Das große Schachspiel - Les Amis d'Alain de Benoist
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<strong>Das</strong> <strong>große</strong> <strong>Schachspiel</strong><br />
Geopolitik: In einer Welt im Übergang wird die ungeliebte Disziplin nachgera<strong>de</strong> unverzichtbar<br />
Alain <strong>de</strong> BENOIST<br />
Die Geopolitik ist stets das Stiefkind unter <strong>de</strong>n Gesellschaftswissenschaften gewesen. In Frankreich<br />
hat man sie verachtungsvoll als science alleman<strong>de</strong>, als "<strong>de</strong>utsche Wissenschaft" bezeichnet, was<br />
nicht allzuviel heißen will. Probleme hat aber vor allem die Definition ihres Status o<strong>de</strong>r ihres<br />
Anwendungsbereiches bereitet. Geopolitik untersucht <strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>r Geographie auf Politik und<br />
Geschichte o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rs gesagt: das Verhältnis zwischen Raum und Macht. Doch diese Definition<br />
bleibt schwammig, und <strong>de</strong>shalb läßt sich schon die Realität ihres Gegenstan<strong>de</strong>s anfechten.<br />
So ist Geopolitik oft als Disziplin beschrieben wor<strong>de</strong>n, die darauf zielt, historische Ereignisse o<strong>de</strong>r<br />
politische Entscheidung retrospektiv zu rechtfertigen: Angeblich ist sie nichts als ein künstliches<br />
Konstrukt, das auf Interpretationen ex eventu aufbaut. Diese Kritik wur<strong>de</strong> dadurch bestärkt, daß die<br />
Geopolitik häufig im Dunstkreis <strong>de</strong>r politischen Macht gedieh (auch wenn sie ihr in Wirklichkeit<br />
selten als Inspiration gedient hat).<br />
Des weiteren wird <strong>de</strong>r Geopolitik Determinismus vorgeworfen. Geopolitik basiert auf einer Reihe<br />
von Konstanten, die an <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s "Bo<strong>de</strong>ns" gebun<strong>de</strong>n sind und anhand <strong>de</strong>rer sie verschie<strong>de</strong>ne<br />
räumliche Kausalzusammenhänge sichtbar zu machen versucht. Ist aber "Bo<strong>de</strong>n" immer ein<br />
bestimmen<strong>de</strong>r Faktor? Frankreich, um nur dieses Beispiel zu nennen, war zunächst unter<br />
geopolitischen Gesichtspunkten äußerst unwahrscheinlich, was seine Entstehung keineswegs<br />
verhin<strong>de</strong>rte.<br />
Davon einmal abgesehen, hat die Welt sich seither verän<strong>de</strong>rt. <strong>Das</strong> Zeitalter <strong>de</strong>r <strong>große</strong>n Eroberungen<br />
rein territorialer Art ist vorbei: Heute ist es wichtiger, <strong>de</strong>n Raum zu organisieren, als ihn zu erobern<br />
o<strong>de</strong>r auszuweiten. Die Eroberung eines Gebietes ist zu<strong>de</strong>m nur eine von vielen Arten <strong>de</strong>r<br />
Eroberung. "Je<strong>de</strong>r Raum hat politische Be<strong>de</strong>utung", lehrte Friedrich Ratzel, <strong>de</strong>ssen "Politische<br />
Geographie" (1897) als Gründungstext <strong>de</strong>r Disziplin gilt. Jedoch hat Raum nicht mehr dieselbe<br />
Be<strong>de</strong>utung wie früher. Wir leben in einer Welt, in <strong>de</strong>r Grenzen nichts mehr aufhalten, geschweige<br />
<strong>de</strong>nn sichern.<br />
Dennoch hat Geopolitik nach wie vor ihren Nutzen. Ja, sie wird nachgera<strong>de</strong> unverzichtbar in einer<br />
Welt im Übergang, in einem Moment, in <strong>de</strong>m alle Karten auf globaler Ebene neu verteilt wer<strong>de</strong>n.<br />
Geopolitik relativiert das Gewicht bloßer i<strong>de</strong>ologischer Faktoren, die per <strong>de</strong>finitionem stets in<br />
Bewegung sind, und ruft die Existenz von Konstanten ins Gedächtnis, die die Regime wie die I<strong>de</strong>en<br />
transzendieren. Vom Rassismus geblen<strong>de</strong>t, griff Hitler Rußland an, eine Kontinentalmacht, während<br />
er sich mit Großbritannien, einer Seemacht, gerne verbün<strong>de</strong>t hätte: ein schönes Beispiel dafür, wie<br />
die I<strong>de</strong>ologie eine völlige geopolitische Blindheit bewirkt.<br />
Heute läßt sich ein ähnlicher Wi<strong>de</strong>rspruch zwischen geopolitischer Logik und <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r<br />
"Zivilisationen" feststellen. Immer wie<strong>de</strong>r ist von einem "Krieg <strong>de</strong>r Zivilisationen" die Re<strong>de</strong>,<br />
obwohl we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Islam noch <strong>de</strong>r Westen in irgen<strong>de</strong>iner Weise eine geopolitische Einheit darstellt.<br />
Zu <strong>de</strong>n am wenigsten anfechtbaren Begriffen <strong>de</strong>r Geopolitik gehört zweifellos <strong>de</strong>r Gegensatz<br />
zwischen Land und Meer. "Die Weltgeschichte", sagte Carl Schmitt, "ist eine Geschichte <strong>de</strong>s<br />
Kampfes von Seemächten gegen Landmächte und von Landmächten gegen Seemächte." Derselben
Meinung war auch Admiral Raoul Castex, 1932/35 und 1936/38 Komman<strong>de</strong>ur <strong>de</strong>r Kriegsschule <strong>de</strong>r<br />
französischen Marine, in seinen "Strategischen Theorien".<br />
Die Er<strong>de</strong> ist <strong>de</strong>r Ort unterschiedlicher Territorien. Sie erzwingt <strong>de</strong>utliche Unterscheidungen<br />
zwischen Krieg und Frie<strong>de</strong>n, Kombattanten und Nicht-Kombattanten, Han<strong>de</strong>l und politischem<br />
Han<strong>de</strong>ln. Sie ist also <strong>de</strong>r klassische Schauplatz <strong>de</strong>r Politik und Geschichte. "Die politische Existenz<br />
ist von rein tellurischem Charakter" (Adriano Scianca). <strong>Das</strong> Meer ist eine uniforme Weite, die<br />
Negierung <strong>de</strong>r Unterschie<strong>de</strong> und Grenzen. Es ist ein Raum ohne Kontraste, das flüssige Äquivalent<br />
<strong>de</strong>r Wüste. Es hat keinen Mittelpunkt, son<strong>de</strong>rn kennt nur Strömungen, und insofern gleicht es <strong>de</strong>r<br />
postmo<strong>de</strong>rnen Globalisierung.<br />
Die heutige Welt ist eine "flüssige", die alles abzuschaffen trachtet, was "geer<strong>de</strong>t", stabil, soli<strong>de</strong>,<br />
konstant, unterscheidbar ist. Genauso wie die Logik <strong>de</strong>s Kapitals besteht auch <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>l selbst aus<br />
Strömungen: <strong>Das</strong> Geld fließt hierhin und dorthin. Die Einförmigkeit, die Han<strong>de</strong>l und Kapital<br />
hervorbringen, <strong>de</strong>r Monotheismus <strong>de</strong>s Marktes folgt <strong>de</strong>r "maritimen" Logik, und nicht zufällig<br />
gleicht <strong>de</strong>r Kapitalismus mehr als allem an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>r Piraterie.<br />
In <strong>de</strong>r Menschheitsgeschichte entspricht die Konfrontation zwischen Land und Meer <strong>de</strong>m<br />
jahrhun<strong>de</strong>rtealten Kampf zwischen <strong>de</strong>r kontinentalen europäischen Ordnung und <strong>de</strong>r "insularen"<br />
Ordnung, die zuerst die britische Seemacht und dann die USA verkörperten. Schon Schmitt stellte<br />
fest, daß "die heutige Technik <strong>de</strong>r Verkehrs- und Nachrichtenmittel" aus <strong>de</strong>m Meer "einen Raum im<br />
heutigen Sinne <strong>de</strong>s Wortes gemacht" habe. <strong>Das</strong> Meer sei kein Element mehr, son<strong>de</strong>rn genauso wie<br />
die Luft "ein Kraftfeld menschlicher Energie, Aktivität und Leistung gewor<strong>de</strong>n".<br />
Wie einst die Hegemonie Großbritanniens beruht die <strong>de</strong>r Amerikaner auf <strong>de</strong>r globalen Herrschaft<br />
über die Meere, die sich nun um die Herrschaft über <strong>de</strong>n Luftraum erweitert, und auf <strong>de</strong>r fehlen<strong>de</strong>n<br />
Einheit <strong>de</strong>s eurasischen Raums. Dies sind alte Konstellationen, aber sie kommen aktuell in weit<br />
größerem Ausmaß zum Tragen. Die Amerikaner haben die Briten an <strong>de</strong>r Macht abgelöst. Europa<br />
insgesamt übernimmt die Rolle, die früher Deutschland zukam. Gleichzeitig geht das "<strong>große</strong><br />
<strong>Schachspiel</strong>" wie<strong>de</strong>r los, bei <strong>de</strong>m sich einst Großbritannien und Rußland gegenübersaßen, <strong>de</strong>ssen<br />
wichtigste Figuren aber dieselben geblieben sind: Zentralasien, Mesopotamien, Iran und<br />
Afghanistan.<br />
In <strong>de</strong>r Vergangenheit schränkten geopolitische Konstanten vor allem die Staaten in ihrer<br />
Handlungsfreiheit ein. Zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>r westlichen Hemisphäre befin<strong>de</strong>n sich diese mittlerweile in<br />
einer anscheinend irreversiblen Krise. Heute legt die Geopolitik kontinentale Zusammenhänge<br />
offen, die lange Zeit unter <strong>de</strong>n ungeordneten Umtrieben <strong>de</strong>r Staaten verschüttet blieben. Sie verhilft<br />
uns dazu, nicht mehr nationalstaatlich, son<strong>de</strong>rn kontinental <strong>de</strong>nken zu können.<br />
Den alten Kampf Meer gegen Er<strong>de</strong> führen heute die USA gegen <strong>de</strong>n "Rest <strong>de</strong>r Welt", vor allem aber<br />
gegen <strong>de</strong>n europäischen Kontinentalblock. Die Achse Madrid-Paris-Berlin-Moskau erhält aus dieser<br />
Perspektive ganz enorme Be<strong>de</strong>utung, dasselbe gilt für die Achse Moskau-Teheran-Neu-Delhi. Der<br />
<strong>de</strong>utsch-russische Block liegt immer noch im Herzen <strong>de</strong>r "Weltmitte". <strong>Das</strong> Schicksal <strong>de</strong>r Welt hängt<br />
<strong>de</strong>shalb von <strong>de</strong>r Verbündung dieser bei<strong>de</strong>n Staaten ab. Auch hier hat <strong>de</strong>r Untergang <strong>de</strong>s<br />
sowjetischen Systems klare Fronten geschaffen. Alles an<strong>de</strong>re entschei<strong>de</strong>t die unbekannte Variable<br />
China.<br />
© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.<strong>de</strong> 05/05 28. Januar 2005