Sport im Orient - [di.wan] Berlin
Sport im Orient - [di.wan] Berlin
Sport im Orient - [di.wan] Berlin
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[dī.wān] 07.2007<br />
Von Nahost bis <strong>Berlin</strong><br />
<strong>Sport</strong> <strong>im</strong> <strong>Orient</strong><br />
von Anabolika bis Ziegenjagd<br />
Islam@net<br />
Beratung aus dem Cyberspace<br />
Spielend Allah erleben<br />
Ein Besuch <strong>im</strong> islamischen Kindergarten in Potsdam<br />
+++ POLITIK IN DER TÜRKEI +++ INTERVIEW MIT SAHIRA AWAD +++ VERANSTALTUNGSKALENDER +++
TITELFOTO<br />
Abderrazak Essahabi<br />
Impressum<br />
CVD<br />
Dörthe Engels, AkınH. Doğan<br />
REDAKTION<br />
Nushin Admaca, Sophie Bleich, Philipp Dehne, Nora Derbal,<br />
Julia Gebert, Jannis Hagmann, Katharina Mühlbeyer,<br />
Alexander Kalbarczyk, Nora K. Schmid<br />
LAYOUT<br />
Manuela Gaeth<br />
WEITERE MITARBEIT AN DIESER AUSGABE<br />
Omar Ansari, Ben Georg, Thomas Hilsem, Jasna Zajcek<br />
KONTAKT<br />
<strong>di</strong><strong>wan</strong>berlin@yahoo.de<br />
Ein Projekt der Fachschaftsinitiative IsTurArIr der Freien Universität <strong>Berlin</strong>.<br />
Verantwortliche <strong>im</strong> Sinne des Pressegesetzes sind <strong>di</strong>e jeweiligen Autoren.<br />
SPENDENKONTO<br />
[dī.wān]<br />
KtoNr. 200823995<br />
BLZ 72050101<br />
Kreissparkasse Augsburg<br />
Wer in <strong>di</strong>e arabische Welt reist und das<br />
Gespräch mit den Menschen vor Ort über<br />
<strong>di</strong>e „ernsten“ Dinge des Lebens sucht, wird<br />
meist schnell enttäuscht. Der Kontakt ist<br />
leicht gefunden, der Tee schon bestellt, aber<br />
eine angeregte Konversation über Politik und<br />
Gesellschaft in Tunesien, Ägypten oder Syrien<br />
bleibt aus – sei es aufgrund tatsächlichen Desinteresses<br />
des (männlichen) Gesprächpartners<br />
oder dessen Angst vor Spitzeln der Regierung.<br />
Der kluge Reisende lässt sich daher lieber<br />
zunächst auf das allgemeine Lieblingsthema<br />
ein: Fußball. Wer wenigstens einen Spieler<br />
der Nationalmannschaft des Urlaubslandes<br />
namentlich bereit hat, wird sofort ins Herz<br />
geschlossen. „Youssef Hadji good“, könnte es<br />
beispielsweise in Marokko heißen. Zumeist<br />
folgen dann be<strong>im</strong> Gegenüber sämtliche deutsche<br />
Bundesligisten, auswärtige Spieler und<br />
Teilnehmer der Weltmeisterschaft von 1954<br />
plus Trainer, versehen mit Kommentaren zu<br />
einzelnen Spielszenen. Die Ge<strong>wan</strong>dtheit des<br />
Berichtens lässt erkennen, dass Männer <strong>im</strong><br />
Straßencafé kaum über etwas anderes reden.<br />
An den strahlenden Gesichtern von Jung und<br />
Alt ist <strong>di</strong>e Sehnsucht nach Europa abzulesen.<br />
Die Spiele der deutschen Bundesliga holen<br />
das Land jenseits des großen Meeres für 90<br />
Minuten in jedes Wohnz<strong>im</strong>mer und lassen sie<br />
alle teilhaben an der großen Fußballfamilie, in<br />
der für den Moment nicht zählt, wo Du herkommst.<br />
In <strong>di</strong>eser dritten Ausgabe des [dī.wān]<br />
möchten wir den etwas ungewöhnlichen<br />
Schritt wagen, uns den islamischen Gesellschaften<br />
von Nahost bis <strong>Berlin</strong> auf einer<br />
anderen, vielleicht realeren Ebene zu nähern.<br />
Die meisten Menschen betreiben in irgendeiner<br />
Art und Weise <strong>Sport</strong> – in Form von<br />
reiner Fortbewegung, spontan auf der Straße<br />
mit Freunden oder organisiert in Vereinen.<br />
Viele <strong>Sport</strong>arten haben in der islamischen<br />
Welt eine lange Tra<strong>di</strong>tion und machen einen<br />
großen Teil der Kultur aus. Andere erleben erst<br />
seit einigen Jahren einen Boom. Und manche<br />
Länder definieren sich sogar über ihren <strong>Sport</strong><br />
und benutzen ihn als Statussymbol <strong>im</strong> internationalen<br />
Vergleich.<br />
Wir sprechen mit Fußballfans in Ägypten,<br />
dem Gewinner des AfrikaCups 2006.<br />
Der ProfiBodybuilder Abderrazak Essahabi<br />
gibt Einblicke in <strong>di</strong>e neue Trendsportart Bodybuil<strong>di</strong>ng<br />
in Marokko. Der Wettkampf um <strong>di</strong>e<br />
tote Ziege in Afghanistan ist eine ganz andere<br />
<strong>Sport</strong>art zu Pferde als das alljährlich stattfindende<br />
höchstdotierte Rennen der Welt in Dubai.<br />
Und Schach ist ein Spiel der Geschichte, in<br />
dem Schwarz gegen Weiß kämpft.<br />
Macht Euch warm, liebe Leserschaft, auf<br />
dass sich be<strong>im</strong> Schmökern kein Muskelkater<br />
anschleicht! Ein frohes Mitmachen bei den<br />
<strong>Sport</strong>arten der islamischen Welt wünscht der<br />
[dī.wān]!<br />
07.2007 [dī.wān] 3<br />
Macht Euch warm, liebe Leserschaft!<br />
Lust mitzumachen?<br />
Wir laden ein zur<br />
Redaktionssitzung!<br />
> 27. Juni 2007, 18 Uhr<br />
> Café der Islamwissenschaft<br />
in der Altensteinstraße 40
4 [dī.wān] 07.2007 07.2007 [dī.wān] 5<br />
POLITIK<br />
06 Irakische „Besucher“ in Syrien<br />
Eine Million Iraker in Syrien<br />
von Julia Gebert<br />
08 „Kein Frieden ohne Brot“<br />
Die wirtschaftliche Situation in den<br />
paläs tinensischen Autonomiegebieten<br />
von Thomas Hilsem<br />
10 Herr Schumann und <strong>di</strong>e Hizbullah<br />
Ein Deutscher organisiert den Aufstand in Beirut<br />
von Jasna Zajcek<br />
12 Die Terra incognita Pakistans<br />
Die Situation in den nördlichen Gebieten<br />
von Ben Georg<br />
14 Vom Islamismus zur Demokratie?<br />
Die politische Situation in der Türkei<br />
von Alexander Kalbarczyk<br />
GESELLSCHAFT<br />
17 Einen Klick von der Lösung<br />
entfernt<br />
Islam <strong>im</strong> Internet<br />
von Sophie Bleich<br />
19 Kulturpara<strong>di</strong>es am Mittelmeer<br />
Interkultureller Dialog in Alexandria<br />
von Nushin Atmaca<br />
21 Seine Hoheit rettet Kairos Altstadt<br />
Der Aga Khan renoviert Ägyptens Metropole<br />
von Jannis Hagmann<br />
SPECIAL<br />
24 Gesunder Musl<strong>im</strong> in gesundem Körper<br />
Tra<strong>di</strong>tion gegen Moderne <strong>im</strong> <strong>Sport</strong><br />
von Akın-H. Doğan<br />
26 Das Leder rollt durch Teehäuser<br />
und über den Bildschirm<br />
Fußball ist in Ägypten keine Männersache mehr<br />
von Philipp Dehne<br />
„P<strong>im</strong>p my Muscles“ 29<br />
Bodybuil<strong>di</strong>ng ist bei marokkanischen Männern<br />
eine der beliebtesten <strong>Sport</strong>arten<br />
von Dörthe Engels und Omar Ansari<br />
Ebru boxt sich durch 31<br />
Das schwache Geschlecht<br />
auf dem Siegertreppchen<br />
von Katharina Mühlbeyer<br />
<strong>Sport</strong> für den Geist 34<br />
Das Märchen vom toten Shah<br />
von Nora K. Schmid<br />
Buzkaschi – der Kampf um <strong>di</strong>e Ziege 37<br />
Polo auf Afghanisch<br />
von Nushin Atmaca<br />
Schnell wie der Wind 39<br />
Der Dubai World Cup ist das<br />
höchstdotierte Pferderennen der Welt<br />
von Dörthe Engels<br />
MUSLIME IN BERLIN<br />
Zukunft der Geschichte 41<br />
Interkulturellen Geschichtsvermittlung<br />
in der Ein<strong>wan</strong>derungsgesellschaft<br />
von Dörthe Engels<br />
„Wir sind <strong>im</strong>mer aktiv“ 44<br />
Ein Besuch<br />
in der islamischen Kindergruppe Potsdam<br />
von Dörthe Engels<br />
INTERVIEW<br />
Nur aus dem Bitteren 46<br />
kann das Süße entstehen<br />
Im Gespräch mit der Wahl<br />
Wed<strong>di</strong>ngerin Sahira Awad<br />
von Akın-H. Doğan<br />
HÖRBAR<br />
Eigentümliche Grazie, 48<br />
lächelnde Wehmut<br />
Der Violinist Farid Farjad<br />
von Nora Derbal<br />
LESBAR<br />
Ein Werk 49<br />
der islamischen Aufklärung<br />
Ibn Warraqs „Warum ich kein Musl<strong>im</strong> bin“<br />
von Dörthe Engels<br />
BERLIN IM VISIER<br />
Veranstaltungskalender 50<br />
Juli bis Oktober 2007
6 [dī.wān] 07.2007 POLITIK<br />
POLITIK<br />
07.2007 [dī.wān] 7<br />
Irakische „Besucher“ oder wie Syrien<br />
mit dem Flüchtlingsproblem umgeht<br />
Der syrischen Politik der offenen Tür folgen seit 2006 harsche<br />
Beschränkungen <strong>im</strong> Umgang mit geflohenen Irakern. Anders weiß<br />
sich der Staat des Problems einer Million Flüchtlinge offenbar nicht<br />
mehr zu erwehren<br />
Gestiegene Mieten, hohe<br />
Lebensmittelpreise und eine<br />
Infrastruktur, <strong>di</strong>e aus allen Nähten<br />
platzt – Syrien hat nicht nur<br />
ein syrisches demographisches<br />
Problem, sondern seit dem<br />
Krieg <strong>im</strong> Nachbarland auch ein<br />
irakisches. Nachdem das Baath<br />
Reg<strong>im</strong>e <strong>im</strong> Irak gestürzt wurde,<br />
hat Syrien, wo <strong>di</strong>e Schwesterpartei<br />
der Baath noch fest <strong>im</strong> Sattel<br />
sitzt, bis heute mit einer Million<br />
<strong>di</strong>e größte Anzahl an irakischen<br />
Flüchtlingen aufgenommen.<br />
Doch <strong>di</strong>e Solidarität hat sich<br />
nicht ausgezahlt: Zwar loben <strong>di</strong>e<br />
Vereinten Nationen <strong>di</strong>e „großzügige<br />
Haltung“ des Landes,<br />
doch <strong>di</strong>e BushRegierung in<br />
Washington vergibt noch lange<br />
keine Bonuspunkte an Damaskus.<br />
Als es der syrischen Administration<br />
<strong>im</strong> vergangenen<br />
Jahr dämmerte, welche negativen<br />
Auswirkungen <strong>di</strong>e lange<br />
und schwer zu kontrollierende<br />
Grenze zum Irak für Syrien hat,<br />
änderte sich <strong>di</strong>e syrische Gastfreundlichkeit<br />
drastisch.<br />
Syrien erkennt<br />
Flüchtlinge<br />
offiziell nicht an<br />
„Es kommen täglich 2.000<br />
Flüchtlinge über <strong>di</strong>e syrischirakische<br />
Grenze“, sagt Petros<br />
Mastakas, der bei der Vertretung<br />
des United Nations High<br />
Commissioner for Refugees<br />
(UNHCR) in Damaskus tätig ist.<br />
Er erläutert <strong>di</strong>e Arbeit der Organisation:<br />
„Der UNHCR hilft hier<br />
vor allem be<strong>im</strong> Management<br />
der Flüchtlingskrise und trainiert<br />
<strong>di</strong>e syrischen Ministerien<br />
<strong>im</strong> Umgang mit der Situation.“<br />
Finanzielle Hilfe spielt eine Nebenrolle:<br />
„Das Bildungsministerium<br />
bekommt zum Beispiel nur<br />
fünf Millionen Dollar jährlich<br />
und muss davon neue Schulen<br />
bauen, weil fast <strong>di</strong>e Hälfte der<br />
Flüchtlinge unter 18 Jahre alt<br />
ist und <strong>di</strong>e syrische Regierung<br />
kostenlosen Schulbesuch versprochen<br />
hat“, erklärt Mastakas.<br />
Die UNHCRFiliale <strong>im</strong> schicken<br />
Damaszener Stadtteil Abu Roumana<br />
musste aufgrund des Ansturms<br />
der Flüchtlinge <strong>im</strong> März<br />
eine Zweigstelle errichten, <strong>di</strong>e<br />
allein für <strong>di</strong>e Registrierung zustän<strong>di</strong>g<br />
ist. Die syrische Regierung<br />
zeigt sich den Flüchtlingen<br />
neuer<strong>di</strong>ngs weniger zuge<strong>wan</strong>dt.<br />
„Syrien hat <strong>di</strong>e Genfer Flüchtlingskonvention<br />
von 1951 nicht<br />
unterzeichnet. Das heißt, <strong>di</strong>e<br />
Flüchtlinge werden hier nicht<br />
anerkannt“, sagt Mastakas. Auch<br />
stehen den Irakern nicht mehr<br />
<strong>di</strong>e Leistungen des syrischen Sozialsystems<br />
offen, wie es anfangs<br />
der Fall war. Aufenthaltsgenehmigungen<br />
werden in wechselnden<br />
Rhythmen mit unterschiedlichen<br />
Auflagen vergeben: Mal<br />
genügt zur Verlängerung nach<br />
von Julia Gebert<br />
drei Monaten ein Stempel an<br />
der syrischirakischen Grenze,<br />
mal müssen Flüchtlinge einen<br />
Monat außerhalb des Landes<br />
verbringen, um wieder einreisen<br />
zu können.<br />
„Mein Name<br />
war auf der<br />
Todesliste“<br />
Der Großteil der Iraker hat<br />
sich eine Bleibe in Damaskus<br />
gesucht. Es gibt jedoch auch<br />
Gemeinden <strong>im</strong> Norden, in<br />
Aleppo oder Kleinstädten nahe<br />
der irakischen Grenze, in denen<br />
<strong>di</strong>e Flüchtlinge unterkommen.<br />
Die ethnische und konfessionelle<br />
Zusammensetzung der<br />
Exilanten in Damaskus spiegelt<br />
einen anderen Irak wieder:<br />
Laut dem UNHCRBericht von<br />
2006 sind 18% der Flüchtlinge<br />
Christen, 57% schiitische Musl<strong>im</strong>e<br />
und 22,5% sunnitische Musl<strong>im</strong>e,<br />
davon nur 1,5% Kurden.<br />
Anfangs gehörte nach<br />
UNOAngaben ein Großteil der<br />
Flüchtlinge der irakischen Mittelschicht<br />
an, mittlerweile haben<br />
jedoch viele ihre Ersparnisse<br />
aufgebraucht und sind verarmt.<br />
Namir, der noch 2006 <strong>im</strong> Irak als<br />
Ingenieur arbeitete, gehört zu<br />
den noch wohlhabenden Irakern<br />
in Damaskus. Nach dem Fall des<br />
Reg<strong>im</strong>es arbeitete er für eine<br />
amerikanische Firma, deren Fili<br />
ale letztes Jahr Ziel eines Brandanschlags<br />
war und danach nicht<br />
wieder aufgebaut wurde. Die<br />
irakischen Angestellten wurden<br />
anschließend von der alMah<strong>di</strong><br />
Miliz des schiitischen Anführers<br />
Muqtada asSadr bedroht.<br />
„Ich hatte schiitische Freunde,<br />
<strong>di</strong>e mich gewarnt haben, dass<br />
mein Name auf einer Todesliste<br />
ist“, sagt Namir. „Daraufhin bin<br />
ich Hals über Kopf nach Syrien<br />
gereist.“ Namir harrt derweil<br />
in Damaskus aus und lebt wie<br />
viele Iraker noch vom Ersparten,<br />
während <strong>di</strong>e amerikanische<br />
Firma eine geringe Abfindung<br />
zahlt.<br />
Konkurrenz<br />
auf dem<br />
Arbeitsmarkt<br />
Jetzt lebt Namir mit vier<br />
ehemaligen Ingenieurskollegen<br />
<strong>im</strong> schiitischen Viertel<br />
Saida Sainab, wo sie als Sunniten<br />
<strong>di</strong>e Ausnahme darstellen.<br />
Das Viertel hat sich in einen<br />
Irak <strong>im</strong> Kleinformat ver<strong>wan</strong>delt:<br />
Restaurants bieten Speisen aus<br />
dem Zweistromland an, deren<br />
Namen sogar <strong>di</strong>e ortskun<strong>di</strong>gen<br />
Damaszener ratlos lassen. An<br />
jeder Ecke wird für Taxifahrten<br />
nach Bagdad geworben. Kein<br />
Wort syrischer Dialekt ist mehr<br />
zu hören.<br />
Obwohl es den Flüchtlingen<br />
in Syrien verboten ist, einer<br />
Erwerbstätigkeit nachzugehen,<br />
murren <strong>di</strong>e Einhe<strong>im</strong>ischen über<br />
Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.<br />
Der UNHCRBericht<br />
bestätigt <strong>di</strong>esen Eindruck: Rund<br />
50% der männlichen irakischen<br />
Flüchtlinge sind in der Schattenwirtschaft<br />
tätig. Auch Frauen<br />
und Kinder haben an jenem Sektor<br />
der syrischen Wirtschaft teil,<br />
wenngleich nicht <strong>im</strong>mer freiwillig.<br />
Der UNBericht erwähnt <strong>di</strong>e<br />
steigende Tendenz von Z<strong>wan</strong>gsprostitution<br />
durch kr<strong>im</strong>inelle<br />
Netzwerke, <strong>di</strong>e irakische Frauen<br />
an <strong>di</strong>e zahlreichen „Nightclubs“<br />
in Damaskus verkauften.<br />
Aus Sicht der Damaszener<br />
Rotlichtszene lässt sich das so<br />
zusammenfassen: „Die Irakerinnen<br />
haben den Russinnen<br />
das Geschäft kaputt gemacht,<br />
<strong>di</strong>e Preise für eine Nacht sind<br />
rapide gesunken.“<br />
Weiterreise nach<br />
Dubai oder Europa<br />
Doch nicht nur in der syrischen<br />
Bevölkerung wächst der<br />
Unmut über <strong>di</strong>e Verschlechterung<br />
der Infrastruktur und <strong>di</strong>e<br />
Lage auf dem Arbeitsmarkt,<br />
auch unter den Irakern gibt es<br />
nur wenige, <strong>di</strong>e auf Dauer in<br />
Syrien bleiben wollen. Viele hoffen<br />
auf eine Weiterreise in ein<br />
sicheres Drittland. Unter den<br />
beliebtesten Regionen sind <strong>di</strong>e<br />
Golfländer, Europa und Nordamerika.<br />
Der Ausreisewille vieler<br />
Iraker kann nicht darüber<br />
hinwegtäuschen, dass sich <strong>di</strong>e<br />
AssadAdministration offensichtlich<br />
in der Reichweite des<br />
Flüchtlingsproblems verschätzt<br />
hat und <strong>di</strong>e Flüchtlinge nun<br />
lieber heute als morgen wieder<br />
Richtung Bagdad fahren sehen<br />
würde: So sprach der syrische<br />
Vizepremier Abdullah alDardari<br />
in einem SpiegelOnline<br />
Interview <strong>im</strong> Februar 2007 nicht<br />
etwa von Flüchtlingen, sondern<br />
von irakischen „Besuchern“.<br />
Schiiten in Sayyda Zainab<br />
begehen das Aschura-Ritual –<br />
In Erinnerung des Imams Hussein
8 [dī.wān] 07.2007 POLITIK<br />
POLITIK<br />
07.2007 [dī.wān] 9<br />
„Kein Frieden ohne Brot.<br />
Kein Brot ohne Geld.“<br />
Der Frieden <strong>im</strong> Nahen Osten scheint weit entfernt – dabei gibt es eine<br />
einfache Formel… von Thomas Hilsem<br />
Immer wieder wird <strong>di</strong>e<br />
Führung der Palästinensischen<br />
Autonomiegebiete zur Lösung<br />
des inneren Konflikts und zu<br />
Bemühungen für <strong>di</strong>e Schaffung<br />
eines friedlichen Nahen Osten<br />
aufgerufen. Doch eines wurde<br />
dabei bisher vergessen: „Kein<br />
Frieden ohne Brot. Kein Brot<br />
ohne Geld.“ Die Situation in<br />
den besetzten Gebieten ist verheerend.<br />
Offizielle Statistiken<br />
bescheinigen, dass momentan<br />
44% der palästinensischen<br />
Bevölkerung unter der Armutsgrenze<br />
leben. Besonders stark<br />
betroffen ist der GazaStreifen,<br />
der auch mit einer hohen Arbeitslosigkeit<br />
zu kämpfen hat.<br />
Den traurigen „Arbeitslosen<br />
Rekord“ halten jedoch <strong>di</strong>e vielen<br />
palästinensischen Flüchtlingslager<br />
(ca. 60%). Was sind <strong>di</strong>e<br />
Gründe für eine solche wirtschaftliche<br />
Eiszeit?<br />
Wirtschaft<br />
und Intifada<br />
Die Wurzeln der heutigen<br />
wirtschaftlichen Situation in<br />
den Palästinensischen Gebieten<br />
reichen bis zum Ausbruch der<br />
„AlAqsaIntifada” <strong>im</strong> September<br />
2000 zurück. Denn vor <strong>di</strong>esem<br />
Einschnitt ver<strong>di</strong>enten viele<br />
Palästinenser ihren Lebensunterhalt<br />
jenseits der „Mauer“ in<br />
Israel, oder hinter den Zäunen in<br />
israelischen Siedlungen. Israelis<br />
überquerten damals regelmäßig<br />
<strong>di</strong>e offenen Grenzen, um in der<br />
günstigeren West Bank einzukaufen.<br />
Doch der Gang Ariel Scharons<br />
auf den Tempelberg, der<br />
Ausbruch der Intifada, das Scheitern<br />
der Friedensverhandlungen<br />
in Camp David (Juli 2000) hatten<br />
weitreichende Folgen, <strong>di</strong>e sich<br />
<strong>di</strong>rekt auf <strong>di</strong>e wirtschaftliche<br />
Situation auswirkten. Eine Folge<br />
war <strong>di</strong>e von der israelischen<br />
Regierung ab März 2002 durchgeführte<br />
Operation „Defensive<br />
Shield“. Diese schränkte den<br />
Personen und Warenverkehr<br />
zwischen Israel und den Palästinensischen<br />
Autonomiegebieten<br />
so weit ein, dass der Anteil der<br />
palästinensischen Arbeiter in Israel<br />
und israelischen Siedlungen<br />
von 22% auf 8% sank. Im Jahr<br />
2003 passierten <strong>im</strong> Gegensatz<br />
zum Vorjahr nur noch halb so<br />
viele Waren <strong>di</strong>e Grenzen zwischen<br />
West Bank und Israel. Das<br />
zusätzliche Einfuhrverbot von<br />
als gefährlich eingestuften Waren<br />
z<strong>wan</strong>g einige Fabriken dazu,<br />
ihre Produk tion einzustellen.<br />
Auch der freie Fluss von Transaktionen<br />
wurde verhindert und<br />
so dem Handel seine Grundlage<br />
entzogen. Ausgangssperren,<br />
<strong>di</strong>e 2002 zeitweise mehr als ein<br />
Drittel der Bevölkerung der<br />
West Bank betrafen, sowie <strong>di</strong>e<br />
Errichtung weiterer Grenzen<br />
und Barrieren innerhalb der<br />
besetzten Gebiete machten den<br />
Weg zu den wenigen damals<br />
noch vorhanden Arbeitsplätzen<br />
teilweise unmöglich.<br />
Israel begründete sein Vorgehen<br />
damit, dass <strong>di</strong>es <strong>di</strong>e einzige<br />
Möglichkeit sei, <strong>di</strong>e eigene<br />
Bevölkerung in den Siedlungen<br />
und in Israel vor den stark zugenommenenSelbstmordattentaten<br />
zu schützen.<br />
In <strong>di</strong>e eigene<br />
Tasche<br />
Auf der Suche nach Gründen<br />
für <strong>di</strong>e wirtschaftlich schwachen<br />
palästinensischen Gebiete wird<br />
man natürlich auch <strong>im</strong> „Inland“<br />
und insbesondere in den Reihen<br />
der Politiker fün<strong>di</strong>g. Nicht<br />
ohne Grund gaben 52% der palästinensischen<br />
Bevölkerung bei<br />
Umfragen des Palestinian Center<br />
for Policy and Survey Research<br />
(Nr. 19, 03.2006) an, <strong>di</strong>e ausufernde<br />
Korruption sei einer der<br />
Hauptgründe des Regierungswechsels<br />
und der Niederlage<br />
der Fatah bei den Wahlen zum<br />
Palästinensischen Legislativrat<br />
<strong>im</strong> Januar 2006. Deutlich macht<br />
<strong>di</strong>ese Meinung auch folgender<br />
Witz, der sich auf den Straßen<br />
von Ramallah erzählt wird:<br />
Während einer Jubiläumsfeier<br />
der Fatah sitzt Mahmud<br />
Abbas, genannt Abu Mazen, mit<br />
seinen Amtskollegen in einer<br />
großen Runde zusammen und<br />
genießt <strong>di</strong>e Feierlichkeit. Plötzlich<br />
muss er einen Anruf seiner<br />
Frau entgegennehmen. Aus<br />
dem Hörer schallt es: „Komm<br />
schnell, schnell, ich glaube, am<br />
Haus machen sich Kr<strong>im</strong>inelle<br />
zu schaffen!“ Worauf er nur<br />
geantwortet haben soll: „Mach<br />
<strong>di</strong>r keine Sorgen, Habibati. Die<br />
sitzen doch alle hier am Tisch!“<br />
Mittlerweile neigen viele<br />
Palästinenser schon dazu, den<br />
Witz mit Ismail Hanija (Hamas)<br />
statt Abu Mazen zu erzählen.<br />
Unterstützung<br />
aus dem Ausland<br />
Die PLO ist als Arbeitgeber<br />
<strong>im</strong> öffentlichen Sektor eine<br />
der Haupteinnahmequellen in<br />
den Autonomiegebieten. Dabei<br />
erhalten nicht nur Politiker, sondern<br />
auch Lehrer, Busfahrer etc.<br />
hier ihren Lohn. Die Existenz<br />
eines Viertels der Bevölkerung<br />
hängt von <strong>di</strong>esen Geldern ab.<br />
Nach dem Wahlsieg der Hamas<br />
wurde <strong>di</strong>e Auszahlung knapp einer<br />
Milliarde westlicher Gelder,<br />
<strong>di</strong>e <strong>di</strong>e PLO nutzte, eingestellt.<br />
So auch <strong>di</strong>e zweite finanzielle<br />
Stütze: Die Auszahlungen der<br />
an Grenzübergängen durch<br />
Israel eingenommenen Steuern.<br />
Die Folgen waren u.a. das<br />
Ausbleiben der Lehrerlöhne,<br />
was zu Protesten <strong>im</strong> Bildungsbereich<br />
und so zu wochenlangem<br />
Unterrichtsausfall führte.<br />
So waren es nicht wenige Erstklässler,<br />
<strong>di</strong>e sich an ihrem<br />
gespannt erwarteten ersten<br />
Schultag vor einem geschlossenen<br />
Hoftor wiederfanden.<br />
Ein Riegel vorgeschoben<br />
wurde auch zahlreichen europäischen<br />
Projekten wie dem der<br />
Eurocops. Diese waren zwar vor<br />
Ort, bestens ausgerüstet und<br />
motiviert, um <strong>di</strong>e Ausbildung<br />
der palästinensischen Polizei<br />
zu übernehmen, mussten sich<br />
aber über einen Zeitraum von<br />
mehreren Monaten hinweg anderweitig<br />
beschäftigen. Die Einbrecher,<br />
<strong>di</strong>e dadurch vielleicht<br />
entkamen, konnten sich doppelt<br />
glücklich schätzen, denn <strong>im</strong> Gefängnis<br />
herrschte wie in anderen<br />
öffentlichen Einrichtungen<br />
Nahrungsmittelknappheit.<br />
Armut und Perspektivlosigkeit<br />
stellen eine der Hauptursachen<br />
für Gewaltbereitschaft<br />
rund um den Globus dar. Dies<br />
machte auch der Präsident des<br />
Bundesnachrichten<strong>di</strong>enstes,<br />
Ernst Uhrlau, bei einem Vortrag<br />
in der „<strong>Berlin</strong>Brandenburgischen<br />
Akademie der Wissenschaften“<br />
<strong>im</strong> Sommer 2006 klar.<br />
Sein Einfluss scheint aber offensichtlich<br />
nicht bis in <strong>di</strong>e Ränge<br />
der EU, <strong>di</strong>e Autonomiegebiete<br />
und auch nicht bis nach Israel zu<br />
reichen. Denn dort scheint <strong>di</strong>e<br />
Strategie bisher noch zu heißen:<br />
„Frieden ohne Brot“ oder „Brot<br />
ohne Geld“. Dabei sieht <strong>di</strong>e Realität<br />
doch anders aus…<br />
Neuer Mauerabschnitt in Ostjerusalem
10 [dī.wān] 07.2007 POLITIK<br />
POLITIK<br />
07.2007 [dī.wān] 11<br />
Herr Schumann und <strong>di</strong>e Hizbullah<br />
Hassan Schumann hat einmal in Schöneberg gewohnt und Autos<br />
verkauft. Jetzt ist er Bürgermeister des Schiiten-Camps, das <strong>di</strong>e<br />
westliche Regierung in Beirut stürzen will<br />
von Jasna Zajcek<br />
Beirut ist belagert. Zwar<br />
säuseln <strong>di</strong>e Männer an der<br />
Strandpromenade wie <strong>im</strong>mer<br />
ein „Bonjour“ oder st<strong>im</strong>men<br />
ein kleines Liebeslied an, wenn<br />
junge Frauen an ihnen vorbeiflanieren.<br />
Zwar bieten <strong>di</strong>e<br />
Strandrestaurants wie <strong>im</strong>mer<br />
auf ihrer französischen Speisekarte<br />
hervorragenden Fisch und<br />
gute libanesische Weine an, und<br />
auch an den Stränden baden <strong>di</strong>e<br />
Menschen <strong>im</strong> März wie <strong>im</strong>mer.<br />
Aber <strong>di</strong>e Belagerung ist da. Sie<br />
kommt von innen und ist allgegenwärtig.<br />
Wie <strong>di</strong>e zerschossenen<br />
Ruinen, <strong>di</strong>e vereinzelt<br />
zwischen den glitzernden Neubauten<br />
der Stadt stehen und an<br />
den Bürgerkrieg erinnern.<br />
Hassan Schumann ist einer<br />
der Belagerer. Mitten in Beirut<br />
haben ra<strong>di</strong>kalislamische Kräfte<br />
ein Zeltlager errichtet. Die schiitische<br />
Hizbullah demonstriert<br />
seit Wochen in der Innenstadt.<br />
Schumann ist der Chef der revolutionären<br />
Camper. Tausende<br />
Schiiten, Männer, Frauen, Kinder.<br />
Sie wollen <strong>di</strong>e prowestliche<br />
Regierung stürzen.<br />
Schumann lebte sieben Jahre<br />
lang in Schöneberg, in der Fuggerstraße,<br />
bis Mitte der NeunzigerJahre.<br />
„Direkt neben Romy<br />
Haag. Das ist ein Mann oder<br />
eine Frau, so genau weiß das<br />
keiner. Kennen sie Romy? Wir<br />
<strong>im</strong> Libanon haben auch solche<br />
Leute.“ Er lacht.<br />
Er war Autohändler, seine<br />
Kinder gingen in <strong>di</strong>e deutsche<br />
Grundschule, spielten Fußball<br />
bei den BSC Kickers 1900. „In<br />
Deutschland musste ich viel<br />
organisieren“, sagt er. „Bei euch<br />
macht man Sachen <strong>im</strong>mer richtig.<br />
Mit Papieren, <strong>di</strong>e man bei<br />
Ämtern kriegt. Mensch, was<br />
musste ich mich <strong>im</strong>mer um <strong>di</strong>e<br />
Ausweise von meinen Autos<br />
kümmern.“ Deutschland sei für<br />
ihn „ein gutes Land, in dem alles<br />
funktioniert“, er habe viel von<br />
den Deutschen und ihrem Organisationstalent<br />
gelernt. „Ihr habt<br />
so gute Ärzte, und alle arbeiten<br />
umsonst. Hier muss man Geld<br />
be<strong>im</strong> Arzt bezahlen, viel Geld<br />
<strong>im</strong> Voraus.“ Deutschland sei ein<br />
„fast perfektes“ Land. Nur das<br />
Wetter habe ihn gestört.<br />
Die Hizbullah war wohl der<br />
Meinung, dass man ein guter<br />
Organisator sein muss, wenn<br />
man so lange in Deutschland<br />
gelebt hat.<br />
Um zu Schumanns CampingLager<br />
zu kommen, muss<br />
man durch „Downtown“ laufen.<br />
Das Viertel wurde in den<br />
Dreißiger Jahren von den Franzosen<br />
erbaut, <strong>im</strong> Bürgerkrieg<br />
komplett zerstört, dann von<br />
Rafiq Hariri rekonstruiert. Hier<br />
stehen Kirchen und Moscheen<br />
nebeneinander, friedlich darf<br />
jeder seinen Glauben ausüben.<br />
Jeden Abend ruft der Muezzin<br />
zum Gebet, dann läuten <strong>di</strong>e Kirchenglocken.<br />
Die Gotteshäuser<br />
füllen sich, und es fühlt sich an,<br />
als ob ein Friede der Religionen<br />
sogar hier <strong>im</strong> Libanon, wo es<br />
über 40 Glaubensrichtungen<br />
gibt, möglich sei. Es ist ein liberales,<br />
ein westliches Viertel.<br />
Schumann sagt: „Wir wollen uns<br />
aber nicht nach Westen öffnen.“<br />
Dass zwei Drittel seiner Landsleute<br />
das anders sehen, interessiert<br />
ihn nicht.<br />
Je näher man dem HizbullahCamp<br />
kommt, desto klarer<br />
wird, dass man sich in einem<br />
Land unter Waffen befindet. An<br />
jeder Straßenecke stehen Panzer<br />
und Soldaten der Regierungsarmee.<br />
An allen Kreuzungen<br />
sind sie postiert, beaufsichtigen<br />
Straßensperren. Die jungen<br />
Wehrpflichtigen tragen Uniformen<br />
in grauweißem Tarn<br />
Look, Kalaschnikows hängen<br />
an ihren Schultern. Sie sollen<br />
aufpassen, dass <strong>di</strong>e Hizbullah<br />
und Herr Schumann nicht <strong>di</strong>e<br />
Oberhand gewinnen oder gar<br />
einen Putsch mit Waffengewalt<br />
versuchen. Haben <strong>di</strong>e Soldaten<br />
gerade nichts zu tun, sieht man<br />
sie be<strong>im</strong> Herumspielen mit ihren<br />
Handys.<br />
Herr Schumann betritt ein<br />
durch Stacheldraht abgesperrtes<br />
Areal. Das Ziel sei, den Libanon<br />
in einen schiitischen Gottesstaat<br />
zu ver<strong>wan</strong>deln, sagt er freundlich<br />
auf Deutsch. Um das zu erreichen,<br />
campieren Hunderte, an<br />
Wochenenden auch Tausende,<br />
Schiiten aus dem ganzen Land<br />
rings um den Märtyrerplatz.<br />
Im Camp ist er der „Bürgermeister“,<br />
beaufsichtigt Hygiene,<br />
und Versorgung. Sein Lager ist<br />
sauber. Es gibt handelsübliche<br />
Einfamilienzelte, aber auch<br />
solche für nur eine oder zehn<br />
Personen und auch einige alte<br />
RotKreuz oder UNFlüchtlingszelte.<br />
In und vor den Zelten<br />
sitzen junge Männer, <strong>di</strong>e Wasserpfeife<br />
rauchen. In den Zelten<br />
dösen Kinder auf Deckenlagern.<br />
„Müssen<br />
<strong>di</strong>e nicht<br />
zur Schule?“<br />
Herr Schumann zitiert einen<br />
Jungen herbei und fragt ihn auf<br />
Arabisch. „Nein“, sagt das Kind,<br />
<strong>di</strong>e Schulen seien <strong>im</strong> Krieg zerstört<br />
worden, außerdem sei es<br />
„viel wichtiger, <strong>di</strong>e korrupte<br />
Regierung endlich zu stürzen.“<br />
Herr Schumann übersetzt ins<br />
Deutsche. Er scheint sehr zufrieden<br />
mit der Antwort.<br />
Be<strong>im</strong> Gang durch das Lager<br />
winken viele Langzeitcamper<br />
der Besucherin zu. Sie wollen<br />
fotografiert werden. Doch das,<br />
erklären <strong>di</strong>e Sicherheitsbeamten,<br />
sei nicht möglich. Die Reporterin<br />
könnte Spionin sein.<br />
Herr Schumann winkt ab. „Bitte,<br />
fotografieren sie mich, hier in<br />
meinem Lager!“<br />
Es wird Abend, es ist Wochenende,<br />
das Lager füllt sich.<br />
Unter Beiruter Schiiten ist der<br />
Besuch be<strong>im</strong> Camping eine normale<br />
Abendvergnügung geworden.<br />
Herr Schumann freut sich,<br />
gerade an einem so schönen<br />
Samstagabend Besuch aus <strong>Berlin</strong><br />
zu haben. Er zeigt, wie modern<br />
und frei <strong>di</strong>e Frauen hier sind.<br />
Die Damen der Hizbullah haben<br />
sich schick gemacht. Es klackern<br />
hohe Schuhe unter ihren langen<br />
Kleidern, man trägt Makeup<br />
zu kunstvoll gebundenen Kopftüchern<br />
in passenden Farben.<br />
Aus den großen Lautsprechern<br />
schallt Parteipropagandamusik,<br />
an offenen Feuerstellen hocken<br />
Menschen auf dem Boden, kochen,<br />
rauchen Wasserpfeife. Immer<br />
wieder flitzen Halbstarke,<br />
<strong>di</strong>e Metallkessel voller frischer<br />
Glut schwenken, zwischen<br />
Männergruppen hin und her.<br />
Die Frauen sitzen gemeinsam<br />
vor Zelten. Dort hüten sie ihre<br />
kleinen Kinder. Auch einige der<br />
Verschleierten rauchen. Händler<br />
verkaufen bunte Gasballons und<br />
kleines Spielzeug, meist Plastikwaffen.<br />
Aber auch Parteischals,<br />
Flaggen und Poster der „Partei<br />
Gottes“ und ihres Führers, Hassan<br />
Nasrallah.<br />
Herr Schumann führt zum<br />
zentralen Festzelt, hinter einer<br />
Bühne mit großer Lein<strong>wan</strong>d.<br />
Zehnergruppen sitzen<br />
in Kreisen, rauchen, ein<br />
alter Kaffeehändler verkauft<br />
kleine Plastikbecher voll mit<br />
duftendem, süßem Kaffee mit<br />
Kardamom. Herr Schumann<br />
gibt einen aus. Vom Festzelt aus<br />
hat man einen guten Blick auf <strong>di</strong>e<br />
Bühne und ihre Absperrungen.<br />
Sie sind mit handgemalten,<br />
überd<strong>im</strong>ensionierten Porträts<br />
junger Männer geschmückt, <strong>di</strong>e<br />
ihr Leben <strong>im</strong> Krieg gegen Israel<br />
ließen. „Schuhada“, wie einer der<br />
Umstehenden sagt, „Märtyrer“.<br />
Dann zählt er <strong>di</strong>e Namen der<br />
Männer auf und nennt ihr Alter.<br />
Keiner wurde älter als z<strong>wan</strong>zig.<br />
Herr Schumann schlürft heißen<br />
Kaffee, nickt und sagt: „Diese<br />
Männer sind unser Stolz. Wir<br />
fürchten den Tod nicht.“<br />
Irgendwo ertönt eine Trommel,<br />
eine Rassel, dann fallen<br />
St<strong>im</strong>men ein. Halbstarke Jungen<br />
beginnen zu tanzen, den Dabka,<br />
einen arabischen Schreittanz<br />
mit wilden Sprüngen. Die Tänzer<br />
stampfen und hüpfen.<br />
Auf dem Platz vor dem Zelt<br />
beginnt <strong>di</strong>e Videoübertragung<br />
einer Rede des Parteichefs. Den<br />
Strom, der hierfür benötigt<br />
wird, zapfen Herr Schumanns<br />
Techniker einfach von den lose<br />
in Beirut herumhängenden<br />
Stromkabeln ab. „Schauen Sie,<br />
was wir hier alles machen können<br />
– und keiner kann es uns<br />
verbieten“, sagt er. Und während<br />
er sein mehrere Fußballfelder<br />
großes Lager, dekoriert mit<br />
Flaggen, MärtyrerGemälden<br />
und Parteiplakaten, mit einer<br />
ausladenden Handbewegung<br />
präsentiert, fügt er hinzu: „Alles<br />
läuft. Man muss nur organisieren<br />
können. Und das habe<br />
ich in <strong>Berlin</strong> gelernt. Ich liebe<br />
Deutschland!“
12 [dī.wān] 07.2007 POLITIK<br />
POLITIK<br />
07.2007 [dī.wān] 13<br />
Die Terra incognita Pakistans<br />
In dem pakistanischen Bundesstaat Nördliche Regionen fehlen<br />
jegliche kommunale Verwaltungsstrukturen. Die Zentralregierung<br />
in Islamabad ist weit entfernt von den täglichen Konflikten zwischen<br />
den Konfessionen und Ethnien<br />
von Ben Georg<br />
„Sell your cow and buy a<br />
Kalashnikow!“ titelte eine pakistanische<br />
Zeitung 2005 in<br />
Reaktion auf eine Welle religiös<br />
motivierter Morde in Gilgit,<br />
Provinzhauptstadt der Nördlichen<br />
Regionen von Pakistan,<br />
einer Gegend, in der <strong>di</strong>e Gipfel<br />
des KarakorumGebirges Höhen<br />
von über 8000 Metern erreichen.<br />
Seit den Achtziger Jahren<br />
sind <strong>di</strong>e Gebiete an den Rest<br />
des Landes durch den Karakorum<br />
Highway, den so genannten<br />
„Highway der Freundschaft“, angebunden.<br />
Die Straße zwischen<br />
China und Pakistan ist als strategisches<br />
Mittel gegen In<strong>di</strong>en<br />
zu verstehen. Freundschaft mit<br />
dem Feind des Feindes ist ein altbewährtes<br />
Prinzip in Konflikten,<br />
und so <strong>di</strong>ent <strong>di</strong>e asphaltierte<br />
Zufahrt in den pakistanischen<br />
Teil Kaschmirs vor allem einer<br />
schnellen Truppenverlagerung,<br />
um dem Erzfeind In<strong>di</strong>en Paroli<br />
bieten zu können.<br />
Für <strong>di</strong>e Anlieger bringt der<br />
Karakorum Highway nicht<br />
nur den Segen der Entwick<br />
lung, sondern auch den Fluch<br />
der religiösen Konflikte. In den<br />
Bergen Nordpakistans gibt es<br />
eine musl<strong>im</strong>ischkonfessionelle<br />
und ethnische Vielfalt, nicht<br />
zuletzt erkennbar an der enormen<br />
Sprachenvielfalt. Der<br />
heißeste Konflikt wird zwischen<br />
Sunniten und Schiiten ausgetragen.<br />
Nachdem Ende der<br />
Achtziger Jahre wahabitische<br />
Funda mentalisten in einer Siedlungsoase<br />
unweit von Gilgit<br />
ein Massaker an Schiiten verübten,<br />
dem heftige Gegenreaktionen<br />
folgten, beruhigte sich<br />
<strong>di</strong>e Lage zeitweilig – zumindest<br />
oberflächlich. Aufgrund<br />
der Geschichtsverfälschenden<br />
Inhalte von Schulbüchern eskalierte<br />
der Konflikt 2004 jedoch<br />
erneut. Seitdem wurden 100<br />
Tötungen registriert. Vor allem<br />
unter sehr jungen Schiiten und<br />
Sunniten soll es Gruppen geben,<br />
<strong>di</strong>e gezielt Morde an Geistlichen<br />
der anderen Konfession ausüben.<br />
Im „Melting Pot“ Gilgit, wo<br />
alle Konfessionen und Ethnien<br />
der umliegenden Talschaften<br />
vereint sind, konzentrieren<br />
sich <strong>di</strong>e Konflikte. Stählerne,<br />
daumen<strong>di</strong>cke Mündungsrohre<br />
stechen an jeder größeren<br />
Kreuzung bedrohlich aus den<br />
Sandsackburgen hervor. Straßensperren,<br />
Stacheldraht und<br />
Soldaten – lächelnd in ihren<br />
khakifarbenen Kampfanzügen<br />
mit Stahlhelm, schweren Splitterschutzwesten<br />
und Maschinengewehr<br />
unter dem Arm.<br />
Gilgit ist anders als <strong>di</strong>e übrigen<br />
Städte Pakistans. Es liegt bewaffnet<br />
und hoch gerüstet in Ketten<br />
einer Regierung, <strong>di</strong>e <strong>im</strong> sonnigen<br />
Islamabad weilt – 600 Kilometer<br />
entfernt, in einer Welt,<br />
<strong>di</strong>e von internationaler Politik<br />
und Wirtschaft dominiert ist.<br />
Demokratische<br />
Terra incognita<br />
Pakistanischen Zeitungen<br />
zufolge stellt <strong>di</strong>e Abwesenheit<br />
von lokalen oder regionalen<br />
Verwaltungsstrukturen in Gilgit<br />
das Hauptproblem dar. Die<br />
Nördlichen Regionen sind eine<br />
Terra incognita – eine demokratische<br />
Terra incognita des an<br />
sich demokratischen Pakistans.<br />
Die vier anderen Bundesstaaten<br />
haben einen klaren verfassungsgemäßen<br />
Status. Die Nördlichen<br />
Regionen hingegen werden in<br />
der Verfassung nicht erwähnt.<br />
Diese Situation steht <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit der sehr späten<br />
faktischen Eingliederung <strong>di</strong>eses<br />
Gebietes in den Staat Pakistan.<br />
Erst in den achtziger Jahren,<br />
lange nach der Unterzeichnung<br />
der Verfassung von 1947 und<br />
der Teilung BritischIn<strong>di</strong>ens in<br />
Pakistan, damals noch zusammen<br />
mit Bangladesch, und In<strong>di</strong>en,<br />
wurden <strong>di</strong>e letzten lokalen<br />
Herrschaftshäuser durch <strong>di</strong>e Erschließung<br />
der Gebiete mittels<br />
des Karakorum Highways dem<br />
Staate Pakistan einverleibt.<br />
Doch können sich in Demokratien<br />
auch Konstitutionen ändern,<br />
wenn der politische Wille<br />
da ist. Die Nördliche Regionen<br />
scheinen aufgrund ihrer strategisch<br />
sensiblen Lage zwischen<br />
Afghanistan, Kaschmir und<br />
China bewusst ausgeklammert<br />
worden zu sein, um den <strong>di</strong>rekten<br />
Einfluß der Zentralregierung sicher<br />
zu stellen. Diese benennt<br />
einen Gouverneur mit Sitz in<br />
Islamabad, der dem Präsidenten<br />
<strong>di</strong>rekt unterstellt ist.<br />
Symptombekämpfung<br />
einer unfähigen<br />
Regierung<br />
Aufgrund der Abwesenheit<br />
kommunaler Politik in Gilgit<br />
versuchen religiöse Führer in<br />
<strong>di</strong>ese Rolle zu schlüpfen. Die<br />
genannten Tötungen und andere<br />
„Kollateralschäden“ sind <strong>di</strong>e<br />
Folgen. Der juristische Apparat<br />
bleibt untätig, zu Anklagen gegen<br />
<strong>di</strong>e Mörder kommt es nicht,<br />
Entschä<strong>di</strong>gungsleistungen werden<br />
nicht gezahlt. Man kehrt<br />
alles unter den Teppich. Dieses<br />
erlittene Unrecht ra<strong>di</strong>kalisiert<br />
<strong>di</strong>e Bevölkerung zunehmend<br />
und fördert das Heranwachsen<br />
von Rekruten für paramilitärische<br />
Gruppen. Als Reaktion<br />
auf blutige Demonstrationen,<br />
Morde oder Brandstiftungen in<br />
Einrichtungen von Hilfsorganisationen<br />
– beispielsweise 2005<br />
<strong>im</strong> Aga Khan Development Network<br />
– verhängt <strong>di</strong>e Zentralregierung<br />
<strong>im</strong>mer wieder Ausgangssperren<br />
in Gilgit. Binnen<br />
Minuten werden <strong>di</strong>e Straßen<br />
abgeriegelt. Arztbesuche sind<br />
dann nicht mehr möglich, <strong>di</strong>e<br />
Lebensmittel werden knapp und<br />
<strong>im</strong> Winter versiegt der Brennstoff<br />
– Symp tombekämpfung<br />
einer unfähigen Regierung.<br />
Die Nördlichen Regionen<br />
benötigen kommunale Politik,<br />
Parteien, eine funktionierende<br />
Gerichtsbarkeit und damit Eigenverantwortung,<br />
um aus der<br />
Spirale der Gewalt ausbrechen<br />
zu können. Doch solange der<br />
Kaschmirkonflikt nicht ad acta<br />
gelegt ist, und Afghanistan ein<br />
gescheiterter Staat bleibt, ist<br />
eine Lösung nicht in Sicht. Immerhin<br />
scheinen nach jahrzehntelangem,<br />
teils kriegerischem<br />
Konflikt mit In<strong>di</strong>en zumindest<br />
hier ernstzunehmende Friedensverhandlungen<br />
<strong>im</strong> Raum<br />
zu stehen, wodurch der lange<br />
Zeit latenteste regionale Atomkonflikt<br />
beseitigt werden könnte<br />
– trotz musl<strong>im</strong>ischer Fundamentalisten<br />
und Hindunationalisten.<br />
Ein gutes Zeichen für <strong>di</strong>e<br />
Nördlichen Regionen.<br />
Bild links Hauptstraße in Gilgit: Geländewagen und Männer in tra<strong>di</strong>tioneller Kleidung dominieren das Stadtbild<br />
Bild rechts Absperrgitter und hochgerüstete Sandsackburgen finden sich überall in Gilgit – eine Ursachenbekämpfung<br />
der konfessionellen Konflikte scheint sinnvoller
14 [dī.wān] 07.2007 POLITIK<br />
POLITIK<br />
07.2007 [dī.wān] 15<br />
Vom Islamismus zur<br />
musl<strong>im</strong>ischen Demokratie?<br />
Mit der Gründung der Türkischen Republik ging <strong>di</strong>e<br />
gesellschaftliche Säkularisierung einher – und gleichzeitig der<br />
Aufstieg und Wandel des politischen Islams.<br />
Eine kurze Entwicklungsgeschichte<br />
von Alexander Kalbarczyk<br />
Beginnend mit der Ausrufung<br />
der Republik am 29. Oktober<br />
1923 veränderte Mustafa<br />
Kemal, genannt Atatürk, innerhalb<br />
von nur fünf Jahren <strong>di</strong>e<br />
politischgesellschaftlichen Fundamente<br />
der Türkei: Er bewirkte<br />
<strong>di</strong>e Abschaffung des Kalifats,<br />
veranlasste <strong>di</strong>e Aufhebung religiöser<br />
Gerichtshöfe, verbot religiöse<br />
Bruderschaften (Tarikat)<br />
und führte ein an westlichen<br />
Vorbildern orientiertes Rechtssystem<br />
ein. Dieser grundlegende<br />
Reformprozess kulminierte<br />
schließlich in der offiziellen Säkularitätserklärung<br />
am 10. April<br />
1928. Aller<strong>di</strong>ngs war damit keineswegs<br />
eine eindeutige Trennung<br />
von Religion und Staat<br />
eingeleitet worden, sondern<br />
vielmehr <strong>di</strong>e republikanische<br />
Etablierung eines kontrollierten<br />
Staatsislams. Außerdem lebten<br />
<strong>di</strong>e religiösen Bruderschaften,<br />
allen voran <strong>di</strong>e Nakşiben<strong>di</strong>s, unvermindert<br />
weiter – und sollten<br />
knapp 50 Jahre nach ihrem offiziellen<br />
Verbot den Nährboden<br />
der ersten erfolgreichen islamistischen<br />
Partei der Türkischen<br />
Republik liefern: Auf Anregung<br />
des betagten SufiLehr meisters<br />
Mehmet Zahit Kotku rief<br />
Necmettin Erbakan Anfang der<br />
1970er den modernen türkischen<br />
Islamismus ins Leben. Seine Nationale<br />
Heilspartei (Milli Selamet<br />
Partisi/MSP) propagierte<br />
anfangs äußerst erfolgreich <strong>di</strong>e<br />
Ideologie der „Nationalen Sicht“<br />
(Milli Görüş), einen islamisch<br />
fun<strong>di</strong>erten Konservatismus, der<br />
beide Bedeutungen des Wortes<br />
„milli“ – national und religiös<br />
– ernst zu nehmen versucht.<br />
Von der<br />
Nationalen Sicht<br />
zur Gerechten<br />
Ordnung<br />
In den 1980er Jahren beherrschte<br />
dann <strong>di</strong>e rechtsliberale<br />
Mutterlandspartei Turgut Özals,<br />
der selbst ein Anhänger Kotkus<br />
gewesen war, <strong>di</strong>e politische Szene<br />
dermaßen erfolgreich, dass<br />
den Islamisten nur marginale<br />
Beachtung zukam. Die 1990er<br />
hingegen brachten den Aufstieg<br />
und Fall der bis dahin erfolgreichsten<br />
islamistischen Bewegung<br />
der Türkei mit sich, der<br />
Wohlfahrtspartei (Refah Partisi/RP).<br />
Im Gegensatz zu ihrer<br />
Vorgängerin MSP konzentrierte<br />
sie sich in ihrer Wahlkampfstrategie<br />
viel weniger auf religiöse,<br />
sondern zunehmend auf soziale<br />
Themen, um so jenen Teil der<br />
Bevölkerung anzusprechen, der<br />
unter den ökonomischen Liberalisierungsmaßnahmen<br />
der<br />
1980er am meisten zu leiden<br />
gehabt hatte. Unter dem Motto<br />
„A<strong>di</strong>l Düzen“ – „Gerechte Ordnung“<br />
– hatte ein urbanreligiöser<br />
IntellektuellenKreis aus<br />
Izmir ein Programm erarbeitet,<br />
das den Islam als Lösung gegen<br />
sittlichen und ökonomischen<br />
Verfall, als dritten Weg zwischen<br />
Kapitalismus und Sozialismus<br />
anpries. Den hauptsächlichen<br />
Grund für <strong>di</strong>e Wahlerfolge der<br />
RP stellte jedoch <strong>di</strong>e umfassende<br />
Krise des politischen Systems<br />
der Türkei dar, <strong>di</strong>e sich in der<br />
fast schon institutionalisierten<br />
Instabilität stän<strong>di</strong>g wechselnder,<br />
<strong>im</strong>mer wieder scheiternder Koalitionsregierungen<br />
offenbarte.<br />
Zudem waren nur noch zwei<br />
charismatische Führungspersönlichkeiten<br />
verblieben: Der<br />
linkssäkulare Bülent Ecevit sowie<br />
der Islamistenführer Necmettin<br />
Erbakan. Beide – zuerst<br />
Erbakan, dann Ecevit – sollten<br />
in der Folge das Amt des Ministerpräsidenten<br />
übernehmen.<br />
Beide scheiterten und ebneten<br />
so <strong>di</strong>e Bahn für den Erfolg Recep<br />
Tayyip Erdoğans und seiner<br />
AKP.<br />
Die zwei<br />
Gesichter des<br />
politischen<br />
Islams: Erdoğan<br />
und Erbakan<br />
Erdoğan stand seit seiner<br />
Wahl zum Istanbuler Oberbürgermeister<br />
1994 an der Spitze<br />
der neuen urbanen Generation<br />
von Islamisten. Auch er<br />
war ein ehemaliger Schüler des<br />
Nakşiben<strong>di</strong>Lehrmeisters Kotku<br />
und hatte sich bis 1991, als<br />
<strong>di</strong>e RP auf nationaler Ebene ein<br />
Wahlbündnis mit zwei rechtsextremistischen<br />
Parteien einging,<br />
als treuer Anhänger Erbakans<br />
erwiesen. Bereits <strong>im</strong> Bürgermeisteramt<br />
hatte Erdoğan seine<br />
Neigung zu moderaterPolit<br />
i k g e s t a l tung<br />
erkennen lassen.<br />
Aller<strong>di</strong>ngs<br />
musste er erst<br />
einmal lernen,<br />
das laizistische<br />
Establishment<br />
und den säkularen<br />
Teil der<br />
B e v ö l k e r u n g<br />
nicht durch bewusstprovokative<br />
und zweideutige Aussagen,<br />
wie dem plakativen Bekenntnis<br />
zur islamischen Scharia, unnötig<br />
zu verschrecken. Im Gegensatz<br />
dazu war seinem politischen<br />
Ziehvater Erbakan nur wenig<br />
Erfolg beschieden bei dem Bemühen,<br />
<strong>di</strong>e eigene religiösideologische<br />
Überzeugung auf<br />
jenes Maß herunterzu stutzen,<br />
das pragmatische Politikgestaltung<br />
in einem laizistischen System<br />
überhaupt erst ermöglicht.<br />
Nachdem <strong>di</strong>e Militärführung<br />
1995 zähneknirschend zugelassen<br />
hatte, dass er <strong>di</strong>e erste<br />
islamistisch geführte Regierung<br />
der Türkischen Republik bildete,<br />
<strong>di</strong>e alsbald einen Kulturkampf<br />
heraufbeschwor und das<br />
Land ins Chaos stürzte, führte<br />
der „postmoderne Putsch“ vom<br />
28. Februar 1997, basierend<br />
auf der in<strong>di</strong>rekten Intervention<br />
des Militärs und begleitet von<br />
zivilgesellschaftlichen Protesten<br />
gegen <strong>di</strong>e Gefahr des Islamismus,<br />
alsbald zum Ende von<br />
Erbakans Regierungskoalition<br />
und schließlich auch zum Verbot<br />
seiner Partei.<br />
Niedergang<br />
Spaltung<br />
Neugründung<br />
Wahlsieg<br />
Die RPNachfolgerin Tugendpartei<br />
(Fazilet Partisi/FP)<br />
gab sich ein deutlich moderateres<br />
Programm, dessen Kern<br />
forderungen um mehr Demokratie,<br />
Menschenrechte und <strong>di</strong>e<br />
Herrschaft des Rechts kreisten.<br />
Die meisten Anhänger der islamistischen<br />
Bewegung hatten<br />
mittlerweile zwei Militär putsche<br />
sowie zahlreiche politische<br />
Krisen, <strong>di</strong>e der Polarisierung<br />
zwischen ra<strong>di</strong>kalen Säkularisten<br />
und starrsinnigen Islamisten<br />
geschuldet waren, miterlebt.<br />
Schließlich hatte sich der Mangel<br />
an Demokratie gegen <strong>di</strong>e<br />
praktizierenden Musl<strong>im</strong>e selbst<br />
ge<strong>wan</strong>dt: In einem modernen<br />
Rechtsstaat müsste es für eine<br />
musl<strong>im</strong>isch wertkonservative<br />
Partei möglich sein, ohne Einmischung<br />
des Militärs zu regieren.<br />
Als jedoch wenige Jahre<br />
später auch <strong>di</strong>e FP verboten<br />
wurde, entschloss sich <strong>di</strong>e konservative<br />
Garde der Islamisten,<br />
wieder zur alten Ideologie zurückzukehren.<br />
Die „Erneuerer“<br />
(Yenilikçiler) hingegen, allen<br />
voran Abdullah Gül und Recep<br />
Tayyip Erdoğan, gründeten <strong>im</strong><br />
August 2001 <strong>di</strong>e Gerechtigkeits<br />
und Entwicklungspartei (Adalet<br />
ve Kalkınma Partisi/AKP). Somit<br />
war der politische Islam in<br />
zwei Lager gespalten, gegen seine<br />
zwei wichtigsten Repräsentanten<br />
– Erbakan und Erdoğan<br />
– zudem das Teilnahmeverbot<br />
an der aktiven Politik verhängt.<br />
Eine bal<strong>di</strong>ge Wiederbelebung<br />
erschien alles andere als selbstverständlich.<br />
Wie kam es also,<br />
dass der politische Islam nur anderthalb<br />
Jahre später in <strong>di</strong>e Lage<br />
versetzt wurde, nach demokratischen<br />
Parlamentswahlen <strong>di</strong>e<br />
Regierung zu stellen – <strong>di</strong>eses<br />
Mal ohne Koalitionspartner<br />
und mit einer Zweidrittelmehrheit<br />
<strong>im</strong> Parlament? Die türkische<br />
Geschichte scheint sich<br />
zu wiederholen: Nahezu sämtliche<br />
etablierte Parteien hatten<br />
sich zwischen 1998 und 2002<br />
in wirtschaftlich schwierigen<br />
bis katastrophalen Zeiten be<strong>im</strong><br />
Regieren verschlissen, so dass<br />
sie <strong>im</strong> November 2002 allesamt
16 [dī.wān] 07.2007 POLITIK<br />
GESELLSCHAFT<br />
07.2007 [dī.wān] 17<br />
an der 10%Hürde scheiterten.<br />
Entscheidend für den Erfolg<br />
der AKP war jedoch vor allem<br />
ihr eindeutiger Bruch mit der<br />
islamistischen Tra<strong>di</strong>tionslinie.<br />
Zwar zeichnet sie sich wie ihre<br />
Vorgängerparteien durch Wertkonservatismus<br />
sowie gute Kontakte<br />
zum musl<strong>im</strong>ischen Unternehmerverband<br />
MÜSIAD und<br />
den religiösen Bruderschaften<br />
aus, doch beinhaltet ihre Programmatik<br />
darüber hinaus<br />
drei bedeutende Neuerungen:<br />
Die Akzeptanz des Laizismus,<br />
das Konzept einer sozialliberalen<br />
Wirtschaftspolitik sowie<br />
schließlich <strong>di</strong>e Westorientierung<br />
der Außenpolitik mit dem<br />
EUBeitritt als oberste Priorität.<br />
Durch <strong>di</strong>esen politischen<br />
Kurs gelang der AKP <strong>di</strong>e Stabilisierung<br />
der türkischen Politik.<br />
Sie unterscheidet sich signifikant<br />
von ihren islamistischen<br />
Vorgängerparteien sowie von<br />
sämtlichen Islamisten anderer<br />
musl<strong>im</strong>ischer Länder und fungiert<br />
heute oft als Beweis für <strong>di</strong>e<br />
Versöhnbarkeit von säkularer<br />
Demokratie und Islam.<br />
Autoritäre<br />
Laizisten vs.<br />
demokratische<br />
Musl<strong>im</strong>e?<br />
Die gegenwärtigen Proteste<br />
ra<strong>di</strong>kal laizistischer Bürger,<br />
Politiker und Generäle gegen <strong>di</strong>e<br />
Wahl eines Staatspräsidenten<br />
aus den Reihen der AKP werden<br />
allesamt von der Angst<br />
getragen, <strong>di</strong>e Amtsübernahme<br />
eines ErdoğanVertrauten werde<br />
endlich den Startschuss für<br />
<strong>di</strong>e Umsetzung einer dezi<strong>di</strong>ert<br />
islamis tischen Agenda darstellen,<br />
<strong>di</strong>e Erdoğan bisher aus<br />
taktischen Gründen verborgen<br />
habe. Solch eine Entwicklung<br />
erscheint aller<strong>di</strong>ngs – gerade<br />
wenn man sich <strong>di</strong>e Ereignisse<br />
des „postmodernen Putsches“<br />
von 1997 vor Augen führt – <strong>im</strong><br />
Kontext des politischen Systems<br />
der Türkei sowie der türkischen<br />
Zivilgesellschaft als schlichtweg<br />
unmöglich. Die größte<br />
Herausforderung, der sich <strong>di</strong>e<br />
AKP als musl<strong>im</strong>ischdemokratische<br />
Regierungspartei noch<br />
stellen muss, wird zweifelsohne<br />
der interne Kampf um <strong>di</strong>e politische<br />
Oberhoheit gegenüber<br />
dem Militärapparat sein. Dies<br />
macht besonders deutlich, wie<br />
sehr sich <strong>di</strong>e Vorzeichen der<br />
türkischen Politik verändert haben.<br />
Während <strong>di</strong>e kemalistische<br />
Militärelite bisher stets als Garant<br />
für <strong>di</strong>e Westanbindung der<br />
Türkei galt, stellt ausgerechnet<br />
sie mittlerweile ein Hindernis<br />
auf dem Weg in <strong>di</strong>e Europäische<br />
Union dar. Denn <strong>di</strong>e Kemalisten<br />
können nur schwer akzeptieren,<br />
dass ein Staat, der Demokratie<br />
und Menschenrechte ernst<br />
n<strong>im</strong>mt, sich weder durch politische<br />
Einflussnahme des Militärs<br />
noch durch staatliche Begrenzung<br />
der Religionsfreiheit<br />
auszeichnen darf. Die ehemals<br />
schärfsten Kritiker des Westens<br />
mit ihrem neuen Ziel der musl<strong>im</strong>ischen<br />
Demokratie wollen<br />
nun <strong>di</strong>e besseren Europäer sein<br />
als <strong>di</strong>e schon <strong>im</strong>mer westlichen<br />
Generäle.<br />
Einen Klick von der Lösung entfernt<br />
Im Zuge der Globalisierung machen sich auch <strong>di</strong>e Religionen das<br />
Internet zu Nutzen, allen voran <strong>di</strong>e Beratungsportale der islamischen<br />
Weltgemeinde<br />
von Sophie Bleich<br />
Nach Johannes Gutenbergs<br />
Buchdruck hat wohl keine Erfindung<br />
<strong>di</strong>e Kommunikation<br />
und den Informationsaustausch<br />
mehr geprägt als das Internet.<br />
Egal ob Newsgroup, Blog oder<br />
Chat, alle neuen Formen der<br />
Kommunikation tragen verstärkt<br />
zum Austausch von Meinungen<br />
bei. Zu Nutzen machen<br />
sich das all <strong>di</strong>ejenigen, <strong>di</strong>e etwas<br />
mitteilen müssen oder eben nur<br />
wollen. Vom Kleintierzüchterverein<br />
bis hin zur Regierung ist<br />
heute jeder <strong>im</strong> Netz vertreten.<br />
In <strong>di</strong>ese Reihe stellen sich auch<br />
<strong>di</strong>e großen Religionen. Sie sind<br />
bemüht durch ihr neues Internetauftreten<br />
ein anderes Bild<br />
von Religion generell oder ihrer<br />
Religion <strong>im</strong> Speziellen zu verbreiten.<br />
Durch Beratung und<br />
Information versuchen sie <strong>di</strong>e<br />
Komplexität ihrer Religion zu<br />
erklären oder für Gläubige strittige<br />
Fragen zu klären.<br />
Aufklärungsarbeit<br />
für Nichtmusl<strong>im</strong>e<br />
Eben <strong>di</strong>ese Aufgaben übern<strong>im</strong>mt<br />
islamonline.net, eine der<br />
ersten großen Beratungshomepages<br />
zum Islam. Die Aufklärungsarbeit<br />
für Nichtmusl<strong>im</strong>e<br />
und <strong>di</strong>e Beratung von Musl<strong>im</strong>en<br />
in jeder Situation des Alltags<br />
steht <strong>im</strong> Vordergrund. So<br />
ist Islamonline ein Netzwerk,<br />
das mehrere Seiten miteinander<br />
verbindet. Außer der arabischen<br />
Seite, <strong>di</strong>e vorwiegend den gläubigen<br />
Musl<strong>im</strong>en gilt, gibt es auch<br />
eine englischsprachige Seite, <strong>di</strong>e<br />
mit den Vorurteilen und Mythen<br />
rund um den Islam aufräumen<br />
soll. Gestartet wurde das Projekt<br />
zwar <strong>im</strong> Oktober 1999, also vor<br />
den Terroranschlägen in New<br />
York, doch danach hat es einen<br />
regelrechten Boom gegeben.<br />
Die Seite wurde ausgeweitet und<br />
von <strong>im</strong>mer mehr Menschen als<br />
Chance wahrgenommen, sich<br />
über den Islam zu informieren.<br />
Islamonline will keine<br />
stagnierende Seite mit reinen<br />
Informationen über <strong>di</strong>e Grundlagen<br />
des Islam sein, sondern sie<br />
will das musl<strong>im</strong>ische Leben in<br />
der ganzen Welt jeden Tag neu<br />
reflektieren.<br />
Ihre selbsterwählte Mission<br />
ist es, eine einzigartige, weltumspannende<br />
Seite mit Beratungsservice<br />
zu werden, <strong>di</strong>e als<br />
feste Instanz bei allen Themen<br />
des Islam gilt. Sie möchte vor<br />
allem Glaubwür<strong>di</strong>gkeit für ihren<br />
Inhalt und Anerkennung für<br />
das Design bekommen. Ihr Ziel<br />
ist es dabei, für „das Gute <strong>im</strong><br />
Menschen“ zu arbeiten; genau<br />
wie der Islam es vorschreibe.<br />
Darüber hinaus macht sie es<br />
sich zur Aufgabe, Prinzipien<br />
wie Gerechtigkeit, Demokratie,<br />
Freiheit und Menschenrechte<br />
zu achten. Ihre Hauptauf gabe<br />
aller<strong>di</strong>ngs besteht darin, <strong>di</strong>e<br />
Ganzheit des Islams in all seinen<br />
Facetten zu präsentieren und<br />
darüber hinaus, das Vertrauen<br />
der Musl<strong>im</strong>e zu gewinnen und<br />
zu behalten.<br />
Hilfestellung bei<br />
Alltags fragen<br />
Zu <strong>di</strong>esem Zwecke widmen<br />
sich <strong>di</strong>e Macher der Seite in<br />
der arabischen Ausgabe vornehmlich<br />
der Beantwortung der<br />
Alltagsfragen von Musl<strong>im</strong>en.<br />
Experten beantworten jegliche<br />
Fragen, <strong>di</strong>e ein Musl<strong>im</strong> an <strong>di</strong>e<br />
Redaktion oder <strong>im</strong> Forum stellt.<br />
Die Themen reichen zwar meist<br />
von Arbeit und Familie bis hin<br />
zu Ungläubigen, aber allem voran<br />
werden <strong>di</strong>e meisten Fragen<br />
zu den Themen Liebe, Sex und<br />
Beziehung gestellt. Islamonline<br />
besteht darauf, dass es fast keine<br />
Zensur gibt, egal wie brisant <strong>di</strong>e<br />
Fragen sind. Die Homepage sieht<br />
sich als Aufklärung und Hilfestellung<br />
<strong>im</strong> Alltag, vornehmlich<br />
den jungen Lesern sollen Antworten<br />
auf <strong>di</strong>e für sie so wichtigen<br />
Fragen gegeben werden.<br />
Nur jene Fragen werden nicht<br />
veröffentlicht, bei denen der<br />
Hilfesuchende es nicht möchte<br />
oder <strong>di</strong>e Frage doch allzu bizarr<br />
erscheint.<br />
Kritik steht auf<br />
der Tagesordnung<br />
Bei aller Offenheit muss sich<br />
Islamonline auch eine Menge<br />
Kritik gefallen lassen. Oft wird<br />
gerügt, dass allzu offen mit
18 [dī.wān] 07.2007 GESELLSCHAFT<br />
GESELLSCHAFT<br />
07.2007 [dī.wān] 19<br />
Themen wie Sex, Liebe oder<br />
Ähnlichem umgegangen würde.<br />
Manche gehen sogar so weit zu<br />
sagen, dass <strong>di</strong>e Seite Pornografie<br />
fördere, da man in islamischen<br />
Gesellschaften nicht über solche<br />
Themen reden dürfe. Auch wenn<br />
das nach westlichen Stand ards<br />
nicht richtig nachvollziehbar<br />
ist, so ist doch klar, dass Islamonline<br />
viele Leser genau mit <strong>di</strong>eser<br />
Offenheit erreicht. Die Verantwortlichen<br />
wollen trotz<br />
der Kritik<br />
weitermachen.<br />
Das seien sie ihren<br />
Lesern schul<strong>di</strong>g. Und ihre offene<br />
Art gibt ihnen Recht, denn<br />
täglich haben sie nach eigenen<br />
Angaben zwischen 300.000 und<br />
600.000 Hits auf ihrer Internetseite.<br />
Die Themen lassen schon<br />
erahnen, wer <strong>di</strong>e hauptsächlichen<br />
Nutzer sind. Es gibt zwar<br />
keine genauen Zahlen, aber <strong>di</strong>e<br />
meisten scheinen Jugendliche<br />
zu sein, <strong>di</strong>e sich das Internet als<br />
Informationsquelle und Beratungsportal<br />
zu Nutze machen.<br />
Zwar strebt <strong>di</strong>e Redaktion ein<br />
ausgeglichenes Bild der Leser<br />
an, indem sie sagt, dass es eine<br />
Seite für alle Menschen sei, egal<br />
welcher Religion, welchen Geschlechts<br />
oder welcher Sprache,<br />
aber schon <strong>di</strong>e rege Nutzung der<br />
Foren und <strong>di</strong>e viel gestellten Fragen<br />
zu „eindeutigen“ Themen<br />
weisen auf eine Mehrheit der<br />
Jugendlichen hin. Genau <strong>di</strong>ese<br />
können durch das Internet<br />
Fragen stellen, <strong>di</strong>e sonst geächtet<br />
oder gar bestraft würden und<br />
so ihre Neugier befrie<strong>di</strong>gen.<br />
Klar kommt man schnell auf<br />
den Gedanken, dass <strong>di</strong>e Redaktion<br />
<strong>di</strong>eses Vertrauen missbrauchen<br />
könnte, um best<strong>im</strong>mte<br />
Dogmen unters Volk zu<br />
bringen, doch sie<br />
sagen, dagegen<br />
h ä t t e n sie Mechan<br />
i s m e n g e s c h a f f e n ,<br />
indem sie viele unabhängige Berater<br />
beschäftigten. Die Gruppe<br />
<strong>di</strong>eser Berater ist bunt gemischt,<br />
sie umfasst sowohl Politiker,<br />
Ökonomen, Theologen, Soziologen,<br />
als auch Techniker, Künstler<br />
und andere. Über <strong>di</strong>e vielschichtige<br />
Zusammensetzung der Berater<br />
hinaus stellt das Statut der<br />
Homepage klar, dass sie unabhängig<br />
sei und schon gar nicht<br />
für eine best<strong>im</strong>mte Gruppe<br />
sprechen wolle. Bleibt zu hoffen,<br />
dass <strong>di</strong>e Selbstregulierung wirklich<br />
klappt und eben nicht, wie<br />
so oft, mit Hilfe des Internets<br />
manipuliert wird.<br />
Kulturpara<strong>di</strong>es<br />
am Mittelmeer<br />
Das Jesuit Culture Centre in Alexandria bietet nicht nur hervorragende<br />
Kulturveranstaltungen an, sondern lädt durch Seminare und<br />
Workshops auch zum Mitmachen ein. Und durch das Zusammenwirken<br />
von Musl<strong>im</strong>en und Christen wird ganz nebenbei <strong>di</strong>e religiöse<br />
Toleranz gefördert<br />
von Nushin Atmaca<br />
Ägypten, Alexandria. Donnerstagabend,Wochenendbeginn.<br />
Mal wieder Zeit für ein<br />
bisschen Kultur… Im Gegensatz<br />
zu der von vielen Kairinern<br />
vertretenen Meinung, <strong>di</strong>e<br />
zweitgrößte Stadt des Landes<br />
hätte kulturell nur sehr wenig<br />
zu bieten, kommen interessierte<br />
Alexandriner öfters in Entscheidungsschwierigkeiten,<br />
welche<br />
Veranstaltung sie denn besuchen<br />
sollen. Die Auswahl ist nicht zu<br />
verachten: Bibliotheca Alexandrina,<br />
<strong>di</strong>e Oper, Alexandrian Creativity<br />
Centre, <strong>di</strong>e Kulturinstitute<br />
der verschiedenen Länder<br />
– sie alle bieten regelmäßig Lesungen,<br />
Filmvorführungen und<br />
Konzerte lokaler und nationaler<br />
wie auch internationaler Künstler<br />
an.<br />
Ein weiterer zu den interessantesten<br />
Adressen zählender<br />
Ort ist das Jesuit Cultural Centre<br />
(Markaz AlDschesuit Althaqafi),<br />
ein an <strong>di</strong>e Jesuitenkirche<br />
Alexandrias angegliedertes<br />
Kulturinstitut. Gegründet wurde<br />
der Jesuitenorden 1534 als<br />
katholischer Männerorden <strong>im</strong><br />
heutigen Deutschland, heute<br />
ist er auf der ganzen Welt vertreten.<br />
In Ägypten, wo der Prozentsatz<br />
der Christen 1012%<br />
der Gesamtbevölkerung beträgt,<br />
sind Katholiken eine Minderheit<br />
der Minderheit, denn <strong>di</strong>e mei<br />
sten ägyptischen Christen sind<br />
Kopten. Aber nicht nur sie besuchen<br />
das Jesuit Centre, sondern<br />
ebenso Musl<strong>im</strong>e. Sie alle sind<br />
<strong>di</strong>e Zielgruppe: Menschen, vor<br />
allem junge Leute, <strong>di</strong>e an Kultur<br />
und kulturellem Austausch<br />
interessiert sind. Denn das Jesuit<br />
Centre ist nicht nur ein Ort<br />
des Zuschauens, sondern lädt<br />
auch zum Stu<strong>di</strong>eren und eigener<br />
künstlerischer Aktivität ein.<br />
Die Idee zu <strong>di</strong>esem Zentrum<br />
hatte Frère Faiz, ein Jesuitenmönch,<br />
der <strong>im</strong> Oktober<br />
2005 verstarb. Zusammen<br />
mit vier jungen musl<strong>im</strong>ischen<br />
Alexandrinern begann er, seine<br />
Vision des Kulturzentrums zu<br />
verwirklichen. Grundsteinlegung<br />
war der <strong>im</strong> Jahre 1999 beginnende<br />
Umbau eines kleinen<br />
Parkhauses gegenüber der Jesuitenkirche<br />
in einen Konzert und<br />
Theatersaal, welcher mit seinem<br />
heutigen Namen AlGaraj noch<br />
auf seine ursprüngliche Funktion<br />
hinweist. AlGaraj bietet<br />
Platz für 160 sitzende und 50 stehende<br />
Zuschauer und oft genug<br />
ist „volles Haus“. Im Foyer des<br />
Saals befindet sich eine kleine<br />
Ausstellungshalle, in der Bilder,<br />
Zeichnungen und Installationen<br />
junger ägyptischer Künstler, vor<br />
allem aus Alexandria, gezeigt<br />
werden.<br />
Leitgedanke aller<br />
Veranstaltungen<br />
ist <strong>di</strong>e Betonung<br />
des Menschseins<br />
und der Gemeinsamkeiten<br />
Ermutigt durch den Erfolg<br />
der Musik und Theateraufführungen<br />
in AlGaraj wurde<br />
das Kulturinstitut weiter ausgebaut:<br />
Heute umfasst es neben<br />
Theater übungsräumen und<br />
einem Filmstu<strong>di</strong>o ein Zentrum<br />
für <strong>di</strong>e Förderung künstlerischer<br />
Kreativität, das mit erfahrenen,<br />
professionellen Künstlern kooperiert,<br />
sowie ein Stu<strong>di</strong>en und<br />
Forschungszentrum und zwei<br />
Bibliotheken. Eine davon ist eine<br />
Leihbibliothek, <strong>di</strong>e ungefähr<br />
1000 Bücher in arabischer Sprache<br />
umfasst und geschichtliche<br />
und religiöse Themen genauso<br />
abdeckt wie literarische Werke.<br />
Die zweite Bibliothek des Centres<br />
ist <strong>di</strong>e wissenschaftliche<br />
Bibliothek, in der vor allem französischsprachige<br />
Bücher stehen<br />
und auch Internetarbeitsplätze<br />
vorhanden sind.<br />
Am Stu<strong>di</strong>enzentrum bieten<br />
auf ihrem Gebiet bekannte<br />
und renommierte Dozenten,<br />
oft Universitätsprofessoren, den<br />
Unterricht an. Die Themen sind<br />
vor allem gesellschaftswissen
20 [dī.wān] 07.2007 GESELLSCHAFT<br />
GESELLSCHAFT<br />
07.2007 [dī.wān] 21<br />
schaftlich ausgerichtet: Psychologie,<br />
Demokratieerziehung,<br />
Menschenrechte, Geschlechterverhältnis,<br />
und beziehen sich<br />
auf den Mittelmeerraum. Ein<br />
Ziel <strong>di</strong>eser Einrichtung ist <strong>di</strong>e<br />
Betonung der Menschlichkeit<br />
und des Menschseins, welche<br />
alle Menschen vereinen. Nicht<br />
<strong>di</strong>e Unterschiede sollen herausgestellt<br />
werden, sondern <strong>di</strong>e<br />
Gemeinsamkeiten.<br />
Eine entspannte<br />
und tolerante<br />
Atmosphäre<br />
zeichnet das<br />
Jesuit Centre aus<br />
Diesem hehren Ideal hat sich<br />
auch das Kulturprogramm verschrieben.<br />
Die Grun<strong>di</strong>dee ist,<br />
eine Bewegung der Kunst und<br />
Kurzinfo Jesuit Cultural Centre Alexandria<br />
Adresse<br />
298 Port Said Street (Scharia Bur Said)<br />
Kleopatra, Alexandria<br />
Telefon<br />
00 20 -3-5 42 30 03<br />
Kultur zu schaffen, <strong>di</strong>e sich aus<br />
vielen Quellen speist, aus vielen<br />
verschiedenen Kunstarten auf<br />
unterschiedlichen Niveaus. Erreicht<br />
werden soll eine Akkumulation<br />
verschiedener Kunstarten,<br />
<strong>di</strong>e den Menschen vollstän<strong>di</strong>g<br />
und mit all seinen Sinnen (Augen,<br />
Ohren, Nase, Vernunft und<br />
Emotion) anspricht, mit dem<br />
Ziel, kulturelle und psychische<br />
Barrieren zwischen den Menschen<br />
– sowohl zwischen <strong>Orient</strong><br />
und Okzident als auch in Ägypten<br />
selbst – zum Schmelzen zu<br />
bringen.<br />
Neben dem künstlerischen<br />
fördert das Institut auch den<br />
religiösen Dialog und ein friedliches<br />
Zusammenleben. Von<br />
Anfang an standen <strong>di</strong>e Türen<br />
allen Konfessionen offen, <strong>di</strong>e<br />
das Angebot freu<strong>di</strong>g annahmen.<br />
Internet<br />
www.ceremedjesuits.com<br />
jcc@ceremedjesuits.com<br />
Regelmäßiges Programm<br />
Freitagabend Konzert oder Theater<br />
Samstagabend Filmklub<br />
So befinden sich unter den circa<br />
zehn Festangestellten des<br />
Centres auch Musl<strong>im</strong>e, <strong>im</strong> Ramadan<br />
wird ein speziell auf<br />
<strong>di</strong>esen Monat zugeschnittenes<br />
Programm angeboten und es<br />
kann durchaus vorkommen,<br />
dass Musl<strong>im</strong>e gemeinsam mit<br />
Christen in einer kirchlichen<br />
Umgebung ihr Fasten brechen.<br />
Diese – nicht nur religiöse<br />
– Toleranz und Gelassenheit in<br />
einem Land, dass sich mehr und<br />
mehr über Unterschiede als über<br />
Gemeinsamkeiten definiert, ist<br />
einer der vielen Punkte, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e<br />
Atmosphäre <strong>im</strong> Jesuit Centre<br />
prägen und den Besuch einer<br />
Veranstaltung in jedem Falle<br />
lohnenswert machen.<br />
Seine Hoheit rettet Kairos Altstadt<br />
Seine Hoheit Kar<strong>im</strong> Aga Khan IV. ist ein internationaler Businessgigant,<br />
Chef der größten Entwicklungshilfeorganisation der Welt und zugleich<br />
geistlicher Führer der schiitischen Nizari Ismailiten. In Kairo kämpft er<br />
nun gegen den fortwährenden Verfall der historischen Altstadt<br />
von Jannis Hagmann<br />
Der Duft grüner Wiesen,<br />
das Plätschern fließenden Wassers<br />
und eine einzigartige Sicht<br />
über <strong>di</strong>e graubraunen Häusermeere,<br />
<strong>di</strong>e – brutal und chaotisch<br />
– einem Geschwür gleich<br />
das außergewöhnliche Stadtbild<br />
Kairos prägen. Der Azhar<br />
Park ist ein Zufluchtsort für <strong>di</strong>e<br />
naturentwöhnte Bevölkerung<br />
der ägyptischen Hauptstadt<br />
und einer der wenigen grünen<br />
Flecken <strong>di</strong>eser Megametropole,<br />
in der <strong>di</strong>e durchschnittliche<br />
ProkopfGrünfläche der Größe<br />
eines Fußstapfens entspricht.<br />
„Kein Open-Air<br />
Museum“<br />
„Wir genießen <strong>di</strong>e Nähe zum<br />
Park, aber <strong>di</strong>e Probleme unseres<br />
Viertels löst er nicht“, klagt ein<br />
Bewohner des angrenzenden<br />
Stadtteils Darb AlAhmar. Enge<br />
Gassen, baufällige Wohnhäuser<br />
und zahlreiche Moscheen best<strong>im</strong>men<br />
das wirre Straßenbild.<br />
Das von den ägyptischen Behörden<br />
lange Zeit vernachlässigte<br />
Darb AlAhmar zählt zu den<br />
ärmsten Gegenden Kairos, sein<br />
Reichtum an Baudenkmälern<br />
hingegen macht es zu einem der<br />
bedeutendsten Altstadtviertel<br />
weltweit – eine gefährliche<br />
Kombination, <strong>di</strong>e dem Aga Khan<br />
Development Network (AKDN)<br />
Grund genug ist für ein umfangreiches<br />
Entwicklungsprojekt,<br />
an dessen Ende <strong>di</strong>e Rettung<br />
bedeutender Monumente und<br />
eine gesunde sozioökonomische<br />
Entwicklung des Viertels stehen.<br />
Antriebsmotor ist der <strong>di</strong>rekt<br />
angrenzende, 2005 eröffnete<br />
AzharPark. „Wir wollen kein<br />
OpenAir Museum schaffen“, erklärt<br />
Seif AlRashi<strong>di</strong> von der Aga<br />
KhanStiftung. „Die Community<br />
und <strong>di</strong>e Monumente sind eine<br />
untrennbare Einheit.“ Ziel ist es,<br />
durch Zusammenarbeit mit den<br />
Anwohnern das Bewusstsein<br />
für den historischen Wert der<br />
Monumente zu schärfen und<br />
ihr Verantwortungsgefühl für<br />
das eigene Viertel zu steigern.<br />
Workshops, Aus und Weiterbildungsmaßnahmen<br />
sowie Mikrokre<strong>di</strong>te<br />
für ansässige Kleinunternehmer<br />
sollen schließlich<br />
eine eigene wirtschaftliche Dynamik<br />
in Gang setzen.<br />
Dem gesamten Projekt geht<br />
eine langjährige Planung seitens<br />
der Aga KhanGruppe voraus,<br />
<strong>di</strong>e sich Restaurierungs und<br />
Entwicklungsprojekten in Städten<br />
rund um <strong>di</strong>e islamische<br />
Welt verschrieben hat. Initiator<br />
ist Seine Hoheit Kar<strong>im</strong> Aga<br />
Khan IV., 49ster Imam der etwa<br />
17 Millionen Gläubige umfassenden<br />
Gemeinschaft der Nizari<br />
Ismailiten, einer Abspaltung<br />
der heute <strong>im</strong> Iran und anderen<br />
schiitisch dominierten Ländern<br />
verbreiteten Richtung der ZwölferSchiiten.<br />
Sticht ins Auge und symbolisiert den Wandel:<br />
Restaurierungsarbeiten an der Emir Khair Bey<br />
Moschee in Darb Al-Ahmar<br />
Imam,<br />
Kosmopolit<br />
und gerissener<br />
Geschäftslöwe<br />
Die Mehrheit der Nizaris,<br />
deren Mitglieder zu großen Teilen<br />
in In<strong>di</strong>en und Pakistan, aber<br />
auch in Afrika, Europa und den<br />
USA verstreut leben, erkennt<br />
heute Kar<strong>im</strong> Aga Khan IV. als<br />
spirituelles Oberhaupt an. Geboren<br />
1936 in Genf, wuchs er in<br />
der Schweiz, Südafrika, Kenia<br />
und England auf und stu<strong>di</strong>erte<br />
islamische Geschichte und<br />
Wirtschaftswissenschaften in<br />
Cambridge und Harvard. 1957,<br />
noch vor Abschluss seines Stu
22 [dī.wān] 07.2007 GESELLSCHAFT<br />
GESELLSCHAFT<br />
07.2007 [dī.wān] 23<br />
<strong>di</strong>ums, wurde dem 21jährigen<br />
Studenten das Imamat übertragen.<br />
Schon sein Großvater hatte<br />
zu Beginn des 20. Jahrhunderts<br />
begonnen, <strong>di</strong>e Abgaben der<br />
Gläubigen, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Nizaris in<br />
Form des zehnten Teils ihrer Einkommen<br />
an <strong>di</strong>e Gemeinschaft<br />
zahlen (Zakat), geschickt in Gewinn<br />
bringende Unternehmen,<br />
Banken und Versicherungen zu<br />
investieren und ein Vermögen<br />
anzuhäufen, das den Aga Khan<br />
heute zu einem der reichsten<br />
Menschen der Welt macht. Von<br />
einem Schloss <strong>im</strong> französischen<br />
Chantilly und seiner Genfer<br />
Residenz aus leitet Kar<strong>im</strong> Aga<br />
Khan ein Geschäfts<strong>im</strong>perium,<br />
zu dem Hotelketten, Fluglinien,<br />
Bankkonzerne und Me<strong>di</strong>enunternehmen<br />
zählen.<br />
Entwicklungshilfe<br />
als religiöses<br />
Lebenswerk<br />
Sein Lebenswerk ist jedoch<br />
das AKDN, <strong>di</strong>e größte private<br />
Entwicklungshilfeorganisation<br />
der Welt. Das Kairoer Projekt<br />
ist nur eines von vielen – in<br />
etwa 20 Ländern ist das Netzwerk<br />
derzeit aktiv, unterhält<br />
je eine Universität in Pakistan<br />
und Zentralasien und arbeitet<br />
mit zahlreichen internationalen<br />
Partnern und Geldgebern eng<br />
zusammen.<br />
Obgleich Kar<strong>im</strong> Aga Khan<br />
das AKDN als höchst religiöse<br />
Aufgabe versteht, arbeitet es<br />
nach eigenen Angaben unabhängig<br />
von Glaube und Herkunft.<br />
„Im Herzen der sozialen<br />
Vision des Islams steht <strong>di</strong>e Ethik<br />
der Fürsorge für <strong>di</strong>e Schwachen“,<br />
verkündet <strong>di</strong>e Website. Das<br />
Mandat des AKDN sei eine<br />
Verbesserung der Lebensbe<strong>di</strong>ngungen<br />
und <strong>di</strong>e Realisierung<br />
des sozialen Bewusstseins des<br />
Islams.<br />
Der Aga Khan<br />
schenkt einen<br />
Park<br />
Dennoch scheint <strong>di</strong>e Verbindung<br />
zwischen dem Aga Khan<br />
und dem Kairoer Projekt von<br />
besonderer Natur zu sein. „Von<br />
Seiner Hoheit dem Aga Khan als<br />
Geschenk an <strong>di</strong>e Bewohner Kairos,<br />
in Gedenken an <strong>di</strong>e Stadtgründung<br />
seiner fat<strong>im</strong>i<strong>di</strong>schen<br />
Vorfahren…“ gibt eine Tafel am<br />
Eingang des AlAzhar Parks<br />
stolz Kunde. In der Tat war es<br />
<strong>di</strong>e ismailitische Herrscherdy<br />
nastie der Fat<strong>im</strong>iden, <strong>di</strong>e Kairo<br />
<strong>im</strong> 10. Jahrhundert gründete<br />
und es zum Mittelpunkt ihres<br />
riesigen Reiches machte, das für<br />
<strong>di</strong>e folgenden zwei Jahrhunderte<br />
den gesamten Mittelmeerraum<br />
kontrollieren sollte. In <strong>di</strong>ese Zeit<br />
schiitischer Herrschaft fällt auch<br />
der Streit um <strong>di</strong>e Führungsrolle,<br />
infolgedessen <strong>di</strong>e Nizari Ismailiten<br />
dem ImamKalifen in Kairo<br />
<strong>di</strong>e Anerkennung verweigerten<br />
und bis auf den heutigen Tag<br />
ihren eigenen Imamen folgen.<br />
Ob <strong>di</strong>e religiöse Komponente<br />
unter den hauptsächlich<br />
sunnitischen Musl<strong>im</strong>en des<br />
Stadtteils Darb AlAhmar eine<br />
Rolle spielt? „Vereinzelt kommen<br />
Zweifel auf. Natürlich gibt<br />
es Geschichten, der Aga Khan<br />
wolle den schiitischen Islam wieder<br />
in der Stadt verbreiten, aber<br />
das sind Einzelfälle. Die meisten<br />
Anwohner sind überzeugt<br />
von dem Projekt“, erklärt Seif<br />
AlRashi<strong>di</strong> dem [dī.wān]. Obgleich<br />
schon 60 Wohnhäuser <strong>im</strong><br />
Rahmen des Projektes renoviert<br />
worden sind, stechen – abgesehen<br />
von der alles überragenden<br />
Parkanlage – insbesondere <strong>di</strong>e<br />
restaurierten Moscheen hervor,<br />
glänzende Fremdkörper zwischen<br />
den baufälligen Häusern<br />
der angrenzenden Straßenzüge.<br />
Ein altes Schulgebäude wurde<br />
in ein modern ausgestattetes<br />
Kulturzentrum umgebaut, das<br />
Computerkursen, Kunstworkshops<br />
und einer Bibliothek Platz<br />
bietet.<br />
Ungewisse<br />
Zukunft<br />
Noch ist offen, wie sich das<br />
Viertel nach dem Rückzug des<br />
AKDN entwickeln wird, und ob<br />
eine erhöhte Lebensqualität Fuß<br />
fassen kann oder ob eine Veränderung<br />
der Sozialstruktur stattfinden<br />
wird, <strong>di</strong>e sich <strong>im</strong> Zuzug<br />
höherer Einkommensschichten<br />
und der Aus<strong>wan</strong>derung altein<br />
gesessener Familien niederschlagen<br />
würde. „Die Bewohner<br />
haben gemerkt, dass Veränderung<br />
möglich ist“, meint Seif Al<br />
Rashi<strong>di</strong>. „Und das ist ein Riesenerfolg.“<br />
Doch noch ist ein langer<br />
Weg zu gehen. Weitere 160<br />
Häuser sind zu renovieren und<br />
<strong>di</strong>e erfolgreiche Übergabe des<br />
Parkmanagements an <strong>di</strong>e ägyptische<br />
Regierung ist zu meistern.<br />
Ob der historische Kern <strong>di</strong>eser<br />
geschichtsträchtigen Stadt gerettet<br />
werden kann, wird sich<br />
Die Nizari Ismailyya<br />
zeigen, wenn <strong>di</strong>e Mittel der Aga<br />
KhanStiftung irgend<strong>wan</strong>n eingestellt<br />
werden und sich sowohl<br />
der Park als auch <strong>di</strong>e weitere<br />
Entwicklung des Darb AlAhmar<br />
selbst tragen müssen.<br />
Mit dem Tod des Propheten Muhammad 632 n. Chr. wurden seine Anhänger vor eine<br />
schwierige Frage gestellt. Wer ist der legit<strong>im</strong>e Nachfolger des Propheten, der <strong>di</strong>e<br />
Gemeinschaft der Gläubigen in Zukunft führen wird? – ein Problem das sich in der<br />
weiteren Geschichte des Islams noch häufig stellen sollte. Eine Gruppe der Musl<strong>im</strong>e<br />
– heute als Schiiten bekannt – ergriff für Muhammads Cousin und Schwiegersohn Ali<br />
Partei und ließ sich in der Folge von Imamen führen, <strong>di</strong>e Nachkommen Alis und der<br />
Prophetentochter Fat<strong>im</strong>a waren.<br />
Als jedoch Isma’il Ibn Dschafar -– der ältere Sohn des fünften Imams – vor seinem Vater<br />
starb, setzten <strong>di</strong>e einen <strong>di</strong>e Linie mit dem jüngeren Sohn fort, während <strong>di</strong>e anderen den<br />
verstorbenen Isma’il und seinen angeblichen Sohn als rechtmäßige Nachfolger akzeptierten.<br />
Ismail war es, der den Ismailiten seinen Namen verlieh.<br />
Im Jahr 969 gelang es der ismailitischen Fat<strong>im</strong>idendynastie, Ägypten einzunehmen.<br />
Das neu gegründete Kairo wurde Hauptstadt und Mittelpunkt des zwei Jahrhunderte<br />
währenden Reiches. Doch spaltete ein Bruderstreit 1094 <strong>di</strong>e Gemeinschaft ein weiteres<br />
Mal, als der übermächtige Wesir ddes Fat<strong>im</strong>idenkalifens Al-Mustansir dem jüngeren<br />
Sohn Al-Musta‘li auf den Thron verhalf. Sein älterer Bruder Nizar beanspruchte dennoch<br />
<strong>di</strong>e Führung des Reiches, wurde eingesperrt und starb <strong>im</strong> Gefängnis, was seine<br />
Anhänger nicht davon abhielt, <strong>di</strong>e Linie der Imame über seinen Enkel fortzusetzen. Eine<br />
Spaltung der Ismailyya in zwei große Zweige war vollzogen: Die Nizari Ismailiten und<br />
<strong>di</strong>e Musta‘li Ismailiten.<br />
Unterstützung fanden <strong>di</strong>e Nizaris unter den Ismailiten in der Levante und <strong>im</strong> Gebiet<br />
des heutigen Iran, doch eine Ausdehnung des Herrschaftsbereiches wie zu Zeiten der<br />
Fat<strong>im</strong>iden erreichten sie nicht noch einmal.<br />
Nach weiteren Spaltungen der Gemeinschaft erkennt heute <strong>di</strong>e Mehrheit der Nizari Ismailiten<br />
Kar<strong>im</strong> Aga Khan IV. als 49. rechtmäßigen Imam an. Wie alle seine Vorgänger<br />
beansprucht er für sich <strong>di</strong>e <strong>di</strong>rekte Abstammung vom Propheten Muhammad.<br />
Al-Azhar Park und Darb Al-Ahmar: 40 Millionen Euro wird das<br />
Revitalisierungsprojekt Ende des Jahres gekostet haben
24 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />
SPECIAL<br />
07.2007 [dī.wān] 25<br />
Gesunder Musl<strong>im</strong> in gesundem Körper<br />
Zu Zeiten des Propheten waren Reiten und Jagen <strong>di</strong>e Trendsportarten.<br />
Heute erobern Fitnesssu<strong>di</strong>os und Martial Arts <strong>di</strong>e musl<strong>im</strong>ischen Herzen<br />
Akın-H. Doğan<br />
Wer sich heutzutage <strong>im</strong> Internet<br />
durch <strong>di</strong>e islamischen<br />
Websites klickt, wird <strong>im</strong>mer<br />
wieder auf Fragen von Usern<br />
stoßen, <strong>di</strong>e sich mit sportlichen<br />
Betätigungen und deren rechtlichen<br />
Status <strong>im</strong> Islam beschäftigen.<br />
<strong>Sport</strong>arten unterschiedlichsten<br />
regionalen Ursprungs<br />
verbreiten sich durch <strong>di</strong>e Globalisierung,<br />
den Tourismus,<br />
<strong>di</strong>e Me<strong>di</strong>en und auf Profit basierenden<br />
Organisationen wie<br />
Fitnessstu<strong>di</strong>os auch in der islamischen<br />
Welt und werfen viele<br />
Fragen auf. „Darf ich als Frau<br />
Fahrrad fahren?“, „Ist <strong>di</strong>e Ausübung<br />
von Kung Fu gegen unsere<br />
Religion?“, „Komme ich in<br />
den H<strong>im</strong>mel, wenn ich mir be<strong>im</strong><br />
Schulsport das Genick breche?“,<br />
„Wie steht der Islam zum Skifahren?“,<br />
„Wie wichtig sollte <strong>Sport</strong><br />
<strong>im</strong> Leben eines Musl<strong>im</strong>s sein?“<br />
Fairness,<br />
Leistung,<br />
Schweiß,<br />
Geselligkeit,<br />
Geld?<br />
Die Assoziationen und Definitionsmöglichkeiten<br />
von <strong>Sport</strong><br />
reichen vom Hundertsten ins<br />
Tausendste. Zum Beispiel mögen<br />
einige Gesellschaften Jagen<br />
zu <strong>Sport</strong> zählen, während<br />
es für andere eine Art Ernährungsbeschaffung<br />
ist. Schach<br />
würde herausfallen, wenn nur<br />
<strong>di</strong>e motorischen Aktivitäten <strong>im</strong><br />
Vordergrund stünden. Die Definition<br />
von <strong>Sport</strong> kann je nach<br />
Ansicht der Kulturen, Nationen<br />
und Religionen sehr <strong>di</strong>vergierend<br />
sein. Es ist ein Hobby, eine angenehme<br />
Freizeitbeschäftigung,<br />
eine organisierte athletische<br />
Aktivität entweder in Teams<br />
oder einzeln, <strong>di</strong>e als Wettkämpfe<br />
physische Stärke und Fähigkeiten<br />
erfordern usw.<br />
So spaltet sich der Begriff<br />
in weitere Unterkategorien<br />
auf: Mannschaftssport, In<strong>di</strong>vidualsport,<br />
Breitensport, Leistungssport,<br />
Extremsport und<br />
Fun<strong>Sport</strong>, um nur <strong>di</strong>e grobe<br />
Gliederung wiederzugeben. Die<br />
Unterteilung der <strong>Sport</strong>arten<br />
wiederum scheint unendlich<br />
zu sein: Angefangen von Abenteuersport<br />
gibt es eine unübersichtliche<br />
Bandbreite von<br />
Luft, Wettkampf, Ausdauer,<br />
Unterhaltungs und Kraftsport,<br />
Winter und Wassersportarten,<br />
Gymnastik, Radfahren und viele<br />
weitere, einschließlich <strong>Sport</strong>arten<br />
mit Tieren wie Elefantenpolo,<br />
<strong>Sport</strong>fischen oder Hahnenkämpfe.<br />
In der frühislamischen Zeit<br />
waren sportliche Betätigungen<br />
Teil der militärischen Ausbildung.<br />
In einem Ha<strong>di</strong>th wird<br />
überliefert, dass der Prophet<br />
gesagt hat: „Lehrt euren Kindern<br />
Schw<strong>im</strong>men, Bogenschiessen<br />
und Reiten.“ In der vorislamischen<br />
Zeit waren Pferde und<br />
Kamelrennen, Falkenjagd und<br />
Ringen ebenfalls verbreitet und<br />
freuten sich auch nach der Offenbarung<br />
des Koran großer<br />
Beliebtheit. Bei der Begründung<br />
für <strong>di</strong>e Erlaubnis von <strong>Sport</strong>, arabisch<br />
riyadha, sind sich <strong>di</strong>e Gelehrten<br />
mehr oder weniger einig:<br />
Die Kräftigung des Körpers,<br />
um den Pflichten eines Musl<strong>im</strong>s<br />
nachkommen zu können, ist <strong>di</strong>e<br />
Basis der Argumentation: nach<br />
dem Motto: Gesunder Musl<strong>im</strong><br />
in gesundem Körper. Hingegen<br />
<strong>Sport</strong> <strong>im</strong> Sinne der Selbstüberhöhung,<br />
Stolz und Eitelkeit,<br />
zum Beispiel durch den Besitz<br />
eines schönen Körpers oder<br />
schöner Muskeln, ist verpönt.<br />
Weitere Regeln sind <strong>di</strong>e strikte<br />
Geschlechtertrennung, das<br />
Wett und Glücksspielverbot,<br />
<strong>di</strong>e Einhaltung der Kleidungsvorschriften,<br />
<strong>di</strong>e Einhaltung<br />
der islamischen Pflichten wie<br />
das regelmäßige Gebet und <strong>di</strong>e<br />
körperliche Unversehrtheit der<br />
beteiligten Personen.<br />
Islamischer<br />
<strong>Sport</strong>?<br />
Diese Regeln werden <strong>im</strong>mer<br />
wieder ergänzt wenn es darum<br />
geht, eine neue <strong>Sport</strong>art nach<br />
islamischen Gesichtspunkten zu<br />
beurteilen. Die Verbreitung vieler<br />
westlicher <strong>Sport</strong>arten durch<br />
den Kolonialismus etablierte<br />
Kricket, Hockey und Polo in<br />
Afghanistan, Bangladesch,<br />
In<strong>di</strong>en und Pakistan. Fußball<br />
zählt in den meisten islamisch<br />
geprägten Ländern, von Marokko<br />
bis Indonesien zum Nationalsport.<br />
Bei den Turkvölkern in<br />
Zentralasien sind neben Fußball<br />
am meisten Ringen in vielerlei<br />
Variationen, Pferderennen und<br />
Boxen verbreitet.<br />
Auch Kampfsportarten sind<br />
auf dem Vormarsch: Nachahmer<br />
von Jet Li, Bruce Lee und<br />
anderen Martial ArtsGrößen,<br />
bekannt aus der Filmindustrie,<br />
bewog eine große Flut von Eiferern<br />
in den letzten 30 Jahren,<br />
sich JiuJitsu, Karate, Tae Kwon<br />
Do, Ken Do und anderen fernöstlichen<br />
Kampfsportarten zuzuwenden.<br />
Neben der<br />
westlich geprägten<br />
Aerobicwelle in den<br />
70ern und 80ern<br />
hat auch Yoga Eingang<br />
in <strong>di</strong>e islamische W e l t<br />
gefunden. Diese <strong>Sport</strong>arten haben<br />
ihren Ursprung meist in<br />
polytheistischen Religionen wie<br />
Buddhismus oder Hinduismus<br />
und sind sehr mit deren Lehren<br />
verflochten. Der reli giöse Beigeschmack<br />
und <strong>di</strong>e spirituelle<br />
Beschaffenheit der <strong>Sport</strong>art sollen<br />
nur auf ihre rein physische<br />
Ebene reduziert werden, um<br />
islamisch korrekt angenommen<br />
werden zu können. Sonst käme<br />
<strong>di</strong>e Ausübung, nach Ansicht einiger<br />
Islamgelehrter, dem Polytheismus<br />
gleich.<br />
Viele musl<strong>im</strong>ische <strong>Sport</strong>ler<br />
sind weltweit für verschiedene<br />
Nationalmannschaften aktiv.<br />
Bestes Beispiel sind <strong>di</strong>e vielen<br />
musl<strong>im</strong>ischen Boxer oder <strong>di</strong>e<br />
Spieler der Basketballliga in den<br />
USA (NBA). An vielen internationalen<br />
<strong>Sport</strong>wettbewerben, wie<br />
besipielsweise den Olympischen<br />
Spielen, den Asian Games,<br />
nehmen islamisch geprägte<br />
Länder teil. Mit den Pan Arab<br />
Games und den Islamic Solidarity<br />
Games schaffen sie sich<br />
jedoch auch ihre eigene Arena.<br />
Die Grenzen zwischen „islamischem“,<br />
„nationalem“ und<br />
„globalem“ <strong>Sport</strong> verschw<strong>im</strong>men<br />
zusehends. Wenn unter<br />
den islamischen <strong>Sport</strong>arten nur<br />
<strong>di</strong>ejenigen gezählt würden, <strong>di</strong>e<br />
zu Zeiten des Propheten auf<br />
der arabischen Halbinsel betrieben<br />
wurden, dann würde in<br />
Malaysia und Indonesien keine<br />
islamische <strong>Sport</strong>art ausgeübt.<br />
Es gibt nicht <strong>di</strong>e „rein islamischen<br />
<strong>Sport</strong>arten“, sondern<br />
nur solche, <strong>di</strong>e nach islamischem<br />
Verständnis ausgeübt<br />
werden. Oder wie viele<br />
Musl<strong>im</strong>e auf der Arabischen<br />
Halbinsel wis sen, was<br />
Kabba<strong>di</strong>, <strong>di</strong>e Nationalsportart<br />
von Bangladesch,<br />
ist?<br />
Der türkische Premierminister<br />
Erdoǧan be<strong>im</strong> Kicken
26 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />
SPECIAL<br />
07.2007 [dī.wān] 27<br />
Das Leder rollt durch Teehäuser<br />
und über den Bildschirm<br />
Fußball ist in Ägypten der beliebteste <strong>Sport</strong>. Das Männerteam von<br />
Al-Ahly eilt in den einhe<strong>im</strong>ischen und afrikanischen Meisterschaften<br />
von einem Sieg zum nächsten. Von der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen<br />
entwickelt sich seit einigen Jahren auch der Frauenfußball<br />
am Nil<br />
von Philipp Dehne<br />
Freude bei den Spielerinnen von Muntakhab Al Qahera nach einem Tor<br />
<strong>Sport</strong> macht beweglich und<br />
ist bewegend, manchmal gar<br />
bewegender als der Betrachter<br />
auf den ersten Blick glauben<br />
möchte. Nachdem Mahmud<br />
Abbas am Samstag, dem 16.<br />
Dezember 2006, vorgezogene<br />
Neuwahlen in den Palästi nensergebieten<br />
angekün<strong>di</strong>gt hatte und<br />
sich langsam <strong>di</strong>e Frage nach<br />
einem Bürgerkrieg stellte, fand<br />
sich am Montag auf der Titelseite<br />
der staatlichen ägyptischen<br />
Wochenzeitung alAhram der<br />
Fußballclub AlAhly wieder.<br />
Ein knapper Artikel mit großem<br />
Bild, beide eingerahmt in einem<br />
roten Kasten, berichtete über<br />
den Erfolg der Mannschaft bei<br />
der FIFA KlubWM in Japan. Al<br />
Ahly, erfolgreichster ägyptischer<br />
Fußballverein aller Zeiten,<br />
und <strong>im</strong> Jahr 2000 zu Afrikas<br />
Mannschaft des Jahrhunderts<br />
gewählt, hatte be<strong>im</strong> Aufeinandertreffen<br />
der besten Klubs aus<br />
den verschiedenen Kontinenten<br />
den dritten Platz hinter Internacional<br />
aus Brasilien und dem FC<br />
Barcelona belegt. Nachrichten<br />
aus Ramallah finden sich weiter<br />
<strong>im</strong> Inneren der Zeitung, der<br />
Fußball vorn, so ist es in Ägypten<br />
wie <strong>im</strong> Nahen Westen.<br />
Hebt sich der Blick des<br />
Lesers aus der Zeitung und<br />
schwenkt ins öffentliche Leben<br />
hinüber, ist auch hier das Geschehen<br />
rund ums Leder nicht<br />
zu übersehen. Der durch Kairos<br />
Straßen Laufende weiß: Wenn<br />
das dauernde Gehupe der unzähligen<br />
Autos mit einem Mal<br />
über das gewöhnliche Maß ansteigt,<br />
handelt es sich entweder<br />
um eine Hochzeit oder AlAhly,<br />
<strong>di</strong>e gerade wieder einen Sieg<br />
eingefahren haben. Und führen<br />
<strong>di</strong>e Schritte an einem der zahlreichen<br />
Ahawi, den tra<strong>di</strong>tionellen<br />
Teehäusern, vorbei, sieht<br />
das Auge dort abends regelmäßig<br />
Männer sitzen, <strong>di</strong>e bei Tee,<br />
Kaffee und Wasserpfeife auf einen<br />
kleinen Bildschirm schau<br />
en, auf dem grüner Rasen, kleine<br />
Männchen und ein weißer, sich<br />
schnell bewegender Punkt zu<br />
sehen sind.<br />
Abwechslung von der Fußballunterhaltung<br />
<strong>im</strong> Fernsehen<br />
bietet oftmals das Wrestling,<br />
<strong>di</strong>e <strong>Sport</strong>art, bei der ausgewachsene,<br />
muskelbepackte Männer,<br />
<strong>di</strong>e in einer Art Strampelanzug<br />
stecken, so tun, als ob sie sich<br />
gegenseitig verprügeln. Dieses<br />
Bild zwischen Teehauswirklichkeit<br />
und Fernsehgeschehen,<br />
das dem Betrachter bereits ein<br />
amüsiertes Lächeln oder Stirnrunzeln<br />
ins Gesicht treibt, wird<br />
noch skurriler, wenn <strong>di</strong>e vor<br />
ägyptischem Publikum über<br />
den Bildschirm fl<strong>im</strong>mernden<br />
Wrestler sich gerade zur Truppenerheiterung<br />
amerikanischer<br />
Soldaten <strong>im</strong> Irak befinden.<br />
Doch zurück von <strong>di</strong>eser<br />
männlichen Publikumsunterhaltung<br />
zum männlichen<br />
Fußball. Oder ist Fußball in<br />
Ägypten auch bei den Frauen<br />
populär? Die Ägypter sind da<br />
unterschiedlicher Meinung.<br />
Manche haben noch nie etwas<br />
davon gehört, viele wissen, dass<br />
es ägyptischen Damenfußball<br />
gibt, gesehen haben ein Spiel jedoch<br />
<strong>di</strong>e Wenigsten.<br />
Die Frauenliga<br />
erntet Erfolg und<br />
Kritik<br />
Es sind ungefähr 600 Spielerinnen,<br />
<strong>di</strong>e in der ägyptischen<br />
Frauenfußballliga regelmäßig<br />
kicken. Nach Schätzungen spielen<br />
insgesamt etwa 2500 Ägypterinnen<br />
in 20 Vereinen, sei<br />
es zum Spaß oder in der Liga.<br />
Ihren offiziellen Anfang genommen<br />
hat <strong>di</strong>e Entwicklung des<br />
ägyptischen Frauenfußballs in<br />
den frühen neunziger Jahren.<br />
Sahar alHawari, Tochter eines<br />
bekannten ägyptischen Schieds<br />
richters, begann durch Ägypten<br />
zu reisen, um Spielerinnen für<br />
ein Team zu suchen. Danach<br />
hatten sich 25 Mädchen und<br />
junge Frauen zwischen 15 und<br />
22 Jahren zusammengefunden,<br />
<strong>di</strong>e für fünf Jahre mit Sahar al<br />
Hawari lebten und trainierten.<br />
1996 gründete alHawari <strong>di</strong>e<br />
FrauenfußballKommission<br />
be<strong>im</strong> ägyptischen Fußballverband<br />
EFA (Egyptian Football<br />
Association). Seitdem setzt sie<br />
sich auch in anderen arabischen<br />
Ländern wie Bahrain, den Vereinigten<br />
Arabischen Emiraten<br />
und Kuwait für <strong>di</strong>e Förderung<br />
ihrer Disziplin ein. Heute ist <strong>di</strong>e<br />
Vierzigjährige unter anderem<br />
Besitzerin eines Klubs, Mitglied<br />
des ägyptischen und des afrikanischenFrauenfußballKommitees<br />
sowie der FIFA.<br />
Neben dem Erfolg in den<br />
letzten Jahren erfuhr der Frauenfußball<br />
viel Kritik von unterschiedlichen<br />
Seiten. Manche,<br />
vor allem konservative und religiöse<br />
Gruppen, betrachten Fußball<br />
spielende Frauen als nicht<br />
mit der islamischen Lehre vereinbar.<br />
Andere Meinungen besagen,<br />
dass Fußball generell ein<br />
Männer<strong>di</strong>ng und deshalb nichts<br />
für Frauen sei. Auch <strong>di</strong>e Familien<br />
der Spielerinnen hatten und<br />
haben so manche Bedenken.<br />
Mag <strong>di</strong>ese Haltung zum Frauenfußball<br />
auf den ersten Blick<br />
fremd erscheinen, ist sie doch<br />
räumlich näher, als man denkt,<br />
nur zeitlich etwas weiter entfernt.<br />
Als der Deutsche Fußballbund<br />
(DFB) 1955 <strong>di</strong>e offizielle<br />
Einführung des Damenfußballs<br />
<strong>di</strong>skutierte, lehnte er sie mit der<br />
Begründung ab, dass <strong>di</strong>e Annahme<br />
des Balls mit der Brust<br />
Brustkrebs verursachen würde,<br />
Frauen kon<strong>di</strong>tionell nicht in der<br />
Lage seien, ein neunzigminütiges<br />
Spiel durchzustehen und<br />
Treten spezifisch männlich sei.<br />
Erst 1970 wurde der Damenfußball<br />
aufgenommen.
28 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />
SPECIAL<br />
07.2007 [dī.wān] 29<br />
Kritik entzündete sich in<br />
Ägypten auch an der zu erwartenden<br />
Verführungskraft der<br />
den Körper nicht umfassend<br />
genug verhüllenden Trikots.<br />
Die meisten Frauen tragen ihren<br />
Dress auf <strong>di</strong>e gleiche Art wie<br />
<strong>di</strong>e Männer. Andere bevorzugen<br />
es, ihre Stutzen be<strong>im</strong> Spielen<br />
hoch bis über <strong>di</strong>e Knie zu ziehen<br />
und ein Kopftuch zu tragen.<br />
In der Vergangenheit war das<br />
Bedecken des Knies be<strong>im</strong> Spiel<br />
schon mal Pflicht, jedoch für <strong>di</strong>e<br />
Männer. 1904 hob <strong>di</strong>e in jenem<br />
Jahr in Paris gegründete FIFA<br />
eine <strong>di</strong>esbezügliche Best<strong>im</strong>mung<br />
auf.<br />
Zu Gast in<br />
Deutschland<br />
In der Gegenwart können<br />
sich <strong>di</strong>e Spielerinnen laut Sahar<br />
alHawari darüber freuen, inzwischen<br />
für ihre Leistung und<br />
seltener für <strong>di</strong>e Tatsache des<br />
Fußballspielens an sich kritisiert<br />
zu werden. Zu <strong>di</strong>eser erhöhten<br />
Anerkennung ihres <strong>Sport</strong>s trug<br />
nach Meinung der Spielerinnen<br />
<strong>di</strong>e erste offizielle arabische<br />
FrauenfußballMeisterschaft<br />
bei, <strong>di</strong>e vom 19. bis 29. April<br />
2006 in Alexandria stattfand.<br />
Neben den ägyptischen Gastgeberinnen<br />
waren <strong>di</strong>e National<br />
teams aus Tunesien, Algerien,<br />
Marokko, Libanon, Bahrain,<br />
Syrien, Palästina und dem Irak<br />
vertreten. Einige der Spiele wurden<br />
live <strong>im</strong> ägyptischen Fernsehen<br />
übertragen und erreichten<br />
damit ein neues Publikum.<br />
Live übertragen wurde auch<br />
<strong>di</strong>e erste Begegnung zwischen<br />
der ägyptischen DamenNationalmannschaft<br />
und dem TSV<br />
Ludwigsburg, <strong>di</strong>e sich kurz vor<br />
der Meisterschaft, ebenfalls <strong>im</strong><br />
April, in Alexandria und Kairo<br />
gegenüber standen. Dieses<br />
Treffen war Teil eines vom Goethe<br />
Institut in Zusammenarbeit<br />
mit der EFA initiierten Projekts,<br />
dem vor kurzem der Gegenbesuch<br />
in Deutschland folgte, der<br />
<strong>di</strong>e Möglichkeit bot, <strong>di</strong>e Spielerinnen<br />
auch hier live auf dem<br />
Rasen zu sehen.<br />
Zurück in Kairo werden sie<br />
wieder auf ihren gewohnten Plätzen<br />
spielen. Die Hinterhöfe oder<br />
Straßen, der größte Fußballplatz<br />
Ägyptens, gehören jedoch nicht<br />
dazu. Hier sind <strong>di</strong>e Kinder und<br />
Jugendlichen vor allem männlich,<br />
so ist es in Ägypten wie <strong>im</strong><br />
Nahen Westen.<br />
Kurz vor dem Anpfiff gegen den TSV Ludwigsburg<br />
in Kairo <strong>im</strong> vergangenen Jahr<br />
„P<strong>im</strong>p my Muscles“<br />
Bodybuil<strong>di</strong>ng ist nach Fußball <strong>di</strong>e populärste <strong>Sport</strong>art in Marokko.<br />
In den Städten verbringt ein Großteil der Männer <strong>di</strong>e Freizeit in einer<br />
der zahlreichen „Muckie-Buden“. Körperkult ist angesagt, und der<br />
Muskelwahn bildet eine lukrative Einkommensquelle der Schönheitsindustrie.<br />
Doch wie einsam das Leben des starken Geschlechts sein<br />
kann, weiß der Profi-Bodybuilder Abderrazak Essahabi zu erzählen<br />
von Dörthe Engels und Omar Ansari<br />
Fußball entwickelt bei manchen<br />
Männern Suchtcharakter<br />
und kann vor allem bei passiver<br />
Begeisterung vor dem<br />
Fernsehapparat wie überall in<br />
der Welt auch in Marokko zu<br />
ernsthaften Schwierigkeiten<br />
mit der Ehefrau führen. Bodybuil<strong>di</strong>ng<br />
hingegen birgt bei dem<br />
Wunsch nach <strong>im</strong>mer größeren<br />
Muskeln jedoch noch ganz andere<br />
Risiken. Beitragsgelder,<br />
Ausrüstung und spezielle Nahrungsmittel<br />
verschlingen nicht<br />
selten große Teile des ohnehin<br />
meist niedrigen Monatslohns.<br />
Das stundenlange Training, <strong>di</strong>e<br />
Ichbezogenheit des <strong>Sport</strong>s und<br />
<strong>di</strong>e Verlockung aufputschender<br />
Mittel katapultieren viele Männer<br />
aus ihrem Alltag mit Familie<br />
und Job in eine ganz eigene<br />
Welt, wie der professionelle Bodybuilder<br />
Abderrazak Essahabi<br />
(36) zu erzählen weiß. Seit dem<br />
Gewinn der marokkanischen<br />
Meisterschaft 1998 zählt er zu<br />
den Großen der internationalen<br />
Szene. Doch <strong>di</strong>e Teilnahme an<br />
den letzten Weltmeisterschaften<br />
in der Türkei verhinderte ein<br />
positiver DopingBefund.<br />
Symmetrie der<br />
Muskeln<br />
Das A und O des Bodybuilders<br />
ist sein Körper, dessen<br />
gleichmäßige Muskulösität es<br />
<strong>im</strong> Wettkampf auf einer Bühne<br />
zu präsentieren gilt. Dazu treten<br />
<strong>di</strong>e Männer (Frauen bilden<br />
weiterhin <strong>di</strong>e Ausnahme in <strong>di</strong>esem<br />
<strong>Sport</strong>) in unterschiedlichen<br />
Klassen mit einem PosingSlip<br />
bekleidet vor eine Jury. Kriterium<br />
ist neben der Symmetrie der<br />
Muskeln auch <strong>di</strong>e Sichtbarkeit<br />
der Venen, <strong>di</strong>e Zeichen eines<br />
niedrigen Körperfettanteils<br />
sind. Je mehr Venen in Pflicht<br />
Posing und Kür zu sehen sind,<br />
desto höher <strong>di</strong>e Wertung – und<br />
umso niedriger <strong>di</strong>e Akzeptanz<br />
in der Gesellschaft, denn Profi<br />
Bodybuilder werden zumeist als<br />
hässlich und krank empfunden.<br />
Dennoch ist auch in<br />
Deutschland das Interesse an<br />
<strong>im</strong>mer mehr Muskeln nicht zu<br />
bremsen – vor allem bei türkisch<br />
und arabischstämmigen<br />
Männern. Im OnlineForum von<br />
„maroczone.de“ tauschen sich<br />
junge Marokkaner über Tipps<br />
und Tricks be<strong>im</strong> Bodybuil<strong>di</strong>ng<br />
aus: Wie man <strong>di</strong>e Spritze richtig<br />
setzt, welches Essen <strong>di</strong>e Mutter<br />
kochen sollte und was be<strong>im</strong> Sex<br />
zu beachten ist, denn der kleine<br />
Freund des Mannes verhält sich<br />
bei permanentem Anabolikagebrauch<br />
teils eigensinnig. Der<br />
Schein des starken Geschlechts<br />
trügt also – und dennoch finden<br />
<strong>im</strong> Internet wie auch in<br />
der herkömmlichen Apotheke<br />
Dopingpräparate aller Art reißenden<br />
Absatz. Was hier nicht<br />
legal zu bekommen ist, wird aus<br />
dem Urlaub in der Türkei mitgebracht<br />
– dem Eldorado fürs<br />
„Stoffen“.<br />
Wunsch nach<br />
Respekt<br />
Was <strong>di</strong>ese Männer antreibe,<br />
sei zumeist der Respekt auf der<br />
Straße, dann der Reiz des großen<br />
Geldes, erzählt Abderrazak. Er<br />
selbst ist heute in eine Spirale aus<br />
Versagensängsten und Doping<br />
gerutscht, <strong>di</strong>e ihm <strong>im</strong> Kampf mit<br />
dem eigenen Körper Kraft für<br />
andere Dinge des Lebens raubt.<br />
Schon als Jugend licher trainierte<br />
er an sechs Tagen der Woche in<br />
einem kleinen FitnessStu<strong>di</strong>o<br />
inmitten des Arbeiterviertels<br />
Sbaeta in Casablanca. Seit Jahren<br />
muss sein einziger freier<br />
Tag in der Woche zugunsten<br />
stän<strong>di</strong>ger Wettkampfvorbereitungen<br />
ausfallen. Seinen Wohnsitz<br />
hat er zwischenzeitlich nach<br />
Sau<strong>di</strong>Arabien verlegt, wo er als<br />
Trainer von Nachwuchstalenten<br />
tätig ist. Allein von den Gewinnprämien<br />
oder Werbeeinnahmen<br />
zu leben, ist unmöglich. Ganz<br />
zu schweigen von finanzieller<br />
Unterstützung durch den marokkanischen<br />
Staat, wie sie in<br />
Europa durch <strong>di</strong>e Förderung<br />
von Profisportlern üblich ist.<br />
Kein Wunder also, dass <strong>di</strong>e berühmtesten<br />
Bodybuilder aller<br />
Zeiten wie Arnold Schwarzen
30 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />
SPECIAL<br />
07.2007 [dī.wān] 31<br />
egger (Österreich), JeanClaude<br />
van Damme (Belgien) oder Ralf<br />
Möller (Deutschland) nicht aus<br />
dem Maghreb stammen.<br />
Dieser <strong>Sport</strong> ist<br />
grenzenlos<br />
Der Gedanke an ein Aufhören<br />
kommt Abderrazak aufgrund<br />
seiner Chancenlosigkeit<br />
auf dem marokkanischen Arbeitsmarkt<br />
ohne Schulabschluss<br />
und Ausbildung nicht in den<br />
Sinn. Seine Muskeln sind sein<br />
Einkommen. „Dieser <strong>Sport</strong><br />
kennt keine Grenzen“, erklärt<br />
er mit Verweis auf zahlreiche<br />
körperliche und auch seelische<br />
Verletzungen. Ohne einen Hehl<br />
daraus zu machen, zählt er auf,<br />
was AnabolikaSpritzen, Aufbaupräparate<br />
und sonstiges<br />
Doping aus einem Menschen<br />
machen können. Gegen <strong>di</strong>e<br />
Schmerzen <strong>im</strong> Körper helfen<br />
Me<strong>di</strong>kamente, gesundheitliche<br />
Risiken wie Nierenversagen oder<br />
Herzbeschwerden sowie Impotenz<br />
und überd<strong>im</strong>ensionales<br />
Wachstum der Brust verdrängt<br />
er – <strong>di</strong>e Einsamkeit müssen <strong>di</strong>e<br />
Trainingskollegen lindern, <strong>di</strong>e<br />
in ihm jedoch auch oft nur den<br />
Kontrahenten sehen. Manche<br />
bewundern ihn jedoch auch.<br />
„Und was Frauen betrifft… Sie<br />
mögen eher natürliche Körper!<br />
Die meisten stehen nicht<br />
auf Männer mit Bodybuil<strong>di</strong>ng<br />
Muskeln.“ Schl<strong>im</strong>mer noch. Er<br />
berichtet von Erlebnissen, <strong>di</strong>e<br />
ihm bewusst machten, dass sein<br />
Körper auch als furchterregend<br />
empfunden werden kann. „Eines<br />
Tages hat mich ein Mädchen<br />
am Strand gesehen. Sie begann<br />
zu schreien und versteckte sich<br />
hinter ihren Schwestern. Ich bin<br />
dann abgehauen.“ Für manche<br />
Männer auf der Straße ist er <strong>di</strong>e<br />
Provokation in Person. „Männer<br />
beginnen, mich grundlos<br />
zu besch<strong>im</strong>pfen. Einmal hielten<br />
zwei Männer Glasflaschen in<br />
den Händen und wollten sich<br />
mit mir prügeln, weil sie dachten,<br />
ich hätte sie angemacht.“<br />
Sein Lachen über <strong>di</strong>ese Vorfälle<br />
klingt beschwerlich.<br />
Das Ende des<br />
Leidens<br />
Bei der Frage, ob er ein Vorbild<br />
für Kinder und Jugendliche<br />
sei, wird er nachdenklich. <strong>Sport</strong><br />
halte Menschen von Drogen wie<br />
Alkohol und Haschisch fern. Er<br />
sagt, <strong>di</strong>e einzige Abhängigkeit<br />
eines <strong>Sport</strong>lers seien Essen und<br />
Training. Doch der <strong>Sport</strong> kön<br />
Muskelmasse und Venenspiel – Abderrazak Essahabi bei der Qualifikation für <strong>di</strong>e Weltmeisterschaft<br />
ne auch zu einer Sucht werden:<br />
„Dann verlierst Du Dich irgendwo.<br />
Die meisten Leute gehen<br />
dann nicht mehr zur Schule,<br />
verlieren ihre Arbeitsstelle und<br />
so weiter.“ Das Ende des Lieds<br />
sei oft <strong>di</strong>e Erkenntnis, dass <strong>di</strong>e<br />
Muskeln das einzige sind, was<br />
einem verblieben ist. Eben <strong>di</strong>ese<br />
Typen stünden nachts als Türsteher<br />
vor Diskotheken oder<br />
verkauften Drogen.<br />
Und dennoch… <strong>di</strong>e Faszination<br />
bleibt. Den Körper bis zum<br />
Letzten zu perfektionieren, <strong>di</strong>e<br />
Schönheit mit aller Disziplin<br />
zu erkämpfen, <strong>di</strong>e Harmonie<br />
der Sehnen und Muskeln zu genießen.<br />
Oder ist es nicht doch<br />
vielmehr der äußere Schmerz,<br />
der <strong>di</strong>e innere Lehre füllt? Zumindest<br />
ist Schönheit relativ.<br />
FrauenBodybuil<strong>di</strong>ng, wie in Europa<br />
und den USA seit Längerem<br />
ausgeübt, lehnt <strong>di</strong>e Mehrheit<br />
der Hobby und Profibodybuilder<br />
ab. Muskeln seien nur etwas<br />
für harte Kerle – Frauen sollten<br />
menschlich bleiben. Wenn auch<br />
fitte Menschen.<br />
Ebru boxt sich durch<br />
Wenn musl<strong>im</strong>ische Mädchen <strong>Sport</strong> treiben möchten, müssen viele<br />
von ihnen mehr als nur sportliche Hürden nehmen, um auf dem<br />
Siegertreppchen zu stehen. Besonders der Schw<strong>im</strong>munterricht ist<br />
frommen Musl<strong>im</strong>en ein Dorn <strong>im</strong> Auge<br />
von Katharina Mühlbeyer<br />
Ebru Shikh Ahmed war bis<br />
zu ihrem 15. Lebensjahr eine erfolgreiche<br />
Schw<strong>im</strong>merin, doch<br />
zum Training ging sie he<strong>im</strong>lich.<br />
Als sich <strong>di</strong>e Wettkämpfe häuften<br />
und <strong>di</strong>e Trainingszeiten länger<br />
wurden, flog <strong>di</strong>e junge <strong>Sport</strong>lerin<br />
auf, und ihr Vater setzte<br />
ihrer Schw<strong>im</strong>mkarriere ein<br />
Ende. Le<strong>di</strong>glich mit Badeanzug<br />
bekleidet zeige sie zu viel Haut –<br />
besonders vor den männlichen<br />
Trainern und Teamkollegen.<br />
Auf <strong>Sport</strong> aber wollte <strong>di</strong>e junge<br />
Frau damals nicht verzichten<br />
und kam so auf eine <strong>Sport</strong>art,<br />
<strong>di</strong>e mehr Bekleidung erlaubte:<br />
Karate.<br />
So kann man <strong>di</strong>e Geschichte<br />
der heute 32jährigen Ebru<br />
Shikh Ahmed auf der Internetseite<br />
des Deutschen Olympischen<br />
<strong>Sport</strong>bundes (DOSB)<br />
nachlesen, denn <strong>di</strong>e dreifache<br />
KarateEuropameisterin ist seit<br />
2006 Integrationsbotschafterin<br />
des DOSB. Aus einer türkischmusl<strong>im</strong>ischen<br />
Familie stammend,<br />
<strong>im</strong> schwäbischen Reutlingen<br />
geboren, setzt sich <strong>di</strong>e<br />
gläubige Musl<strong>im</strong>in besonders<br />
für <strong>di</strong>e Integration musl<strong>im</strong>ischer<br />
Mädchen in Deutschland ein.<br />
Es liegt noch viel Arbeit vor<br />
Shikh Ahmed, denn laut einer<br />
Umfrage treiben türkischmusl<strong>im</strong>ische<br />
Mädchen in Deutschland<br />
von allen Migrantinnen am<br />
wenigsten <strong>Sport</strong>. Die meisten<br />
der jungen Musl<strong>im</strong>innen wün<br />
schen sich zwar mehr sportliche<br />
Aktivität, am liebsten jedoch<br />
in reinen Mädchensportgruppen.<br />
Auch für <strong>di</strong>e islamischen<br />
Organisationen in Deutschland<br />
scheint der koedukative <strong>Sport</strong><br />
und Schw<strong>im</strong>munterricht ein<br />
Problem darzustellen.<br />
Islamische Organisationen<br />
gegen<br />
koedukativen<br />
<strong>Sport</strong>unterricht<br />
Dass das Verhältnis Islam<br />
und <strong>Sport</strong> ein besonderes ist,<br />
erkennt man schon daran, dass<br />
der Islamrat, der Zentralrat der<br />
Musl<strong>im</strong>e in Deutschland und<br />
Milli Görüş dem Thema jeweils<br />
K.O. in Kreuzberg –<br />
Migrantinnen boxen sich durch
32 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />
SPECIAL<br />
07.2007 [dī.wān] 33<br />
eigene Beiträge auf ihren Internetseiten<br />
widmen, <strong>di</strong>e vor allem<br />
aus Wiedergaben von Urteilen<br />
deutscher Gerichte bestehen.<br />
Besonders häufig verweisen <strong>di</strong>e<br />
islamischen Organisationen<br />
auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts<br />
von 1993.<br />
Es ermöglichte, eine zwölfjährige<br />
musl<strong>im</strong>ische Schülerin vom<br />
koedukativen <strong>Sport</strong>unterricht<br />
zu befreien, wenn <strong>di</strong>eser „<strong>im</strong><br />
Hinblick auf <strong>di</strong>e Bekleidungsvorschriften<br />
des Korans, <strong>di</strong>e sie<br />
als verbindlich ansieht, zu einem<br />
Gewissenskonflikt“ führt (Az.:<br />
6 C 8/91). Der Islamrat erklärt<br />
<strong>di</strong>esen islamischen Gewissenskonflikt<br />
auf seiner Homepage<br />
mit besonderen islamischen<br />
Verhüllungsgeboten und weiter,<br />
dass „Musl<strong>im</strong>e ein stärkeres<br />
Empfinden für <strong>di</strong>e Trennung der<br />
Geschlechter sowie auch für <strong>di</strong>e<br />
Trennung zwischen dem öffentlichen<br />
und dem privaten Bereich<br />
haben. Dies gilt gleichermaßen<br />
für Männer und Frauen“. Interessant<br />
ist daran, dass es in all<br />
den erwähnten Gerichtsurteilen<br />
nie um <strong>di</strong>e Befreiung eines<br />
musl<strong>im</strong>ischen Jungen vom gemischten<br />
<strong>Sport</strong>unterricht ging.<br />
Keine „Kapitulation<br />
vor dem<br />
Islam“ in Sicht<br />
Der Standpunkt des organisierten<br />
Islams in Deutschland<br />
zum Thema <strong>Sport</strong> entspricht<br />
jedoch nicht dem tatsächlichen<br />
Verhalten der meisten musl<strong>im</strong>ischen<br />
Schülerinnen und ihrer<br />
Eltern. Dass musl<strong>im</strong>ische Familien<br />
reihenweise den deutschen<br />
<strong>Sport</strong> und Schw<strong>im</strong>munterricht<br />
boykottieren und mit Klage und<br />
Koran vor Gerichte ziehen, um<br />
<strong>di</strong>e Scharia in deutschen Klassenz<strong>im</strong>mern<br />
durchzusetzen,<br />
mag ein frommer Wunsch<br />
mancher Islamisten und <strong>di</strong>e<br />
Angstversion der Broders<br />
und Ulfkottes sein. Doch we<br />
der ausreichende Zahlen noch<br />
Aussagen von Schulen oder<br />
verantwortlichen Behörden belegen<br />
<strong>di</strong>ese vermeintliche Islamisierung<br />
deutscher Schulen. In<br />
einem Artikel der ZEIT aus dem<br />
Jahr 2006 erfährt man: In <strong>Berlin</strong><br />
blieben <strong>im</strong> Jahr 2005 genau fünf<br />
Schüler, nicht ausschließlich<br />
Musl<strong>im</strong>e, dem Schw<strong>im</strong>munterricht<br />
aus religiösen Gründen<br />
fern – von insgesamt 68 generellen<br />
<strong>Sport</strong>befreiungen.<br />
Kopftuch, Kontrolle,<br />
Karate<br />
Laut einer Stu<strong>di</strong>e sind <strong>di</strong>e<br />
familiären Widerstände gegen<br />
das sportliche Engagement der<br />
Töchter dann am größten, wenn<br />
<strong>di</strong>e musl<strong>im</strong>ischen Eltern und<br />
Ver<strong>wan</strong>dten besonders streng<br />
auf <strong>di</strong>e Einhaltung islamisch<br />
verstandener Prinzipien und<br />
Gebote achten. Kopftuch, Ganzkörperbedeckung<br />
oder stän<strong>di</strong>ge<br />
Kontrolle durch männliche Familienmitglieder<br />
erschweren<br />
sportliche Betätigung erheblich.<br />
Schier unmöglich wird Fitness<br />
und Bewegung dann, wenn<br />
Spaß und Spiel mit nichtmusl<strong>im</strong>ischen<br />
<strong>Sport</strong>kamera<strong>di</strong>nnen<br />
– mit männlichen Kameraden<br />
ohnehin – verpönt sind, weil<br />
<strong>di</strong>ese als „Ungläubige“ gelten.<br />
Die Stu<strong>di</strong>e nennt auch <strong>di</strong>e<br />
Ursachen für <strong>di</strong>e Vorbehalte<br />
konservativer Musl<strong>im</strong>e gegenüber<br />
dem <strong>Sport</strong>unterricht: <strong>di</strong>e<br />
Familien fürchten den vorehelichen<br />
Verlust der Jungfräulichkeit<br />
und damit <strong>di</strong>e Entehrung<br />
der gesamten Familie hinter<br />
dem sportlichen Treiben der<br />
Töchter. Diese Ängste bestätigt<br />
auch Riccardo Cicciarella, Lehrer<br />
an einer Sonderschule für<br />
Erziehungshilfe in Freiburg: „Oft<br />
verbirgt sich hinter dem krassen<br />
Verhalten musl<strong>im</strong>ischer Familien<br />
einfach nur Unwissen. Viele<br />
Eltern wissen nicht einmal, wie<br />
<strong>Sport</strong> oder Schw<strong>im</strong>munterricht<br />
oder der Alltag in einem <strong>Sport</strong>verein<br />
abläuft und malen sich <strong>di</strong>e<br />
absurdesten Gefahren für ihre<br />
Töchter aus. Diese Ängste muss<br />
man zunächst einmal ernst nehmen.“<br />
Cicciarella sieht <strong>di</strong>e Schulen<br />
und Pädagogen in der Pflicht,<br />
sich zu verändern und auf <strong>di</strong>e<br />
Befindlichkeiten der Eltern und<br />
Schüler einzugehen: „Vom getrennten<br />
Unterricht geht das<br />
Abendland nicht unter – wenn<br />
dann alle mitmachen, pr<strong>im</strong>a!“, so<br />
Cicciarella. Doch auch seine Toleranz<br />
hat Grenzen: „Familien,<br />
<strong>di</strong>e keine Kompromisse machen<br />
und ihre Kinder aus der Schule<br />
fernhalten, sind ein Fall für das<br />
Jugendamt religiöse Gefühle<br />
hin oder her. Aber mal ehrlich:<br />
Wie oft kommt das schon vor?“<br />
Deutsch-<br />
Türkinnen<br />
auf dem<br />
Siegertreppchen<br />
Im Schatten aufgeregter Debatten<br />
um unterdrückte Türkinnen<br />
und leere Klassenz<strong>im</strong>mer<br />
in <strong>Berlin</strong>Kreuzberg haben sich<br />
deutschtürkische Leistungssportlerinnen<br />
<strong>di</strong>e Teilnahme an<br />
Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften<br />
erdribbelt und<br />
erboxt. Eine Stu<strong>di</strong>e mit sieben<br />
<strong>di</strong>eser Hochleistungssportlerinnen<br />
türkischer Herkunft hat<br />
ergeben, dass sie alle einen hohen<br />
Preis für den sportlichen<br />
Erfolg bezahlt haben. Denn mit<br />
ihm ist in den meisten Fällen<br />
eine gehobene Bildungskarriere,<br />
eine geglückte Integration und<br />
der Wunsch nach körperlicher<br />
und sexueller Selbstbest<strong>im</strong>mung<br />
verbunden. Die <strong>Sport</strong>lerinnen<br />
entwickelten sich zu starken<br />
Frauen, <strong>di</strong>e Kleidung und Partner<br />
selbst wählen und in<strong>di</strong>viduelle<br />
Lebensentscheidungen<br />
treffen, was häufig <strong>im</strong> Widerspruch<br />
zu den Vorstellungen der<br />
männlichen Ver<strong>wan</strong>dten steht.<br />
Deshalb haben sie sportliche<br />
Aktivitäten aufgegeben und<br />
neue durchgesetzt, sie mussten<br />
Ziele, Wünsche und Bedürfnisse<br />
verwerfen, <strong>di</strong>e erste Liebe<br />
aus dem <strong>Sport</strong>verein musste erst<br />
verhe<strong>im</strong>licht werden und als das<br />
nicht mehr ging, drohte Z<strong>wan</strong>gsverheiratung<br />
in <strong>di</strong>e Türkei oder<br />
<strong>di</strong>e Verstoßung aus der Familie.<br />
Auch körperliche Gewalt wurde<br />
einigen <strong>di</strong>eser heute so erfolgreichen<br />
Leistungssportlerinnen<br />
angedroht, manchen auch angetan.<br />
Tränen, Töchter,<br />
Tae Kwon Do<br />
Die Wahl der <strong>Sport</strong>art, so <strong>di</strong>e<br />
Ausübung von <strong>Sport</strong> möglich<br />
ist, ist von großer Bedeutung,<br />
und wie Shikh Ahmed wählen<br />
viele Musl<strong>im</strong>innen in Deutschland<br />
<strong>Sport</strong>arten, <strong>di</strong>e eine keusche<br />
Bekleidung ermöglichen:<br />
Karate, Tae Kwon Do, Boxen,<br />
Fußball. Doch selbst in <strong>Sport</strong>arten,<br />
in denen <strong>di</strong>e Geschlechter<br />
unter sich bleiben und lange,<br />
weite Kleidung getragen wird,<br />
kann es zu Problemen kommen.<br />
So berichtet eine <strong>Sport</strong>lerin der<br />
Stu<strong>di</strong>e vom Zorn ihres Vaters,<br />
als der männliche Preisrichter<br />
be<strong>im</strong> Tea Kwon Do den Arm der<br />
Siegerin – seiner Tochter – in<br />
<strong>di</strong>e Höhe hielt.<br />
Ungleiches Strandvergnügen<br />
Der Burkini<br />
ermöglicht züchtigen<br />
Spaß am<br />
Strand<br />
Das islamisch korrekter<br />
<strong>Sport</strong> möglich ist, und man<br />
frommen Musl<strong>im</strong>innen und<br />
Musl<strong>im</strong>en keine generelle <strong>Sport</strong>feindlichkeit<br />
nachsagen kann,<br />
zeigen zahlreiche Initiativen, <strong>di</strong>e<br />
sich <strong>di</strong>e Mühe machen, auf <strong>di</strong>e<br />
Bedürfnisse musl<strong>im</strong>ischer Mädchen<br />
einzugehen: Das Projekt<br />
BOXGIRLS in Kreuzberg fördert<br />
besonders junge Migrantinnen,<br />
und deshalb wird hier auch mal<br />
mit Kopftuch zugeschlagen.<br />
Viele Schw<strong>im</strong>mbäder in Städten<br />
mit hohem musl<strong>im</strong>ischen<br />
Bevölkerungsanteil bieten gern<br />
Badezeiten für Musl<strong>im</strong>innen an<br />
– Männern ist in <strong>di</strong>eser Zeit der<br />
Zutritt verboten; Fenster werden,<br />
wenn nötig, blick<strong>di</strong>cht gemacht.<br />
Für <strong>di</strong>e fitnessbegeisterte<br />
Musl<strong>im</strong>a hat das Bildungs und<br />
Freizeitzentrum musl<strong>im</strong>ischer<br />
Frauen in Dortmund spezielle<br />
Aerobickurse <strong>im</strong> Angebot, während<br />
<strong>di</strong>e Musl<strong>im</strong>ische Jugend<br />
in Deutschland ganze Ski und<br />
Snowboard freizeiten in <strong>di</strong>e<br />
Schweiz oder nach Österreich<br />
organisiert. An <strong>di</strong>e modebewusste<br />
Musl<strong>im</strong>a verkauft <strong>di</strong>e<br />
Firma Capsters tren<strong>di</strong>ge <strong>Sport</strong>kopftücher<br />
für alle Anlässe: ein<br />
Teil für Aerobic, ein Schnitt für<br />
Tennis, ein Skate und ein OutdoorModell.<br />
Und seit Aheda<br />
Zanetti, eine libanesischstämmige<br />
Australierin, den „Burkini“<br />
entworfen hat, sind Sommer,<br />
Sonne, Strandvergnügen für<br />
fromme Musl<strong>im</strong>innen kein Tabu<br />
mehr. Der anliegende Ganzkörperanzug<br />
mit angenähtem Kopftuch<br />
verbindet <strong>di</strong>e tra<strong>di</strong>tionelle<br />
Burka und den sün<strong>di</strong>gen Bikini<br />
zu einer keuschen Badebekleidung.<br />
Musl<strong>im</strong>innen, <strong>di</strong>e auf Kopftuch,<br />
Körperbedeckung und<br />
Geschlechtertrennung bestehen,<br />
sind eine Herausforderung<br />
für Schulen, <strong>Sport</strong>vereine und<br />
öffentliche Schw<strong>im</strong>mbäder. Die<br />
nichtmusl<strong>im</strong>ische Mehrheitsgesellschaft<br />
<strong>di</strong>skr<strong>im</strong>iniert Musl<strong>im</strong>e,<br />
wenn sie sie von sportlichen<br />
Aktivitäten ausschließt, indem<br />
sie <strong>di</strong>e moralischen Befindlichkeiten<br />
der Gläubigen ignoriert.<br />
Und weder Familienpatriarchen<br />
noch islamische Organisationen<br />
haben das Recht, musl<strong>im</strong>ischen<br />
Frauen und Männern zu verbieten,<br />
so <strong>Sport</strong> zu treiben, wie sie<br />
es möchten.
34 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />
SPECIAL<br />
07.2007 [dī.wān] 35<br />
<strong>Sport</strong> für den Geist<br />
Schach ist keinesfalls nur ein einfaches Brettspiel, sondern ein multikulturelles<br />
Phänomen. Das Spiel entstand <strong>im</strong> 6. Jahrhundert und<br />
wurde <strong>im</strong> Zuge der islamischen Expansion von den Arabern übernommen,<br />
<strong>di</strong>e es nach Europa brachten. Über <strong>di</strong>e Ursprünge des wohl<br />
bekanntesten Denksports der Welt<br />
von Nora K. Schmid<br />
Veselin Topalov, Vis<strong>wan</strong>athan<br />
Anand und Vlad<strong>im</strong>ir Kramnik,<br />
so heißen <strong>di</strong>e drei derzeitigen<br />
Giganten der internationalen<br />
Schachelite. In einem Länderranking<br />
nehmen Russland, <strong>di</strong>e<br />
Ukraine, Armenien, Amerika,<br />
Ungarn, Israel und China <strong>di</strong>e<br />
vorderen Positionen ein. Doch<br />
nicht nur <strong>di</strong>e Herkunft der Spieler<br />
ist vielfältig, auch <strong>di</strong>e Varianten,<br />
in denen Schach gespielt<br />
wird, sind zahllos und übertreffen<br />
sich <strong>im</strong> Grad an Abstraktion.<br />
So gibt es Blindschach, bei dem<br />
<strong>di</strong>e Spieler das Schachbrett nicht<br />
zu Gesicht bekommen dürfen,<br />
Blitzschach, bei dem jeder Spieler<br />
in der Regel fünf Minuten<br />
Bedenkzeit für einen Zug hat,<br />
und S<strong>im</strong>ultanschach, bei dem<br />
man es gleichzeitig mit mehreren<br />
Gegnern aufnehmen muss.<br />
Herausforderungen, bei denen<br />
jeden Amateur das kalte Grauen<br />
packt...<br />
Doch woher kommt <strong>di</strong>eses<br />
faszinierend vielseitige und<br />
weit verbreitete Spiel, das heute<br />
Denksportler auf der ganzen<br />
Welt beschäftigt? Ist es arabisches<br />
oder persisches Erbe,<br />
wie der Name des Spiels vermuten<br />
lässt? Und wie konnte sich<br />
ein einfaches Spiel auf einem<br />
banalen Brett mit 64 Quadraten,<br />
das mit 32 Figuren gespielt wird,<br />
in etwas mehr als einem Jahrtausend<br />
derart weit verbreiten<br />
und Strategen aus allen Teilen<br />
der Welt in Atem halten?<br />
Viele Legenden ranken sich<br />
um <strong>di</strong>e Entstehung des Strategiespiels<br />
Schach. So soll es ein<br />
brahmanischer Weiser namens<br />
Sissa für seinen König Balhait<br />
erfunden haben, der <strong>di</strong>esem<br />
dafür so dankbar war, dass er<br />
ihm einen Wunsch freistellte.<br />
Der Weise war bescheiden. Er<br />
wünschte sich ein Reiskorn auf<br />
das erste Feld, zwei auf das zweite<br />
und auf jedes folgende <strong>im</strong>mer<br />
<strong>di</strong>e doppelte Anzahl von Reiskörnern.<br />
Der König lachte über so<br />
viel Zurückhaltung, gewährte ihm<br />
den Wunsch – und hatte später das<br />
Nachsehen, denn der schlitzohrige<br />
Weise hatte sich damit genau<br />
2 64–1 Reiskörner gewünscht, also<br />
18.446.744.073.709.551.615 Reiskörner.<br />
Das entspricht bescheidenen<br />
500 Milliarden Tonnen<br />
Reis.<br />
Von Brahmanen<br />
und in<strong>di</strong>schen<br />
Königen<br />
Anders als <strong>di</strong>e Legende es<br />
vermuten lässt, verlieren sich<br />
<strong>di</strong>e wirklichen Ursprünge des<br />
Spiels jedoch <strong>im</strong> Dunkeln.<br />
Historiker aller Zeiten haben<br />
seine Erfindung abwechselnd<br />
den Griechen, Ägyptern, Hebräern,<br />
Babyloniern, Chinesen,<br />
Indern, Persern und Arabern<br />
zugeschrieben. Als Väter des<br />
Spiels wurden schon Xerxes,<br />
Salomon, Hippokrates und eine<br />
unerschöpfliche Zahl Wesire,<br />
Sultane und sogar der biblische<br />
Adam höchstpersönlich veranschlagt.<br />
Eine erneute Auseinandersetzung<br />
mit dem vorliegenden<br />
Quellenmaterial hat in jüngerer<br />
Zeit Wissenschaftler zu der<br />
Vermutung veranlasst, dass ein<br />
Vorläufer des heutigen Schachspiels<br />
in China bereits während<br />
der Regierung von Wu Ti (560<br />
578 n. Chr.) unter dem Namen<br />
„Xiang Qi“ bekannt war. Die<br />
Mehrzahl der Historiker glaubt<br />
aller<strong>di</strong>ngs, dass das erste prototypische<br />
Schachspiel aus<br />
In<strong>di</strong>en stammt. Ein späterer<br />
SanskritText mit dem Titel<br />
„Manasollasa“ beschreibt ein<br />
Spiel namens „Chaturanga“, <strong>di</strong>e<br />
„vier Elemente“ der in<strong>di</strong>schen<br />
Armee: Elefanten, Kavallerie,<br />
Kriegswagen und Infanterie. Es<br />
handelte sich dabei noch um ein<br />
Spiel zwischen vier Parteien, bei<br />
dem <strong>di</strong>e Figuren in den Ecken<br />
des Bretts standen und bei dem<br />
gewürfelt wurde, bis ein Spieler<br />
alle Gegner besiegt hatte.<br />
Eines der frühesten Dokumente,<br />
welches nahe legt, dass<br />
Schach von In<strong>di</strong>en aus nach<br />
Persien gelangte, ist eine persische<br />
Geschichtensammlung<br />
aus dem frühen 7. Jahrhundert,<br />
<strong>di</strong>e den Namen „Chatrangnamak“<br />
trägt. Vier Jahrhunderte<br />
später berichtete auch der persische<br />
Poet Abu lQas<strong>im</strong>, besser<br />
bekannt als Firdawsi, in seinem<br />
64 Quadrate und 32 Figuren machen Geschichte<br />
monumentalen Werk „Shahname“,<br />
dem „Buch der Könige“,<br />
vom in<strong>di</strong>schen Ursprung des<br />
Spiels. Archäologische Fundstücke<br />
wie sieben kleine Elfenbeinschnitzereien<br />
des 7. Jahrhunderts<br />
aus der Gegend um<br />
Samarkand <strong>im</strong> heutigen Usbekistan<br />
legen ebenfalls nahe, dass<br />
Schach in Persien schon vor der<br />
Eroberung durch <strong>di</strong>e Araber bekannt<br />
war. Dies zeigt auch der<br />
arabische Name des Spiels – das<br />
Wort Schatrandsch mag von<br />
dem persischen chatrang abgeleitet<br />
sein und <strong>di</strong>es kann wiederum<br />
aus dem Sanskrit, also von<br />
chaturanga stammen.<br />
Das arabische<br />
Schatrandsch<br />
„Ein edler Mann stellt das<br />
Schachspiel auf, um dadurch<br />
Konsequenzen zu erkennen, <strong>di</strong>e<br />
ein Unwissender nicht bemerkt.<br />
Mit verstän<strong>di</strong>gem Blick sieht er<br />
<strong>di</strong>e Folgen zukünftiger Ereignisse<br />
voraus inmitten von Dünkel<br />
und Spott“, so schrieb der<br />
arabische Philosoph alMas‘u<strong>di</strong><br />
(ca. 895956 n. Chr.) in seinem<br />
Werk „Murudsch adhdhahab<br />
wama’a<strong>di</strong>n aldschawahir“<br />
(„Die Goldwiesen und Edelsteingruben“).<br />
Die Araber übernahmen<br />
Schach einige Zeit nach der<br />
Eroberung Persiens <strong>im</strong> Jahr 644<br />
n. Chr. Das Spiel war nur eine<br />
Facette der multikulturellen Einflüsse<br />
aus Persien, Griechenland<br />
und Byzanz. In den folgenden<br />
Jahrhunderten zerbrachen sich<br />
arabische Schachspieler <strong>di</strong>e<br />
Köpfe über dem Spiel, welches<br />
sie Schatrandsch nannten,<br />
so dass sie es auf <strong>di</strong>ese Weise<br />
erweiterten und weiterentwi<br />
ckelten. Erste Kompilationen<br />
entstanden, so verfasste Ishaq<br />
anNad<strong>im</strong> eine Auflistung mehrerer<br />
Generationen von Spielern<br />
– darunter zwei bekannte<br />
Schachmeister, al‘Adli und ar<br />
Razi, <strong>di</strong>e unter dem Kalifen al<br />
Mutawakkil (847862 n. Chr.) gegeneinander<br />
angetreten waren.<br />
In jener Zeit entstanden auch<br />
erste umfassende Darstellungen<br />
der Regeln und ausgewählter<br />
Probleme von Hand der Spieler.<br />
Zu <strong>di</strong>esen gehören das Buch des<br />
Schachmeisters asSuli und das<br />
seines Schülers alLadschladsch<br />
über Schachprobleme (Mansubat).<br />
Trotz seiner Popularität<br />
wurde Schatrandsch jedoch von<br />
einigen religiösen Autoritäten<br />
verdammt. So wird von einem<br />
gewissen ‘Ar ibn ‘Auf überliefert,<br />
dass er einst zu Schachspielern<br />
gesagt habe: „Der Krieg hat ein<br />
Ende genommen!“ Darauf habe
36 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />
SPECIAL<br />
07.2007 [dī.wān] 37<br />
er ihr Spielbrett umgeworfen.<br />
Auch von Abu Musa alAsch‘ari<br />
ist <strong>di</strong>e Äußerung überliefert:<br />
„Nur ein Sünder spielt Schach.“<br />
Die Spieler jedoch rechtfertigten<br />
sich damit, dass ihr Spiel<br />
Intellekt und strategisches Denken<br />
schule.<br />
Eine kontinuierlich wachsende<br />
Zahl literarischer Quellen<br />
und archäologischer Fundstücke<br />
legt nahe, dass das Schachspiel<br />
seine Wanderschaft <strong>im</strong> 8. und<br />
9. Jahrhundert, wahrscheinlich<br />
entlang der Seidenstraße, fortsetzte.<br />
Es gelangte zwei Jahrhunderte<br />
später nach Japan, Burma<br />
und Indochina, aber auch in<br />
weite Teile Afrikas. Damit war<br />
es in etwa sechs Jahrhunderten<br />
zu einem nahezu weltweit bekannten<br />
Brettspiel geworden.<br />
Wie Schach nach<br />
Europa kam<br />
Über <strong>di</strong>e „Brücken“ Spanien,<br />
Sü<strong>di</strong>talien und Sizilien gelangte<br />
Schach schließlich nach<br />
Europa. Nachdem <strong>di</strong>e Araber<br />
ihren Einflussbereich über fast<br />
<strong>di</strong>e gesamte iberische Halbinsel<br />
ausgedehnt hatten, 756 n.<br />
Chr. von dem Umayyaden ‘Abd<br />
arRahman I. ein unabhängiges<br />
Emirat gegründet und ungefähr<br />
weitere zweihundert Jahre<br />
später das Kalifat von Córdoba<br />
geschaffen worden war, bildete<br />
das blühende Spanien das Zentrum<br />
der intellektuellen Aktivitäten<br />
in Europa. Wen wundert<br />
es, dass aus <strong>di</strong>eser Zeit auch <strong>di</strong>e<br />
ersten Erwähnungen zu Schach<br />
in europäischen Quellen stammen?<br />
Eines der ersten Bücher<br />
darüber wurde unter Alfonso X.<br />
(12521284 n. Chr.), dem christlichen<br />
König von Kastilien und<br />
León, verfasst. Es trägt den Titel<br />
„Libros del axedrez, dados et<br />
tablas“ und darin werden mehr<br />
als hundert Schachprobleme geschildert.<br />
Auf <strong>di</strong>ese Weise hatte das<br />
Strategiespiel eine neue Reise<br />
unternommen und sollte <strong>im</strong><br />
Laufe der folgenden Jahrhunderte<br />
seine Eroberung des gesamten<br />
Globus fortsetzen.<br />
Ein Spiel um<br />
Macht und Herrschaft<br />
„Schachmatt!“, ruft noch<br />
heute der glückliche Gewinner<br />
einer Schachpartie. Und wie<br />
ein leises Echo aus vergangen<br />
Zeiten klingt <strong>di</strong>e ursprüngliche<br />
Bedeutung der Worte an<br />
– „aschSchah mata“, der Schah<br />
ist tot.<br />
Trotz der deutlichen arabischpersischen<br />
Einflüsse lässt<br />
sich Schach jedoch nicht ausschließlich<br />
als kulturelles Produkt<br />
der Araber und Perser<br />
betrachten. Schach ist vielmehr<br />
seit Jahrhunderten zu einem<br />
globalen Phänomen geworden.<br />
Die Geschichte des mythischen<br />
Brettspiels ist eine Geschichte<br />
ununterbrochener Transformationen<br />
und Adaptionen, <strong>di</strong>e<br />
dennoch seinem ursprünglichen<br />
Wesen nichts anhaben<br />
konnten. Gesellschaften, <strong>di</strong>e das<br />
Spiel übernahmen, passten es<br />
ihren eigenen Bedürfnissen an,<br />
<strong>di</strong>e Figur des Wesirs wurde zur<br />
Königin, das Spiel um Macht<br />
und Herrschaft entwickelte sich<br />
zu einem abstrakten Kampf der<br />
Intellekte. Doch eines hat sich<br />
nicht verändert: Schach ist von<br />
je her ein Spiegel der menschlichen<br />
Gesellschaften gewesen.<br />
Buzkaschi – der Kampf um <strong>di</strong>e Ziege<br />
Der Nationalsport Afghanistans ist ein an Polo erinnerndes Reiterspiel,<br />
dessen Ursprung auf <strong>di</strong>e Zeit Dschingis Khans zurückgeführt wird.<br />
Noch heute wird es mit unverminderter Kampfeslust in der<br />
afghanischen Steppe ausgetragen<br />
von Nushin Atmaca<br />
Mitten in der nordafghanischen<br />
Steppe prescht eine<br />
Horde Reiter vorbei, Staub wird<br />
aufgewirbelt, nur noch schemenhaft<br />
sind <strong>di</strong>e Bewegungen<br />
zu erkennen, und mitten in<br />
dem ganzen Getümmel ist ein<br />
großes, schwarzes Etwas auszumachen,<br />
das <strong>im</strong> Gegensatz zu<br />
Reitern und Pferden regungslos<br />
ist. Das ist keine Kriegserklärung,<br />
sondern <strong>Sport</strong> und heißt<br />
hier Buzkaschi.<br />
So einen ersten Eindruck<br />
würde man wohl vom<br />
Nationalsport der Afghanen<br />
bekommen, begäbe man sich<br />
dazu in <strong>di</strong>e nordafghanische<br />
Steppe. Verbreitet ist das Spiel<br />
aller<strong>di</strong>ngs nicht nur in <strong>di</strong>esem<br />
Teil des Hindukusch, sondern<br />
<strong>im</strong> gesamten Süden Zentralasiens.<br />
Auch in Kirgisien gilt es<br />
als Nationalsport, aller<strong>di</strong>ngs unter<br />
dem Namen kök böru oder<br />
oğlak tartiş. Kök böru bedeutet<br />
„Blauer Wolf“ und ist wahrscheinlich<br />
auf den Kopfschmuck<br />
der Reiter zurückzuführen,<br />
<strong>di</strong>e Mützen aus Wolfs oder<br />
Fuchspelz tragen. Und gerade<br />
<strong>di</strong>e Eigenschaften <strong>di</strong>eser beiden<br />
Tiere werden den Reitern<br />
<strong>im</strong> Spiel auch abverlangt: Stärke,<br />
Schnelligkeit, Jagdtrieb und<br />
Gerissenheit. Während also der<br />
kirgisische Name, der in anderen<br />
Turkstaaten wie Usbekistan<br />
und Turkmenistan ebenfalls geläufig<br />
ist, sowohl auf <strong>di</strong>e Bekleidung<br />
als auch auf <strong>di</strong>e Rolle des<br />
Reiters hinweist, beschreibt der<br />
afghanische, darische Name den<br />
Kern des Spiels: „Ziege ziehen/<br />
packen“ (buz bedeutet „Ziege“,<br />
kaschi „packen, ziehen“).<br />
Denn be<strong>im</strong> Buzkaschi geht es<br />
um nichts Geringeres, als einen<br />
Ziegenkadaver, manchmal auch<br />
den Kadaver eines Kalbes, vom<br />
Pferderücken aus zu packen und<br />
ins Ziel zu bringen. Derjenige,<br />
der das in einem Pulk von möglicherweise<br />
Hunderten von Reitern<br />
schafft, ist der Sieger des<br />
Spiels, ein wahrer Chapandaaz.<br />
Dieser Ehrentitel der Reiter leitet<br />
sich vom chapan, dem tra<strong>di</strong>tionellen<br />
Umhängemantel der<br />
Nordafghanen ab und (an)daaz<br />
vom Verb daachtan, zu deutsch<br />
„werfen“. Der Reiter ist „derjenige,<br />
der sich den Mantel umwirft“.<br />
Und tatsächlich gehört<br />
<strong>di</strong>eser Mantel zur tra<strong>di</strong>tionellen<br />
Kleidung der BuzkaschiSpieler,<br />
neben der bereits erwähnten<br />
Pelzmütze, den Lederstiefeln<br />
und dem gefütterten Jackett,<br />
welches über dem Mantel getragen<br />
wird.<br />
Buzkaschi ist<br />
nichts für<br />
sanfte Gemüter<br />
Der vielleicht wichtigste Bestandteil<br />
der Reiterausrüstung<br />
aber ist eine Peitsche, <strong>di</strong>e sowohl<br />
zum Antreiben des eigenen<br />
Pferdes als auch zum Angriff<br />
auf <strong>di</strong>e Gegner – Mensch<br />
sowie Pferd – <strong>di</strong>ent. Also nichts<br />
für sanfte Gemüter, denn Verletzungen<br />
wie Knochenbrüche<br />
und Schnittwunden gehören<br />
zum Spielalltag, keinesfalls werden<br />
sie als Grund zur Aufgabe
38 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />
SPECIAL<br />
07.2007 [dī.wān] 39<br />
betrachtet, <strong>im</strong> Gegenteil: Das<br />
soziale Prestige eines siegenden<br />
chapandaaz ist durch nichts aufzuwiegen.<br />
Schubsen, Treten,<br />
Schieben,<br />
Pferde wechseln<br />
– alles ist erlaubt<br />
So weit, so gut. Aber wie<br />
läuft das Spiel mit der Ziege nun<br />
wirklich ab? Zuerst einmal muss<br />
ein geeigneter Ziegenkadaver<br />
her, ohne Kopf, ohne Eingeweide<br />
und mit bis zum Kniegelenk<br />
gekürzten Gliedmaßen. In kaltem<br />
Wasser eingelegt, um ihn<br />
zu härten und damit vor dem<br />
Auseinanderfallen zu schützen,<br />
und manchmal noch zusätzlich<br />
durch Sand beschwert kann er<br />
ein Gewicht von bis zu 70 kg<br />
erreichen. Dieser präparierte<br />
Kadaver wird vor Spielbeginn<br />
in eine Senke in der Mitte des<br />
Spielfeldes gelegt, den so genannten<br />
Kreis der Gerechtigkeit<br />
(halal), um den sich <strong>di</strong>e Reiter<br />
zu Pferde versammeln. Be<strong>im</strong><br />
Startzeichen versucht jeder, sich<br />
den Kadaver zu schnappen. Ziel<br />
ist es – je nach Spielart – sich<br />
mit dem Kadaver in der Hand<br />
weit genug von den anderen<br />
Reitern abzusetzen oder ihn<br />
nach der Umrundung zweier an<br />
den kurzen Spielfeldseiten aufgestellter<br />
Markierungen wieder<br />
in den Kreis der Gerechtigkeit<br />
zurückzubringen. Der Sieger<br />
muss den Kadaver nicht notwen<strong>di</strong>gerweise<br />
<strong>di</strong>e ganze Zeit<br />
getragen haben – selbst wenn er<br />
ihn einem anderen Reiter kurz<br />
vor dem Ziel aus der Hand reißt,<br />
gilt er als Gewinner des Spiels.<br />
Um dem Ziegenkadaver näher<br />
zu kommen, ist den Reitern<br />
körperlicher Einsatz erlaubt und<br />
durchaus lohnenswert, denn<br />
dem Sieger winkt ein begehrenswerter<br />
Preis, der aller<strong>di</strong>ngs<br />
nicht in barer Münze ausgezahlt<br />
werden muss: Auch Turbane,<br />
Gewehre und Chapane sind beliebt.<br />
Oft erhält der Sieger zusätzlich<br />
eine Prämie des Pferdebesitzers,<br />
denn der Erfolg mehrt<br />
auch den Ruhm des Reittieres.<br />
Mindestens seit<br />
dem 13. Jahrhundert<br />
existiert<br />
<strong>di</strong>eser <strong>Sport</strong><br />
Die Entstehung des Buzkaschi<br />
wird auf das 13. Jahrhundert<br />
zurück datiert und dem Einfall<br />
und Einfluss des Djingis Khan<br />
in Zentralasien zugeschrieben.<br />
Aller<strong>di</strong>ngs gibt es andere Standpunkte,<br />
<strong>di</strong>e etwa besagen, dass<br />
<strong>di</strong>e tra<strong>di</strong>tionelle Art von Vieh<strong>di</strong>ebstahl<br />
und auch <strong>di</strong>e Entführung<br />
von Gegnern vom galoppierenden<br />
Pferd aus erfolgte<br />
und sich <strong>di</strong>e Angegriffenen<br />
Vertei<strong>di</strong>gungsstrategien überlegten,<br />
aus denen schließlich das<br />
Buzkaschi resultierte. Daneben<br />
beanspruchen <strong>di</strong>e Afghanen,<br />
das erste Volk gewesen zu sein,<br />
welches Pferde domestizierte<br />
und schon zu Zeiten Alexander<br />
des Großen hervorragende Reiter<br />
hervorbrachte. Nachdem das<br />
Bogenschießen aus der Mode<br />
kam, wurde das Pferd in erster<br />
Linie als Transportmittel und<br />
„BuzkaschiSpieler“ betrachtet.<br />
Entwickelt hat sich das Buzkaschi<br />
<strong>di</strong>eser Ansicht nach aus der<br />
Bergziegenjagd, <strong>di</strong>e vom Pferde<br />
aus geführt wurde.<br />
Bis heute hat sich <strong>di</strong>eser<br />
<strong>Sport</strong> gehalten und wird trotz<br />
des Verbots unter den Taliban<br />
mit unvermindertem Engagement<br />
fortgeführt. Begleitet werden<br />
<strong>di</strong>e BuzkaschiSpiele oft von<br />
Ringkämpfen, denn ein guter<br />
Chapandaaz muss seine Kraft<br />
und Geschicklichkeit sowohl auf<br />
dem Boden als auch bei einem<br />
abschließenden Pferderennen<br />
unter Beweis stellen. Selbst <strong>im</strong><br />
Exil in Pakistan wird <strong>di</strong>eser Teil<br />
der afghanischen Kultur weiter<br />
gepflegt. Und noch <strong>im</strong>mer<br />
symbolisiert er <strong>di</strong>e Energie und<br />
Kampfeslust der Afghanen und<br />
<strong>di</strong>e Wildheit ihres Landes.<br />
Tipp: Wer noch tiefer in <strong>di</strong>e<br />
Welt der Chapandaaz eintauchen<br />
möchte, dem sei der Roman<br />
„Die Steppenreiter“ (original:<br />
Les Cavaliers) von Joseph<br />
Kessel wärmstens empfohlen.<br />
Auch wenn es manchmal etwas<br />
stereotyp anmutet, fängt er<br />
das Leben in der afghanischen<br />
Steppe, <strong>di</strong>e Atmosphäre der<br />
Spiele und <strong>di</strong>e Bedeutung des<br />
Buzkaschi auf fesselnde Weise<br />
ein. Das Buch wurde zudem<br />
mit dem Schauspieler Omar<br />
Scharif verfilmt.<br />
Schnell wie der Wind<br />
Dubai hat nicht nur dank architektonischer Großprojekte Weltruhm erlangt,<br />
sondern auch aufgrund zahlreicher internationaler <strong>Sport</strong>veranstaltungen.<br />
In <strong>di</strong>esem Jahr fand zum zwölften Mal der Dubai World Cup statt, das mit über<br />
20 Millionen Dollar höchstdotierte Pferderennen der Welt<br />
von Dörthe Engels<br />
An einem Tag <strong>im</strong> Jahr 1969<br />
brodelte plötzlich Öl aus dem<br />
Wüstensand, und niemand<br />
brauchte mehr in Dubai nach<br />
Perlen zu tauchen. Aus dem<br />
einstigen Fischerdorf am Golf<br />
entwickelte sich eine Stadt<br />
der Superlativen. Das einzige<br />
SiebenSterneHotel der Welt<br />
wird sich in kürzester Zeit in<br />
unmittelbarer Nachbarschaft<br />
mit dem höchsten Gebäude<br />
befinden, der künstlichen RiesenInsel<br />
in Palmenform folgen<br />
bereits <strong>di</strong>e Nachfolgemodelle,<br />
und jeder Vierte der gerade mal<br />
200.000 Bürger des Emirats ist<br />
heute schon DollarMillionär<br />
und sichert durch Investitionen<br />
in Handel und Tourismus das<br />
Anhalten des Booms.<br />
Ähnliche D<strong>im</strong>ensionen<br />
gelten auch und vor allem für<br />
den Pferdesport. Scheich Muhammad<br />
bin Raschid Al Maktum,<br />
Premierminister und Vizepräsident<br />
der Vereinigten<br />
Arabischen Emirate sowie<br />
Herrscher über Dubai, stellte<br />
jüngst sein neuestes Projekt vor:<br />
Meidan Horse City – eine neue<br />
Rennstrecke samt Pferdestadt,<br />
wie sie <strong>di</strong>e Welt zuvor noch<br />
nicht gesehen hat. Im Jahr 2009<br />
soll <strong>di</strong>eses ehrgeizige Vorhaben<br />
<strong>di</strong>e bisherige Rennstrecke Nad<br />
alScheba ersetzen, wo schon<br />
jetzt Luxushotels, Restaurants<br />
der Spitzenklasse und Einkaufszentren<br />
alljährlich <strong>di</strong>e Schönen<br />
und Reichen anziehen. Doch ein<br />
Privateigentum von geschätzten<br />
21 Milliarden Euro plus etwa<br />
<strong>di</strong>eselbe Summe in Form von Familienbesitz<br />
lassen auch <strong>di</strong>eses<br />
kleine Mehr an Vergnügen zu.<br />
Mittelpunkt der<br />
Pferdewelt<br />
Am 31. März <strong>di</strong>eses Jahres<br />
richtete abermals <strong>di</strong>e ganze Welt<br />
den Blick auf <strong>di</strong>e grasbewachsene<br />
Rennbahn, als <strong>di</strong>e Crème<br />
de la Crème des internationalen<br />
Galoppsports zur Startmaschine<br />
geführt wurde. Über 1000<br />
Journalisten übertrugen das<br />
höchstdotierte Rennen der Welt<br />
in mehr als 150 Länder. Damit<br />
droht Scheich Maktum inner<br />
halb nur eines Jahrzehnts dem<br />
fast dreihundertjährigen Rennen<br />
von Ascot in England als<br />
wichtigstes Pferdeereignis des<br />
Jahres den Rang abzulaufen.<br />
In einem der seltenen Interviews<br />
erklärte Scheich Maktum<br />
<strong>im</strong> Jahre 2005 gegenüber dem<br />
ersten deutschen Pferdesportsender<br />
RAZE: „Meine Intention<br />
ist es vor allem, den Menschen<br />
<strong>di</strong>e Faszination des Pferdesports<br />
nahe zu bringen. Ich fühle mich<br />
den Tieren zutiefst verbunden<br />
und will der Welt zeigen, dass<br />
<strong>di</strong>eser <strong>Sport</strong> eine faszinierende<br />
Leidenschaft ist.“ Dieser Liebe<br />
zu Pferden scheint <strong>di</strong>e gesamte<br />
Familie Maktum verfallen zu<br />
sein. Wie seine Brüder und Cousins<br />
n<strong>im</strong>mt Muhammad bin Raschid<br />
regelmäßig selbst an Wettkämpfen<br />
in der Disziplin des<br />
Distanzreitens teil, einer sehr<br />
strapaziösen Form des Wettrennens,<br />
<strong>di</strong>e sich in den Emiraten<br />
großer Beliebtheit erfreut. 2002<br />
ge<strong>wan</strong>n einer aus der Maktum<br />
Familie sogar den Weltmeistertitel.
40 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />
MUSLIME IN BERLIN<br />
07.2007 [dī.wān] 41<br />
Dubais Herrscher Scheich<br />
Muhammad ibn Raschid Al Maktum<br />
Dubais Pferderennstrecke<br />
Nad al-Scheba<br />
Legendär und von internat<br />
ionaler Bedeutung war <strong>di</strong>e Leidenschaft<br />
zum Pferdesport des<br />
2006 verstorbenen Herrschers<br />
Scheich Maktum bin Raschid<br />
Al Maktum. Zusammen mit<br />
seinen Brüdern gründete er<br />
<strong>di</strong>e äußerst erfolgreichen GodolphinStallungen.<br />
Hunderte<br />
seiner erstklassigen Vollblüter<br />
ge<strong>wan</strong>nen weltweit unzählige<br />
Rennen. Sein Sohn Muhammad<br />
bin Raschid führt gemeinsam<br />
mit seinen Familienangehörigen<br />
<strong>di</strong>e Tra<strong>di</strong>tion des Pferderennsports<br />
fort und investiert hohe<br />
Summen in den Ausbau der<br />
hoheitlichen Stallungen überall<br />
in der Welt. Dem Pferderennsportverband<br />
der Emirate zufolge<br />
wirft der Pferdesport jedoch<br />
auch außerordentliche Profite<br />
ab. Pro 100 Dirham (ca. 27 US<br />
Dollar), <strong>di</strong>e in Dubai ins Training<br />
und <strong>di</strong>e Unterhaltskosten<br />
der Rennpferde investiert werden,<br />
werden durchschnittlich<br />
230 Dirham (ca. 63 USDollar)<br />
an steuerfreien Preisgeldern gewonnen.<br />
Diese außerordentlich<br />
hohe Ren<strong>di</strong>te zählt <strong>im</strong> Pferderennsport<br />
neben der in Singapur<br />
zu den größten der Welt.<br />
Ein Para<strong>di</strong>es<br />
für Pferde<br />
Das Königshaus spezialisierte<br />
sich vornehmlich auf <strong>di</strong>e<br />
Züchtung von englischen Vollblütern.<br />
Die Stallungen gleichen<br />
einem Pferdepara<strong>di</strong>es. Eigens<br />
eingerichtete Krankenhäuser,<br />
erstklassige Trainingsmöglichkeiten<br />
und ProfiRennbahnen<br />
sind selbstverständlich. Internationale<br />
Spezialisten samt<br />
Tierärzten kümmern sich rund<br />
um <strong>di</strong>e Uhr um das Wohl der<br />
teuren Vierbeiner. Bereits das<br />
Frühstück ist königlich: mit<br />
Honig um mantelter Hafer,<br />
EnergyDrinks mit Elektrolyten<br />
und Vitaminen, zwischendurch<br />
Knoblauchmehl zur Stärkung<br />
des Immunsystems und Melasse.<br />
Zwei Pfleger sind für drei<br />
Tiere zustän<strong>di</strong>g. Sie putzen und<br />
striegeln sie, kämmen ihre Mähnen<br />
und führen sie spazieren.<br />
Die Wege zwischen den Ställen<br />
sind mit einer dünnen Kunststoffpolsterung<br />
überzogen,<br />
damit sich <strong>di</strong>e Tiere nicht verletzen.<br />
Manchmal geht es zum<br />
Schw<strong>im</strong>men in den Pferdepool<br />
oder zum Joggen aufs Laufband.<br />
Und damit auch in den Boxen<br />
keine Langeweile herrscht, liegen<br />
rote Gummibälle zum Spielen<br />
auf frischen Sägespänen.<br />
Unter <strong>di</strong>esen Be<strong>di</strong>ngungen<br />
ist es kein Wunder, dass in fast<br />
jedem zweiten Finalrennen des<br />
Dubai World Cups ein Pferd<br />
aus dem Stall Maktum <strong>di</strong>e mit<br />
6 Mio. USDollar dotierte Siegestrophäe<br />
mit nach Hause<br />
nehmen darf. Eine Niederlage<br />
stellt eine ungeheure Schmach<br />
dar – letztmalig geschehen <strong>im</strong><br />
Jahre 2005, als <strong>di</strong>e Stute Roses<br />
in May aus den USA als erstes<br />
Pferd <strong>di</strong>e Ziellinie durchlief.<br />
Doch in <strong>di</strong>esem Jahr konnte der<br />
Auftakt kaum besser sein. Im<br />
ersten Rennen über 2000 Meter<br />
gingen gleich alle drei der MaktumPferde<br />
als erste durchs Ziel,<br />
wobei hier <strong>di</strong>e Siegesprämie mit<br />
250.000 Dollar verhältnis mäßig<br />
lächerlich ausfiel. Am Ende vereinte<br />
das Herrscherhaus jedoch<br />
einen gehörigen Anteil des gestifteten<br />
Preisgeldes auf sich,<br />
nicht zuletzt, weil der Hengst<br />
Invasor das letzte Rennen ge<strong>wan</strong>n<br />
und Scheich Maktum<br />
sich förmlich selbst den riesigen<br />
Pokal überreichen konnte.<br />
Trotz all des Prunks wird<br />
deutlich, dass für den Scheich<br />
keineswegs nur der Profit des<br />
Pferdesports zählt. Er ist vielmehr<br />
eine Begleiterscheinung,<br />
<strong>di</strong>e in der Stadt am Golf dazugehört.<br />
Er ist der Liebe zu Pferden<br />
verfallen, und wahrer <strong>Sport</strong>sgeist<br />
ist es, der ihn an den Menschen<br />
fasziniert. „Nicht jeder, der ein<br />
Pferd reitet, ist auch ein Jockey“,<br />
hat der Scheich in einem seiner<br />
Ge<strong>di</strong>chte geschrieben. Von <strong>di</strong>esem<br />
Vers war er selbst so begeistert,<br />
dass er ihn buchstäblich<br />
in den Persischen Golf schütten<br />
ließ: Jedes Wort liegt als kleine<br />
künstlich geschaffene San<strong>di</strong>nsel<br />
vor der Küste Dubais <strong>im</strong> Wasser<br />
und ist be<strong>im</strong> Anflug auf das<br />
Emirat für jeden zu lesen.<br />
Zukunft der Geschichte<br />
Geschichtsunterricht an deutschen Schulen ist nach wie vor national<br />
und homogen konzipiert. Das letzte Jahrhundert ist ein Sammelsurium<br />
an Fakten, in dem Minderheiten meist keinen Platz haben.<br />
Dabei hat heute ein Viertel aller Jugendlichen in Deutschland einen<br />
Migrationshintergrund, und <strong>di</strong>e Grenzen zu anderen EU-Ländern<br />
sind fließend. Zeit zur Veränderung, dachten sich Mitarbeiter des<br />
Anne Frank Zentrums in <strong>Berlin</strong> und entwickelten in zweijähriger<br />
Arbeit Materialien zur interkulturellen Geschichtsvermittlung in der<br />
Ein<strong>wan</strong>derungsgesellschaft<br />
von Dörthe Engels<br />
Nicht nur in Deutschland ist<br />
<strong>di</strong>e Geschichte Anne Franks, <strong>di</strong>e<br />
zwei Jahre <strong>im</strong> Versteck lebte und<br />
1945 <strong>im</strong> Konzentrationslager<br />
BergenBelsen ermordet wurde,<br />
bekannt. Menschen in aller Welt<br />
können ihr Tagebuch heute in<br />
mehr als 60 Sprachen lesen. Alljährlich<br />
schauen sich zudem gut<br />
20.000 Besucher <strong>di</strong>e Ausstellung<br />
„Anne Frank. Hier & heute“ <strong>im</strong><br />
<strong>Berlin</strong>er Anne Frank Zentrum<br />
an, erkennen durch sie <strong>di</strong>e Gewalt<br />
des Nationalsozialismus<br />
und ziehen Parallelen zu heu<br />
te. Denn <strong>di</strong>e Fragen, <strong>di</strong>e Anne<br />
stellte, sind bis heute <strong>di</strong>eselben<br />
geblieben: Warum gibt es Krieg<br />
und Verfolgung, und was können<br />
wir dagegen tun?<br />
Der Arbeitsbereich „Interkulturelle<br />
Entwicklung und<br />
Qualifizierung“ hatte aufgrund<br />
des Erfolgs des biographischen<br />
Zugangs zur NSZeit anhand<br />
von Anne Frank <strong>di</strong>e Idee, <strong>di</strong>ese<br />
Methode auch für andere Bereiche<br />
des Lernens anzuwenden.<br />
Das Ziel war es, eine ganz<br />
neue Pädagogik zu wagen, <strong>di</strong>e<br />
der noch <strong>im</strong>mer bestrittenen<br />
Realität entspricht: Deutschland<br />
ist ein Ein<strong>wan</strong>derungsland<br />
mit vielen Kulturen, <strong>di</strong>e nicht<br />
nur national, sondern auch sozial,<br />
religiös oder sexuell gedacht<br />
werden müssen. Jeder Mensch<br />
trägt seine eigene Identität in<br />
sich, und viele sehen sich tagtäglichMenschenrechtsverletzungen<br />
ausgesetzt.<br />
Das Ergebnis „Mehrheit,<br />
Macht, Geschichte“ umfasst<br />
ein Lesebuch für 1419jährige<br />
Das Team von „Mehrheit, Macht, Geschichte“ des Anne Frank Zentrums und zwei Biographien aus dem Lesebuch: Petra Rosenberg und Jean-Pierre<br />
Félix Eyoum (vorne 2. u. 3. v. links)
42 [dī.wān] 07.2007 07.2007 [dī.wān] 43<br />
insbesondere bildungsbenachteiligte<br />
Jugendliche sowie ein<br />
Methodenbuch für den Lehrer<br />
inklusive einer DVD mit<br />
weiterführenden Materialien<br />
wie VideoInterviews, Fotos,<br />
Arbeitsblättern, Musik etc. Anhand<br />
von sieben authentischen<br />
Biographien der letzten hundert<br />
Jahre sollen <strong>di</strong>e Schüler einen<br />
mult<strong>im</strong>e<strong>di</strong>alen Türöffner zu<br />
den großen Geschichtsblöcken<br />
Kolonialismus, Nationalsozialismus,<br />
Krieg und Migration bekommen.<br />
Hauptziel ist es, durch<br />
erfahrungsorientierte Methoden<br />
und Diskussionen zwischen<br />
der eigenen Lebensrealität und<br />
der Geschichte eine Beziehung<br />
herzustellen, Diskr<strong>im</strong>inierungsstrukturen<br />
in Geschichte und<br />
Gegenwart zu erkennen und so<br />
<strong>di</strong>e Einhaltung von Menschenrechten<br />
durch politisches und<br />
soziales Engagement zukünftig<br />
zu fördern.<br />
„Mehrheit,<br />
Macht,<br />
Geschichte“<br />
Im Falle des Kameruner Königssohnes<br />
Rudolf Duala Manga<br />
Bell, der <strong>im</strong> jugendlichen Alter<br />
nach Deutschland in eine Pflegefamilie<br />
zwecks besserer Ausbildung<br />
kam und 1914 aufgrund<br />
des Widerstandes gegen das<br />
deutsche Fremdreg<strong>im</strong>e hingerichtet<br />
wurde, schaut der neue<br />
Zugang zur Geschichte des Kolonialismus<br />
folgendermaßen aus:<br />
Zunächst wird <strong>di</strong>e Person durch<br />
Fotos und Videos, in <strong>di</strong>esem Fall<br />
ein Interview mit seinem Großneffen<br />
JeanPierre Félix Eyoum,<br />
kennengelernt. Selbst etwas<br />
schreiben und malen oder das<br />
Einüben von kleinen Rollenspielen<br />
sollen das Hineinfühlen in<br />
den Menschen erleichtern und<br />
bereits Diskussionen ermöglichen,<br />
wie zum Beispiel über<br />
seinen interessanten Namen<br />
oder <strong>di</strong>e Bedeutung von Bildung<br />
<strong>im</strong> Afrika des 19. Jahrhunderts.<br />
Collagen, Brainstorming oder<br />
Assoziationsübungen verbinden<br />
<strong>di</strong>e Biographie mit Geschichte.<br />
„Stell Dir vor, Du<br />
wärst Rudolf…“<br />
Ein Lernspiel sieht <strong>di</strong>e Aufteilung<br />
des Klassenraums in<br />
eine Ja und eine NeinEcke<br />
vor. Der Pädagoge liest den sich<br />
<strong>im</strong> Raum bewegenden Schülern<br />
verschiedene Fragen vor:<br />
„Wie hättest Du Dich verhalten,<br />
wenn Dein Vater Dich ganz allein<br />
nach Deutschland hätte<br />
schicken wollen?“ oder „Hättest<br />
Du anstelle der Mutter gegen<br />
den Ehemann Einspruch erhoben?“.<br />
Die Schüler sollen sich<br />
an schließend bei Ja oder Nein<br />
einfinden, ihre Meinung offen<br />
begründen, sie bei Widerspruch<br />
vertei<strong>di</strong>gen oder auch aufgeben<br />
und <strong>di</strong>e Seite wechseln. Im Gespräch<br />
kommt es ganz automatisch<br />
zu Vergleichen zwischen<br />
gestern und heute, Deutschland<br />
und Afrika, Mann, Frau und<br />
Kind. Die abstrakte Geschichte<br />
wird heruntergeholt auf <strong>di</strong>e Ebene<br />
des Menschen, auf <strong>di</strong>e Ebene<br />
eines Du und Ich. Das Empathievermögen<br />
für verschiedene<br />
Situationen wird also ebenso<br />
geschult wie Diskussionskultur<br />
und sozialer Umgang. Im Idealfall<br />
berichten <strong>di</strong>e Mitschüler mit<br />
Migrationshintergrund über<br />
ihre eigenen Biographien. Erst<br />
in Form <strong>di</strong>eser groß angelegten<br />
Multiperspektivität wird der<br />
wahre Kern der Geschichte ersichtlich<br />
und begreifbar.<br />
Die Hierarchie<br />
der Opfer<br />
Von vielen Problemen der<br />
Minderheiten in Deutschland<br />
haben selbst engagierte<br />
Menschen noch nichts gehört.<br />
So erzählt <strong>di</strong>e Vorsitzende des<br />
Landesverbandes der Sinti und<br />
Roma <strong>Berlin</strong>Brandenburg<br />
Petra Rosenberg ebenfalls eine<br />
der behandelten Biographien in<br />
den neuen Geschichtsmaterialien,<br />
wie geschockt sie von dem<br />
sich jüngst entwickelnden Hass<br />
der Türken und Araber gegen<br />
ihr Volk sei: „Die ‚Zigeuner’ sind<br />
<strong>di</strong>e unterste Stufe der deutschen<br />
Gesellschaft und Migrantenkinder<br />
stürzen sich begierig<br />
auf <strong>di</strong>ese, um auch endlich mal<br />
nach unten treten zu können.“<br />
Eben solche Situationen sollen<br />
anhand aller Biographien problematisiert<br />
werden. Es geht um<br />
<strong>di</strong>e Sensibilisierung für Diskr<strong>im</strong>inierungen<br />
<strong>im</strong> Alltag, Empathie<br />
für <strong>di</strong>e Opfer und Entwicklung<br />
von Zivilcourage.<br />
Die Türken finden ihre Beispielbiographie<br />
in der Person<br />
Gülay Ceddens, <strong>di</strong>e als kleines<br />
Kind in <strong>di</strong>e Bundesrepublik kam,<br />
wo ihr Vater zum Facharzt ausgebildet<br />
wurde. Als 17jährige erfährt<br />
sie bei der Rückkehr in <strong>di</strong>e<br />
Türkei eine Trennung von dem<br />
Land, das sie nie als Zwischenstation<br />
der Arbeitsmigration<br />
empfunden hat. Hier können<br />
<strong>di</strong>e Jugendlichen in einem Quiz<br />
ihr Wissen über Ausländer in<br />
Deutschland erst einmal testen:<br />
Wie viele Menschen ohne deutschen<br />
Pass leben hier? Wann<br />
<strong>wan</strong>derte welche Zahl an Türken<br />
ein bzw. wieder aus? Was<br />
sind Flüchtlinge? Und wer ist<br />
illegal?<br />
Das pädagogische Lernziel<br />
ist klar: Migration ist <strong>im</strong>mer der<br />
Normalfall in der deutschen Geschichte<br />
gewesen. So <strong>wan</strong>derten<br />
<strong>im</strong> 19. Jahrhundert auch 5,5 Millionen<br />
Deutsche nach Amerika<br />
aus, in der Hoffnung, dort ein<br />
besseres Leben zu finden – wie<br />
<strong>di</strong>e Eltern und Großeltern der<br />
Migrantenkinder heute. Während<br />
<strong>di</strong>e Deutschen jedoch in<br />
Amerika <strong>di</strong>e Chance bekamen,<br />
aktiv an der Gesellschaftsentwicklung<br />
mitzuwirken, waren<br />
Türken hier erst billige Arbeits<br />
kräfte, dann ungewollte Dauergäste<br />
und heute Projektoren der<br />
Angst vor Islamismus und Terrorismus.<br />
Empathie<br />
statt Angst<br />
Interkulturelles Lernen bedeutet<br />
voneinander lernen und<br />
miteinander leben. Damit ist es<br />
<strong>im</strong> Grunde das ureigenste Bedürfnis<br />
einer leben<strong>di</strong>gen Gesellschaft,<br />
pädagogische Konzepte<br />
wie <strong>di</strong>e des Anne Frank Zentrums<br />
auch auf politischer Ebene<br />
zu fördern. Die Realität schaut<br />
leider anders aus. Nichtdeutsche<br />
Kinder fühlen sich in der<br />
veralteten Form von Pädagogik<br />
nicht zu Unrecht ausgeschlossen<br />
und beginnen, gegen <strong>di</strong>e nur<br />
auf sich bezogene Mehrheitsgesellschaft,<br />
<strong>di</strong>e sie in der Schule<br />
erfahren, zu rebellieren. „Wenn<br />
türkische und arabische Kinder<br />
davon sprechen, <strong>di</strong>e Deutschen<br />
auszurotten, kriege ich es mit<br />
der Angst zu tun. Aber ich will in<br />
<strong>di</strong>esem negativen Gefühl nicht<br />
steckenbleiben, sondern verstehen,<br />
warum sie so denken“,<br />
erklärt eine Lehrerin aus Neukölln.<br />
Mit <strong>di</strong>esem Interesse hat<br />
sie bereits ein gehöriges Stück<br />
interkulturelle Kompetenz gewonnen<br />
und ist dem deutschen<br />
Bildungsministerium, das nun<br />
– nach der theoretischen Entwicklung<br />
des interkulturellen<br />
Geschichtslernens – für dessen<br />
Umsetzung zustän<strong>di</strong>g ist, um<br />
Meilen voraus.<br />
Weitere Informationen<br />
„Mehrheit, Macht, Geschichte“<br />
Methodenbuch (inkl. DVD) 29,80 €, Lesebuch 11 €<br />
Bestellbar <strong>di</strong>rekt be<strong>im</strong> Anne Frank Zentrum in <strong>Berlin</strong><br />
Anne Frank Zentrum<br />
Rosenthaler Straße 39<br />
10178 <strong>Berlin</strong><br />
zentrum@annefrank.de<br />
030-2 88 86 56 01<br />
www.annefrank.de<br />
Öffnungszeiten<br />
Dienstag bis Sonntag 10-20 Uhr (Mai-September)<br />
10-18 Uhr (Oktober-April)<br />
Eintrittpreis: 4 €/ermäßigt 2,50 €<br />
Anmeldung für Führungen durch <strong>di</strong>e Ausstellung<br />
„Anne Frank. hier & heute“ unter: 030-2 88 86 56 10<br />
oder ausstellung@annefrank.de<br />
Von links nach rechts: Thomas Heppener (Leiter des Anne Frank Zentrums in <strong>Berlin</strong>),<br />
Petra Rosenberg (Vorsitzende des Landesverbandes der Sinti und Roma <strong>Berlin</strong>-Brandenburg)<br />
und Jean-Pierre Félix Eyoum (Großneffe von Rudolf Duala Manga Bell)
44 [dī.wān] 07.2007 MUSLIME IN BERLIN<br />
MUSLIME IN BERLIN<br />
07.2007 [dī.wān] 45<br />
„Wir sind <strong>im</strong>mer aktiv“<br />
Evangelische und katholische Kindergärten genießen heutzutage<br />
einen guten Ruf in Deutschland. Doch wie verhält es sich mit<br />
islamischen Betreuungseinrichtungen? Me<strong>di</strong>enberichte über Koranschulen<br />
in Pakistan oder Kleinkinder mit Bombenattrappen prägen<br />
ein negatives Bild. Ein Besuch in der Kindergruppe der Islamischen<br />
Gemeinschaft Potsdam könnte jedoch so manchen Kritiker vom<br />
Gegenteil überzeugen von Dörthe Engels<br />
Wenn man sich <strong>im</strong> Kindergarten<br />
der Islamischen Gemeinschaft<br />
Potsdam auf <strong>di</strong>e Suche<br />
nach der typischen islamischen<br />
Kindererziehung begibt, könnte<br />
man <strong>im</strong> ersten Moment fast enttäuscht<br />
sein. Es hängen keine<br />
MekkaBilder an der Wand, von<br />
Gebetsteppichen keine Spur,<br />
und Erzieherinnen wie Kinder<br />
sprechen selbstverständlich<br />
deutsch, denn ein Großteil der<br />
Gemeindemitglieder sind Konvertiten.<br />
Das hübsche Haus in<br />
der Weinbergstraße nahe des<br />
Parks Sanssouci ist das Zentrum<br />
einer sufischen Glaubensrichtung<br />
des Islams, zu der sich<br />
<strong>di</strong>e gut 100 Menschen bewusst<br />
zusammengefunden haben.<br />
Die musl<strong>im</strong>ische Kindergruppe<br />
wurde <strong>im</strong> Rahmen der<br />
Aktivitäten des We<strong>im</strong>ar Institutes<br />
e. V. <strong>im</strong> Oktober 2003<br />
eingerichtet. Zurzeit werden<br />
hier acht Kinder an drei Tagen<br />
der Woche vormittags betreut.<br />
In der Vergangenheit<br />
waren es auch schon mehr und<br />
selbst christliche Kinder aus der<br />
Nachbarschaft waren selbstverständlich<br />
Teil der islamischen<br />
Gemeinschaft, <strong>di</strong>e zu leben das<br />
wichtigste Ziel der beiden Erzieherinnen<br />
Si<strong>di</strong>qa WoyKüffner<br />
und Na<strong>im</strong>a Lehmann ist, „denn<br />
der ‚Din‘ (arab. Glaube) konzentriert<br />
sich nicht nur auf den<br />
Freitag“.<br />
Spielend <strong>di</strong>e Schöpfung Gottes entdecken<br />
In der Gemeinschaft<br />
leben<br />
Für Si<strong>di</strong>qa WoyKüffner ge<strong>wan</strong>n<br />
das gemeinschaftliche Leben<br />
derart an Bedeutung, dass<br />
sie kurzerhand von <strong>Berlin</strong> nach<br />
Potsdam zog. Ihr eigenes Kind<br />
turnt trotz seiner erst eineinhalb<br />
Jahre ganz selbstverständlich bei<br />
den „Großen“ mit. Die stu<strong>di</strong>erte<br />
Sozialpädagogin steht selbstbewusst<br />
zu dem Leben, das sogar<br />
in den „emanzipierten“ Kreisen<br />
der CDU als Hausmütterchendasein<br />
belächelt werden<br />
würde. Für sie resultiert aus der<br />
Entscheidung für Familie ganz<br />
natürlich <strong>di</strong>e Verpflichtung insbesondere<br />
der Mutter, <strong>di</strong>e nächsten<br />
Jahre vor allem für das Kind<br />
da zu sein – an ein Mauerblümchendasein<br />
<strong>im</strong> Schatten des arbeitenden<br />
Mannes erinnert <strong>di</strong>e<br />
junge Frau jedoch keineswegs.<br />
„Kinder zu haben ist doch das<br />
Schönste, was es gibt. Es ist<br />
keine Errungenschaft, als Frau<br />
arbeiten gehen und das Kind<br />
in eine Einrichtung geben zu<br />
müssen. Es ist Luxus, <strong>di</strong>e ersten<br />
Jahre mit dem Kind zu Hause<br />
zu genießen. Aber das ist in der<br />
Gesellschaft heute nicht mehr<br />
angesehen.“<br />
Auch Na<strong>im</strong>a Lehmann, gelernte<br />
Erzieherin, übt heftige<br />
Kritik an der Politik, <strong>di</strong>e durch<br />
Konsumterror ihre Menschlichkeit<br />
verloren habe und sich<br />
nicht mehr um <strong>di</strong>e Bedürfnisse<br />
von Familien kümmere. Wichtige<br />
Anliegen würden hinter<br />
wirtschaftliche Interessen gestellt.<br />
So sei nur <strong>di</strong>e Arbeit anerkannt,<br />
<strong>di</strong>e bezahlt würde.<br />
Schlechte Karten für <strong>di</strong>e zwei<br />
Frauen, <strong>di</strong>e beide ehrenamtlich<br />
für <strong>di</strong>e Kindergruppe beschäftigt<br />
sind. Wer ihnen jedoch eine<br />
Weile zuhört, bekommt schnell<br />
das Gefühl, dass für sie <strong>di</strong>e alltäglichen<br />
Erfahrungen mit den<br />
Kindern ohnehin unbezahlbar<br />
sind. „Es gibt keine Langeweile.<br />
Die Kinder entdecken jeden<br />
Tag etwas Neues“, erzählt<br />
Frau WoyKüffner enthusiastisch.<br />
Meist verbringen sie <strong>di</strong>e<br />
Zeit in der Natur am Rande<br />
Erzieherin der musl<strong>im</strong>ischen Kindergruppe in Potsdam: Si<strong>di</strong>qa Woy-Küffner<br />
Potsdams. Aber auch regelmäßige<br />
Gänge zu tra<strong>di</strong>tionellen<br />
Handwerkern und Künstlern<br />
stehen auf dem Programm. All<br />
<strong>di</strong>es soll <strong>di</strong>e Kinder in <strong>di</strong>rekten<br />
Kontakt mit der Schöpfung<br />
Gottes bringen und eines Tages<br />
den aufrichtigen Lobpreis Seiner<br />
Taten folgen lassen.<br />
Spielend Allah<br />
erleben<br />
Alles scheint hier möglich zu<br />
sein – nur kein Z<strong>wan</strong>g. Es geht<br />
einfach um <strong>di</strong>e Begleitung der<br />
Kinder bei ihrem natürlichen<br />
Spiel und Forschungstrieb und<br />
das aktive Vorleben des Islams.<br />
Frau WoyKüffner betont <strong>di</strong>e<br />
Notwen<strong>di</strong>gkeit der eigenen Sensibilität<br />
bei ihrer Arbeit: „Wir<br />
müssen sehr fein sein, in dem<br />
was wir dem Kind beibringen.<br />
Wir können von ihnen nicht Un<br />
terscheidung zwischen Gut und<br />
Böse erwarten, wenn wir es ihnen<br />
nicht vorleben. Das Feine in<br />
dem Kind bewahren ist es, was<br />
für uns gilt.“ Nur so verstehen<br />
beide <strong>di</strong>e Lehre des „Dins“ und<br />
nicht als monotones Vorlesen<br />
von koranischen Geschichten<br />
aus Bilderbüchern oder gar das<br />
Abspielen von Kassetten. Übertriebene<br />
intellektuelle Einflussnahme<br />
würden das Kind aus seinem<br />
natürlichen Gleichgewicht<br />
mit sich und Gott nur herausreißen.<br />
„Erziehung muss wirklich<br />
aufrichtig sein und von Herzen<br />
kommen. Kinder spüren so etwas“,<br />
erklärt Frau WoyKüffner<br />
ihre Pädagogik, der sie ausdrücklich<br />
keine Konzeptualisierung<br />
zuschreibt. Die gibt es für<br />
sie nicht, allein <strong>di</strong>e Natürlichkeit<br />
des Lebens, <strong>di</strong>e für sie gleichbedeutend<br />
mit dem Islam und der<br />
Gemeinschaft der Gläubigen ist.<br />
An <strong>di</strong>e Stelle der tra<strong>di</strong>tionellen<br />
Großfamilie sei heute <strong>di</strong>e Islamische<br />
Gemeinschaft Potsdam<br />
getreten. Auch der Kindergarten<br />
verstünde sich als ein erweitertes<br />
Zuhause. Folglich hätten<br />
<strong>di</strong>e Eltern auch keine Bedenken,<br />
ihren Nachwuchs in <strong>di</strong>e Obhut<br />
der Gruppe zu geben. Hier haben<br />
Kinder ganz einfach mehrere<br />
Mütter und Väter.<br />
Islamische Gebete und Festlichkeiten<br />
lernen <strong>di</strong>e Kinder spielerisch<br />
nebenbei durch Beobachten,<br />
Fragen und Nach machen<br />
des „gesunden Vorbildes“ – der<br />
gläubigen Eltern. Dies sei das<br />
ureigenste islamische Prinzip<br />
der Erziehung, das auch später<br />
in Form der Nachahmung<br />
des Propheten Muhammads<br />
anhand von Koran und Sunna<br />
nicht aufhöre. Ohne Druck und<br />
Z<strong>wan</strong>g, allein mit Liebe und Begleitung,<br />
sollen <strong>di</strong>e Kinder zu<br />
gläubigen und glücklichen Menschen<br />
erzogen werden. „Wir<br />
wollen <strong>di</strong>e Kinder ja mit einer<br />
musl<strong>im</strong>ischen Identität aus dem<br />
Elternhaus entlassen, zu der sie<br />
wirklich stehen können. Eine<br />
adäquate Lebensform zu finden,<br />
wird in Zukunft ohnehin <strong>im</strong>mer<br />
schwieriger, solange sich <strong>im</strong>mer<br />
mehr Menschen zu willenlosen<br />
Konsumenten heranzüchten<br />
lassen“, erklärt Frau WoyKüffner<br />
nachdenklich.<br />
Wie ökonomische<br />
Faktoren der Zukunft<br />
sehen <strong>di</strong>e Kinder der<br />
Zur weiteren Information<br />
Islamischen Gemein Islamische Gemeinschaft Potsdam<br />
schaft Potsdam tat Weinbergstraße 21 • 14496 Potsdam<br />
sächlich nicht aus. Wer 03 31-2 70 60 77<br />
ihnen be<strong>im</strong> Spielen www.we<strong>im</strong>arinstitut.net<br />
zusieht, der erkennt,<br />
dass sie an einem Ort aufwachsen,<br />
an den MekkaBilder und<br />
Gebetsteppiche in etwa so sehr<br />
gehören, wie stän<strong>di</strong>ge Bußeübungen<br />
und Kirchenlatein in einen<br />
christlichen Kindergarten.<br />
Nämlich gar nicht.
46 [dī.wān] 07.2007 INTERVIEW<br />
07.2007 [dī.wān] 47<br />
[dī.wān] Was ist <strong>di</strong>e erste Frage,<br />
<strong>di</strong>e <strong>di</strong>r Journalisten <strong>im</strong>mer<br />
stellen?<br />
SAHIRA Erstmal zwei kurze Fragen<br />
zu Musik, dann wie es ist, mit<br />
all den „bösen Gangstern“ <strong>im</strong><br />
Musikbusiness zu arbeiten und<br />
schließlich, was ich vom 9. 11.<br />
halte, als ob ich <strong>im</strong> Flugzeug<br />
gesessen hätte. Es geht selten<br />
um meine Person an sich, sondern<br />
eher, wie ich zu politischen<br />
Themen stehe.<br />
[dī.wān] Nervt <strong>di</strong>ch das?<br />
SAHIRA Es hängt <strong>im</strong>mer davon ab,<br />
wer mich wie und wonach fragt.<br />
Über manche Grenzen sollten<br />
sich Menschen aber schon bewusst<br />
sein. Für einen Bericht<br />
wollte mich jemand in einer<br />
Disko filmen und Vorher NachherFotos<br />
haben. Gemeint war<br />
Nur aus dem<br />
Bitteren kann das<br />
Süße entstehen<br />
Die 27jährige Wahl-Wed<strong>di</strong>ngerin<br />
Sahira Awad schreibt und produziert ihre<br />
Tracks selbst und vertreibt sie in ihrem<br />
eigenen Musiklabel „Iman<strong>im</strong>usic“.<br />
Ihr Debüt feierte <strong>di</strong>e berlinernde allein<br />
erziehende Mutter und bekennende<br />
Musl<strong>im</strong>a palästinensischer Herkunft mit<br />
dem Streetalbum „Frei Schnauze“<br />
mein Haartuch. Da war ich schon<br />
sehr irritiert und fand es unfassbar,<br />
was Menschen manchmal<br />
für Erwartungen haben. So was<br />
lehne ich dann ab.<br />
[dī.wān] Ich habe in einem<br />
Interview von <strong>di</strong>r gelesen, dass<br />
dein Haartuch für <strong>di</strong>ch auch<br />
eine Grenze für dein eigenes Ego<br />
ist. Wo ziehst du <strong>di</strong>e Grenze?<br />
SAHIRA So lange eine Frau authentisch<br />
bleibt und sich nicht <strong>di</strong>ktieren<br />
lässt, wie sie sich anziehen<br />
soll, ist es richtig. Ich habe viele<br />
Freun<strong>di</strong>nnen, <strong>di</strong>e <strong>im</strong> Minirock<br />
laufen. Ich würde ihnen gegenüber<br />
nie respektlos sein. Frauen<br />
und Mädchen sollen in sich gehen<br />
und das anziehen, womit<br />
sie sich wohl fühlen. Übrigens,<br />
ich nenne es Haartuch, weil ich<br />
nicht meinen Kopf verschleiere,<br />
sondern mein Haar! [Lachen]<br />
[dī.wān] Du hast einen sechsjährigen<br />
Sohn. Wie wichtig ist für<br />
<strong>di</strong>ch Familie?<br />
SAHIRA Ohne meine Familie<br />
wüsste ich nicht, wo ich wäre.<br />
Ich komme aus einer großen<br />
Familie, und das gibt mir sehr<br />
viel Kraft. Als ich noch ein<br />
dummes Mädchen war, habe<br />
ich meine Zeit so verbracht wie<br />
ich es wollte. Dann habe ich<br />
mich gefragt, was ich überhaupt<br />
davon habe. Man merkt, dass<br />
NichtBewusstsein wie eine<br />
Betäubung ist. Bewusstsein erschwert<br />
vieles, aber zeigt auch,<br />
was wirklich wertvoll <strong>im</strong> Leben<br />
ist. Familie ist sehr wichtig.<br />
[dī.wān] Wie hat es bei <strong>di</strong>r mit<br />
der Musik angefangen? Hat <strong>di</strong>e<br />
Familie dabei auch eine Rolle<br />
gespielt?<br />
SAHIRA Ja, klar! Mein Bruder hat<br />
mit seinen „coolen“ Freunden<br />
Musik gemacht und hat ihnen<br />
mal, ohne es mir zu sagen, Tapes<br />
von mir vorgespielt. Ich war damals<br />
zwölf. Und <strong>di</strong>ese 17jährigen<br />
„großen“ Jungs haben mich voll<br />
gelobt, und mit 15 bin ich zum<br />
ersten Mal ins Stu<strong>di</strong>o gegangen.<br />
Und dann kam eins nach dem<br />
anderen. Außerdem war meine<br />
Mutter selbst Sängerin.<br />
[dī.wān] Wie kriegst du als Mutter<br />
den Spagat zwischen Arbeit<br />
und Kind hin? Hast du manchmal<br />
Angst, eine schlechte Mutter<br />
zu sein?<br />
SAHIRA Jeden Tag, hör bloß auf!<br />
Ich habe meinen Sohn mit 21<br />
bekommen, und er ist das Wundervollste<br />
in meinem Leben und<br />
eine der besten Entscheidungen,<br />
<strong>di</strong>e ich getroffen habe. Mein<br />
Sohn gibt mir so viel Kraft. Ich<br />
bin in erster Linie Musl<strong>im</strong>a,<br />
gleich daneben, fast auf derselben<br />
Ebene, Mutter. Es ist für<br />
mich sehr wichtig, dass er mit<br />
allem zu mir kommen kann. Er<br />
hat mich neulich gefragt, was<br />
„schwul“ ist. Ich bin aus allen<br />
Wolken gefallen und dachte mir<br />
Offizielle Website<br />
www.<strong>im</strong>an<strong>im</strong>usic.de<br />
selbst, was er mich mit seinen<br />
sechs Jahren schon fragt. Ich<br />
habe es ihm natürlich erklärt<br />
und denke <strong>im</strong>mer, was ich ihm<br />
nicht beantworte, beantwortet<br />
<strong>di</strong>e Straße.<br />
[dī.wān] Zurück zur Musik. Was<br />
für Träume und Projekte bahnen<br />
sich gerade bei <strong>di</strong>r an?<br />
SAHIRA Voraussichtlich kommt<br />
Ende des Jahres das zweite Album<br />
raus. Hoffentlich! Hmmh...<br />
Ich würde gerne mit „Massiv“<br />
einen Track aufnehmen. Ich<br />
habe sein Video gesehen und<br />
bekam eine Gänsehaut. Er singt<br />
aus seinem Leben nach dem<br />
Motto: „Angriff ist <strong>di</strong>e beste<br />
Vertei<strong>di</strong>gung“. Ich respektiere<br />
Sami Yusuf sehr, und Ammars<br />
Bescheidenheit und Echtheit<br />
berühren mich. Er geht auf <strong>di</strong>e<br />
Bühne und sagt: „Leute, klatscht<br />
nicht für mich.“<br />
[dī.wān] Wie definierst du islamische<br />
Musik?<br />
SAHIRA Bewusste Musik. Fromme<br />
Musik muss ja nicht z<strong>wan</strong>gsläufig<br />
islamisch sein. Sie ist <strong>di</strong>e<br />
Musik, bei der man Gott und<br />
seine Seele nicht vergisst.<br />
[dī.wān] Dein Streetalbum „Frei<br />
Schnauze“ ist sehr sozialkritisch.<br />
Es dreht sich viel um Existenzangst.<br />
Verantwortung aber auch<br />
Wut kommen sehr stark heraus.<br />
Gleichzeitig geht es oft um Männer<br />
und Bezieh ungen. Würdest<br />
du sagen, dass du weiblichen<br />
Hip-Hop machst?<br />
SAHIRA Also, <strong>di</strong>e Wut ist erstmal<br />
eine konstruktive Wut. Ich analysiere<br />
in meinen Liedern, gucke<br />
was mein Alltag, meine Gefühle<br />
sagen. Dann gehe ich den<br />
Weg der Auseinandersetzung,<br />
manchmal auch der Frustra tion<br />
und schließe am Ende doch mit<br />
Hoffnung ab. Zu der anderen<br />
Frage: Ich bin nunmal eine Frau.<br />
Natürlich beschäftigen mich<br />
Männer, ob es meine Brüder<br />
sind oder andere. Es ist wie Yin<br />
und Yang. Ich selbst würde meine<br />
Musik nicht als weiblichen<br />
HipHop bezeichnen, aber es<br />
sind doch mehr <strong>di</strong>e Frauen, <strong>di</strong>e<br />
sich <strong>di</strong>e Musik geben. Sie ist mit<br />
Herz, Klartext und Frei Schnauze<br />
halt.<br />
[dī.wān] Hast du auch was für<br />
deinen Sohn geschrieben?<br />
SAHIRA Ja. Es ist mir schwer gefallen,<br />
weil ich ihm so viel sagen<br />
möchte. Ich habe bei dem Lied<br />
darüber nachgedacht, was ich<br />
ihm geben möchte, wenn ich<br />
einmal tot bin. Einen Track, den<br />
er sich <strong>im</strong>mer anhören kann. Ich<br />
will, dass er weiß, dass nur aus<br />
dem Bitteren das Süße entstehen<br />
kann und er <strong>di</strong>e Hoffnung nie<br />
verlieren soll.<br />
[dī.wān] Sahira, der [dī.wān]<br />
dankt <strong>di</strong>r für das schöne Gespräch.<br />
Die Fragen stellte<br />
Akın-H. Doğan
48 [dī.wān] 07.2007 HÖRBAR<br />
LESBAR<br />
07.2007 [dī.wān] 49<br />
Eigentümliche Grazie,<br />
lächelnde Wehmut<br />
Ohne Worte gelingt dem Iraner Farid Farjad eine hinreißend<br />
traurige und doch schwebend verzaubernde Verschmelzung<br />
der orientalischen und westlichen Musikkulturen<br />
von Nora Derbal<br />
„Das ist das Eigentümliche, eine graziöse Resignation,<br />
mit liebenswür<strong>di</strong>ger Form über das Elend<br />
des Daseins lächelnd wehmütig hinwegzugleiten.“<br />
Passender hätten Richard Wagners Worte wohl nicht<br />
ausfallen können, wenn <strong>di</strong>e sanfte Schwermut der<br />
scheinbar jeder Zeit und jedem Ort entrückten Töne<br />
Anroozhas seine Ohren erreicht hätten. So gelungen<br />
klingt es, wenn sich konkrete Form und klassischer<br />
Aufbau der orientalischvolkstümlichen Improvisation<br />
bei Farid Farjads Violine unter Begleitung des Pianisten<br />
Ab<strong>di</strong> Yamini hingeben. Beide in Teheran geboren,<br />
vollendeten sie ihre musikalische Ausbildung in<br />
England, wo <strong>di</strong>e Idee entstand, persische Volkslieder<br />
der vergangenen Jahrhunderte in einer westlichklassischen<br />
Form wieder auferstehen zu lassen. Hingebungsvoll,<br />
auffordernd, leidenschaftlich und doch in<br />
jedem Stück – einer neuen zarten Begegnung gleich –<br />
umspielen sich sehnsuchtsvoll <strong>di</strong>e in Harmonisch<br />
Moll gehaltenen Improvisationen der Geige und des<br />
Pianisten.<br />
So verwundert es nicht, dass nach dem ersten<br />
Erfolg von Anroozha eine weite Anhängerschaft vom<br />
Okzident bis in den <strong>Orient</strong> nach einer weiteren Veröffentlichung<br />
verlangte. Das <strong>im</strong> Herbst 2006 erschienene,<br />
mittlerweile fünfte Album <strong>di</strong>eser Serie, wirkt<br />
aller<strong>di</strong>ngs wie ein enttäuschender Schatten der ersten<br />
Produktionen. Nichtsdestotrotz, nicht nur für Liebhaber<br />
der Klassik erklingt Anroozha eindrucksvoll als<br />
Hommage an <strong>di</strong>e Verschmelzung der Kulturen.<br />
Farid Farjad<br />
Anroozha<br />
Taraneh Records<br />
Ein Werk der islamischen Aufklärung?<br />
Ibn Warraqs „Warum ich kein Musl<strong>im</strong> bin“<br />
Eine Rezension von Dörthe Engels<br />
Er war ein gläubiger Musl<strong>im</strong>.<br />
Aufgewachsen in Pakistan,<br />
Beschneidung <strong>im</strong> Alter von<br />
sechs Jahren, Besuch der Koranschule…<br />
und er wäre auch<br />
als Musl<strong>im</strong> begraben worden,<br />
wenn er nicht viele Jahre später<br />
begonnen hätte, seine Religion<br />
zu hinterfragen.<br />
Emotionaler Auslöser <strong>di</strong>eses<br />
Selbstfindungsprozesses war<br />
<strong>di</strong>e Verurteilung von Salman<br />
Rush<strong>di</strong>e („Die Satanischen<br />
Verse“) durch Chomeini. Auf<br />
Apostasie steht <strong>im</strong> Islam <strong>di</strong>e<br />
Todesstrafe, und so fand auch<br />
der Autor von „Warum ich kein<br />
Musl<strong>im</strong> bin“ den Weg in den<br />
Westen und begann sein Schreiben<br />
unter dem bekannten Pseudonym<br />
vieler Religionskritiker<br />
– Ibn Warraq.<br />
Er sei kein Islamhasser, aber<br />
eine Stellungnahme <strong>im</strong> innerislamischen<br />
Krieg wolle er wagen,<br />
stellt er einleitend fest. Was<br />
folgt, ist eine Einführung in <strong>di</strong>e<br />
westliche Islamwissenschaft der<br />
letzten Jahrzehnte erster Klasse.<br />
Keinen Anspruch auf Originalität<br />
erhebend belässt Ibn Warraq<br />
es bei Kommentaren zu wissenschaftlichen<br />
Größen wie Watt,<br />
Crone oder Goldziher und zieht<br />
Vergleiche zu der heutigen Situation<br />
in islamischen Ländern.<br />
Er geht den Kritiken des Westens<br />
am Islam in Hinsicht auf<br />
dessen Einstellung zur Gewalt,<br />
Benachteiligung von Frauen und<br />
Intoleranz gegenüber Nicht<br />
musl<strong>im</strong>en auf den Grund – ohne<br />
dabei voreingenommen zu sein.<br />
Sein Vorhaben, zwischen Geschichte<br />
und Mythos, religiöser<br />
Theorie und menschlichem<br />
Pragmatismus zu <strong>di</strong>fferenzieren,<br />
gelingt ihm ausgesprochen gut.<br />
In einer spannenden historischen<br />
und linguistischen Analyse<br />
des Korans und der Sunna<br />
widerlegt er sämtliche musl<strong>im</strong>ische<br />
Mythen und macht deutlich,<br />
dass bisher kein Buch vom<br />
H<strong>im</strong>mel gefallen ist. Die Tra<strong>di</strong>erung<br />
pseudogöttlicher Normen<br />
und Werte, gefördert durch <strong>di</strong>e<br />
Schriftgläubigkeit der Musl<strong>im</strong>e,<br />
sind für ihn das Haupthindernis<br />
für eine Entwicklung der islamischen<br />
Länder und <strong>di</strong>e Einhaltung<br />
der universalen Menschenrechte.<br />
Etwas zurückhaltender<br />
formuliert er <strong>di</strong>e Auswirkungen<br />
der uneingeschränkten politischen<br />
Totalität des Propheten<br />
Muhammads bis in unsere Zeit.<br />
Moderne Missstände stellt er<br />
zunächst in scharfer Abgrenzung<br />
zu den islamischen Lehren<br />
dar, um sie anschließend nur<br />
in einzelnen Fällen als aus dem<br />
Islam resultierend zu kritisieren<br />
– dennoch eine wohltuende<br />
Offenheit für alle westlichen<br />
IslamAufklärer und eine unbequeme<br />
St<strong>im</strong>me für konservative<br />
Musl<strong>im</strong>e.<br />
Musl<strong>im</strong>ische Freidenker<br />
könnte er mit <strong>di</strong>eser Methode<br />
eventuell sogar überzeugen –<br />
wenn <strong>di</strong>ese das Buch überhaupt<br />
in <strong>di</strong>e Hände bekommen. Da<br />
Verlage in der islamischen Welt<br />
in der Hand konservativer Interessensverbände<br />
liegen, <strong>di</strong>e Ibn<br />
Warraq als zersetzend betrachten<br />
dürften, wird es wohl allein<br />
den Interessierten <strong>im</strong> Westen<br />
vergönnt sein, „Warum ich kein<br />
Musl<strong>im</strong> bin“ zu lesen.<br />
Ibn Warraq<br />
Warum ich kein Musl<strong>im</strong> bin<br />
Verlag: Matthes & Seitz <strong>Berlin</strong> 2004<br />
Gebunden 522 Seiten<br />
Sprache: deutsch<br />
Original: englisch („Why I am not a Musl<strong>im</strong>“ 1995)<br />
ISBN: 3-88221-838-X<br />
Preis: 28,90 €
50 [dī.wān] 07.2007 BERLIN IM VISIER BERLIN IM VISIER<br />
07.2007 [dī.wān] 51<br />
Veranstaltungskalender<br />
Juli bis Oktober 2007<br />
4. Juli 2007 | 19:30 Uhr<br />
Dialogforum<br />
Afrika in der Wissenschaft:<br />
Bis hierhin und nicht weiter!?<br />
Über <strong>di</strong>e Marginalisierung und<br />
Vernachlässigung von Afrika in<br />
der Wissenschaft und AfrikaWissenschaftlern<br />
in der Akademia<br />
Heinrich-Böll-Stiftung,<br />
<strong>Berlin</strong> Raum: Galerie<br />
Rosenthalerstraße 40/41<br />
10178 <strong>Berlin</strong> (Hackesche Höfe)<br />
Telefon: 030-28 53 43 40<br />
E-Mail: adolf@boell.de<br />
9. Juli 2007 | 19:00 Uhr<br />
„The Nationalization<br />
of the Ottoman<br />
Empire’s War” Vortrag<br />
Es spricht Dr. Erol Köroğlu,<br />
Fellow des Forschungsprogramms<br />
„Europa <strong>im</strong> Nahen<br />
Osten – Der Nahe Osten in<br />
Europa“<br />
<strong>Berlin</strong>-Brandenburgische<br />
Akademie der Wissenschaften<br />
Einsteinsaal<br />
Jägerstraße 22/23<br />
10117 <strong>Berlin</strong><br />
Kontakt: Biagia Bongiorno,<br />
b.bongiorno@isr.tu-berlin.de<br />
11. Juli 2007 | 19:00 Uhr<br />
„Go East“ Vortrag<br />
Deutsche und Österreichische<br />
Arbeiter in der Türkei und auf<br />
dem Balkan vor hundert Jahren<br />
Vortrag von Dr. Malte Fuhrmann<br />
(Zentrum Moderner <strong>Orient</strong>)<br />
<strong>Berlin</strong>-Brandenburgische<br />
Akademie der Wissenschaften<br />
Einsteinsaal<br />
Jägerstraße 22/23<br />
10117 <strong>Berlin</strong><br />
Kontakt: Biagia Bongiorno,<br />
b.bongiorno@isr.tu-berlin.de<br />
11. Juli 2007 | 19:00 Uhr<br />
Internationales<br />
Literaturfestival<br />
Lesungen von Autoren, <strong>di</strong>e<br />
thematisch den interkulturellen<br />
Dialog zwischen Europa und<br />
dem Nahen Osten widerspiegeln<br />
<strong>Berlin</strong>-Brandenburgische<br />
Akademie der Wissenschaften<br />
Einsteinsaal<br />
Jägerstraße 22/23<br />
10117 <strong>Berlin</strong><br />
Kontakt: Biagia Bongiorno,<br />
b.bongiorno@isr.tu-berlin.de<br />
4. September 2007 | 19:00 Uhr<br />
Klangreise<br />
<strong>Orient</strong> Okzident<br />
Festival zur Musik aus dem<br />
islamischen Kulturkreis bzw.<br />
deren Einflüssen auf <strong>di</strong>e europäische<br />
Kunstmusik<br />
Konzerthaus am<br />
Gendarmenmarkt<br />
Kontakt: Biagia Bongiorno,<br />
b.bongiorno@isr.tu-berlin.de<br />
23. Oktober 2007 | 20:00 Uhr<br />
Derwisch Tanzensemble<br />
Galata<br />
Mevlevi Konzert<br />
Das auf über 600 Jahre Tra<strong>di</strong>tion<br />
zurückblickende, weltberühmte<br />
„Galata Mevlevi Ensemble“ aus<br />
Istanbul zeigt <strong>di</strong>e Schönheit und<br />
Spiritualität des DrehtanzRituals<br />
und der SufismusTra<strong>di</strong>tion<br />
Kammermusiksaal<br />
Philharmonie<br />
www.albakultur.de<br />
23. Juni 2007 | 15:00 Uhr<br />
Musl<strong>im</strong>e in <strong>Berlin</strong><br />
Bauwerke,<br />
Erin ner ungsorte und<br />
Lebenszeichen Führung<br />
Zweistün<strong>di</strong>ge Führung für bis<br />
zu 15 Personen an signifikante<br />
Orte musl<strong>im</strong>ischen Lebens. Das<br />
Miteinander der Kulturen unter<br />
der Leitung von Biagia Bongiorno<br />
(TU<strong>Berlin</strong>)<br />
<strong>Berlin</strong>-Brandenburgische<br />
Akademie der Wissenschaften<br />
Einsteinsaal<br />
Jägerstraße 22/23<br />
10117 <strong>Berlin</strong><br />
Kontakt: Biagia Bongiorno,<br />
b.bongiorno@isr.tu-berlin.de<br />
Dauerveranstaltungen<br />
ab 30. Mai | 20:00 Uhr<br />
Sprachlos<br />
Theateraufführung<br />
Das Theaterstück des iranischfranzösischen<br />
Theatermachers<br />
Pedro Ka<strong>di</strong>var entwickelt <strong>di</strong>e<br />
Erfahrung von Lebens und Gefühlsintensität<br />
eines Menschen<br />
aus einem für <strong>di</strong>e Sprechbühne<br />
eher ungewöhnlichen Motiv:<br />
Einer seit Jahren praktizierten<br />
Sprachlosigkeit<br />
DiSo 10.00 18.00 Uhr;<br />
Do 10.00 22.00 Uhr<br />
Kosten: 12 € (ermäßigt: 10 €)<br />
Anmeldung erforderlich unter<br />
Telefon 03020 90 54 01<br />
oder 03020 90 54 32<br />
Pergamonmuseum<br />
TheodorWiegandSaal<br />
ab Mai | <strong>di</strong>enstags, 18:00 Uhr<br />
CNN, Al Dschasira<br />
und wir – Deutsche<br />
Welle TV und ihre<br />
Konkurrenz weltweit<br />
Ringvorlesung<br />
Diskurs zu Aspekten des politischen<br />
Journalismus durch<br />
prominente Vertreter der deutschen<br />
Me<strong>di</strong>en<br />
unter der Schirmherrschaft der<br />
Friedrich Naumann Stiftung,<br />
Otto-Suhr-Institut<br />
Ihnestraße 21<br />
14195 <strong>Berlin</strong><br />
21. Juli– 18. August<br />
International<br />
Summer University<br />
zum Interkulturellen<br />
Dialog<br />
Spezieller Kurs mit dem Titel<br />
„Intercultural Dialogue or Clash<br />
of Civilizations: Islam and the<br />
West Exploring Cultural Differences<br />
and Commonalities“.<br />
Wie viel wissen wir über „den<br />
anderen“ und wie viel wissen wir<br />
über uns?<br />
Freie Universität <strong>Berlin</strong><br />
fubis@fubis.org<br />
Infos: http://www.fubis.org<br />
31. August – 16. September<br />
21. Jü<strong>di</strong>sche Kulturtage<br />
<strong>Berlin</strong><br />
Israelische Popstars, verbotene<br />
Klänge, eine Begegnung<br />
jü<strong>di</strong>scher und arabischer Musiker<br />
aus Israel, <strong>di</strong>e wiedergefundenen<br />
Träume eines 15jährigen<br />
Mädchens und <strong>di</strong>e Eröffnung der<br />
größten Synagoge Deutschlands<br />
Kosten: 12 € (ermäßigt: 10 €)<br />
verschiedene Orte<br />
Tickets gibt es in der<br />
Joach<strong>im</strong>staler Chaussee 13<br />
10719 <strong>Berlin</strong><br />
jkt@jg-berlin.org<br />
Telefon: 0308 82 42 50<br />
www.jue<strong>di</strong>sche-kulturtage.org
[dī.wān]