e<strong>in</strong>em Vierteljahrhundert<br />
ihre Häuser <strong>in</strong> Stroh-Lehmbauweise errichteten, war<br />
das ganze Gelände e<strong>in</strong> riesiger, konventionell bewirtschafteter<br />
Getreideacker mit angrenzendem Kiefernwald. Heute<br />
wachsen auf schmalen Feldstreifen dicht an dicht pralle Salatköpfe,<br />
üppige Grünkohlbüsche, Rote Bete und Zuckerhut.<br />
„Durch <strong>den</strong> engen Anbau entsteht e<strong>in</strong> Mikroklima zwischen<br />
<strong>den</strong> Pflanzen. So kann der Bo<strong>den</strong> das Wasser besser halten",<br />
beschreibt Lorena Castro e<strong>in</strong> Element der hier praktizierten<br />
hocheffizienten Anbaumethode, die ke<strong>in</strong>e schweren Masch<strong>in</strong>en<br />
nutzt und Dutzende Gemüsesorten auf wenig Raum<br />
kultiviert.<br />
Die 27-Jährige stammt aus Mexiko. Ihr ist wichtig zu demonstrieren,<br />
dass Selbstversorgung möglich ist. „Deutschland<br />
ist es gewohnt, e<strong>in</strong>en Großteil der Lebensmittel zu importieren<br />
auf Kosten von Menschen anderswo“, sagt die<br />
kle<strong>in</strong>e, energiegela<strong>den</strong>e Frau mit dem Strohhut. Sie verweist<br />
auf <strong>den</strong> Weltklimarat. Der führt e<strong>in</strong> Drittel der Erderwärmung<br />
auf das aktuelle Ernährungssystem zurück und<br />
empfielt für die Zukunft weniger tierische Produkte, Saisonalität,<br />
Regionalität und Vielfalt.<br />
Tatsächlich landet alles, was Castro und ihre bei<strong>den</strong> Kolleg<strong>in</strong>nen<br />
mit Unterstützung zahlreicher Freiwilliger auf<br />
dem drei Hektar großen <strong>Garten</strong>gelände ernten, <strong>in</strong> Kochtöpfen,<br />
Salatschüsseln und E<strong>in</strong>machgläsern <strong>in</strong> fußläufiger Entfernung.<br />
Die 150-köpfige Dorfgeme<strong>in</strong>schaft ernährt sich<br />
und die zahlreichen Gäste zum allergrößten Teil mit eigenem<br />
Gemüse, Brot, Müsli und Nudeln. Öle und e<strong>in</strong>ige andere<br />
Produkte wie Kaffee wer<strong>den</strong> zugekauft.<br />
Markus Wolter, Referent für Landwirtschaft und Ernährung<br />
bei <strong>Misereor</strong>, kennt Anbaupraktiken auf fast allen<br />
Kont<strong>in</strong>enten und war auch mehrfach <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong>. <strong>Das</strong><br />
<strong>in</strong> der sachsen-anhalt<strong>in</strong>ischen Prov<strong>in</strong>z praktizierte Marktgartenkonzept<br />
hält der Diplomgeograf für beispielhaft<br />
32<br />
EINS<strong>2024</strong>
Durch <strong>den</strong> engen<br />
Anbau entsteht<br />
e<strong>in</strong> Mikroklima<br />
zwischen <strong>den</strong> Pflanzen.<br />
So kann der<br />
Bo<strong>den</strong> das Wasser<br />
besser halten.<br />
dafür, wie sich die gesamte Menschheit gut und planetenfreundlich<br />
versorgen ließe. „Es gibt heute im<br />
Allgeme<strong>in</strong>en genug Essenskalorien für alle; der<br />
Hunger ist unter anderem e<strong>in</strong>e Folge von Kriegen<br />
und ungerechter Verteilung – niemand müsste hungern“,<br />
fasst Wolter zusammen. Doch Reis, Soja, Weizen<br />
und andere lagerfähige Lebensmittel reichen alle<strong>in</strong><br />
nicht für e<strong>in</strong>e ausgewogene Ernährung. Dafür<br />
müsste weltweit viel mehr Gemüse produziert wer<strong>den</strong><br />
– und das sollte dann auch aus der jeweiligen<br />
Umgebung kommen und ökologisch erzeugt wer<strong>den</strong>,<br />
um frisch auf <strong>den</strong> Tellern zu lan<strong>den</strong>.<br />
Lorena Castro ist <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> für vier Gewächshäuser<br />
und die Gemüseanzucht verantwortlich.<br />
Tomatenpflanzen recken sich bis zum Dach, <strong>in</strong><br />
<strong>den</strong> Reihen dazwischen kauern üppige Basilikumbüschel,<br />
Paprika- und Auberg<strong>in</strong>enstau<strong>den</strong>. Hier und da<br />
leuchten die orangefarbenen Blüten von Kapuz<strong>in</strong>erkresse<br />
und Tagetes. <strong>Das</strong> erfreut nicht nur das Auge,<br />
sondern schützt auch das Gemüse vor Nemato<strong>den</strong><br />
und Läusen. „Wir geben <strong>den</strong> Tieren was zu fressen,<br />
damit sie nicht auf unsere Hauptkulturen gehen“,<br />
erklärt die Gärtner<strong>in</strong>, während sie durch die Reihen<br />
streift und rasch e<strong>in</strong> paar Tomatentriebe ausgeizt.<br />
Die vorhan<strong>den</strong>e Bo<strong>den</strong>qualität war hier sehr<br />
schlecht, e<strong>in</strong> Problem, mit dem die Gegend <strong>in</strong> Sachsen-Anhalt<br />
ke<strong>in</strong>eswegs alle<strong>in</strong>e dasteht.<br />
In vielen Weltregionen hat die „grüne Revolution“ durch<br />
hohen Pestizide<strong>in</strong>satz und Monokulturen die Bö<strong>den</strong> ausgelaugt.<br />
„Knapp e<strong>in</strong> Viertel der Bö<strong>den</strong> weltweit s<strong>in</strong>d heute<br />
degradiert – Ten<strong>den</strong>z steigend“, bilanziert Markus Wolter.<br />
Schrumpft der Humusgehalt, hält der Bo<strong>den</strong> auch weniger<br />
Wasser. <strong>Das</strong> ist fatal <strong>in</strong> Zeiten steigender Temperaturen<br />
und zunehmender Dürrephasen.<br />
Um dem entgegenzuwirken, lässt das <strong>Garten</strong>-Team <strong>in</strong> Sieben<br />
L<strong>in</strong><strong>den</strong> bei der Ernte die schlappen Außenblätter liegen<br />
und die Wurzeln im Bo<strong>den</strong>. Dann kommt für drei bis vier<br />
Es gibt zahlreiche<br />
Tomatenpflanzen:<br />
Tröpfchen-Bewässerung<br />
hilft, das knappe<br />
Wasser möglichst<br />
effektiv e<strong>in</strong>zusetzen,<br />
die Erde wird mit<br />
Blättern abgedeckt<br />
Lorena Castro ist <strong>in</strong><br />
Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> für vier<br />
Gewächshäuser und die Gemüseanzucht<br />
verantwortlich<br />
Wochen e<strong>in</strong>e dunkle Plane über das feuchte Feld. Milliar<strong>den</strong><br />
von Mikroorganismen, Würmer und Pilze haben jetzt<br />
Ruhe, die Reste <strong>in</strong> Humus zu verwandeln. Sofort danach erfolgt<br />
die nächste Pflanzung: Zu ke<strong>in</strong>em Zeitpunkt ist der Bo<strong>den</strong><br />
nackt Sonne und W<strong>in</strong>d ausgesetzt. Tröpfchenbewässerung<br />
hilft, das knappe Wasser gleichmäßig zu verteilen<br />
und möglichst effektiv e<strong>in</strong>zusetzen.<br />
<strong>Misereor</strong>-Partner haben viel Erfahrung mit Bo<strong>den</strong>-Regeneration<br />
durch Kompostdüngung und anderen agarökologischen<br />
Metho<strong>den</strong>, die Kohlenstoff <strong>in</strong> der Erde b<strong>in</strong><strong>den</strong> und<br />
das Bo<strong>den</strong>leben fördern. „Intensiver Gemüsebau geht kaum<br />
ohne tierisches Material wie Mist, Schafwoll- oder Hornpellets“,<br />
ist Wolter überzeugt. <strong>Das</strong> sieht auch Uga Wolf so, der<br />
vor 25 Jahren <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> auf e<strong>in</strong>em Hektar Land Obstbaumreihen<br />
im <strong>Ab</strong>stand von zwölf Metern gepflanzt hat.<br />
Sternrenette, Kaiser Wilhelm, Herbstpr<strong>in</strong>z und Holste<strong>in</strong>er<br />
Cox – se<strong>in</strong>e Baumschule hat <strong>in</strong>zwischen über 500 verschie<strong>den</strong>e<br />
Apfel- und Birnensorten im Angebot. Dazwischen ge-<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
33
deihen Zucch<strong>in</strong>i, Kürbisse, Tomaten und Mais, die Wolf an<br />
<strong>den</strong> Dorfla<strong>den</strong> verkauft.<br />
Wolf entwickelte e<strong>in</strong>e Komposttechnik, bei der er alle<br />
zwei Wochen e<strong>in</strong>en langen Haufen um zwei Meter verlängert.<br />
Neben Grünschnitt und Fallobst arbeitet er auch Pferdemist<br />
e<strong>in</strong>es benachbarten Betriebs mit e<strong>in</strong>. „Dafür haben<br />
wir hier zu viele Veganer, eigentlich<br />
gehören mehr Tiere <strong>in</strong> die<br />
Landwirtschaft“, me<strong>in</strong>t er. <strong>Das</strong>s<br />
Der Weltklimarat<br />
führt e<strong>in</strong><br />
Drittel der Erderwärmung<br />
auf das aktuelle<br />
Ernährungssystem<br />
zurück<br />
das Marktgarten-Team Kompost<br />
aus e<strong>in</strong>er Anlage bei Hamburg antransportieren<br />
lässt, missfällt ihm.<br />
<strong>Ab</strong>er <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> haben unterschiedliche<br />
Metho<strong>den</strong> Platz. Alle<br />
e<strong>in</strong>t der Wunsch, e<strong>in</strong> gutes Leben<br />
ohne Überschreitung der planetaren<br />
Grenzen führen zu wollen.<br />
<strong>Ab</strong>nehmer und Verteiler der gesamten<br />
Gemüseernte <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong><br />
ist der La<strong>den</strong>. E<strong>in</strong>en Teil deponieren<br />
die Mitarbeiten<strong>den</strong> im e<strong>in</strong>zigen<br />
unterkellerten Altbau im<br />
Dorf. Hier gibt es zahlreiche Fächer<br />
mit mäusesicheren Gittern, aus <strong>den</strong>en sich alle das nehmen<br />
können, was sie brauchen und mögen. Auch e<strong>in</strong>e große Auswahl<br />
von Pasten, Marmela<strong>den</strong> und E<strong>in</strong>gelegtem ist hier zu<br />
f<strong>in</strong><strong>den</strong>. Der andere Teil geht an die Geme<strong>in</strong>schaftsküche,<br />
E<strong>in</strong>ige junge Leute<br />
haben sich <strong>in</strong> Bauwagen mit<br />
politischen Botschaften um<br />
Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> angesiedelt<br />
Immer wieder<br />
helfen Gäste und<br />
Freiwillige bei<br />
der Ernte oder bei<br />
<strong>den</strong> E<strong>in</strong>machwochen<br />
im Sommer<br />
und Herbst<br />
die je<strong>den</strong> Mittag und <strong>Ab</strong>end etwa 60 Portionen für die Bewohnerschaft<br />
zubereitet und auch die Sem<strong>in</strong>arteilnehmen<strong>den</strong><br />
versorgt.<br />
Reste wer<strong>den</strong> kreativ <strong>in</strong> <strong>den</strong> Essensplan vom Folgetag e<strong>in</strong>gebaut.<br />
„Wir kochen mit dem, was gerade verfügbar ist“, erzählt<br />
Tatjana Schubert. Sie wohnt e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>ute vom Regiohaus<br />
entfernt und schaut frühmorgens nach, was die Kolleg*<strong>in</strong>nen<br />
vom La<strong>den</strong> ihr <strong>in</strong>s Fach gelegt haben, damit sie es<br />
vordr<strong>in</strong>glich verarbeitet. Dann checkt sie, wie viele Gäste<br />
und Unterstützende zu erwarten s<strong>in</strong>d und entscheidet sich<br />
für zwei oder drei Gerichte. Gemüse ist immer die Basis,<br />
komb<strong>in</strong>iert mit etwas Eiweißhaltigem wie L<strong>in</strong>sen, Erbsen<br />
oder Soja und Kohlenhydraten aus Kartoffeln oder Getreide.<br />
Schritt für Schritt ist die Infrastruktur <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong><br />
gewachsen, die <strong>Ab</strong>läufe s<strong>in</strong>d bestens e<strong>in</strong>gespielt. Im Sommer<br />
und Herbst gibt es E<strong>in</strong>machwochen. In der dafür e<strong>in</strong>gerichteten<br />
Küche produzieren Mitglieder aus der Geme<strong>in</strong>schaft<br />
und Gäste unter Anleitung Sauerkraut, Pesto, Brotaufstriche,<br />
Marmela<strong>den</strong> und süß-saure Zucch<strong>in</strong>i.<br />
„Es geht nicht darum Geld zu sparen, sondern<br />
alles zu verarbeiten, was hier wächst“, sagt Schubert,<br />
für die schon als K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> großer Nutzgarten<br />
zum Leben gehörte. Sp<strong>in</strong>at, Hirschhorn- und<br />
Schnittsalat gibt es dank kluger Anbauplanung <strong>in</strong><br />
der kalten Jahreszeit ebenfalls.<br />
Damit entspricht die Ernährung <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong><br />
schon stark dem, was 37 Wissenschaftler*<strong>in</strong>nen<br />
aus aller Welt vor fünf Jahren als Planetary<br />
Health Diet empfohlen haben: E<strong>in</strong> Speiseplan, der<br />
sowohl der menschlichen Gesundheit dient als<br />
auch die planetaren Belastungsgrenzen respektiert<br />
und zur Artenvielfalt beiträgt. Allerd<strong>in</strong>gs unterschei<strong>den</strong><br />
sich die weltweiten Esskulturen stark.<br />
Während die höheren Kasten <strong>in</strong> Indien traditionell<br />
nur pflanzliche Kost zu sich nehmen und<br />
Fleisch e<strong>in</strong> eher negatives Image hat, ist die Auswahl<br />
an Gemüse <strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika oft begrenzt.<br />
„Dort leben bis zu 70 Prozent der Menschen <strong>in</strong><br />
Städten und dort gibt es oft wenig Platz, um Frisches<br />
anzubauen“, erklärt Wolter. So ist die<br />
Küche <strong>in</strong> Bolivien extrem kohlenhydrat- und<br />
fleischlastig, weil viele nicht mehr kochen und<br />
sich lieber schnell e<strong>in</strong> frittiertes Hähnchen und<br />
34<br />
EINS<strong>2024</strong>
Die Geme<strong>in</strong>schaftsküche<br />
versorgt<br />
je<strong>den</strong> Mittag<br />
und <strong>Ab</strong>end die<br />
Bewohner mit 60<br />
Essens-Portionen<br />
Reis, Soja und<br />
Weizen alle<strong>in</strong><br />
reichen nicht für<br />
e<strong>in</strong>e ausgewogene<br />
Ernährung<br />
Pommes kaufen. Und<br />
wenn Gemüse angeboten<br />
wird, dann stammt<br />
dieses aus e<strong>in</strong>er Produktion<br />
mit viel Pestizi<strong>den</strong><br />
und belastetem Wasser.<br />
Dieses Problem versuchen<br />
<strong>Misereor</strong>-Projektpartner<br />
<strong>in</strong> der auf 4.000<br />
Meter Höhe liegen<strong>den</strong><br />
Großstadt El Alto durch Gewächshäuser anzugehen. Dar<strong>in</strong><br />
gedeihen nun auf engstem Raum bis zu 40 Kulturen, die <strong>in</strong>zwischen<br />
auf das Interesse der Stadtbevölkerung stoßen<br />
und damit auch die Esskultur verändern und zeigen, dass<br />
gesunde Ernährung möglich ist.<br />
Mit <strong>den</strong> Jahren wur<strong>den</strong> <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> immer mehr<br />
Bäume und Hecken gepflanzt, als W<strong>in</strong>dschutz und Schattenspender.<br />
Bei alldem geht es um weit mehr als um die<br />
Produktion und <strong>den</strong> Konsum von Nahrungsmitteln, es geht<br />
auch ums Wohlbef<strong>in</strong><strong>den</strong>. Irma Fäthke, die älteste Bewohner<strong>in</strong><br />
von Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong>, lebt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bauwagen und ist<br />
überzeugt, e<strong>in</strong> Luxusdase<strong>in</strong> zu führen. Während sie durchs<br />
Dorf bummelt und Kräuter für Smoothies und T<strong>in</strong>kturen<br />
sammelt, hört sie das Lachen e<strong>in</strong>es Grünspechts. „Früher<br />
war es hier total öde und ich habe mich gefragt, ob wir jemals<br />
Früchte ernten wer<strong>den</strong>“, sagt sie, während sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />
Baum voll reifer Birnen blickt. Auch freut sie sich, dass sich<br />
gerade mehrere junge Menschen<br />
<strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> angesiedelt<br />
haben, die sich<br />
politisch engagieren und<br />
mit <strong>den</strong>en sie viel diskutiert.<br />
E<strong>in</strong>er hat weit sichtbar<br />
e<strong>in</strong> Plakat aufgehängt:<br />
„Up with trees, down with<br />
capitalism.“ <strong>Das</strong> f<strong>in</strong>det Irma<br />
Fäthke gut.<br />
Annette Jensen ist freie Autor<strong>in</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und schreibt seit 25 Jahren über<br />
Wirtschaft, Umwelt und Transformation.<br />
Kathr<strong>in</strong> Harms arbeitet und lebt mitten im Großstadtdschungel Berl<strong>in</strong>. Als<br />
Fotograf<strong>in</strong> taucht sie tief e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die verschie<strong>den</strong>sten Ökosysteme der Welt.<br />
Foto: Reuters<br />
Gemüseparadies Paris<br />
E<strong>in</strong> Gemüsegarten<br />
auf dem Dach der Bastille-<br />
Oper: Früher war Paris e<strong>in</strong><br />
Zentrum des Gemüseanbaus<br />
Mitte der 19. Jahrhunderts war Paris e<strong>in</strong> Zentrum des<br />
Gemüseanbaus. E<strong>in</strong>ige tausend Gärtner und Gärtner<strong>in</strong>nen<br />
im Stadtgebiet produzierten genug, um die gesamte<br />
Bevölkerung der Metropole mit vitam<strong>in</strong>reicher,<br />
frischer Kost zu versorgen. <strong>Das</strong> ausgeklügelte Marktgartensystem<br />
fand auf M<strong>in</strong>ifarmen statt, die durchschnittlich<br />
5.000 bis 10.000 Quadratmeter groß waren<br />
und sechs Prozent des Stadtgebiets belegten.<br />
Die Gärtner<strong>in</strong>nen und Gärtner orientierten sich am Bedarf<br />
ihrer Kun<strong>den</strong> und erstellten exakte Anbaupläne<br />
fürs gesamte Jahr. Sechs Ernten waren üblich, auf<br />
manchen Feldabschnitten wuchsen sogar noch mehr<br />
Kulturen nache<strong>in</strong>ander. Die Gemüsegärtner pflanzten<br />
sehr dicht, um <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong> rasch zu verdunkeln und so<br />
das Sprießen von Unkraut zu verh<strong>in</strong>dern. Außerdem<br />
entsteht dadurch e<strong>in</strong> Mulcheffekt, der <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong> länger<br />
feucht hält. Im W<strong>in</strong>ter stülpten sie Glasglocken<br />
über die Pflanzen, um die Sonnenwärme zu halten.<br />
E<strong>in</strong> zentraler Produktionsfaktor war das <strong>Ab</strong>fallprodukt<br />
des damaligen Verkehrssystems: Pferdemist. Damit<br />
fütterten die Gärtner<strong>in</strong>nen und Gärtner das Bo<strong>den</strong>leben<br />
und hielten die Fruchtbarkeit aufrecht. Doch<br />
die Motorisierung machte dem ganzen System e<strong>in</strong><br />
Ende. Asphaltpisten verdrängten die üppigen Gärten,<br />
Lkw br<strong>in</strong>gen heute Gemüse aus fernen Regionen.<br />
Inzwischen aber geht es <strong>in</strong> Paris wieder <strong>in</strong> die umgekehrte<br />
Richtung. Bürgermeister<strong>in</strong> Anne Hidalgo hat<br />
nicht nur zahlreiche Parkplätze <strong>in</strong> Parks umwandeln<br />
lassen, sondern fördert auch <strong>in</strong>tensiv <strong>den</strong> Gemüseanbau<br />
auf Dächern und an Fassa<strong>den</strong>.<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
35
PHILIPPINEN<br />
Tangkoy Domulot ist Stammesvertreter<br />
der <strong>in</strong>digenen M<strong>in</strong>derheit der Aeta.<br />
Mit Agroforstwirtschaft und Bildung<br />
will er se<strong>in</strong>en Nachkommen<br />
e<strong>in</strong>e gesicherte Zukunft aufbauen.<br />
Text von Constanze Bandowski<br />
Fotos von Klaus Mellenth<strong>in</strong><br />
36<br />
EINS<strong>2024</strong>
<strong>Das</strong> Essen wird <strong>in</strong><br />
Bambusrohren und<br />
Bananenblättern<br />
über dem offenen<br />
Feuer gegart, so haben<br />
es die Vorfahren<br />
getan, ohne Töpfe,<br />
Plastik oder <strong>Ab</strong>fall<br />
E<strong>in</strong>ige D<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d für Tangkoy Domulot<br />
glasklar: „Sonntag gehört der Familie“,<br />
sagt der 57-jährige Filip<strong>in</strong>o mit <strong>in</strong>digenen<br />
Wurzeln. „Sonntags pflegen wir unsere traditionellen<br />
Bräuche.“ Die kommen unter der Woche<br />
zu kurz, <strong>den</strong>n die Männer arbeiten als Tagelöhner<br />
auf <strong>den</strong> Reisfeldern oder auf dem Bau, die<br />
Frauen gehen putzen und die K<strong>in</strong>der lernen <strong>in</strong><br />
der Schule. „Wir müssen unsere Kultur bewahren<br />
und unsere Geme<strong>in</strong>schaft stärken, sonst<br />
gehen wir unter“, me<strong>in</strong>t der Stammesführer der <strong>in</strong>digenen<br />
M<strong>in</strong>derheit der Aeta. Also hat der siebenfache Vater und<br />
fünffache Großvater im Morgengrauen se<strong>in</strong>en Len<strong>den</strong>schurz<br />
umgebun<strong>den</strong>, die<br />
Kette mit <strong>den</strong> drei Wildschwe<strong>in</strong>zähnen<br />
um <strong>den</strong> Hals<br />
„Wir müssen<br />
unsere Kultur<br />
bewahren und<br />
unsere Geme<strong>in</strong>schaft<br />
stärken,<br />
sonst gehen<br />
wir unter.“<br />
gehängt, Pfeil und Bogen ergriffen<br />
und drei Vögel erlegt.<br />
Se<strong>in</strong>e Frau Nenita hat trockene<br />
Zweige gesammelt. Geme<strong>in</strong>sam<br />
entfachen sie nun<br />
das Feuer auf dem Hügel<br />
oberhalb ihrer Siedlung. Im<br />
Schatten hoher Mangobäume<br />
hat sich die Großfamilie<br />
Domulot auf ihrem Feld versammelt.<br />
Die Mädchen waschen<br />
Wäsche, die Jungs<br />
plantschen im klaren Bergwasser,<br />
die Frauen ernten<br />
Taro-Wurzeln, Ingwer, Süßkartoffeln, Chili und knackige<br />
Flügelbohnen. <strong>Das</strong> Ältestenpaar gart das Mahl <strong>in</strong> Bambusrohren<br />
und Bananenblättern über dem offenen Feuer, so<br />
wie es ihre Vorfahren jahrhundertelang getan<br />
haben, ohne Töpfe, Plastik oder <strong>Ab</strong>fall.<br />
Tangkoy Domulot weiß, wie wichtig e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>takte<br />
Natur ist, <strong>in</strong>sbesondere für <strong>in</strong>digene Geme<strong>in</strong>schaften.<br />
„Als K<strong>in</strong>d g<strong>in</strong>g ich noch regelmäßig<br />
mit me<strong>in</strong>em Vater jagen“, er<strong>in</strong>nert sich<br />
der kle<strong>in</strong>e, muskulöse Mann mit kurzgeschorenem<br />
Haar und ergrauten Bartstoppeln an die<br />
1970er Jahre. In <strong>den</strong> dichten Wäldern ihrer angestammten<br />
Territorien an <strong>den</strong> Ausläufern des<br />
Vulkans P<strong>in</strong>atubo rund 200 Kilometer nordwestlich der<br />
Hauptstadt Manila lebten die Aeta von und mit der Natur.<br />
Sie fischten und jagten, sammelten Früchte, Beeren und<br />
Wurzelgemüse. „Wir hatten alles, was wir brauchten“, sagt<br />
Tangkoy Domulot. Bis Holzfirmen <strong>in</strong> ihre Wälder e<strong>in</strong>drangen<br />
und die nationale Ölgesellschaft Probelöcher <strong>in</strong> ihre<br />
heilige Erde bohrte.<br />
Um ihre Rechte als <strong>in</strong>digene M<strong>in</strong>derheit zu verteidigen,<br />
organisierten sich die Familien 1982 <strong>in</strong> das Bündnis LAKAS.<br />
Die <strong>Ab</strong>kürzung bedeutet „<strong>Das</strong> wahre Bündnis der Indigenen<br />
Aeta aus Zambales“. Unterstützt wur<strong>den</strong> sie von Franziskaner<strong>in</strong>nen<br />
und <strong>Misereor</strong>s Partnerorganisation PREDA (Peoples<br />
Recovery Empowerment and Development Assistance).<br />
Die katholischen Schwestern brachten ihnen lesen, schreiben<br />
und die philipp<strong>in</strong>ische Sprache Tagalog bei. Geme<strong>in</strong>sam<br />
mit der Menschen- und K<strong>in</strong>derrechtsorganisation PRE-<br />
DA klärten sie die Indigenen über ihre Rechte auf.<br />
Als der Vulkan P<strong>in</strong>atubo am 15. Juni 1991 ausbrach, legte<br />
er die Heimat der Aeta <strong>in</strong> Schutt und Asche. „Wir mussten<br />
fliehen und verloren alles“, sagt Tangkoy Domulot. In <strong>den</strong><br />
Evakuierungslagern und Städten des Tieflands erfuhr der<br />
junge Vater mit se<strong>in</strong>er Familie schwere Diskrim<strong>in</strong>ierungen.<br />
„Die Tiefländer dachten, wir seien dumm und wür<strong>den</strong> stehlen.“<br />
Erst als der Staat<br />
ihnen e<strong>in</strong> Jahr später ihr<br />
heutiges Siedlungsgebiet<br />
Leben mit der<br />
Natur: Die Familien<br />
waschen<br />
und plantschen<br />
im klaren Bergwasser<br />
Bei <strong>den</strong> Dorffesten<br />
lehren die Alten <strong>den</strong> Jungen<br />
die traditionellen Tänze,<br />
Lieder und Rituale<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
37
auf der grünen Wiese zuwies, kam die Geme<strong>in</strong>schaft etwas<br />
zur Ruhe. <strong>Misereor</strong> f<strong>in</strong>anzierte die ersten 150 Häuser und<br />
<strong>den</strong> Start für e<strong>in</strong> neues Leben. Mit dem Geld verteilte PREDA<br />
Mangosetzl<strong>in</strong>ge und andere Obstbäume, die <strong>den</strong> Aeta heute<br />
Schatten, Schutz und Nahrung liefern, schulte sie <strong>in</strong> ökologischem<br />
Gemüseanbau und stärkte<br />
sie <strong>in</strong> ihren Rechten. So erhielt Lakas<br />
als erste Aeta-Geme<strong>in</strong>schaft 1993 e<strong>in</strong>en<br />
offiziellen Landtitel für die sieben<br />
Hektar große Siedlung und 43 Hektar<br />
landwirtschaftlicher Nutzflächen.<br />
Heute leben 286 Familien <strong>in</strong> LAKAS<br />
unter mächtigen Mangobäumen, Bananenstau<strong>den</strong><br />
und Büschen. Es gibt<br />
e<strong>in</strong> Kulturzentrum, e<strong>in</strong>e Bücherei, e<strong>in</strong>e<br />
Krankenstation, e<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dergarten,<br />
e<strong>in</strong>e Grundschule und seit 2013<br />
e<strong>in</strong>e weiterführende Schule mit eigenem<br />
Lehrplan. Die ersten Aeta haben studiert und arbeiten<br />
als Lehrer<strong>in</strong>nen, Sozialarbeiter oder Anwält<strong>in</strong>nen, doch die<br />
meisten Familien ernähren sich nach wie vor von kle<strong>in</strong>bäuerlicher<br />
Landwirtschaft und schlecht bezahlten Hilfsjobs.<br />
Immerh<strong>in</strong> bauen sie dank <strong>Misereor</strong>s Unterstützung gesunde<br />
Nahrungsmittel an. „Bildung ist das E<strong>in</strong>zige, was wir un-<br />
„Jeder Mango-<br />
Baum bedeutet<br />
Leben, <strong>den</strong>n er<br />
erhöht die Produktion.“<br />
Durch das Aufforstungsprojekt<br />
konnten sechs<br />
junge Mangobäume gepflanzt<br />
wer<strong>den</strong><br />
seren K<strong>in</strong>dern mitgeben können“, weiß Tangkoy Domulots.<br />
„Sie kann uns ke<strong>in</strong>er nehmen.“<br />
Er selbst hat viel von PREDA gelernt. „Ich b<strong>in</strong> zwar ke<strong>in</strong><br />
Mangobauer aus dem Fairtrade-Projekt, aber ich stelle jetzt<br />
me<strong>in</strong>en eigenen Biodünger her und wende ke<strong>in</strong>e Chemie<br />
an.“ Gegen Insekten braut er e<strong>in</strong>en Sud aus Chili, Ingwer<br />
und Knoblauch. Auf se<strong>in</strong>em Feld hat er <strong>in</strong>zwischen mehr<br />
als 30 Mangobäume. Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem Jahr hat er durch das<br />
Aufforstungsprojekt „Mango Tango“ von <strong>Misereor</strong> und dem<br />
Tatort-Vere<strong>in</strong> sechs junge Mangobäume, e<strong>in</strong>e behaarte Litschi<br />
und zwei philipp<strong>in</strong>ische Limonen gepflanzt. Heute sollen<br />
fünf weitere Mangobäume h<strong>in</strong>zukommen. „Jeder Baum<br />
bedeutet Leben, <strong>den</strong>n er erhöht me<strong>in</strong>e Produktion“, sagt<br />
Tangkoy Domulot und gräbt mit e<strong>in</strong>em Spaten e<strong>in</strong> tiefes<br />
Loch <strong>in</strong> die rote Erde.<br />
„Wir wollen, dass unsere K<strong>in</strong>der stolz auf ihre Wurzeln<br />
s<strong>in</strong>d“, sagt Tangkoy Domulot. Dafür vertritt er se<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft<br />
selbstbewusst <strong>in</strong> <strong>den</strong> lokalen Gremien, nimmt<br />
an <strong>in</strong>digenen Netzwerktreffen teil und trägt dabei grundsätzlich<br />
se<strong>in</strong>e traditionelle Kluft. Damit die alten Bräuche nicht<br />
verloren gehen, gibt es neben dem Familiensonntag speziellen<br />
Kulturunterricht für die K<strong>in</strong>der. Auch bei <strong>den</strong> Dorffesten<br />
lehren die Alten <strong>den</strong> Jungen die traditionellen Tänze,<br />
Lieder und Rituale. „Unsere K<strong>in</strong>der sollen rausgehen und<br />
studieren“, me<strong>in</strong>t Tangkoy Domulot. <strong>Ab</strong>er sie sollen auch<br />
gerne zurückkommen. Damit sie genug zu essen haben,<br />
pflanzt er weiter Mangobäume und andere Obstsorten.<br />
„Jeder neue Baum gibt uns Nahrung“, sagt der Stammesälteste.<br />
„Jeder neue Baum sichert unsere Zukunft. Ohne PREDA<br />
hätten wir das alles nicht geschafft.“<br />
10.000 Mangobäume<br />
Als langjährige Partner von PREDA <strong>in</strong> Deutschland<br />
haben der Kölner Vere<strong>in</strong> Tatort – Straßen der Welt<br />
und <strong>Misereor</strong> e<strong>in</strong>e Aktion gestartet, um 10.000<br />
Mango-Baum-Setzl<strong>in</strong>ge zu f<strong>in</strong>anzieren. Für e<strong>in</strong>e<br />
Spende <strong>in</strong> Höhe von zehn Euro beschafft PREDA<br />
e<strong>in</strong>en Setzl<strong>in</strong>g und lässt ihn <strong>in</strong> der Region der<br />
Aetas <strong>in</strong> Zambales pflanzen.<br />
Mehr zu der Mango-Baum-Aktion unter:<br />
www.misereor.de/mangotango<br />
Constanze Bandowski lebt <strong>in</strong> Hamburg und beschäftigt sich als freie Journalist<strong>in</strong><br />
seit vielen Jahren vor allem mit Themen der E<strong>in</strong>en Welt.<br />
Klaus Mellenth<strong>in</strong> lebt <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und fotografiert Persönlichkeiten aus Politik,<br />
Wirtschaft und Kultur und zu vielfältigen gesellschaftlichen Themen.<br />
38<br />
EINS<strong>2024</strong>
BRASILIEN<br />
Wasserknappheit, Zerstörung von Natur- und Lebensraum,<br />
Vertreibung und die Verletzung von Menschenrechten<br />
s<strong>in</strong>d die Folge der extensiven Produktion von<br />
Eisenerz <strong>in</strong> Brasilien. Der Kampf um die Rechte der Betroffenen<br />
dauert seit Jahrzehnten an.<br />
Text von Ralph Allgaier<br />
Fotos von Florian Kopp<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
39
Eukalyptusbäume<br />
verbrauchen<br />
dreibis<br />
viermal so<br />
viel Wasser wie<br />
e<strong>in</strong>heimische<br />
Baumarten<br />
Eisenerz für die<br />
halbe Welt: E<strong>in</strong> Güterzug<br />
auf dem Weg zur brasilianischen<br />
Atlantikküste.<br />
Es ist noch ziemlich früh an diesem Sonntag auf e<strong>in</strong>er<br />
staubigen Huckelpiste im Nordwesten des brasilianischen<br />
Bundesstaates M<strong>in</strong>as Gerais. Und doch herrscht<br />
reger Verkehr, darunter schwere Sattelschlepper, vollgepackt<br />
mit riesigen Eukalyptus-Baumstämmen. Sie stammen<br />
aus der Region und wer<strong>den</strong> unter anderem zu großen Brennöfen<br />
transportiert, wo aus ihnen Holzkohle hergestellt wird.<br />
Vor e<strong>in</strong>igen Jahrzehnten, so berichtet Valmir Soares de<br />
Macedo von der <strong>Misereor</strong>-Partnerorganisation CAV, war hier<br />
vieles noch von artenreichem Mischwald geprägt. Dieser<br />
wurde dann aber systematisch abgeholzt und durch Eukalyptus<br />
ersetzt. Aufgereiht wie an der Schnur gezogen prägen<br />
nun die immer gleichen Baumfelder das Gebiet. In<br />
M<strong>in</strong>as Gerais wachsen Eukalyptus-Bäume auf 1,4 Millionen<br />
Hektar Land.<br />
E<strong>in</strong>er der größten Betreiber der Eukalyptus-Plantagen ist<br />
mit der Firma Aperam e<strong>in</strong> Tochterunternehmen des Stahlkonzerns<br />
Arcelor-Mittal. Auch die Holzkohle-Herstellung besorgt<br />
das Unternehmen selbst. Denn das Produkt wird <strong>in</strong><br />
großen Mengen für die Verhüttung von Eisenerz<br />
benötigt. Spricht man mit Repräsentanten<br />
des Unternehmens, dann fallen vor allem<br />
Wörter wie „nachhaltig“, „klimaneutral“ oder<br />
„Emissionsm<strong>in</strong>derung“. Aperam sieht sich zukunftsfest<br />
und auf der Höhe der Zeit. Als Nutzer<br />
e<strong>in</strong>es nachwachsen<strong>den</strong> Rohstoffs, der bei<br />
se<strong>in</strong>er Verbrennung exakt so viel Kohlendioxid<br />
<strong>in</strong> die Atmosphäre entlässt, wie <strong>in</strong> ihm zuvor<br />
gebun<strong>den</strong> war. Kritischen Fragen bezüglich<br />
e<strong>in</strong>es drastischen Rückgangs an natürlichen<br />
(Tr<strong>in</strong>k-) Wasserressourcen weicht die Firma dagegen<br />
aus. Ja, es gebe Probleme mit zunehmender<br />
Trockenheit. <strong>Ab</strong>er das sei eher die Folge der<br />
Klimaerhitzung. Aktivist<strong>in</strong>nen und Aktivisten<br />
von CAV halten diese Aussage für vorgeschoben.<br />
Es sei nachweisbar, dass Eukalyptusbäume dem<br />
Bo<strong>den</strong> etwa drei- bis viermal so viel von dem<br />
kostbaren Nass entzögen wie andere, e<strong>in</strong>heimische<br />
Baumarten.<br />
An verschie<strong>den</strong>en Orten <strong>in</strong> Brasilien ist zu<br />
beobachten, wie der <strong>Ab</strong>bau von Eisenerz und<br />
dessen Weiterverarbeitung die umliegende Bevölkerung<br />
belastet. In M<strong>in</strong>as Gerais ist dieses Problem gravierend.<br />
Dort gibt es mit der M<strong>in</strong>e Apolo Planungen für e<strong>in</strong><br />
besonders großes Projekt des Vale-Konzerns. Anwohner und<br />
Nichtregierungsorganisationen zeigen sich alarmiert. Denn<br />
die Rohstoffförderung soll auf gleicher Höhe wie beträchtliche<br />
unterirdische Wasserspeicher realisiert wer<strong>den</strong>. Diese<br />
könnten durch <strong>den</strong> Bergbau unwiederbr<strong>in</strong>glich verloren<br />
gehen, die gesicherte Wasserversorgung der Region um<br />
Belo Horizonte, der Hauptstadt von M<strong>in</strong>as Gerais, wäre gefährdet,<br />
warnt Constant<strong>in</strong> Bittner, <strong>Misereor</strong>-Berater für<br />
Bergbau, Umwelt und Menschenrechte <strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika. E<strong>in</strong>ige<br />
tausend Kilometer weiter nordöstlich s<strong>in</strong>d im brasilianischen<br />
Bundesstaat Maranhão Umsiedlungen e<strong>in</strong> großes<br />
Thema. Der Insel Cajual <strong>in</strong> der Atlantikbucht Baía Sao Marcos<br />
droht Natur- und Lebensraumzerstörung. Zur besseren<br />
Verschiffung von Erzen und landwirtschaftlichen Gütern<br />
für <strong>den</strong> Export vor allem nach Europa und Ch<strong>in</strong>a ist hier<br />
e<strong>in</strong> Tiefseehafen geplant. Dieser wird e<strong>in</strong>e Fläche von zwölf<br />
Millionen Quadratmetern e<strong>in</strong>nehmen.<br />
40<br />
EINS<strong>2024</strong>
Bergbau und<br />
<strong>in</strong>dustrielle<br />
Landwirtschaft,<br />
Wasserbelastung,<br />
Pestizid-E<strong>in</strong>satz:<br />
Die Zeichen stehen<br />
auf Umsiedlung<br />
Die Dimensionen<br />
des Rohstoffabbaus<br />
<strong>in</strong><br />
Brasilien spiegeln<br />
die globale<br />
Nachfrage wider<br />
Der Hafen würde e<strong>in</strong>e für die Anwohnen<strong>den</strong> bedeutsame<br />
Landschaftsidylle brutal zerschnei<strong>den</strong>. E<strong>in</strong>e tropisch-urwüchsig<br />
bewachsene Fläche, von der die dortigen Menschen sich<br />
gut ernähren können. Die Stimmung unter <strong>den</strong> Menschen<br />
auf der Insel ist gespalten. Von expliziter <strong>Ab</strong>lehnung des<br />
Projekts bis zu vorsichtiger Zustimmung reicht das Me<strong>in</strong>ungsspektrum.<br />
Der Investor<br />
habe schließlich auch<br />
versprochen, e<strong>in</strong> neues Gesundheitszentrum<br />
zu bauen,<br />
die schulische Versorgung<br />
zu verbessern. Dennoch:<br />
Vom ursprünglichen<br />
Zustand der Insel bliebe<br />
nicht mehr viel übrig.<br />
Auch anderswo <strong>in</strong> Maranhão<br />
stehen die Zeichen auf<br />
Umsiedlung: Bewohner von<br />
Piquia de Baixo, die wegen<br />
Bergbau und <strong>in</strong>dustrieller<br />
Landwirtschaft von Staub,<br />
Wasserbelastung, Pestizid-E<strong>in</strong>satz und Lärm durch mit Eisenerz<br />
bela<strong>den</strong>e Güterzüge stark <strong>in</strong> Mitlei<strong>den</strong>schaft gezogen<br />
wer<strong>den</strong>, können nun <strong>in</strong> relativer Nähe zu ihren Heimatstandorten<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue, besser gelegene Siedlung umziehen<br />
– nach fast zwei Jahrzehnten zähem R<strong>in</strong>gen um Gerech-<br />
tigkeit. Gleichzeitig wird <strong>in</strong> der Region<br />
vom Eisenerzkonzern Vale bereits e<strong>in</strong>e<br />
weitere, 520 Kilometer lange Bahnstrecke<br />
von Açailândia zum Atlantik geplant,<br />
die <strong>den</strong> Transport von Erzen, Soja<br />
und anderen Exportprodukten beschleunigen<br />
soll – mutmaßlich auf Kosten traditioneller<br />
Quilombola-Geme<strong>in</strong><strong>den</strong>, deren<br />
ökologisch sensible Naturareale dadurch<br />
geschädigt wür<strong>den</strong>, wie Constant<strong>in</strong><br />
Bittner befürchtet. Zu <strong>den</strong> möglichen Betreibern der<br />
Strecke könnte mit der E.C.O-Group auch e<strong>in</strong>e Tochterfirma<br />
der Deutschen Bahn gehören, die allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>en entsprechen<strong>den</strong><br />
Vertrag bisher nicht unterzeichnet hat. Die riesigen<br />
Dimensionen des Rohstoffabbaus <strong>in</strong> Brasilien zeugen<br />
von der wachsen<strong>den</strong> globalen Nachfrage, angesichts derer<br />
Fragen von Umwelt- und Menschenrechtsschutz vielfach <strong>in</strong><br />
<strong>den</strong> H<strong>in</strong>tergrund treten.<br />
Eukalyptus-Monokultur<br />
<strong>in</strong> M<strong>in</strong>as Gerais. <strong>Das</strong> Holz<br />
ist unter anderem zur Eisenproduktion<br />
nötig.<br />
Am 25. Januar 2019 brach der Staudamm <strong>in</strong> Brumad<strong>in</strong>ho,<br />
der zu e<strong>in</strong>er Erzm<strong>in</strong>e des Unternehmens<br />
Vale gehört. Dabei ergossen sich riesige Schlammmassen<br />
<strong>in</strong> der näheren und weiteren Umgebung.<br />
272 Menschen fan<strong>den</strong> bei dem Unglück <strong>den</strong> Tod.<br />
Geme<strong>in</strong>sam mit der Menschenrechtsorganisation<br />
ECCHR hat <strong>Misereor</strong> im Jahr 2019 bei der Staatsanwaltschaft<br />
<strong>in</strong> München e<strong>in</strong>e Anzeige gegen <strong>den</strong><br />
TÜV Süd e<strong>in</strong>gereicht. <strong>Das</strong> Unternehmen hatte <strong>den</strong><br />
Damm im Rahmen e<strong>in</strong>es Zertifizierungsverfahrens<br />
für sicher erklärt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt<br />
nach wie vor <strong>in</strong> der Angelegenheit. Ob und wann<br />
sie e<strong>in</strong> Verfahren gegen TÜV Süd eröffnen wird, ist<br />
weiter offen.<br />
Im Umfeld e<strong>in</strong>er<br />
M<strong>in</strong>e Im Südosten<br />
von M<strong>in</strong>as Gerais<br />
wer<strong>den</strong> ökologisch<br />
sensible Naturareale<br />
durch Erzabbau und<br />
-transport geschädigt.<br />
Auch auf Kosten<br />
der Anwohner.<br />
Ralph Allgaier lebt <strong>in</strong> Aachen und arbeitet als Pressesprecher bei <strong>Misereor</strong>.<br />
Zuvor war er Redakteur bei der Aachener Zeitung.<br />
Florian Kopp lebt <strong>in</strong> Rio de Janeiro, Brasilien. Als Fotograf dokumentiert er<br />
soziale und ökologische Konflikte <strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika,<br />
EINS<strong>2024</strong> 41
BILDBAND<br />
Der Bildband des niederländischen Fotografen Henk Wildschut zeigt Pflanzen<br />
und Gärten, die Geflüchtete neben ihren Behelfsunterkünften angelegt haben.<br />
Die Gärtner<strong>in</strong> Uli Hager hat sich davon berühren lassen.<br />
D<br />
ROOTED<br />
Henk Wildschut,<br />
2019, 160 Seiten,<br />
im Eigenverlag,<br />
39,– Euro<br />
as Zitat „When I see green, I remember home“, das<br />
dem Band vorangestellt ist, zieht sich wie e<strong>in</strong> roter<br />
Fa<strong>den</strong> durch Henk Wildschuts langjähriges Fotobuchprojekt<br />
„Rooted“. Dar<strong>in</strong> dokumentiert der niederländische<br />
Fotograf Kle<strong>in</strong>stgärten, die Menschen <strong>in</strong> verschie<strong>den</strong>en<br />
Flüchtl<strong>in</strong>gslagern <strong>in</strong> Tunesien, Jordanien und dem Libanon<br />
angelegt haben: Pflanzen und Gärten stehen hier für die<br />
Verb<strong>in</strong>dung zwischen Vergangenem und Zukünftigem, sie<br />
s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung an die Heimat und e<strong>in</strong> S<strong>in</strong>nbild für die<br />
Hoffnung, die man hegt und<br />
pflegt, um sie nicht zu verlieren.<br />
In knappen Erzählungen und<br />
fast schlicht anmuten<strong>den</strong> Fotos<br />
zeigt Wildschut die Sehnsucht der<br />
Geflüchteten nach lebendigem<br />
Grün, nach persönlichen Spuren<br />
<strong>in</strong> der uniformen Tristesse und<br />
dem Aufbegehren gegen die Unwirtlichkeit<br />
des Lagerdase<strong>in</strong>s –<br />
ohne e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Person direkt<br />
abzubil<strong>den</strong>.<br />
Bei der Betrachtung stelle ich<br />
mit Erstaunen fest, dass viele der<br />
liebevoll gezogenen Pflanzen auch<br />
bei uns bekannt s<strong>in</strong>d: Zierpflanzen<br />
wie Geranien und Mittagsblumen,<br />
Sukkulenten, Jasm<strong>in</strong>, Oleander, Gar<strong>den</strong>ien, Nelken, Rosen,<br />
Löwenmäulchen, Amaryllis und Sonnenblumen; Obstgehölze<br />
wie Granatapfel, We<strong>in</strong>reben, Feigen, Zitronenbäumchen<br />
sowie Kürbis, Rote Bete, Zwiebeln und Erbsen. E<strong>in</strong>ige<br />
Pflanzen wer<strong>den</strong> mittels ausgeklügelter – vermutlich<br />
aus der Heimat bekannter – simpler Bewässerungstechniken<br />
versorgt, zum Beispiel mithilfe e<strong>in</strong>er Tröpfchenbewässerung<br />
aus verbun<strong>den</strong>en Plastikflaschen. Andere Pflanzen<br />
gedeihen, weil sie von Natur aus wahre Überlebenskünstler<br />
s<strong>in</strong>d und e<strong>in</strong> Symbol für Ausdauer und Widerstandskraft.<br />
Die Mikrogärtner*<strong>in</strong>nen erzählen, wie wohltuend für sie<br />
e<strong>in</strong> Aufenthalt <strong>in</strong> direkter Nähe der Pflanzen und deren<br />
Duft sei, dass ihre Kle<strong>in</strong>stgärten e<strong>in</strong>en Platz für geme<strong>in</strong>same<br />
Treffen und Entspannung ermöglichen und lebenswichtig<br />
für ihr geistiges Überleben seien.<br />
Der Buchtitel „Rooted“, verwurzelt, verweist auf e<strong>in</strong>en<br />
Widerspruch, <strong>den</strong>n alle, die <strong>in</strong> <strong>den</strong> von Wildschut besuchten<br />
Lagern leben, s<strong>in</strong>d Entwurzelte. Und auch viele der gezogenen<br />
Pflanzen wer<strong>den</strong> <strong>in</strong> Gefäßen kultiviert und eben<br />
nicht <strong>in</strong> die Erde gesetzt, um dort e<strong>in</strong>zuwurzeln. Sie bleiben<br />
mobil und spiegeln die Lebensrealität und <strong>in</strong> gewisser<br />
Weise auch die I<strong>den</strong>tität der Menschen wider: Weder sie<br />
noch ihre Pflanzen verorten sich im Camp. Sie bef<strong>in</strong><strong>den</strong><br />
sich im Transit. Wildschut sieht dar<strong>in</strong> auch e<strong>in</strong>e Form von<br />
Widerstand gegen das Wurzeln <strong>in</strong> fremdem Bo<strong>den</strong>. Fast<br />
schon skurril mutet vor diesem H<strong>in</strong>tergrund die Rasenfläche<br />
neben e<strong>in</strong>er Hütte an. Der Geruch von gemähtem<br />
Gras er<strong>in</strong>nere <strong>den</strong> Besitzer an se<strong>in</strong> zerstörtes Haus mit<br />
großen Rasenflächen <strong>in</strong> Homs, erzählt der Autor. Se<strong>in</strong> Bildband<br />
bee<strong>in</strong>druckt und er beschämt. Denn er erzählt <strong>in</strong><br />
sche<strong>in</strong>bar simplen Bildern, wie es selbst <strong>in</strong> extremen Lebensumstän<strong>den</strong><br />
und trotz Armut und Kargkeit manchen Menschen<br />
gel<strong>in</strong>gt, auf die Kraft des Lebendigen vertrauen.<br />
42<br />
EINS<strong>2024</strong>
Fotos aus dem besprochenen Bildband, © Henk Wildschut<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
43
MISEREOR IN AKTION<br />
In <strong>den</strong> kle<strong>in</strong>en Gärten<br />
gedeiht e<strong>in</strong>e große Vielfalt<br />
an Gemüse und verschie<strong>den</strong>e<br />
Getreidesorten<br />
Foto: Wolfgang Radtke<br />
Haiti: Waldgärten geben<br />
Sicherheit und Stabilität<br />
H<br />
aiti kommt nicht zur Ruhe. Bittere Armut, die Folgen<br />
von häufigen Naturkatastrophen und die politisch <strong>in</strong>stabile<br />
Lage wirken sich dramatisch auf die Sicherheitslage<br />
aus. Gewalt und Krim<strong>in</strong>alität s<strong>in</strong>d allgegenwärtig, besonders<br />
<strong>in</strong> der Hauptstadt Port-au-Pr<strong>in</strong>ce und ihrem Umland.<br />
Viele Menschen verlassen die Region, suchen Zuflucht im<br />
Ausland oder im Sü<strong>den</strong> des Landes. Hier, <strong>in</strong> der Region Les<br />
Cayes, setzen die Partnerorganisationen des <strong>Misereor</strong>-Spen<strong>den</strong>projekts<br />
„Waldgärten – neues Fundament für Haiti“<br />
ihre Arbeit trotz aller Widrigkeiten mit großem Engagement<br />
fort und schaffen ertragreiche Waldgärten. Sie unterstützen<br />
die Familien vor Ort dabei, sich mit nachhaltiger<br />
Landwirtschaft nach dem Agroforst-Pr<strong>in</strong>zip selbst zu versorgen<br />
und so e<strong>in</strong>e bessere Zukunft aufzubauen. Davon profitieren<br />
nun auch diejenigen, die aus <strong>den</strong> Städten fliehen<br />
müssen und auf dem Land Schutz und Nahrung f<strong>in</strong><strong>den</strong>.<br />
Was allen Partnerorganisationen im Projekt besonders<br />
wichtig ist: Sie vermitteln <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Wissen, das alle Katastrophen<br />
überdauert. Und sie organisieren Gruppen, <strong>in</strong><br />
<strong>den</strong>en die Familien e<strong>in</strong>ander unterstützen. Hier wer<strong>den</strong><br />
Tipps, tatkräftige Hilfe, Saatgut und Setzl<strong>in</strong>ge ausgetauscht.<br />
Zusammenhalt ist stärker als Verzweiflung. Deshalb wächst<br />
<strong>in</strong> <strong>den</strong> Waldgärten nicht nur Nahrung, sondern auch e<strong>in</strong><br />
wirksames Mittel gegen die Gewalt. <strong>Das</strong> Konzept der Waldgärten<br />
hat sich bewährt. Mehr als 5.500 Kle<strong>in</strong>bauernfamilien<br />
haben grüne Inseln <strong>in</strong>mitten des weitgehend abgeholzten<br />
Berglands geschaffen.<br />
Mehr über das Waldgärtenprojekt erfahren Sie unter:<br />
www.misereor.de/haiti-waldgaerten<br />
44<br />
EINS<strong>2024</strong>
Solibrot schickt das Ahrtal<br />
auf Trommelreise<br />
A<br />
us der Verbandsgeme<strong>in</strong>de Altenahr durften sich zum<br />
Welttag der K<strong>in</strong>derrechte 400 K<strong>in</strong>der über e<strong>in</strong> besonderes<br />
<strong>Ab</strong>enteuer freuen. Mit spannen<strong>den</strong> Geschichten und fasz<strong>in</strong>ieren<strong>den</strong><br />
Liedern hat Trommelerzähler Markus Hoffmeister<br />
sie zum <strong>Ab</strong>schluss der <strong>Misereor</strong>-Solibrot-Aktion vor Ort<br />
auf e<strong>in</strong>e große geme<strong>in</strong>same Fantasiereise mitgenommen.<br />
Die K<strong>in</strong>der waren gut darauf e<strong>in</strong>gestimmt: In <strong>den</strong> Wochen<br />
vor dem Event hatten sie <strong>in</strong> Kitas und Grundschulen begeistert<br />
die Solibrot-Aktion umgesetzt, sich mit dem Thema<br />
„Teilen“ beschäftigt und <strong>den</strong> Blick auf das Leben <strong>in</strong> anderen<br />
Ländern gerichtet. Sie haben Brote gebacken, anderen Menschen<br />
damit e<strong>in</strong>e Freude gemacht und natürlich auch Spen<strong>den</strong><br />
gesammelt. So haben sie K<strong>in</strong>der mit e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong>derung<br />
<strong>in</strong> Kambodscha, Stadtgärten für Familien <strong>in</strong> Bolivien oder<br />
Schulen <strong>in</strong> Madagaskar unterstützt und e<strong>in</strong>drucksvoll gelernt:<br />
Wir K<strong>in</strong>der haben Rechte. Und wenn anderen K<strong>in</strong>dern<br />
diese Rechte nicht zugestan<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>, können wir<br />
ihnen helfen! Diese Kraft und diese Verbun<strong>den</strong>heit<br />
durften sie auf dem<br />
großen <strong>Ab</strong>schlussfest durch die<br />
Trommelreise noch e<strong>in</strong>mal<br />
ganz <strong>in</strong>tensiv erleben.<br />
Informieren und mitmachen!<br />
Mehr unter:<br />
www.trommelreise.de<br />
Backen. Teilen. Gutes Tun.<br />
Schmeckt nicht nur <strong>den</strong> Kle<strong>in</strong>en!<br />
W<br />
ussten Sie, dass es <strong>in</strong> Deutschland mehr als 3.200<br />
verschie<strong>den</strong>e Brotsorten gibt? Diese bee<strong>in</strong>druckende<br />
Zahl hat der Zentralverband des deutschen Bäckerhandwerks<br />
ermittelt. Sie zeigt: Brot ist mehr als nur e<strong>in</strong><br />
fester Bestandteil unseres Speiseplans. Nicht umsonst<br />
steht es als „täglich Brot“ s<strong>in</strong>nbildlich für alles, was wir<br />
zum Leben brauchen. Deshalb bietet die Solibrot-Aktion<br />
von <strong>Misereor</strong> so viele Anknüpfungspunkte, wenn Sie sich<br />
für e<strong>in</strong>e gute Sache starkmachen und andere dabei mitnehmen<br />
möchten. Die gilt ganz besonders für K<strong>in</strong>der,<br />
<strong>den</strong>en die anschaulichen Solibrot-Materialien für Kita<br />
und Grundschule e<strong>in</strong>en spielerischen Zugang zum großen<br />
Thema der weltweiten Solidarität ermöglichen.<br />
<strong>Ab</strong>er Solibrot erreicht auch Erwachsene. Zum Beispiel<br />
Ihren Vere<strong>in</strong> oder Ihr Team, mit dem Sie geme<strong>in</strong>sam Brote<br />
backen und gegen Spen<strong>den</strong> abgeben können. Vielleicht<br />
möchte auch Ihre Bäckerei e<strong>in</strong> besonderes Solibrot anbieten?<br />
Bei <strong>Misereor</strong> bekommen Sie Spen<strong>den</strong>dosen, Spen<strong>den</strong>tüten,<br />
Brotbanderolen, Infomaterial und natürlich<br />
e<strong>in</strong>e ausführliche Beratung rund um die Aktion.<br />
Aktiv wer<strong>den</strong>, andere mitnehmen –<br />
Inspiration f<strong>in</strong><strong>den</strong> Sie hier: www.misereor.de/solibrot<br />
Fotos: Achim Pohl, N<strong>in</strong>a Efkes, Illustration: Kat Menschik<br />
Auch FC St. Pauli-Fan<br />
Jonte aus Heiligenhaus<br />
macht <strong>in</strong> der Fastenzeit bei<br />
der Solibrot-Aktion mit<br />
Trommelerzähler<br />
Markus Hoffmeister<br />
<strong>in</strong> Aktion<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
45
KOLUMNE<br />
Beim Wühlen <strong>in</strong> der <strong>Garten</strong>erde Frie<strong>den</strong> und Freude f<strong>in</strong><strong>den</strong>?<br />
Muss nicht se<strong>in</strong>, f<strong>in</strong>det Autor<strong>in</strong> Anne Lemhöfer.<br />
Sie geht gänzlich ohne grünen Daumen durchs Leben.<br />
Illustration von Kat Menschik<br />
Ich liebe Gärten. Ich mag es, wenn<br />
es um mich herum grünt und<br />
blüht, wenn Bienen summen und<br />
K<strong>in</strong>der fröhlich Gießkännchen schwenken.<br />
Ist das M<strong>in</strong>ze, die da so wunderbar<br />
duftet? Und diese gelben Tomaten,<br />
nach <strong>den</strong>en ich nur die Hand ausstrecke<br />
– e<strong>in</strong>fach wunderbar als Snack<br />
zwischendurch. Himbeeren, Mangold,<br />
Chilischoten, alles wächst und gedeiht.<br />
„Nimm dir von allem mit“, sagt me<strong>in</strong>e<br />
Freund<strong>in</strong>, „wir haben viel zu viel davon.“<br />
Es ist nämlich ihr <strong>Garten</strong>, <strong>in</strong> dem<br />
wir auf e<strong>in</strong>er ochsenblutroten Holzbank<br />
sitzen und die Gedanken schweifen<br />
lassen. „Dieses Trampol<strong>in</strong> da, damit<br />
haben sie sich <strong>den</strong> ganzen <strong>Garten</strong><br />
verschandelt“, lästert me<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong><br />
über die Nachbarn von gegenüber. Ich<br />
wechsele rasch das Thema. Denn ich<br />
liebe Gärten, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en Menschen Gemüse,<br />
Obst und Kräuter anbauen. Also,<br />
andere Menschen. Im <strong>Garten</strong> unseres<br />
eigenen Hauses steht dagegen, nun ja,<br />
e<strong>in</strong> Trampol<strong>in</strong>. Außerdem haben wir<br />
zwei Schaukeln, e<strong>in</strong>e Rutschbahn und<br />
e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>der-Fußballtor angepflanzt, im<br />
Sommer entfaltet sich <strong>in</strong> üppiger<br />
Pracht e<strong>in</strong> Planschbecken. Wir erfreuen<br />
uns daran. Den Menschen, die uns<br />
besuchen, gefällt es ebenso.<br />
Hier könnte diese Geschichte eigentlich<br />
en<strong>den</strong>. Alle s<strong>in</strong>d glücklich, alles<br />
ist gut. Doch ich fühle mich immer<br />
häufiger unwohl mit me<strong>in</strong>en Vorlieben.<br />
Denn fast alle, die ich kenne, gärtnern,<br />
und sei es auf der Fensterbank,<br />
oder nehmen an irgendwelchen Urban<br />
Gar<strong>den</strong><strong>in</strong>g-Projekten teil oder ziehen<br />
Kartoffeln aus dem Solawi-Acker, bei<br />
dem sie Mitglied s<strong>in</strong>d – während ich<br />
stattdessen lieber auf der Terrasse<br />
sitze, dicke Bücher lese und <strong>den</strong> K<strong>in</strong>dern<br />
beim Rutschen und Schaukeln<br />
zuschaue: Ist noch alles <strong>in</strong> Ordnung<br />
mit mir? Darf das se<strong>in</strong>? Könnten Pflanzen<br />
sprechen, würde die komplette Botanik<br />
im Chor rufen: Ja, es ist okay,<br />
bitte die F<strong>in</strong>ger von uns lassen! Auf<br />
me<strong>in</strong>er Fensterbank geht sogar das Basilikum<br />
e<strong>in</strong>, das ich alle paar Wochen<br />
hochmotiviert im Töpfchen aus dem<br />
Supermarkt dort h<strong>in</strong>stelle. Die Natur<br />
und ich, wir pflegen e<strong>in</strong>e gewisse beidseitige<br />
Distanz zue<strong>in</strong>ander. Ich kenne<br />
me<strong>in</strong>e Grenzen. Und weiß, dass ich<br />
mit dieser Haltung unter <strong>den</strong> Menschen,<br />
mit <strong>den</strong>en ich zu tun habe, <strong>in</strong>zwischen<br />
die Ausnahme b<strong>in</strong>.<br />
Es ist gesellschaftlich toleriert, se<strong>in</strong><br />
Fahrrad oder Auto nicht selbst zu reparieren,<br />
sondern das e<strong>in</strong>em Profi zu<br />
überlassen. Auch die Wände <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em<br />
Haus muss ich nicht selbst verputzen<br />
können. <strong>Ab</strong>er mir sche<strong>in</strong>t der<br />
moralische Freiraum immer enger dafür<br />
zu wer<strong>den</strong>, ke<strong>in</strong>en Spaß am E<strong>in</strong>kochen<br />
von Aronia-Beeren für die eigene<br />
Marmelade zu haben und handgemachtes<br />
Bärlauchpesto lieber im Fe<strong>in</strong>kostla<strong>den</strong><br />
zu besorgen als die Zutaten<br />
dafür mit eigenen Hän<strong>den</strong> aus dem<br />
46<br />
EINS<strong>2024</strong>
Bo<strong>den</strong> zu rupfen. Von allen Seiten<br />
wird mir achtsam Mut zugesprochen,<br />
es e<strong>in</strong>fach mal zu versuchen. „Gärtnern<br />
ist nicht nur für de<strong>in</strong> Gehirn sehr<br />
vorteilhaft. Dadurch kannst du auch<br />
Stress und Ängste abbauen“, schreibt<br />
e<strong>in</strong>e Frauenzeitschrift. Okay, ich habe<br />
es verstan<strong>den</strong>: Wer gärtnert, ist e<strong>in</strong><br />
guter Mensch! E<strong>in</strong> kluger Mensch! Und<br />
gute, kluge Menschen gärtnern.<br />
Andererseits: Wenn jede und jeder<br />
im Schrebergarten wurschtelt, passt es<br />
auch wieder nicht. Wer nähme <strong>den</strong>n<br />
dann noch dankend und ungefragt die<br />
riesigen Mengen an Zucch<strong>in</strong>i und Fallobst<br />
an, die bei <strong>den</strong> <strong>Garten</strong>begeisterten<br />
oft übrigbleiben? Eben. Um die Welt<br />
im Gleichgewicht zu halten, braucht<br />
es Nicht-Gärtner<strong>in</strong>nen wie mich. Und<br />
was <strong>den</strong> Kapitalismus angeht, sehe ich<br />
durchaus Vorteile: Denn es ist überaus<br />
beruhigend, dass das Überleben me<strong>in</strong>er<br />
Familie nicht von me<strong>in</strong>em grünen<br />
Daumen abhängt. Ich weiß das Privileg<br />
zu schätzen, für e<strong>in</strong>e ausgewogene<br />
Ernährung e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> <strong>den</strong> nächsten<br />
Supermarkt spazieren zu können.<br />
<strong>Ab</strong>er ist me<strong>in</strong>e Haltung noch zeitgemäß?<br />
Was, wenn die nächste Pandemie<br />
oder etwas Vergleichbares kommt?<br />
Der jüngste virologische Ausnahmezustand<br />
hat verstärkt, was vorher vielleicht<br />
als etwas exzentrischer Trend<br />
fürs grüne Bürgertum galt: Im Lockdown<br />
wur<strong>den</strong> plötzlich überall Bananenbrote<br />
gebacken, Gärten verschönert<br />
und alte Gemüsesorten wiederentdeckt,<br />
Hashtags wie #altesorten boomen<br />
noch immer. Was noch vor 40 Jahren<br />
als Statement für die <strong>Ab</strong>kehr vom<br />
Konsum verstan<strong>den</strong> wurde, schien mit<br />
e<strong>in</strong>em Mal geradezu lebensnotwendig.<br />
Und wer wollte <strong>in</strong> <strong>den</strong> vergangenen<br />
Jahren nicht ab und an die Augen verschließen,<br />
sich die Ohren zuhalten und<br />
<strong>in</strong> grüne Paradiese entfliehen? Doch<br />
alles Verdrängen hilft ja nichts. Gerade<br />
<strong>in</strong> Zeiten, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en vieles aus <strong>den</strong><br />
Fugen zu geraten droht, kommt es aus<br />
me<strong>in</strong>er Sicht auf ganz andere D<strong>in</strong>ge<br />
an: auf Arbeitsteilung und Solidarität<br />
nämlich. Alle können <strong>in</strong> Krisenzeiten<br />
dazu beitragen, die Lebenschancen der<br />
anderen wachsen zu lassen. Wir müssen<br />
nicht alle Beete umgraben und Tomaten<br />
hochb<strong>in</strong><strong>den</strong>. Manche organisieren<br />
lieber Fußballturniere, lesen K<strong>in</strong>dern<br />
etwas vor oder kümmern sich um<br />
die Steuererklärung. Ich b<strong>in</strong> zum Beispiel<br />
besonders gut dar<strong>in</strong>, mir alles<br />
über die Königshäuser dieser Welt zu<br />
merken und unterhaltsam darüber zu<br />
erzählen. Vielleicht ist das sogar wahre<br />
Grund, wieso mich Freund<strong>in</strong>nen und<br />
Freunde gern <strong>in</strong> ihre Gärten e<strong>in</strong>la<strong>den</strong> –<br />
und nicht nur, damit sie mir h<strong>in</strong>terher<br />
Tüten voller wurmstichiger Äpfel<br />
<strong>in</strong> die Hand drücken können. <strong>Das</strong> ist<br />
je<strong>den</strong>falls e<strong>in</strong>e schöne Vorstellung.<br />
Anne Lemhöfer arbeitet als Redakteur<strong>in</strong> für das<br />
Ressort <strong>Magaz<strong>in</strong></strong> und Reportage der Frankfurter<br />
Rundschau, zudem frei für <strong>den</strong> Reiseteil der ZEIT.<br />
Kat Menschik arbeitet seit 1999 als freiberufliche<br />
Illustrator<strong>in</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und Bran<strong>den</strong>burg. Sie zeichnet<br />
für Zeitungen, <strong>Magaz<strong>in</strong></strong>e und Buchverlage.<br />
EINS<strong>2024</strong><br />
47
RÄTSEL<br />
Zu gew<strong>in</strong>nen<br />
gibt es<br />
1. Preis:<br />
<strong>Garten</strong>schürze aus Jeans<br />
mit Taschen<br />
Die Schürze vom Fairhandelshaus<br />
Gepa ist bei der <strong>Garten</strong>arbeit<br />
sehr nützlich, <strong>den</strong>n<br />
<strong>in</strong> <strong>den</strong> Taschen hat alles<br />
Platz, was gebraucht wird. Gefertigt wer<strong>den</strong><br />
die praktischen <strong>Garten</strong>schürzen <strong>in</strong> Bangladesch.<br />
Die Schürze besteht aus 100 Prozent Baumwolle und<br />
ist mit synthetischem Leder abgesetzt.<br />
„Auch wer arm ist,<br />
hat das Recht,<br />
über gesunde<br />
Lebensmittel<br />
nachzu<strong>den</strong>ken.“<br />
Dieses Zitat* stammt von<br />
a<br />
b<br />
c<br />
Victoria Mendozae<br />
Geme<strong>in</strong>schaftsköch<strong>in</strong>,<br />
Peru<br />
Edward Mukiibi<br />
Slow-Food-Präsi<strong>den</strong>t,<br />
Uganda<br />
Terence Lopez<br />
Food-Aktivist,<br />
Philipp<strong>in</strong>en<br />
*Sie f<strong>in</strong><strong>den</strong> es<br />
<strong>in</strong> dieser Ausgabe.<br />
2. Preis:<br />
Buch „<strong>Das</strong> Haus verlassen“ –<br />
von Kat Menschik gestaltet<br />
E<strong>in</strong>e poetische Geschichte von Jacquel<strong>in</strong>e Kornmüller<br />
voll leisem Humor über e<strong>in</strong> altes Feldste<strong>in</strong>haus,<br />
das sich nicht so ohne weiteres von se<strong>in</strong>er Besitzer<strong>in</strong><br />
trennen möchte. Und über e<strong>in</strong>e Besitzer<strong>in</strong>, die eigentlich<br />
fortgehen will. Aus der Kat-Menschik-Reihe<br />
„Illustrierte Liebl<strong>in</strong>gsbücher“.<br />
3. Preis:<br />
Blütenmischung „Essbare Blumen“<br />
Aus der gehobenen Sterneküche ist sie nicht mehr<br />
wegzu<strong>den</strong>ken, die Blumendekoration auf Salaten<br />
und Tellern. <strong>Das</strong> Anzuchtset mit e<strong>in</strong>er Mischung von<br />
sieben Sorten essbarer Blumen: Stockrose, Borretsch,<br />
R<strong>in</strong>gelblume, Kornblume, Stu<strong>den</strong>tenblume, Kapuz<strong>in</strong>erkresse<br />
und Veilchen. E<strong>in</strong>fach die Dose öffnen, vorsichtig<br />
angießen und an e<strong>in</strong>en sonnigen Ort stellen.<br />
E<strong>in</strong>sendeschluss ist der 15. Juli <strong>2024</strong><br />
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Wir speichern Ihre<br />
Daten nur zur Durchführung der Verlosung. Wenn<br />
Sie weitere Informationen zu <strong>Misereor</strong> erhalten wollen,<br />
vermerken Sie das unter dem Lösungswort „Ja“.<br />
Sie können die E<strong>in</strong>willigung jederzeit widerrufen.<br />
Sen<strong>den</strong> Sie die Lösung an:<br />
<strong>fr<strong>in</strong>gs</strong>@misereor.de<br />
oder<br />
Bischöfliches Hilfswerk <strong>Misereor</strong><br />
Redaktion <strong>Magaz<strong>in</strong></strong> „<strong>fr<strong>in</strong>gs</strong>“<br />
Mozartstraße 9, 52064 Aachen<br />
Fotos: Avocadostore, galiani-Verlag, GEPA – Fairhandelshaus, iStock.com<br />
48<br />
EINS<strong>2024</strong>
<strong>Misereor</strong> ist das katholische Werk für Entwicklungszusammenarbeit<br />
an der Seite von Menschen <strong>in</strong> Afrika und<br />
im Nahen Osten, <strong>in</strong> Asien und Ozeanien, Late<strong>in</strong>amerika<br />
und <strong>in</strong> der Karibik.<br />
Es leistet seit 66 Jahren Hilfe zur Selbsthilfe durch geme<strong>in</strong>same<br />
Projekte mit e<strong>in</strong>heimischen Partnerorganisationen<br />
und setzt sich mit <strong>den</strong> Menschen <strong>in</strong> Deutschland<br />
für weltweite Gerechtigkeit, Solidarität und die Bewahrung<br />
der Schöpfung e<strong>in</strong>.<br />
<strong>Misereor</strong> besitzt mit 6,2 Prozent an Kosten für Verwaltung,<br />
Werbung und Öffentlichkeitsarbeit das Spen<strong>den</strong>siegel<br />
des Deutschen Zentral<strong>in</strong>stituts für soziale Fragen (DZI).<br />
Spen<strong>den</strong>konto<br />
DE75 3706 0193 0000 1010 10<br />
<strong>Das</strong> Umweltmanagement<br />
von <strong>Misereor</strong> ist nach EMAS<br />
geprüft und zertifiziert.<br />
<strong>Ab</strong>o für mich!<br />
Sie möchten ke<strong>in</strong>e Ausgabe<br />
von <strong>fr<strong>in</strong>gs</strong> verpassen?<br />
Über magaz<strong>in</strong>@misereor.de<br />
können Sie unter dem Stichwort<br />
„<strong>Ab</strong>o“ e<strong>in</strong> kostenloses <strong>Ab</strong>onnement<br />
bestellen (und jederzeit wieder<br />
kündigen).<br />
IMPRESSUM<br />
Herausgeber: Bischöfliches Hilfswerk <strong>Misereor</strong> e. V.; Redaktion:<br />
Beate Schneiderw<strong>in</strong>d (verantw.), Michael Mondry und Birgit-Sara<br />
Fabianek (redaktionelle Koord<strong>in</strong>ation), Ralph Allgaier, Charleen<br />
Kovac, Suzanne Lemken, Julia Stollenwerk; Korrektorat: Dr. Kerst<strong>in</strong><br />
Burmeister; Grafische Gestaltung: Anja Hammers; Repro: Roland<br />
Küpper, type & image, Aachen; Druck: Evers Druck GmbH – e<strong>in</strong> Unternehmen<br />
der Eversfrank Gruppe, Ernst-Günter-Albers-Straße 13,<br />
D25704 Meldorf; Gedruckt auf Papier aus ökonomisch, ökologisch<br />
und sozial nachhaltiger Waldbewirtschaftung; Herstellung und Vertrieb:<br />
MVG Medienproduktion und Vertriebsgesellschaft, Aachen.<br />
Zuschriften an<br />
<strong>Misereor</strong>, Mozartstraße 9, 52064 Aachen,<br />
magaz<strong>in</strong>@misereor.de
Mit Ausbeutung<br />
oder mit Menschen?<br />
Mit Menschen.<br />
Foto: Klaus Mellenth<strong>in</strong><br />
Fairer Handel, Bildung und Rechte für<br />
<strong>in</strong>digene Familien auf <strong>den</strong> Philipp<strong>in</strong>en.<br />
Mehr erfahren: misereor.de/mitmenschen