04.01.2013 Aufrufe

Sport im Orient - [di.wan] Berlin

Sport im Orient - [di.wan] Berlin

Sport im Orient - [di.wan] Berlin

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

[dī.wān] 07.2007<br />

Von Nahost bis <strong>Berlin</strong><br />

<strong>Sport</strong> <strong>im</strong> <strong>Orient</strong><br />

von Anabolika bis Ziegenjagd<br />

Islam@net<br />

Beratung aus dem Cyberspace<br />

Spielend Allah erleben<br />

Ein Besuch <strong>im</strong> islamischen Kindergarten in Potsdam<br />

+++ POLITIK IN DER TÜRKEI +++ INTERVIEW MIT SAHIRA AWAD +++ VERANSTALTUNGSKALENDER +++


TITELFOTO<br />

Abderrazak Essahabi<br />

Impressum<br />

CVD<br />

Dörthe Engels, Akın­H. Doğan<br />

REDAKTION<br />

Nushin Admaca, Sophie Bleich, Philipp Dehne, Nora Derbal,<br />

Julia Gebert, Jannis Hagmann, Katharina Mühlbeyer,<br />

Alexander Kalbarczyk, Nora K. Schmid<br />

LAYOUT<br />

Manuela Gaeth<br />

WEITERE MITARBEIT AN DIESER AUSGABE<br />

Omar Ansari, Ben Georg, Thomas Hilsem, Jasna Zajcek<br />

KONTAKT<br />

<strong>di</strong><strong>wan</strong>berlin@yahoo.de<br />

Ein Projekt der Fachschaftsinitiative IsTurArIr der Freien Universität <strong>Berlin</strong>.<br />

Verantwortliche <strong>im</strong> Sinne des Pressegesetzes sind <strong>di</strong>e jeweiligen Autoren.<br />

SPENDENKONTO<br />

[dī.wān]<br />

Kto­Nr. 200823995<br />

BLZ 72050101<br />

Kreissparkasse Augsburg<br />

Wer in <strong>di</strong>e arabische Welt reist und das<br />

Gespräch mit den Menschen vor Ort über<br />

<strong>di</strong>e „ernsten“ Dinge des Lebens sucht, wird<br />

meist schnell enttäuscht. Der Kontakt ist<br />

leicht gefunden, der Tee schon bestellt, aber<br />

eine angeregte Konversation über Politik und<br />

Gesellschaft in Tunesien, Ägypten oder Syrien<br />

bleibt aus – sei es aufgrund tatsächlichen Desinteresses<br />

des (männlichen) Gesprächpartners<br />

oder dessen Angst vor Spitzeln der Regierung.<br />

Der kluge Reisende lässt sich daher lieber<br />

zunächst auf das allgemeine Lieblingsthema<br />

ein: Fußball. Wer wenigstens einen Spieler<br />

der Nationalmannschaft des Urlaubslandes<br />

namentlich bereit hat, wird sofort ins Herz<br />

geschlossen. „Youssef Hadji good“, könnte es<br />

beispielsweise in Marokko heißen. Zumeist<br />

folgen dann be<strong>im</strong> Gegenüber sämtliche deutsche<br />

Bundesligisten, auswärtige Spieler und<br />

Teilnehmer der Weltmeisterschaft von 1954<br />

plus Trainer, versehen mit Kommentaren zu<br />

einzelnen Spielszenen. Die Ge<strong>wan</strong>dtheit des<br />

Berichtens lässt erkennen, dass Männer <strong>im</strong><br />

Straßencafé kaum über etwas anderes reden.<br />

An den strahlenden Gesichtern von Jung und<br />

Alt ist <strong>di</strong>e Sehnsucht nach Europa abzulesen.<br />

Die Spiele der deutschen Bundesliga holen<br />

das Land jenseits des großen Meeres für 90<br />

Minuten in jedes Wohnz<strong>im</strong>mer und lassen sie<br />

alle teilhaben an der großen Fußballfamilie, in<br />

der für den Moment nicht zählt, wo Du herkommst.<br />

In <strong>di</strong>eser dritten Ausgabe des [dī.wān]<br />

möchten wir den etwas ungewöhnlichen<br />

Schritt wagen, uns den islamischen Gesellschaften<br />

von Nahost bis <strong>Berlin</strong> auf einer<br />

anderen, vielleicht realeren Ebene zu nähern.<br />

Die meisten Menschen betreiben in irgendeiner<br />

Art und Weise <strong>Sport</strong> – in Form von<br />

reiner Fortbewegung, spontan auf der Straße<br />

mit Freunden oder organisiert in Vereinen.<br />

Viele <strong>Sport</strong>arten haben in der islamischen<br />

Welt eine lange Tra<strong>di</strong>tion und machen einen<br />

großen Teil der Kultur aus. Andere erleben erst<br />

seit einigen Jahren einen Boom. Und manche<br />

Länder definieren sich sogar über ihren <strong>Sport</strong><br />

und benutzen ihn als Statussymbol <strong>im</strong> internationalen<br />

Vergleich.<br />

Wir sprechen mit Fußballfans in Ägypten,<br />

dem Gewinner des Afrika­Cups 2006.<br />

Der Profi­Bodybuilder Abderrazak Essahabi<br />

gibt Einblicke in <strong>di</strong>e neue Trendsportart Bodybuil<strong>di</strong>ng<br />

in Marokko. Der Wettkampf um <strong>di</strong>e<br />

tote Ziege in Afghanistan ist eine ganz andere<br />

<strong>Sport</strong>art zu Pferde als das alljährlich stattfindende<br />

höchstdotierte Rennen der Welt in Dubai.<br />

Und Schach ist ein Spiel der Geschichte, in<br />

dem Schwarz gegen Weiß kämpft.<br />

Macht Euch warm, liebe Leserschaft, auf<br />

dass sich be<strong>im</strong> Schmökern kein Muskelkater<br />

anschleicht! Ein frohes Mitmachen bei den<br />

<strong>Sport</strong>arten der islamischen Welt wünscht der<br />

[dī.wān]!<br />

07.2007 [dī.wān] 3<br />

Macht Euch warm, liebe Leserschaft!<br />

Lust mitzumachen?<br />

Wir laden ein zur<br />

Redaktionssitzung!<br />

> 27. Juni 2007, 18 Uhr<br />

> Café der Islamwissenschaft<br />

in der Altensteinstraße 40


4 [dī.wān] 07.2007 07.2007 [dī.wān] 5<br />

POLITIK<br />

06 Irakische „Besucher“ in Syrien<br />

Eine Million Iraker in Syrien<br />

von Julia Gebert<br />

08 „Kein Frieden ohne Brot“<br />

Die wirtschaftliche Situation in den<br />

paläs tinensischen Autonomiegebieten<br />

von Thomas Hilsem<br />

10 Herr Schumann und <strong>di</strong>e Hizbullah<br />

Ein Deutscher organisiert den Aufstand in Beirut<br />

von Jasna Zajcek<br />

12 Die Terra incognita Pakistans<br />

Die Situation in den nördlichen Gebieten<br />

von Ben Georg<br />

14 Vom Islamismus zur Demokratie?<br />

Die politische Situation in der Türkei<br />

von Alexander Kalbarczyk<br />

GESELLSCHAFT<br />

17 Einen Klick von der Lösung<br />

entfernt<br />

Islam <strong>im</strong> Internet<br />

von Sophie Bleich<br />

19 Kulturpara<strong>di</strong>es am Mittelmeer<br />

Interkultureller Dialog in Alexandria<br />

von Nushin Atmaca<br />

21 Seine Hoheit rettet Kairos Altstadt<br />

Der Aga Khan renoviert Ägyptens Metropole<br />

von Jannis Hagmann<br />

SPECIAL<br />

24 Gesunder Musl<strong>im</strong> in gesundem Körper<br />

Tra<strong>di</strong>tion gegen Moderne <strong>im</strong> <strong>Sport</strong><br />

von Akın-H. Doğan<br />

26 Das Leder rollt durch Teehäuser<br />

und über den Bildschirm<br />

Fußball ist in Ägypten keine Männersache mehr<br />

von Philipp Dehne<br />

„P<strong>im</strong>p my Muscles“ 29<br />

Bodybuil<strong>di</strong>ng ist bei marokkanischen Männern<br />

eine der beliebtesten <strong>Sport</strong>arten<br />

von Dörthe Engels und Omar Ansari<br />

Ebru boxt sich durch 31<br />

Das schwache Geschlecht<br />

auf dem Siegertreppchen<br />

von Katharina Mühlbeyer<br />

<strong>Sport</strong> für den Geist 34<br />

Das Märchen vom toten Shah<br />

von Nora K. Schmid<br />

Buzkaschi – der Kampf um <strong>di</strong>e Ziege 37<br />

Polo auf Afghanisch<br />

von Nushin Atmaca<br />

Schnell wie der Wind 39<br />

Der Dubai World Cup ist das<br />

höchstdotierte Pferderennen der Welt<br />

von Dörthe Engels<br />

MUSLIME IN BERLIN<br />

Zukunft der Geschichte 41<br />

Interkulturellen Geschichtsvermittlung<br />

in der Ein<strong>wan</strong>derungsgesellschaft<br />

von Dörthe Engels<br />

„Wir sind <strong>im</strong>mer aktiv“ 44<br />

Ein Besuch<br />

in der islamischen Kindergruppe Potsdam<br />

von Dörthe Engels<br />

INTERVIEW<br />

Nur aus dem Bitteren 46<br />

kann das Süße entstehen<br />

Im Gespräch mit der Wahl­<br />

Wed<strong>di</strong>ngerin Sahira Awad<br />

von Akın-H. Doğan<br />

HÖRBAR<br />

Eigentümliche Grazie, 48<br />

lächelnde Wehmut<br />

Der Violinist Farid Farjad<br />

von Nora Derbal<br />

LESBAR<br />

Ein Werk 49<br />

der islamischen Aufklärung<br />

Ibn Warraqs „Warum ich kein Musl<strong>im</strong> bin“<br />

von Dörthe Engels<br />

BERLIN IM VISIER<br />

Veranstaltungskalender 50<br />

Juli bis Oktober 2007


6 [dī.wān] 07.2007 POLITIK<br />

POLITIK<br />

07.2007 [dī.wān] 7<br />

Irakische „Besucher“ oder wie Syrien<br />

mit dem Flüchtlingsproblem umgeht<br />

Der syrischen Politik der offenen Tür folgen seit 2006 harsche<br />

Beschränkungen <strong>im</strong> Umgang mit geflohenen Irakern. Anders weiß<br />

sich der Staat des Problems einer Million Flüchtlinge offenbar nicht<br />

mehr zu erwehren<br />

Gestiegene Mieten, hohe<br />

Lebensmittelpreise und eine<br />

Infrastruktur, <strong>di</strong>e aus allen Nähten<br />

platzt – Syrien hat nicht nur<br />

ein syrisches demographisches<br />

Problem, sondern seit dem<br />

Krieg <strong>im</strong> Nachbarland auch ein<br />

irakisches. Nachdem das Baath­<br />

Reg<strong>im</strong>e <strong>im</strong> Irak gestürzt wurde,<br />

hat Syrien, wo <strong>di</strong>e Schwesterpartei<br />

der Baath noch fest <strong>im</strong> Sattel<br />

sitzt, bis heute mit einer Million<br />

<strong>di</strong>e größte Anzahl an irakischen<br />

Flüchtlingen aufgenommen.<br />

Doch <strong>di</strong>e Solidarität hat sich<br />

nicht ausgezahlt: Zwar loben <strong>di</strong>e<br />

Vereinten Nationen <strong>di</strong>e „großzügige<br />

Haltung“ des Landes,<br />

doch <strong>di</strong>e Bush­Regierung in<br />

Washington vergibt noch lange<br />

keine Bonuspunkte an Damaskus.<br />

Als es der syrischen Administration<br />

<strong>im</strong> vergangenen<br />

Jahr dämmerte, welche negativen<br />

Auswirkungen <strong>di</strong>e lange<br />

und schwer zu kontrollierende<br />

Grenze zum Irak für Syrien hat,<br />

änderte sich <strong>di</strong>e syrische Gastfreundlichkeit<br />

drastisch.<br />

Syrien erkennt<br />

Flüchtlinge<br />

offiziell nicht an<br />

„Es kommen täglich 2.000<br />

Flüchtlinge über <strong>di</strong>e syrischirakische<br />

Grenze“, sagt Petros<br />

Mastakas, der bei der Vertretung<br />

des United Nations High<br />

Commissioner for Refugees<br />

(UNHCR) in Damaskus tätig ist.<br />

Er erläutert <strong>di</strong>e Arbeit der Organisation:<br />

„Der UNHCR hilft hier<br />

vor allem be<strong>im</strong> Management<br />

der Flüchtlingskrise und trainiert<br />

<strong>di</strong>e syrischen Ministerien<br />

<strong>im</strong> Umgang mit der Situation.“<br />

Finanzielle Hilfe spielt eine Nebenrolle:<br />

„Das Bildungsministerium<br />

bekommt zum Beispiel nur<br />

fünf Millionen Dollar jährlich<br />

und muss davon neue Schulen<br />

bauen, weil fast <strong>di</strong>e Hälfte der<br />

Flüchtlinge unter 18 Jahre alt<br />

ist und <strong>di</strong>e syrische Regierung<br />

kostenlosen Schulbesuch versprochen<br />

hat“, erklärt Mastakas.<br />

Die UNHCR­Filiale <strong>im</strong> schicken<br />

Damaszener Stadtteil Abu Roumana<br />

musste aufgrund des Ansturms<br />

der Flüchtlinge <strong>im</strong> März<br />

eine Zweigstelle errichten, <strong>di</strong>e<br />

allein für <strong>di</strong>e Registrierung zustän<strong>di</strong>g<br />

ist. Die syrische Regierung<br />

zeigt sich den Flüchtlingen<br />

neuer<strong>di</strong>ngs weniger zuge<strong>wan</strong>dt.<br />

„Syrien hat <strong>di</strong>e Genfer Flüchtlingskonvention<br />

von 1951 nicht<br />

unterzeichnet. Das heißt, <strong>di</strong>e<br />

Flüchtlinge werden hier nicht<br />

anerkannt“, sagt Mastakas. Auch<br />

stehen den Irakern nicht mehr<br />

<strong>di</strong>e Leistungen des syrischen Sozialsystems<br />

offen, wie es anfangs<br />

der Fall war. Aufenthaltsgenehmigungen<br />

werden in wechselnden<br />

Rhythmen mit unterschiedlichen<br />

Auflagen vergeben: Mal<br />

genügt zur Verlängerung nach<br />

von Julia Gebert<br />

drei Monaten ein Stempel an<br />

der syrisch­irakischen Grenze,<br />

mal müssen Flüchtlinge einen<br />

Monat außerhalb des Landes<br />

verbringen, um wieder einreisen<br />

zu können.<br />

„Mein Name<br />

war auf der<br />

Todesliste“<br />

Der Großteil der Iraker hat<br />

sich eine Bleibe in Damaskus<br />

gesucht. Es gibt jedoch auch<br />

Gemeinden <strong>im</strong> Norden, in<br />

Aleppo oder Kleinstädten nahe<br />

der irakischen Grenze, in denen<br />

<strong>di</strong>e Flüchtlinge unterkommen.<br />

Die ethnische und konfessionelle<br />

Zusammensetzung der<br />

Exilanten in Damaskus spiegelt<br />

einen anderen Irak wieder:<br />

Laut dem UNHCR­Bericht von<br />

2006 sind 18% der Flüchtlinge<br />

Christen, 57% schiitische Musl<strong>im</strong>e<br />

und 22,5% sunnitische Musl<strong>im</strong>e,<br />

davon nur 1,5% Kurden.<br />

Anfangs gehörte nach<br />

UNO­Angaben ein Großteil der<br />

Flüchtlinge der irakischen Mittelschicht<br />

an, mittlerweile haben<br />

jedoch viele ihre Ersparnisse<br />

aufgebraucht und sind verarmt.<br />

Namir, der noch 2006 <strong>im</strong> Irak als<br />

Ingenieur arbeitete, gehört zu<br />

den noch wohlhabenden Irakern<br />

in Damaskus. Nach dem Fall des<br />

Reg<strong>im</strong>es arbeitete er für eine<br />

amerikanische Firma, deren Fili­<br />

ale letztes Jahr Ziel eines Brandanschlags<br />

war und danach nicht<br />

wieder aufgebaut wurde. Die<br />

irakischen Angestellten wurden<br />

anschließend von der al­Mah<strong>di</strong>­<br />

Miliz des schiitischen Anführers<br />

Muqtada as­Sadr bedroht.<br />

„Ich hatte schiitische Freunde,<br />

<strong>di</strong>e mich gewarnt haben, dass<br />

mein Name auf einer Todesliste<br />

ist“, sagt Namir. „Daraufhin bin<br />

ich Hals über Kopf nach Syrien<br />

gereist.“ Namir harrt derweil<br />

in Damaskus aus und lebt wie<br />

viele Iraker noch vom Ersparten,<br />

während <strong>di</strong>e amerikanische<br />

Firma eine geringe Abfindung<br />

zahlt.<br />

Konkurrenz<br />

auf dem<br />

Arbeitsmarkt<br />

Jetzt lebt Namir mit vier<br />

ehemaligen Ingenieurskollegen<br />

<strong>im</strong> schiitischen Viertel<br />

Saida Sainab, wo sie als Sunniten<br />

<strong>di</strong>e Ausnahme darstellen.<br />

Das Viertel hat sich in einen<br />

Irak <strong>im</strong> Kleinformat ver<strong>wan</strong>delt:<br />

Restaurants bieten Speisen aus<br />

dem Zweistromland an, deren<br />

Namen sogar <strong>di</strong>e ortskun<strong>di</strong>gen<br />

Damaszener ratlos lassen. An<br />

jeder Ecke wird für Taxifahrten<br />

nach Bagdad geworben. Kein<br />

Wort syrischer Dialekt ist mehr<br />

zu hören.<br />

Obwohl es den Flüchtlingen<br />

in Syrien verboten ist, einer<br />

Erwerbstätigkeit nachzugehen,<br />

murren <strong>di</strong>e Einhe<strong>im</strong>ischen über<br />

Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.<br />

Der UNHCR­Bericht<br />

bestätigt <strong>di</strong>esen Eindruck: Rund<br />

50% der männlichen irakischen<br />

Flüchtlinge sind in der Schattenwirtschaft<br />

tätig. Auch Frauen<br />

und Kinder haben an jenem Sektor<br />

der syrischen Wirtschaft teil,<br />

wenngleich nicht <strong>im</strong>mer freiwillig.<br />

Der UN­Bericht erwähnt <strong>di</strong>e<br />

steigende Tendenz von Z<strong>wan</strong>gsprostitution<br />

durch kr<strong>im</strong>inelle<br />

Netzwerke, <strong>di</strong>e irakische Frauen<br />

an <strong>di</strong>e zahlreichen „Nightclubs“<br />

in Damaskus verkauften.<br />

Aus Sicht der Damaszener<br />

Rotlichtszene lässt sich das so<br />

zusammenfassen: „Die Irakerinnen<br />

haben den Russinnen<br />

das Geschäft kaputt gemacht,<br />

<strong>di</strong>e Preise für eine Nacht sind<br />

rapide gesunken.“<br />

Weiterreise nach<br />

Dubai oder Europa<br />

Doch nicht nur in der syrischen<br />

Bevölkerung wächst der<br />

Unmut über <strong>di</strong>e Verschlechterung<br />

der Infrastruktur und <strong>di</strong>e<br />

Lage auf dem Arbeitsmarkt,<br />

auch unter den Irakern gibt es<br />

nur wenige, <strong>di</strong>e auf Dauer in<br />

Syrien bleiben wollen. Viele hoffen<br />

auf eine Weiterreise in ein<br />

sicheres Drittland. Unter den<br />

beliebtesten Regionen sind <strong>di</strong>e<br />

Golfländer, Europa und Nordamerika.<br />

Der Ausreisewille vieler<br />

Iraker kann nicht darüber<br />

hinwegtäuschen, dass sich <strong>di</strong>e<br />

Assad­Administration offensichtlich<br />

in der Reichweite des<br />

Flüchtlingsproblems verschätzt<br />

hat und <strong>di</strong>e Flüchtlinge nun<br />

lieber heute als morgen wieder<br />

Richtung Bagdad fahren sehen<br />

würde: So sprach der syrische<br />

Vizepremier Abdullah al­Dardari<br />

in einem Spiegel­Online­<br />

Interview <strong>im</strong> Februar 2007 nicht<br />

etwa von Flüchtlingen, sondern<br />

von irakischen „Besuchern“.<br />

Schiiten in Sayyda Zainab<br />

begehen das Aschura-Ritual –<br />

In Erinnerung des Imams Hussein


8 [dī.wān] 07.2007 POLITIK<br />

POLITIK<br />

07.2007 [dī.wān] 9<br />

„Kein Frieden ohne Brot.<br />

Kein Brot ohne Geld.“<br />

Der Frieden <strong>im</strong> Nahen Osten scheint weit entfernt – dabei gibt es eine<br />

einfache Formel… von Thomas Hilsem<br />

Immer wieder wird <strong>di</strong>e<br />

Führung der Palästinensischen<br />

Autonomiegebiete zur Lösung<br />

des inneren Konflikts und zu<br />

Bemühungen für <strong>di</strong>e Schaffung<br />

eines friedlichen Nahen Osten<br />

aufgerufen. Doch eines wurde<br />

dabei bisher vergessen: „Kein<br />

Frieden ohne Brot. Kein Brot<br />

ohne Geld.“ Die Situation in<br />

den besetzten Gebieten ist verheerend.<br />

Offizielle Statistiken<br />

bescheinigen, dass momentan<br />

44% der palästinensischen<br />

Bevölkerung unter der Armutsgrenze<br />

leben. Besonders stark<br />

betroffen ist der Gaza­Streifen,<br />

der auch mit einer hohen Arbeitslosigkeit<br />

zu kämpfen hat.<br />

Den traurigen „Arbeitslosen­<br />

Rekord“ halten jedoch <strong>di</strong>e vielen<br />

palästinensischen Flüchtlingslager<br />

(ca. 60%). Was sind <strong>di</strong>e<br />

Gründe für eine solche wirtschaftliche<br />

Eiszeit?<br />

Wirtschaft<br />

und Intifada<br />

Die Wurzeln der heutigen<br />

wirtschaftlichen Situation in<br />

den Palästinensischen Gebieten<br />

reichen bis zum Ausbruch der<br />

„Al­Aqsa­Intifada” <strong>im</strong> September<br />

2000 zurück. Denn vor <strong>di</strong>esem<br />

Einschnitt ver<strong>di</strong>enten viele<br />

Palästinenser ihren Lebensunterhalt<br />

jenseits der „Mauer“ in<br />

Israel, oder hinter den Zäunen in<br />

israelischen Siedlungen. Israelis<br />

überquerten damals regelmäßig<br />

<strong>di</strong>e offenen Grenzen, um in der<br />

günstigeren West Bank einzukaufen.<br />

Doch der Gang Ariel Scharons<br />

auf den Tempelberg, der<br />

Ausbruch der Intifada, das Scheitern<br />

der Friedensverhandlungen<br />

in Camp David (Juli 2000) hatten<br />

weitreichende Folgen, <strong>di</strong>e sich<br />

<strong>di</strong>rekt auf <strong>di</strong>e wirtschaftliche<br />

Situation auswirkten. Eine Folge<br />

war <strong>di</strong>e von der israelischen<br />

Regierung ab März 2002 durchgeführte<br />

Operation „Defensive<br />

Shield“. Diese schränkte den<br />

Personen­ und Warenverkehr<br />

zwischen Israel und den Palästinensischen<br />

Autonomiegebieten<br />

so weit ein, dass der Anteil der<br />

palästinensischen Arbeiter in Israel<br />

und israelischen Siedlungen<br />

von 22% auf 8% sank. Im Jahr<br />

2003 passierten <strong>im</strong> Gegensatz<br />

zum Vorjahr nur noch halb so<br />

viele Waren <strong>di</strong>e Grenzen zwischen<br />

West Bank und Israel. Das<br />

zusätzliche Einfuhrverbot von<br />

als gefährlich eingestuften Waren<br />

z<strong>wan</strong>g einige Fabriken dazu,<br />

ihre Produk tion einzustellen.<br />

Auch der freie Fluss von Transaktionen<br />

wurde verhindert und<br />

so dem Handel seine Grundlage<br />

entzogen. Ausgangssperren,<br />

<strong>di</strong>e 2002 zeitweise mehr als ein<br />

Drittel der Bevölkerung der<br />

West Bank betrafen, sowie <strong>di</strong>e<br />

Errichtung weiterer Grenzen<br />

und Barrieren innerhalb der<br />

besetzten Gebiete machten den<br />

Weg zu den wenigen damals<br />

noch vorhanden Arbeitsplätzen<br />

teilweise unmöglich.<br />

Israel begründete sein Vorgehen<br />

damit, dass <strong>di</strong>es <strong>di</strong>e einzige<br />

Möglichkeit sei, <strong>di</strong>e eigene<br />

Bevölkerung in den Siedlungen<br />

und in Israel vor den stark zugenommenenSelbstmordattentaten<br />

zu schützen.<br />

In <strong>di</strong>e eigene<br />

Tasche<br />

Auf der Suche nach Gründen<br />

für <strong>di</strong>e wirtschaftlich schwachen<br />

palästinensischen Gebiete wird<br />

man natürlich auch <strong>im</strong> „Inland“<br />

und insbesondere in den Reihen<br />

der Politiker fün<strong>di</strong>g. Nicht<br />

ohne Grund gaben 52% der palästinensischen<br />

Bevölkerung bei<br />

Umfragen des Palestinian Center<br />

for Policy and Survey Research<br />

(Nr. 19, 03.2006) an, <strong>di</strong>e ausufernde<br />

Korruption sei einer der<br />

Hauptgründe des Regierungswechsels<br />

und der Niederlage<br />

der Fatah bei den Wahlen zum<br />

Palästinensischen Legislativrat<br />

<strong>im</strong> Januar 2006. Deutlich macht<br />

<strong>di</strong>ese Meinung auch folgender<br />

Witz, der sich auf den Straßen<br />

von Ramallah erzählt wird:<br />

Während einer Jubiläumsfeier<br />

der Fatah sitzt Mahmud<br />

Abbas, genannt Abu Mazen, mit<br />

seinen Amtskollegen in einer<br />

großen Runde zusammen und<br />

genießt <strong>di</strong>e Feierlichkeit. Plötzlich<br />

muss er einen Anruf seiner<br />

Frau entgegennehmen. Aus<br />

dem Hörer schallt es: „Komm<br />

schnell, schnell, ich glaube, am<br />

Haus machen sich Kr<strong>im</strong>inelle<br />

zu schaffen!“ Worauf er nur<br />

geantwortet haben soll: „Mach<br />

<strong>di</strong>r keine Sorgen, Habibati. Die<br />

sitzen doch alle hier am Tisch!“<br />

Mittlerweile neigen viele<br />

Palästinenser schon dazu, den<br />

Witz mit Ismail Hanija (Hamas)<br />

statt Abu Mazen zu erzählen.<br />

Unterstützung<br />

aus dem Ausland<br />

Die PLO ist als Arbeitgeber<br />

<strong>im</strong> öffentlichen Sektor eine<br />

der Haupteinnahmequellen in<br />

den Autonomiegebieten. Dabei<br />

erhalten nicht nur Politiker, sondern<br />

auch Lehrer, Busfahrer etc.<br />

hier ihren Lohn. Die Existenz<br />

eines Viertels der Bevölkerung<br />

hängt von <strong>di</strong>esen Geldern ab.<br />

Nach dem Wahlsieg der Hamas<br />

wurde <strong>di</strong>e Auszahlung knapp einer<br />

Milliarde westlicher Gelder,<br />

<strong>di</strong>e <strong>di</strong>e PLO nutzte, eingestellt.<br />

So auch <strong>di</strong>e zweite finanzielle<br />

Stütze: Die Auszahlungen der<br />

an Grenzübergängen durch<br />

Israel eingenommenen Steuern.<br />

Die Folgen waren u.a. das<br />

Ausbleiben der Lehrerlöhne,<br />

was zu Protesten <strong>im</strong> Bildungsbereich<br />

und so zu wochenlangem<br />

Unterrichtsausfall führte.<br />

So waren es nicht wenige Erstklässler,<br />

<strong>di</strong>e sich an ihrem<br />

gespannt erwarteten ersten<br />

Schultag vor einem geschlossenen<br />

Hoftor wiederfanden.<br />

Ein Riegel vorgeschoben<br />

wurde auch zahlreichen europäischen<br />

Projekten wie dem der<br />

Eurocops. Diese waren zwar vor<br />

Ort, bestens ausgerüstet und<br />

motiviert, um <strong>di</strong>e Ausbildung<br />

der palästinensischen Polizei<br />

zu übernehmen, mussten sich<br />

aber über einen Zeitraum von<br />

mehreren Monaten hinweg anderweitig<br />

beschäftigen. Die Einbrecher,<br />

<strong>di</strong>e dadurch vielleicht<br />

entkamen, konnten sich doppelt<br />

glücklich schätzen, denn <strong>im</strong> Gefängnis<br />

herrschte wie in anderen<br />

öffentlichen Einrichtungen<br />

Nahrungsmittelknappheit.<br />

Armut und Perspektivlosigkeit<br />

stellen eine der Hauptursachen<br />

für Gewaltbereitschaft<br />

rund um den Globus dar. Dies<br />

machte auch der Präsident des<br />

Bundesnachrichten<strong>di</strong>enstes,<br />

Ernst Uhrlau, bei einem Vortrag<br />

in der „<strong>Berlin</strong>­Brandenburgischen<br />

Akademie der Wissenschaften“<br />

<strong>im</strong> Sommer 2006 klar.<br />

Sein Einfluss scheint aber offensichtlich<br />

nicht bis in <strong>di</strong>e Ränge<br />

der EU, <strong>di</strong>e Autonomiegebiete<br />

und auch nicht bis nach Israel zu<br />

reichen. Denn dort scheint <strong>di</strong>e<br />

Strategie bisher noch zu heißen:<br />

„Frieden ohne Brot“ oder „Brot<br />

ohne Geld“. Dabei sieht <strong>di</strong>e Realität<br />

doch anders aus…<br />

Neuer Mauerabschnitt in Ostjerusalem


10 [dī.wān] 07.2007 POLITIK<br />

POLITIK<br />

07.2007 [dī.wān] 11<br />

Herr Schumann und <strong>di</strong>e Hizbullah<br />

Hassan Schumann hat einmal in Schöneberg gewohnt und Autos<br />

verkauft. Jetzt ist er Bürgermeister des Schiiten-Camps, das <strong>di</strong>e<br />

westliche Regierung in Beirut stürzen will<br />

von Jasna Zajcek<br />

Beirut ist belagert. Zwar<br />

säuseln <strong>di</strong>e Männer an der<br />

Strandpromenade wie <strong>im</strong>mer<br />

ein „Bonjour“ oder st<strong>im</strong>men<br />

ein kleines Liebeslied an, wenn<br />

junge Frauen an ihnen vorbeiflanieren.<br />

Zwar bieten <strong>di</strong>e<br />

Strandrestaurants wie <strong>im</strong>mer<br />

auf ihrer französischen Speisekarte<br />

hervorragenden Fisch und<br />

gute libanesische Weine an, und<br />

auch an den Stränden baden <strong>di</strong>e<br />

Menschen <strong>im</strong> März wie <strong>im</strong>mer.<br />

Aber <strong>di</strong>e Belagerung ist da. Sie<br />

kommt von innen und ist allgegenwärtig.<br />

Wie <strong>di</strong>e zerschossenen<br />

Ruinen, <strong>di</strong>e vereinzelt<br />

zwischen den glitzernden Neubauten<br />

der Stadt stehen und an<br />

den Bürgerkrieg erinnern.<br />

Hassan Schumann ist einer<br />

der Belagerer. Mitten in Beirut<br />

haben ra<strong>di</strong>kal­islamische Kräfte<br />

ein Zeltlager errichtet. Die schiitische<br />

Hizbullah demonstriert<br />

seit Wochen in der Innenstadt.<br />

Schumann ist der Chef der revolutionären<br />

Camper. Tausende<br />

Schiiten, Männer, Frauen, Kinder.<br />

Sie wollen <strong>di</strong>e prowestliche<br />

Regierung stürzen.<br />

Schumann lebte sieben Jahre<br />

lang in Schöneberg, in der Fuggerstraße,<br />

bis Mitte der Neunziger­Jahre.<br />

„Direkt neben Romy<br />

Haag. Das ist ein Mann oder<br />

eine Frau, so genau weiß das<br />

keiner. Kennen sie Romy? Wir<br />

<strong>im</strong> Libanon haben auch solche<br />

Leute.“ Er lacht.<br />

Er war Autohändler, seine<br />

Kinder gingen in <strong>di</strong>e deutsche<br />

Grundschule, spielten Fußball<br />

bei den BSC Kickers 1900. „In<br />

Deutschland musste ich viel<br />

organisieren“, sagt er. „Bei euch<br />

macht man Sachen <strong>im</strong>mer richtig.<br />

Mit Papieren, <strong>di</strong>e man bei<br />

Ämtern kriegt. Mensch, was<br />

musste ich mich <strong>im</strong>mer um <strong>di</strong>e<br />

Ausweise von meinen Autos<br />

kümmern.“ Deutschland sei für<br />

ihn „ein gutes Land, in dem alles<br />

funktioniert“, er habe viel von<br />

den Deutschen und ihrem Organisationstalent<br />

gelernt. „Ihr habt<br />

so gute Ärzte, und alle arbeiten<br />

umsonst. Hier muss man Geld<br />

be<strong>im</strong> Arzt bezahlen, viel Geld<br />

<strong>im</strong> Voraus.“ Deutschland sei ein<br />

„fast perfektes“ Land. Nur das<br />

Wetter habe ihn gestört.<br />

Die Hizbullah war wohl der<br />

Meinung, dass man ein guter<br />

Organisator sein muss, wenn<br />

man so lange in Deutschland<br />

gelebt hat.<br />

Um zu Schumanns Camping­Lager<br />

zu kommen, muss<br />

man durch „Downtown“ laufen.<br />

Das Viertel wurde in den<br />

Dreißiger Jahren von den Franzosen<br />

erbaut, <strong>im</strong> Bürgerkrieg<br />

komplett zerstört, dann von<br />

Rafiq Hariri rekonstruiert. Hier<br />

stehen Kirchen und Moscheen<br />

nebeneinander, friedlich darf<br />

jeder seinen Glauben ausüben.<br />

Jeden Abend ruft der Muezzin<br />

zum Gebet, dann läuten <strong>di</strong>e Kirchenglocken.<br />

Die Gotteshäuser<br />

füllen sich, und es fühlt sich an,<br />

als ob ein Friede der Religionen<br />

sogar hier <strong>im</strong> Libanon, wo es<br />

über 40 Glaubensrichtungen<br />

gibt, möglich sei. Es ist ein liberales,<br />

ein westliches Viertel.<br />

Schumann sagt: „Wir wollen uns<br />

aber nicht nach Westen öffnen.“<br />

Dass zwei Drittel seiner Landsleute<br />

das anders sehen, interessiert<br />

ihn nicht.<br />

Je näher man dem Hizbullah­Camp<br />

kommt, desto klarer<br />

wird, dass man sich in einem<br />

Land unter Waffen befindet. An<br />

jeder Straßenecke stehen Panzer<br />

und Soldaten der Regierungsarmee.<br />

An allen Kreuzungen<br />

sind sie postiert, beaufsichtigen<br />

Straßensperren. Die jungen<br />

Wehrpflichtigen tragen Uniformen<br />

in grau­weißem Tarn­<br />

Look, Kalaschnikows hängen<br />

an ihren Schultern. Sie sollen<br />

aufpassen, dass <strong>di</strong>e Hizbullah<br />

und Herr Schumann nicht <strong>di</strong>e<br />

Oberhand gewinnen oder gar<br />

einen Putsch mit Waffengewalt<br />

versuchen. Haben <strong>di</strong>e Soldaten<br />

gerade nichts zu tun, sieht man<br />

sie be<strong>im</strong> Herumspielen mit ihren<br />

Handys.<br />

Herr Schumann betritt ein<br />

durch Stacheldraht abgesperrtes<br />

Areal. Das Ziel sei, den Libanon<br />

in einen schiitischen Gottesstaat<br />

zu ver<strong>wan</strong>deln, sagt er freundlich<br />

auf Deutsch. Um das zu erreichen,<br />

campieren Hunderte, an<br />

Wochenenden auch Tausende,<br />

Schiiten aus dem ganzen Land<br />

rings um den Märtyrerplatz.<br />

Im Camp ist er der „Bürgermeister“,<br />

beaufsichtigt Hygiene,<br />

und Versorgung. Sein Lager ist<br />

sauber. Es gibt handelsübliche<br />

Einfamilienzelte, aber auch<br />

solche für nur eine oder zehn<br />

Personen und auch einige alte<br />

Rot­Kreuz­ oder UN­Flüchtlingszelte.<br />

In und vor den Zelten<br />

sitzen junge Männer, <strong>di</strong>e Wasserpfeife<br />

rauchen. In den Zelten<br />

dösen Kinder auf Deckenlagern.<br />

„Müssen<br />

<strong>di</strong>e nicht<br />

zur Schule?“<br />

Herr Schumann zitiert einen<br />

Jungen herbei und fragt ihn auf<br />

Arabisch. „Nein“, sagt das Kind,<br />

<strong>di</strong>e Schulen seien <strong>im</strong> Krieg zerstört<br />

worden, außerdem sei es<br />

„viel wichtiger, <strong>di</strong>e korrupte<br />

Regierung endlich zu stürzen.“<br />

Herr Schumann übersetzt ins<br />

Deutsche. Er scheint sehr zufrieden<br />

mit der Antwort.<br />

Be<strong>im</strong> Gang durch das Lager<br />

winken viele Langzeitcamper<br />

der Besucherin zu. Sie wollen<br />

fotografiert werden. Doch das,<br />

erklären <strong>di</strong>e Sicherheitsbeamten,<br />

sei nicht möglich. Die Reporterin<br />

könnte Spionin sein.<br />

Herr Schumann winkt ab. „Bitte,<br />

fotografieren sie mich, hier in<br />

meinem Lager!“<br />

Es wird Abend, es ist Wochenende,<br />

das Lager füllt sich.<br />

Unter Beiruter Schiiten ist der<br />

Besuch be<strong>im</strong> Camping eine normale<br />

Abendvergnügung geworden.<br />

Herr Schumann freut sich,<br />

gerade an einem so schönen<br />

Samstagabend Besuch aus <strong>Berlin</strong><br />

zu haben. Er zeigt, wie modern<br />

und frei <strong>di</strong>e Frauen hier sind.<br />

Die Damen der Hizbullah haben<br />

sich schick gemacht. Es klackern<br />

hohe Schuhe unter ihren langen<br />

Kleidern, man trägt Make­up<br />

zu kunstvoll gebundenen Kopftüchern<br />

in passenden Farben.<br />

Aus den großen Lautsprechern<br />

schallt Parteipropagandamusik,<br />

an offenen Feuerstellen hocken<br />

Menschen auf dem Boden, kochen,<br />

rauchen Wasserpfeife. Immer<br />

wieder flitzen Halbstarke,<br />

<strong>di</strong>e Metallkessel voller frischer<br />

Glut schwenken, zwischen<br />

Männergruppen hin und her.<br />

Die Frauen sitzen gemeinsam<br />

vor Zelten. Dort hüten sie ihre<br />

kleinen Kinder. Auch einige der<br />

Verschleierten rauchen. Händler<br />

verkaufen bunte Gasballons und<br />

kleines Spielzeug, meist Plastikwaffen.<br />

Aber auch Parteischals,<br />

Flaggen und Poster der „Partei<br />

Gottes“ und ihres Führers, Hassan<br />

Nasrallah.<br />

Herr Schumann führt zum<br />

zentralen Festzelt, hinter einer<br />

Bühne mit großer Lein<strong>wan</strong>d.<br />

Zehnergruppen sitzen<br />

in Kreisen, rauchen, ein<br />

alter Kaffeehändler verkauft<br />

kleine Plastikbecher voll mit<br />

duftendem, süßem Kaffee mit<br />

Kardamom. Herr Schumann<br />

gibt einen aus. Vom Festzelt aus<br />

hat man einen guten Blick auf <strong>di</strong>e<br />

Bühne und ihre Absperrungen.<br />

Sie sind mit handgemalten,<br />

überd<strong>im</strong>ensionierten Porträts<br />

junger Männer geschmückt, <strong>di</strong>e<br />

ihr Leben <strong>im</strong> Krieg gegen Israel<br />

ließen. „Schuhada“, wie einer der<br />

Umstehenden sagt, „Märtyrer“.<br />

Dann zählt er <strong>di</strong>e Namen der<br />

Männer auf und nennt ihr Alter.<br />

Keiner wurde älter als z<strong>wan</strong>zig.<br />

Herr Schumann schlürft heißen<br />

Kaffee, nickt und sagt: „Diese<br />

Männer sind unser Stolz. Wir<br />

fürchten den Tod nicht.“<br />

Irgendwo ertönt eine Trommel,<br />

eine Rassel, dann fallen<br />

St<strong>im</strong>men ein. Halbstarke Jungen<br />

beginnen zu tanzen, den Dabka,<br />

einen arabischen Schreittanz<br />

mit wilden Sprüngen. Die Tänzer<br />

stampfen und hüpfen.<br />

Auf dem Platz vor dem Zelt<br />

beginnt <strong>di</strong>e Videoübertragung<br />

einer Rede des Parteichefs. Den<br />

Strom, der hierfür benötigt<br />

wird, zapfen Herr Schumanns<br />

Techniker einfach von den lose<br />

in Beirut herumhängenden<br />

Stromkabeln ab. „Schauen Sie,<br />

was wir hier alles machen können<br />

– und keiner kann es uns<br />

verbieten“, sagt er. Und während<br />

er sein mehrere Fußballfelder<br />

großes Lager, dekoriert mit<br />

Flaggen, Märtyrer­Gemälden<br />

und Parteiplakaten, mit einer<br />

ausladenden Handbewegung<br />

präsentiert, fügt er hinzu: „Alles<br />

läuft. Man muss nur organisieren<br />

können. Und das habe<br />

ich in <strong>Berlin</strong> gelernt. Ich liebe<br />

Deutschland!“


12 [dī.wān] 07.2007 POLITIK<br />

POLITIK<br />

07.2007 [dī.wān] 13<br />

Die Terra incognita Pakistans<br />

In dem pakistanischen Bundesstaat Nördliche Regionen fehlen<br />

jegliche kommunale Verwaltungsstrukturen. Die Zentralregierung<br />

in Islamabad ist weit entfernt von den täglichen Konflikten zwischen<br />

den Konfessionen und Ethnien<br />

von Ben Georg<br />

„Sell your cow and buy a<br />

Kalashnikow!“ titelte eine pakistanische<br />

Zeitung 2005 in<br />

Reaktion auf eine Welle religiös<br />

motivierter Morde in Gilgit,<br />

Provinzhauptstadt der Nördlichen<br />

Regionen von Pakistan,<br />

einer Gegend, in der <strong>di</strong>e Gipfel<br />

des Karakorum­Gebirges Höhen<br />

von über 8000 Metern erreichen.<br />

Seit den Achtziger Jahren<br />

sind <strong>di</strong>e Gebiete an den Rest<br />

des Landes durch den Karakorum<br />

Highway, den so genannten<br />

„Highway der Freundschaft“, angebunden.<br />

Die Straße zwischen<br />

China und Pakistan ist als strategisches<br />

Mittel gegen In<strong>di</strong>en<br />

zu verstehen. Freundschaft mit<br />

dem Feind des Feindes ist ein altbewährtes<br />

Prinzip in Konflikten,<br />

und so <strong>di</strong>ent <strong>di</strong>e asphaltierte<br />

Zufahrt in den pakistanischen<br />

Teil Kaschmirs vor allem einer<br />

schnellen Truppenverlagerung,<br />

um dem Erzfeind In<strong>di</strong>en Paroli<br />

bieten zu können.<br />

Für <strong>di</strong>e Anlieger bringt der<br />

Karakorum Highway nicht<br />

nur den Segen der Entwick­<br />

lung, sondern auch den Fluch<br />

der religiösen Konflikte. In den<br />

Bergen Nordpakistans gibt es<br />

eine musl<strong>im</strong>isch­konfessionelle<br />

und ethnische Vielfalt, nicht<br />

zuletzt erkennbar an der enormen<br />

Sprachenvielfalt. Der<br />

heißeste Konflikt wird zwischen<br />

Sunniten und Schiiten ausgetragen.<br />

Nachdem Ende der<br />

Achtziger Jahre wahabitische<br />

Funda mentalisten in einer Siedlungsoase<br />

unweit von Gilgit<br />

ein Massaker an Schiiten verübten,<br />

dem heftige Gegenreaktionen<br />

folgten, beruhigte sich<br />

<strong>di</strong>e Lage zeitweilig – zumindest<br />

oberflächlich. Aufgrund<br />

der Geschichtsverfälschenden<br />

Inhalte von Schulbüchern eskalierte<br />

der Konflikt 2004 jedoch<br />

erneut. Seitdem wurden 100<br />

Tötungen registriert. Vor allem<br />

unter sehr jungen Schiiten und<br />

Sunniten soll es Gruppen geben,<br />

<strong>di</strong>e gezielt Morde an Geistlichen<br />

der anderen Konfession ausüben.<br />

Im „Melting Pot“ Gilgit, wo<br />

alle Konfessionen und Ethnien<br />

der umliegenden Talschaften<br />

vereint sind, konzentrieren<br />

sich <strong>di</strong>e Konflikte. Stählerne,<br />

daumen<strong>di</strong>cke Mündungsrohre<br />

stechen an jeder größeren<br />

Kreuzung bedrohlich aus den<br />

Sandsackburgen hervor. Straßensperren,<br />

Stacheldraht und<br />

Soldaten – lächelnd in ihren<br />

khakifarbenen Kampfanzügen<br />

mit Stahlhelm, schweren Splitterschutzwesten<br />

und Maschinengewehr<br />

unter dem Arm.<br />

Gilgit ist anders als <strong>di</strong>e übrigen<br />

Städte Pakistans. Es liegt bewaffnet<br />

und hoch gerüstet in Ketten<br />

einer Regierung, <strong>di</strong>e <strong>im</strong> sonnigen<br />

Islamabad weilt – 600 Kilometer<br />

entfernt, in einer Welt,<br />

<strong>di</strong>e von internationaler Politik<br />

und Wirtschaft dominiert ist.<br />

Demokratische<br />

Terra incognita<br />

Pakistanischen Zeitungen<br />

zufolge stellt <strong>di</strong>e Abwesenheit<br />

von lokalen oder regionalen<br />

Verwaltungsstrukturen in Gilgit<br />

das Hauptproblem dar. Die<br />

Nördlichen Regionen sind eine<br />

Terra incognita – eine demokratische<br />

Terra incognita des an<br />

sich demokratischen Pakistans.<br />

Die vier anderen Bundesstaaten<br />

haben einen klaren verfassungsgemäßen<br />

Status. Die Nördlichen<br />

Regionen hingegen werden in<br />

der Verfassung nicht erwähnt.<br />

Diese Situation steht <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit der sehr späten<br />

faktischen Eingliederung <strong>di</strong>eses<br />

Gebietes in den Staat Pakistan.<br />

Erst in den achtziger Jahren,<br />

lange nach der Unterzeichnung<br />

der Verfassung von 1947 und<br />

der Teilung Britisch­In<strong>di</strong>ens in<br />

Pakistan, damals noch zusammen<br />

mit Bangladesch, und In<strong>di</strong>en,<br />

wurden <strong>di</strong>e letzten lokalen<br />

Herrschaftshäuser durch <strong>di</strong>e Erschließung<br />

der Gebiete mittels<br />

des Karakorum Highways dem<br />

Staate Pakistan einverleibt.<br />

Doch können sich in Demokratien<br />

auch Konstitutionen ändern,<br />

wenn der politische Wille<br />

da ist. Die Nördliche Regionen<br />

scheinen aufgrund ihrer strategisch<br />

sensiblen Lage zwischen<br />

Afghanistan, Kaschmir und<br />

China bewusst ausgeklammert<br />

worden zu sein, um den <strong>di</strong>rekten<br />

Einfluß der Zentralregierung sicher<br />

zu stellen. Diese benennt<br />

einen Gouverneur mit Sitz in<br />

Islamabad, der dem Präsidenten<br />

<strong>di</strong>rekt unterstellt ist.<br />

Symptombekämpfung<br />

einer unfähigen<br />

Regierung<br />

Aufgrund der Abwesenheit<br />

kommunaler Politik in Gilgit<br />

versuchen religiöse Führer in<br />

<strong>di</strong>ese Rolle zu schlüpfen. Die<br />

genannten Tötungen und andere<br />

„Kollateralschäden“ sind <strong>di</strong>e<br />

Folgen. Der juristische Apparat<br />

bleibt untätig, zu Anklagen gegen<br />

<strong>di</strong>e Mörder kommt es nicht,<br />

Entschä<strong>di</strong>gungsleistungen werden<br />

nicht gezahlt. Man kehrt<br />

alles unter den Teppich. Dieses<br />

erlittene Unrecht ra<strong>di</strong>kalisiert<br />

<strong>di</strong>e Bevölkerung zunehmend<br />

und fördert das Heranwachsen<br />

von Rekruten für paramilitärische<br />

Gruppen. Als Reaktion<br />

auf blutige Demonstrationen,<br />

Morde oder Brandstiftungen in<br />

Einrichtungen von Hilfsorganisationen<br />

– beispielsweise 2005<br />

<strong>im</strong> Aga Khan Development Network<br />

– verhängt <strong>di</strong>e Zentralregierung<br />

<strong>im</strong>mer wieder Ausgangssperren<br />

in Gilgit. Binnen<br />

Minuten werden <strong>di</strong>e Straßen<br />

abgeriegelt. Arztbesuche sind<br />

dann nicht mehr möglich, <strong>di</strong>e<br />

Lebensmittel werden knapp und<br />

<strong>im</strong> Winter versiegt der Brennstoff<br />

– Symp tombekämpfung<br />

einer unfähigen Regierung.<br />

Die Nördlichen Regionen<br />

benötigen kommunale Politik,<br />

Parteien, eine funktionierende<br />

Gerichtsbarkeit und damit Eigenverantwortung,<br />

um aus der<br />

Spirale der Gewalt ausbrechen<br />

zu können. Doch solange der<br />

Kaschmirkonflikt nicht ad acta<br />

gelegt ist, und Afghanistan ein<br />

gescheiterter Staat bleibt, ist<br />

eine Lösung nicht in Sicht. Immerhin<br />

scheinen nach jahrzehntelangem,<br />

teils kriegerischem<br />

Konflikt mit In<strong>di</strong>en zumindest<br />

hier ernstzunehmende Friedensverhandlungen<br />

<strong>im</strong> Raum<br />

zu stehen, wodurch der lange<br />

Zeit latenteste regionale Atomkonflikt<br />

beseitigt werden könnte<br />

– trotz musl<strong>im</strong>ischer Fundamentalisten<br />

und Hindunationalisten.<br />

Ein gutes Zeichen für <strong>di</strong>e<br />

Nördlichen Regionen.<br />

Bild links Hauptstraße in Gilgit: Geländewagen und Männer in tra<strong>di</strong>tioneller Kleidung dominieren das Stadtbild<br />

Bild rechts Absperrgitter und hochgerüstete Sandsackburgen finden sich überall in Gilgit – eine Ursachenbekämpfung<br />

der konfessionellen Konflikte scheint sinnvoller


14 [dī.wān] 07.2007 POLITIK<br />

POLITIK<br />

07.2007 [dī.wān] 15<br />

Vom Islamismus zur<br />

musl<strong>im</strong>ischen Demokratie?<br />

Mit der Gründung der Türkischen Republik ging <strong>di</strong>e<br />

gesellschaftliche Säkularisierung einher – und gleichzeitig der<br />

Aufstieg und Wandel des politischen Islams.<br />

Eine kurze Entwicklungsgeschichte<br />

von Alexander Kalbarczyk<br />

Beginnend mit der Ausrufung<br />

der Republik am 29. Oktober<br />

1923 veränderte Mustafa<br />

Kemal, genannt Atatürk, innerhalb<br />

von nur fünf Jahren <strong>di</strong>e<br />

politisch­gesellschaftlichen Fundamente<br />

der Türkei: Er bewirkte<br />

<strong>di</strong>e Abschaffung des Kalifats,<br />

veranlasste <strong>di</strong>e Aufhebung religiöser<br />

Gerichtshöfe, verbot religiöse<br />

Bruderschaften (Tarikat)<br />

und führte ein an westlichen<br />

Vorbildern orientiertes Rechtssystem<br />

ein. Dieser grundlegende<br />

Reformprozess kulminierte<br />

schließlich in der offiziellen Säkularitätserklärung<br />

am 10. April<br />

1928. Aller<strong>di</strong>ngs war damit keineswegs<br />

eine eindeutige Trennung<br />

von Religion und Staat<br />

eingeleitet worden, sondern<br />

vielmehr <strong>di</strong>e republikanische<br />

Etablierung eines kontrollierten<br />

Staatsislams. Außerdem lebten<br />

<strong>di</strong>e religiösen Bruderschaften,<br />

allen voran <strong>di</strong>e Nakşiben<strong>di</strong>s, unvermindert<br />

weiter – und sollten<br />

knapp 50 Jahre nach ihrem offiziellen<br />

Verbot den Nährboden<br />

der ersten erfolgreichen islamistischen<br />

Partei der Türkischen<br />

Republik liefern: Auf Anregung<br />

des betagten Sufi­Lehr meisters<br />

Mehmet Zahit Kotku rief<br />

Necmettin Erbakan Anfang der<br />

1970er den modernen türkischen<br />

Islamismus ins Leben. Seine Nationale<br />

Heilspartei (Milli Selamet<br />

Partisi/MSP) propagierte<br />

anfangs äußerst erfolgreich <strong>di</strong>e<br />

Ideologie der „Nationalen Sicht“<br />

(Milli Görüş), einen islamisch<br />

fun<strong>di</strong>erten Konservatismus, der<br />

beide Bedeutungen des Wortes<br />

„milli“ – national und religiös<br />

– ernst zu nehmen versucht.<br />

Von der<br />

Nationalen Sicht<br />

zur Gerechten<br />

Ordnung<br />

In den 1980er Jahren beherrschte<br />

dann <strong>di</strong>e rechtsliberale<br />

Mutterlandspartei Turgut Özals,<br />

der selbst ein Anhänger Kotkus<br />

gewesen war, <strong>di</strong>e politische Szene<br />

dermaßen erfolgreich, dass<br />

den Islamisten nur marginale<br />

Beachtung zukam. Die 1990er<br />

hingegen brachten den Aufstieg<br />

und Fall der bis dahin erfolgreichsten<br />

islamistischen Bewegung<br />

der Türkei mit sich, der<br />

Wohlfahrtspartei (Refah Partisi/RP).<br />

Im Gegensatz zu ihrer<br />

Vorgängerin MSP konzentrierte<br />

sie sich in ihrer Wahlkampfstrategie<br />

viel weniger auf religiöse,<br />

sondern zunehmend auf soziale<br />

Themen, um so jenen Teil der<br />

Bevölkerung anzusprechen, der<br />

unter den ökonomischen Liberalisierungsmaßnahmen<br />

der<br />

1980er am meisten zu leiden<br />

gehabt hatte. Unter dem Motto<br />

„A<strong>di</strong>l Düzen“ – „Gerechte Ordnung“<br />

– hatte ein urban­religiöser<br />

Intellektuellen­Kreis aus<br />

Izmir ein Programm erarbeitet,<br />

das den Islam als Lösung gegen<br />

sittlichen und ökonomischen<br />

Verfall, als dritten Weg zwischen<br />

Kapitalismus und Sozialismus<br />

anpries. Den hauptsächlichen<br />

Grund für <strong>di</strong>e Wahlerfolge der<br />

RP stellte jedoch <strong>di</strong>e umfassende<br />

Krise des politischen Systems<br />

der Türkei dar, <strong>di</strong>e sich in der<br />

fast schon institutionalisierten<br />

Instabilität stän<strong>di</strong>g wechselnder,<br />

<strong>im</strong>mer wieder scheiternder Koalitionsregierungen<br />

offenbarte.<br />

Zudem waren nur noch zwei<br />

charismatische Führungspersönlichkeiten<br />

verblieben: Der<br />

linkssäkulare Bülent Ecevit sowie<br />

der Islamistenführer Necmettin<br />

Erbakan. Beide – zuerst<br />

Erbakan, dann Ecevit – sollten<br />

in der Folge das Amt des Ministerpräsidenten<br />

übernehmen.<br />

Beide scheiterten und ebneten<br />

so <strong>di</strong>e Bahn für den Erfolg Recep<br />

Tayyip Erdoğans und seiner<br />

AKP.<br />

Die zwei<br />

Gesichter des<br />

politischen<br />

Islams: Erdoğan<br />

und Erbakan<br />

Erdoğan stand seit seiner<br />

Wahl zum Istanbuler Oberbürgermeister<br />

1994 an der Spitze<br />

der neuen urbanen Generation<br />

von Islamisten. Auch er<br />

war ein ehemaliger Schüler des<br />

Nakşiben<strong>di</strong>­Lehrmeisters Kotku<br />

und hatte sich bis 1991, als<br />

<strong>di</strong>e RP auf nationaler Ebene ein<br />

Wahlbündnis mit zwei rechtsextremistischen<br />

Parteien einging,<br />

als treuer Anhänger Erbakans<br />

erwiesen. Bereits <strong>im</strong> Bürgermeisteramt<br />

hatte Erdoğan seine<br />

Neigung zu moderaterPolit<br />

i k g e s t a l tung<br />

erkennen lassen.<br />

Aller<strong>di</strong>ngs<br />

musste er erst<br />

einmal lernen,<br />

das laizistische<br />

Establishment<br />

und den säkularen<br />

Teil der<br />

B e v ö l k e r u n g<br />

nicht durch bewusstprovokative<br />

und zweideutige Aussagen,<br />

wie dem plakativen Bekenntnis<br />

zur islamischen Scharia, unnötig<br />

zu verschrecken. Im Gegensatz<br />

dazu war seinem politischen<br />

Ziehvater Erbakan nur wenig<br />

Erfolg beschieden bei dem Bemühen,<br />

<strong>di</strong>e eigene religiös­ideologische<br />

Überzeugung auf<br />

jenes Maß herunterzu stutzen,<br />

das pragmatische Politikgestaltung<br />

in einem laizistischen System<br />

überhaupt erst ermöglicht.<br />

Nachdem <strong>di</strong>e Militärführung<br />

1995 zähneknirschend zugelassen<br />

hatte, dass er <strong>di</strong>e erste<br />

islamistisch geführte Regierung<br />

der Türkischen Republik bildete,<br />

<strong>di</strong>e alsbald einen Kulturkampf<br />

heraufbeschwor und das<br />

Land ins Chaos stürzte, führte<br />

der „postmoderne Putsch“ vom<br />

28. Februar 1997, basierend<br />

auf der in<strong>di</strong>rekten Intervention<br />

des Militärs und begleitet von<br />

zivilgesellschaftlichen Protesten<br />

gegen <strong>di</strong>e Gefahr des Islamismus,<br />

alsbald zum Ende von<br />

Erbakans Regierungskoalition<br />

und schließlich auch zum Verbot<br />

seiner Partei.<br />

Niedergang<br />

Spaltung<br />

Neugründung<br />

Wahlsieg<br />

Die RP­Nachfolgerin Tugendpartei<br />

(Fazilet Partisi/FP)<br />

gab sich ein deutlich moderateres<br />

Programm, dessen Kern­<br />

forderungen um mehr Demokratie,<br />

Menschenrechte und <strong>di</strong>e<br />

Herrschaft des Rechts kreisten.<br />

Die meisten Anhänger der islamistischen<br />

Bewegung hatten<br />

mittlerweile zwei Militär putsche<br />

sowie zahlreiche politische<br />

Krisen, <strong>di</strong>e der Polarisierung<br />

zwischen ra<strong>di</strong>kalen Säkularisten<br />

und starrsinnigen Islamisten<br />

geschuldet waren, miterlebt.<br />

Schließlich hatte sich der Mangel<br />

an Demokratie gegen <strong>di</strong>e<br />

praktizierenden Musl<strong>im</strong>e selbst<br />

ge<strong>wan</strong>dt: In einem modernen<br />

Rechtsstaat müsste es für eine<br />

musl<strong>im</strong>isch wertkonservative<br />

Partei möglich sein, ohne Einmischung<br />

des Militärs zu regieren.<br />

Als jedoch wenige Jahre<br />

später auch <strong>di</strong>e FP verboten<br />

wurde, entschloss sich <strong>di</strong>e konservative<br />

Garde der Islamisten,<br />

wieder zur alten Ideologie zurückzukehren.<br />

Die „Erneuerer“<br />

(Yenilikçiler) hingegen, allen<br />

voran Abdullah Gül und Recep<br />

Tayyip Erdoğan, gründeten <strong>im</strong><br />

August 2001 <strong>di</strong>e Gerechtigkeits­<br />

und Entwicklungspartei (Adalet<br />

ve Kalkınma Partisi/AKP). Somit<br />

war der politische Islam in<br />

zwei Lager gespalten, gegen seine<br />

zwei wichtigsten Repräsentanten<br />

– Erbakan und Erdoğan<br />

– zudem das Teilnahmeverbot<br />

an der aktiven Politik verhängt.<br />

Eine bal<strong>di</strong>ge Wiederbelebung<br />

erschien alles andere als selbstverständlich.<br />

Wie kam es also,<br />

dass der politische Islam nur anderthalb<br />

Jahre später in <strong>di</strong>e Lage<br />

versetzt wurde, nach demokratischen<br />

Parlamentswahlen <strong>di</strong>e<br />

Regierung zu stellen – <strong>di</strong>eses<br />

Mal ohne Koalitionspartner<br />

und mit einer Zweidrittelmehrheit<br />

<strong>im</strong> Parlament? Die türkische<br />

Geschichte scheint sich<br />

zu wiederholen: Nahezu sämtliche<br />

etablierte Parteien hatten<br />

sich zwischen 1998 und 2002<br />

in wirtschaftlich schwierigen<br />

bis katastrophalen Zeiten be<strong>im</strong><br />

Regieren verschlissen, so dass<br />

sie <strong>im</strong> November 2002 allesamt


16 [dī.wān] 07.2007 POLITIK<br />

GESELLSCHAFT<br />

07.2007 [dī.wān] 17<br />

an der 10%­Hürde scheiterten.<br />

Entscheidend für den Erfolg<br />

der AKP war jedoch vor allem<br />

ihr eindeutiger Bruch mit der<br />

islamistischen Tra<strong>di</strong>tionslinie.<br />

Zwar zeichnet sie sich wie ihre<br />

Vorgängerparteien durch Wertkonservatismus<br />

sowie gute Kontakte<br />

zum musl<strong>im</strong>ischen Unternehmerverband<br />

MÜSIAD und<br />

den religiösen Bruderschaften<br />

aus, doch beinhaltet ihre Programmatik<br />

darüber hinaus<br />

drei bedeutende Neuerungen:<br />

Die Akzeptanz des Laizismus,<br />

das Konzept einer sozialliberalen<br />

Wirtschaftspolitik sowie<br />

schließlich <strong>di</strong>e Westorientierung<br />

der Außenpolitik mit dem<br />

EU­Beitritt als oberste Priorität.<br />

Durch <strong>di</strong>esen politischen<br />

Kurs gelang der AKP <strong>di</strong>e Stabilisierung<br />

der türkischen Politik.<br />

Sie unterscheidet sich signifikant<br />

von ihren islamistischen<br />

Vorgängerparteien sowie von<br />

sämtlichen Islamisten anderer<br />

musl<strong>im</strong>ischer Länder und fungiert<br />

heute oft als Beweis für <strong>di</strong>e<br />

Versöhnbarkeit von säkularer<br />

Demokratie und Islam.<br />

Autoritäre<br />

Laizisten vs.<br />

demokratische<br />

Musl<strong>im</strong>e?<br />

Die gegenwärtigen Proteste<br />

ra<strong>di</strong>kal laizistischer Bürger,<br />

Politiker und Generäle gegen <strong>di</strong>e<br />

Wahl eines Staatspräsidenten<br />

aus den Reihen der AKP werden<br />

allesamt von der Angst<br />

getragen, <strong>di</strong>e Amtsübernahme<br />

eines Erdoğan­Vertrauten werde<br />

endlich den Startschuss für<br />

<strong>di</strong>e Umsetzung einer dezi<strong>di</strong>ert<br />

islamis tischen Agenda darstellen,<br />

<strong>di</strong>e Erdoğan bisher aus<br />

taktischen Gründen verborgen<br />

habe. Solch eine Entwicklung<br />

erscheint aller<strong>di</strong>ngs – gerade<br />

wenn man sich <strong>di</strong>e Ereignisse<br />

des „postmodernen Putsches“<br />

von 1997 vor Augen führt – <strong>im</strong><br />

Kontext des politischen Systems<br />

der Türkei sowie der türkischen<br />

Zivilgesellschaft als schlichtweg<br />

unmöglich. Die größte<br />

Herausforderung, der sich <strong>di</strong>e<br />

AKP als musl<strong>im</strong>isch­demokratische<br />

Regierungspartei noch<br />

stellen muss, wird zweifelsohne<br />

der interne Kampf um <strong>di</strong>e politische<br />

Oberhoheit gegenüber<br />

dem Militärapparat sein. Dies<br />

macht besonders deutlich, wie<br />

sehr sich <strong>di</strong>e Vorzeichen der<br />

türkischen Politik verändert haben.<br />

Während <strong>di</strong>e kemalistische<br />

Militärelite bisher stets als Garant<br />

für <strong>di</strong>e Westanbindung der<br />

Türkei galt, stellt ausgerechnet<br />

sie mittlerweile ein Hindernis<br />

auf dem Weg in <strong>di</strong>e Europäische<br />

Union dar. Denn <strong>di</strong>e Kemalisten<br />

können nur schwer akzeptieren,<br />

dass ein Staat, der Demokratie<br />

und Menschenrechte ernst<br />

n<strong>im</strong>mt, sich weder durch politische<br />

Einflussnahme des Militärs<br />

noch durch staatliche Begrenzung<br />

der Religionsfreiheit<br />

auszeichnen darf. Die ehemals<br />

schärfsten Kritiker des Westens<br />

mit ihrem neuen Ziel der musl<strong>im</strong>ischen<br />

Demokratie wollen<br />

nun <strong>di</strong>e besseren Europäer sein<br />

als <strong>di</strong>e schon <strong>im</strong>mer westlichen<br />

Generäle.<br />

Einen Klick von der Lösung entfernt<br />

Im Zuge der Globalisierung machen sich auch <strong>di</strong>e Religionen das<br />

Internet zu Nutzen, allen voran <strong>di</strong>e Beratungsportale der islamischen<br />

Weltgemeinde<br />

von Sophie Bleich<br />

Nach Johannes Gutenbergs<br />

Buchdruck hat wohl keine Erfindung<br />

<strong>di</strong>e Kommunikation<br />

und den Informationsaustausch<br />

mehr geprägt als das Internet.<br />

Egal ob Newsgroup, Blog oder<br />

Chat, alle neuen Formen der<br />

Kommunikation tragen verstärkt<br />

zum Austausch von Meinungen<br />

bei. Zu Nutzen machen<br />

sich das all <strong>di</strong>ejenigen, <strong>di</strong>e etwas<br />

mitteilen müssen oder eben nur<br />

wollen. Vom Kleintierzüchterverein<br />

bis hin zur Regierung ist<br />

heute jeder <strong>im</strong> Netz vertreten.<br />

In <strong>di</strong>ese Reihe stellen sich auch<br />

<strong>di</strong>e großen Religionen. Sie sind<br />

bemüht durch ihr neues Internetauftreten<br />

ein anderes Bild<br />

von Religion generell oder ihrer<br />

Religion <strong>im</strong> Speziellen zu verbreiten.<br />

Durch Beratung und<br />

Information versuchen sie <strong>di</strong>e<br />

Komplexität ihrer Religion zu<br />

erklären oder für Gläubige strittige<br />

Fragen zu klären.<br />

Aufklärungsarbeit<br />

für Nichtmusl<strong>im</strong>e<br />

Eben <strong>di</strong>ese Aufgaben übern<strong>im</strong>mt<br />

islamonline.net, eine der<br />

ersten großen Beratungshomepages<br />

zum Islam. Die Aufklärungsarbeit<br />

für Nichtmusl<strong>im</strong>e<br />

und <strong>di</strong>e Beratung von Musl<strong>im</strong>en<br />

in jeder Situation des Alltags<br />

steht <strong>im</strong> Vordergrund. So<br />

ist Islamonline ein Netzwerk,<br />

das mehrere Seiten miteinander<br />

verbindet. Außer der arabischen<br />

Seite, <strong>di</strong>e vorwiegend den gläubigen<br />

Musl<strong>im</strong>en gilt, gibt es auch<br />

eine englischsprachige Seite, <strong>di</strong>e<br />

mit den Vorurteilen und Mythen<br />

rund um den Islam aufräumen<br />

soll. Gestartet wurde das Projekt<br />

zwar <strong>im</strong> Oktober 1999, also vor<br />

den Terroranschlägen in New<br />

York, doch danach hat es einen<br />

regelrechten Boom gegeben.<br />

Die Seite wurde ausgeweitet und<br />

von <strong>im</strong>mer mehr Menschen als<br />

Chance wahrgenommen, sich<br />

über den Islam zu informieren.<br />

Islamonline will keine<br />

stagnierende Seite mit reinen<br />

Informationen über <strong>di</strong>e Grundlagen<br />

des Islam sein, sondern sie<br />

will das musl<strong>im</strong>ische Leben in<br />

der ganzen Welt jeden Tag neu<br />

reflektieren.<br />

Ihre selbsterwählte Mission<br />

ist es, eine einzigartige, weltumspannende<br />

Seite mit Beratungsservice<br />

zu werden, <strong>di</strong>e als<br />

feste Instanz bei allen Themen<br />

des Islam gilt. Sie möchte vor<br />

allem Glaubwür<strong>di</strong>gkeit für ihren<br />

Inhalt und Anerkennung für<br />

das Design bekommen. Ihr Ziel<br />

ist es dabei, für „das Gute <strong>im</strong><br />

Menschen“ zu arbeiten; genau<br />

wie der Islam es vorschreibe.<br />

Darüber hinaus macht sie es<br />

sich zur Aufgabe, Prinzipien<br />

wie Gerechtigkeit, Demokratie,<br />

Freiheit und Menschenrechte<br />

zu achten. Ihre Hauptauf gabe<br />

aller<strong>di</strong>ngs besteht darin, <strong>di</strong>e<br />

Ganzheit des Islams in all seinen<br />

Facetten zu präsentieren und<br />

darüber hinaus, das Vertrauen<br />

der Musl<strong>im</strong>e zu gewinnen und<br />

zu behalten.<br />

Hilfestellung bei<br />

Alltags fragen<br />

Zu <strong>di</strong>esem Zwecke widmen<br />

sich <strong>di</strong>e Macher der Seite in<br />

der arabischen Ausgabe vornehmlich<br />

der Beantwortung der<br />

Alltagsfragen von Musl<strong>im</strong>en.<br />

Experten beantworten jegliche<br />

Fragen, <strong>di</strong>e ein Musl<strong>im</strong> an <strong>di</strong>e<br />

Redaktion oder <strong>im</strong> Forum stellt.<br />

Die Themen reichen zwar meist<br />

von Arbeit und Familie bis hin<br />

zu Ungläubigen, aber allem voran<br />

werden <strong>di</strong>e meisten Fragen<br />

zu den Themen Liebe, Sex und<br />

Beziehung gestellt. Islamonline<br />

besteht darauf, dass es fast keine<br />

Zensur gibt, egal wie brisant <strong>di</strong>e<br />

Fragen sind. Die Homepage sieht<br />

sich als Aufklärung und Hilfestellung<br />

<strong>im</strong> Alltag, vornehmlich<br />

den jungen Lesern sollen Antworten<br />

auf <strong>di</strong>e für sie so wichtigen<br />

Fragen gegeben werden.<br />

Nur jene Fragen werden nicht<br />

veröffentlicht, bei denen der<br />

Hilfesuchende es nicht möchte<br />

oder <strong>di</strong>e Frage doch allzu bizarr<br />

erscheint.<br />

Kritik steht auf<br />

der Tagesordnung<br />

Bei aller Offenheit muss sich<br />

Islamonline auch eine Menge<br />

Kritik gefallen lassen. Oft wird<br />

gerügt, dass allzu offen mit


18 [dī.wān] 07.2007 GESELLSCHAFT<br />

GESELLSCHAFT<br />

07.2007 [dī.wān] 19<br />

Themen wie Sex, Liebe oder<br />

Ähnlichem umgegangen würde.<br />

Manche gehen sogar so weit zu<br />

sagen, dass <strong>di</strong>e Seite Pornografie<br />

fördere, da man in islamischen<br />

Gesellschaften nicht über solche<br />

Themen reden dürfe. Auch wenn<br />

das nach westlichen Stand ards<br />

nicht richtig nachvollziehbar<br />

ist, so ist doch klar, dass Islamonline<br />

viele Leser genau mit <strong>di</strong>eser<br />

Offenheit erreicht. Die Verantwortlichen<br />

wollen trotz<br />

der Kritik<br />

weitermachen.<br />

Das seien sie ihren<br />

Lesern schul<strong>di</strong>g. Und ihre offene<br />

Art gibt ihnen Recht, denn<br />

täglich haben sie nach eigenen<br />

Angaben zwischen 300.000 und<br />

600.000 Hits auf ihrer Internetseite.<br />

Die Themen lassen schon<br />

erahnen, wer <strong>di</strong>e hauptsächlichen<br />

Nutzer sind. Es gibt zwar<br />

keine genauen Zahlen, aber <strong>di</strong>e<br />

meisten scheinen Jugendliche<br />

zu sein, <strong>di</strong>e sich das Internet als<br />

Informationsquelle und Beratungsportal<br />

zu Nutze machen.<br />

Zwar strebt <strong>di</strong>e Redaktion ein<br />

ausgeglichenes Bild der Leser<br />

an, indem sie sagt, dass es eine<br />

Seite für alle Menschen sei, egal<br />

welcher Religion, welchen Geschlechts<br />

oder welcher Sprache,<br />

aber schon <strong>di</strong>e rege Nutzung der<br />

Foren und <strong>di</strong>e viel gestellten Fragen<br />

zu „eindeutigen“ Themen<br />

weisen auf eine Mehrheit der<br />

Jugendlichen hin. Genau <strong>di</strong>ese<br />

können durch das Internet<br />

Fragen stellen, <strong>di</strong>e sonst geächtet<br />

oder gar bestraft würden und<br />

so ihre Neugier befrie<strong>di</strong>gen.<br />

Klar kommt man schnell auf<br />

den Gedanken, dass <strong>di</strong>e Redaktion<br />

<strong>di</strong>eses Vertrauen missbrauchen<br />

könnte, um best<strong>im</strong>mte<br />

Dogmen unters Volk zu<br />

bringen, doch sie<br />

sagen, dagegen<br />

h ä t t e n sie Mechan<br />

i s m e n g e s c h a f f e n ,<br />

indem sie viele unabhängige Berater<br />

beschäftigten. Die Gruppe<br />

<strong>di</strong>eser Berater ist bunt gemischt,<br />

sie umfasst sowohl Politiker,<br />

Ökonomen, Theologen, Soziologen,<br />

als auch Techniker, Künstler<br />

und andere. Über <strong>di</strong>e vielschichtige<br />

Zusammensetzung der Berater<br />

hinaus stellt das Statut der<br />

Homepage klar, dass sie unabhängig<br />

sei und schon gar nicht<br />

für eine best<strong>im</strong>mte Gruppe<br />

sprechen wolle. Bleibt zu hoffen,<br />

dass <strong>di</strong>e Selbstregulierung wirklich<br />

klappt und eben nicht, wie<br />

so oft, mit Hilfe des Internets<br />

manipuliert wird.<br />

Kulturpara<strong>di</strong>es<br />

am Mittelmeer<br />

Das Jesuit Culture Centre in Alexandria bietet nicht nur hervorragende<br />

Kulturveranstaltungen an, sondern lädt durch Seminare und<br />

Workshops auch zum Mitmachen ein. Und durch das Zusammenwirken<br />

von Musl<strong>im</strong>en und Christen wird ganz nebenbei <strong>di</strong>e religiöse<br />

Toleranz gefördert<br />

von Nushin Atmaca<br />

Ägypten, Alexandria. Donnerstagabend,Wochenendbeginn.<br />

Mal wieder Zeit für ein<br />

bisschen Kultur… Im Gegensatz<br />

zu der von vielen Kairinern<br />

vertretenen Meinung, <strong>di</strong>e<br />

zweitgrößte Stadt des Landes<br />

hätte kulturell nur sehr wenig<br />

zu bieten, kommen interessierte<br />

Alexandriner öfters in Entscheidungsschwierigkeiten,<br />

welche<br />

Veranstaltung sie denn besuchen<br />

sollen. Die Auswahl ist nicht zu<br />

verachten: Bibliotheca Alexandrina,<br />

<strong>di</strong>e Oper, Alexandrian Creativity<br />

Centre, <strong>di</strong>e Kulturinstitute<br />

der verschiedenen Länder<br />

– sie alle bieten regelmäßig Lesungen,<br />

Filmvorführungen und<br />

Konzerte lokaler und nationaler<br />

wie auch internationaler Künstler<br />

an.<br />

Ein weiterer zu den interessantesten<br />

Adressen zählender<br />

Ort ist das Jesuit Cultural Centre<br />

(Markaz Al­Dschesuit Althaqafi),<br />

ein an <strong>di</strong>e Jesuitenkirche<br />

Alexandrias angegliedertes<br />

Kulturinstitut. Gegründet wurde<br />

der Jesuitenorden 1534 als<br />

katholischer Männerorden <strong>im</strong><br />

heutigen Deutschland, heute<br />

ist er auf der ganzen Welt vertreten.<br />

In Ägypten, wo der Prozentsatz<br />

der Christen 10­12%<br />

der Gesamtbevölkerung beträgt,<br />

sind Katholiken eine Minderheit<br />

der Minderheit, denn <strong>di</strong>e mei­<br />

sten ägyptischen Christen sind<br />

Kopten. Aber nicht nur sie besuchen<br />

das Jesuit Centre, sondern<br />

ebenso Musl<strong>im</strong>e. Sie alle sind<br />

<strong>di</strong>e Zielgruppe: Menschen, vor<br />

allem junge Leute, <strong>di</strong>e an Kultur<br />

und kulturellem Austausch<br />

interessiert sind. Denn das Jesuit<br />

Centre ist nicht nur ein Ort<br />

des Zuschauens, sondern lädt<br />

auch zum Stu<strong>di</strong>eren und eigener<br />

künstlerischer Aktivität ein.<br />

Die Idee zu <strong>di</strong>esem Zentrum<br />

hatte Frère Faiz, ein Jesuitenmönch,<br />

der <strong>im</strong> Oktober<br />

2005 verstarb. Zusammen<br />

mit vier jungen musl<strong>im</strong>ischen<br />

Alexandrinern begann er, seine<br />

Vision des Kulturzentrums zu<br />

verwirklichen. Grundsteinlegung<br />

war der <strong>im</strong> Jahre 1999 beginnende<br />

Umbau eines kleinen<br />

Parkhauses gegenüber der Jesuitenkirche<br />

in einen Konzert­ und<br />

Theatersaal, welcher mit seinem<br />

heutigen Namen Al­Garaj noch<br />

auf seine ursprüngliche Funktion<br />

hinweist. Al­Garaj bietet<br />

Platz für 160 sitzende und 50 stehende<br />

Zuschauer und oft genug<br />

ist „volles Haus“. Im Foyer des<br />

Saals befindet sich eine kleine<br />

Ausstellungshalle, in der Bilder,<br />

Zeichnungen und Installationen<br />

junger ägyptischer Künstler, vor<br />

allem aus Alexandria, gezeigt<br />

werden.<br />

Leitgedanke aller<br />

Veranstaltungen<br />

ist <strong>di</strong>e Betonung<br />

des Menschseins<br />

und der Gemeinsamkeiten<br />

Ermutigt durch den Erfolg<br />

der Musik­ und Theateraufführungen<br />

in Al­Garaj wurde<br />

das Kulturinstitut weiter ausgebaut:<br />

Heute umfasst es neben<br />

Theater übungsräumen und<br />

einem Filmstu<strong>di</strong>o ein Zentrum<br />

für <strong>di</strong>e Förderung künstlerischer<br />

Kreativität, das mit erfahrenen,<br />

professionellen Künstlern kooperiert,<br />

sowie ein Stu<strong>di</strong>en­ und<br />

Forschungszentrum und zwei<br />

Bibliotheken. Eine davon ist eine<br />

Leihbibliothek, <strong>di</strong>e ungefähr<br />

1000 Bücher in arabischer Sprache<br />

umfasst und geschichtliche<br />

und religiöse Themen genauso<br />

abdeckt wie literarische Werke.<br />

Die zweite Bibliothek des Centres<br />

ist <strong>di</strong>e wissenschaftliche<br />

Bibliothek, in der vor allem französischsprachige<br />

Bücher stehen<br />

und auch Internetarbeitsplätze<br />

vorhanden sind.<br />

Am Stu<strong>di</strong>enzentrum bieten<br />

auf ihrem Gebiet bekannte<br />

und renommierte Dozenten,<br />

oft Universitätsprofessoren, den<br />

Unterricht an. Die Themen sind<br />

vor allem gesellschaftswissen­


20 [dī.wān] 07.2007 GESELLSCHAFT<br />

GESELLSCHAFT<br />

07.2007 [dī.wān] 21<br />

schaftlich ausgerichtet: Psychologie,<br />

Demokratieerziehung,<br />

Menschenrechte, Geschlechterverhältnis,<br />

und beziehen sich<br />

auf den Mittelmeerraum. Ein<br />

Ziel <strong>di</strong>eser Einrichtung ist <strong>di</strong>e<br />

Betonung der Menschlichkeit<br />

und des Menschseins, welche<br />

alle Menschen vereinen. Nicht<br />

<strong>di</strong>e Unterschiede sollen herausgestellt<br />

werden, sondern <strong>di</strong>e<br />

Gemeinsamkeiten.<br />

Eine entspannte<br />

und tolerante<br />

Atmosphäre<br />

zeichnet das<br />

Jesuit Centre aus<br />

Diesem hehren Ideal hat sich<br />

auch das Kulturprogramm verschrieben.<br />

Die Grun<strong>di</strong>dee ist,<br />

eine Bewegung der Kunst und<br />

Kurzinfo Jesuit Cultural Centre Alexandria<br />

Adresse<br />

298 Port Said Street (Scharia Bur Said)<br />

Kleopatra, Alexandria<br />

Telefon<br />

00 20 -3-5 42 30 03<br />

Kultur zu schaffen, <strong>di</strong>e sich aus<br />

vielen Quellen speist, aus vielen<br />

verschiedenen Kunstarten auf<br />

unterschiedlichen Niveaus. Erreicht<br />

werden soll eine Akkumulation<br />

verschiedener Kunstarten,<br />

<strong>di</strong>e den Menschen vollstän<strong>di</strong>g<br />

und mit all seinen Sinnen (Augen,<br />

Ohren, Nase, Vernunft und<br />

Emotion) anspricht, mit dem<br />

Ziel, kulturelle und psychische<br />

Barrieren zwischen den Menschen<br />

– sowohl zwischen <strong>Orient</strong><br />

und Okzident als auch in Ägypten<br />

selbst – zum Schmelzen zu<br />

bringen.<br />

Neben dem künstlerischen<br />

fördert das Institut auch den<br />

religiösen Dialog und ein friedliches<br />

Zusammenleben. Von<br />

Anfang an standen <strong>di</strong>e Türen<br />

allen Konfessionen offen, <strong>di</strong>e<br />

das Angebot freu<strong>di</strong>g annahmen.<br />

Internet<br />

www.ceremedjesuits.com<br />

jcc@ceremedjesuits.com<br />

Regelmäßiges Programm<br />

Freitagabend Konzert oder Theater<br />

Samstagabend Filmklub<br />

So befinden sich unter den circa<br />

zehn Festangestellten des<br />

Centres auch Musl<strong>im</strong>e, <strong>im</strong> Ramadan<br />

wird ein speziell auf<br />

<strong>di</strong>esen Monat zugeschnittenes<br />

Programm angeboten und es<br />

kann durchaus vorkommen,<br />

dass Musl<strong>im</strong>e gemeinsam mit<br />

Christen in einer kirchlichen<br />

Umgebung ihr Fasten brechen.<br />

Diese – nicht nur religiöse<br />

– Toleranz und Gelassenheit in<br />

einem Land, dass sich mehr und<br />

mehr über Unterschiede als über<br />

Gemeinsamkeiten definiert, ist<br />

einer der vielen Punkte, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e<br />

Atmosphäre <strong>im</strong> Jesuit Centre<br />

prägen und den Besuch einer<br />

Veranstaltung in jedem Falle<br />

lohnenswert machen.<br />

Seine Hoheit rettet Kairos Altstadt<br />

Seine Hoheit Kar<strong>im</strong> Aga Khan IV. ist ein internationaler Businessgigant,<br />

Chef der größten Entwicklungshilfeorganisation der Welt und zugleich<br />

geistlicher Führer der schiitischen Nizari Ismailiten. In Kairo kämpft er<br />

nun gegen den fortwährenden Verfall der historischen Altstadt<br />

von Jannis Hagmann<br />

Der Duft grüner Wiesen,<br />

das Plätschern fließenden Wassers<br />

und eine einzigartige Sicht<br />

über <strong>di</strong>e graubraunen Häusermeere,<br />

<strong>di</strong>e – brutal und chaotisch<br />

– einem Geschwür gleich<br />

das außergewöhnliche Stadtbild<br />

Kairos prägen. Der Azhar­<br />

Park ist ein Zufluchtsort für <strong>di</strong>e<br />

naturentwöhnte Bevölkerung<br />

der ägyptischen Hauptstadt<br />

und einer der wenigen grünen<br />

Flecken <strong>di</strong>eser Megametropole,<br />

in der <strong>di</strong>e durchschnittliche<br />

Prokopf­Grünfläche der Größe<br />

eines Fußstapfens entspricht.<br />

„Kein Open-Air<br />

Museum“<br />

„Wir genießen <strong>di</strong>e Nähe zum<br />

Park, aber <strong>di</strong>e Probleme unseres<br />

Viertels löst er nicht“, klagt ein<br />

Bewohner des angrenzenden<br />

Stadtteils Darb Al­Ahmar. Enge<br />

Gassen, baufällige Wohnhäuser<br />

und zahlreiche Moscheen best<strong>im</strong>men<br />

das wirre Straßenbild.<br />

Das von den ägyptischen Behörden<br />

lange Zeit vernachlässigte<br />

Darb Al­Ahmar zählt zu den<br />

ärmsten Gegenden Kairos, sein<br />

Reichtum an Baudenkmälern<br />

hingegen macht es zu einem der<br />

bedeutendsten Altstadtviertel<br />

weltweit – eine gefährliche<br />

Kombination, <strong>di</strong>e dem Aga Khan<br />

Development Network (AKDN)<br />

Grund genug ist für ein umfangreiches<br />

Entwicklungsprojekt,<br />

an dessen Ende <strong>di</strong>e Rettung<br />

bedeutender Monumente und<br />

eine gesunde sozioökonomische<br />

Entwicklung des Viertels stehen.<br />

Antriebsmotor ist der <strong>di</strong>rekt<br />

angrenzende, 2005 eröffnete<br />

Azhar­Park. „Wir wollen kein<br />

Open­Air Museum schaffen“, erklärt<br />

Seif Al­Rashi<strong>di</strong> von der Aga<br />

Khan­Stiftung. „Die Community<br />

und <strong>di</strong>e Monumente sind eine<br />

untrennbare Einheit.“ Ziel ist es,<br />

durch Zusammenarbeit mit den<br />

Anwohnern das Bewusstsein<br />

für den historischen Wert der<br />

Monumente zu schärfen und<br />

ihr Verantwortungsgefühl für<br />

das eigene Viertel zu steigern.<br />

Workshops, Aus­ und Weiterbildungsmaßnahmen<br />

sowie Mikrokre<strong>di</strong>te<br />

für ansässige Kleinunternehmer<br />

sollen schließlich<br />

eine eigene wirtschaftliche Dynamik<br />

in Gang setzen.<br />

Dem gesamten Projekt geht<br />

eine langjährige Planung seitens<br />

der Aga Khan­Gruppe voraus,<br />

<strong>di</strong>e sich Restaurierungs­ und<br />

Entwicklungsprojekten in Städten<br />

rund um <strong>di</strong>e islamische<br />

Welt verschrieben hat. Initiator<br />

ist Seine Hoheit Kar<strong>im</strong> Aga<br />

Khan IV., 49ster Imam der etwa<br />

17 Millionen Gläubige umfassenden<br />

Gemeinschaft der Nizari<br />

Ismailiten, einer Abspaltung<br />

der heute <strong>im</strong> Iran und anderen<br />

schiitisch dominierten Ländern<br />

verbreiteten Richtung der Zwölfer­Schiiten.<br />

Sticht ins Auge und symbolisiert den Wandel:<br />

Restaurierungsarbeiten an der Emir Khair Bey<br />

Moschee in Darb Al-Ahmar<br />

Imam,<br />

Kosmopolit<br />

und gerissener<br />

Geschäftslöwe<br />

Die Mehrheit der Nizaris,<br />

deren Mitglieder zu großen Teilen<br />

in In<strong>di</strong>en und Pakistan, aber<br />

auch in Afrika, Europa und den<br />

USA verstreut leben, erkennt<br />

heute Kar<strong>im</strong> Aga Khan IV. als<br />

spirituelles Oberhaupt an. Geboren<br />

1936 in Genf, wuchs er in<br />

der Schweiz, Südafrika, Kenia<br />

und England auf und stu<strong>di</strong>erte<br />

islamische Geschichte und<br />

Wirtschaftswissenschaften in<br />

Cambridge und Harvard. 1957,<br />

noch vor Abschluss seines Stu­


22 [dī.wān] 07.2007 GESELLSCHAFT<br />

GESELLSCHAFT<br />

07.2007 [dī.wān] 23<br />

<strong>di</strong>ums, wurde dem 21jährigen<br />

Studenten das Imamat übertragen.<br />

Schon sein Großvater hatte<br />

zu Beginn des 20. Jahrhunderts<br />

begonnen, <strong>di</strong>e Abgaben der<br />

Gläubigen, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Nizaris in<br />

Form des zehnten Teils ihrer Einkommen<br />

an <strong>di</strong>e Gemeinschaft<br />

zahlen (Zakat), geschickt in Gewinn<br />

bringende Unternehmen,<br />

Banken und Versicherungen zu<br />

investieren und ein Vermögen<br />

anzuhäufen, das den Aga Khan<br />

heute zu einem der reichsten<br />

Menschen der Welt macht. Von<br />

einem Schloss <strong>im</strong> französischen<br />

Chantilly und seiner Genfer<br />

Residenz aus leitet Kar<strong>im</strong> Aga<br />

Khan ein Geschäfts<strong>im</strong>perium,<br />

zu dem Hotelketten, Fluglinien,<br />

Bankkonzerne und Me<strong>di</strong>enunternehmen<br />

zählen.<br />

Entwicklungshilfe<br />

als religiöses<br />

Lebenswerk<br />

Sein Lebenswerk ist jedoch<br />

das AKDN, <strong>di</strong>e größte private<br />

Entwicklungshilfeorganisation<br />

der Welt. Das Kairoer Projekt<br />

ist nur eines von vielen – in<br />

etwa 20 Ländern ist das Netzwerk<br />

derzeit aktiv, unterhält<br />

je eine Universität in Pakistan<br />

und Zentralasien und arbeitet<br />

mit zahlreichen internationalen<br />

Partnern und Geldgebern eng<br />

zusammen.<br />

Obgleich Kar<strong>im</strong> Aga Khan<br />

das AKDN als höchst religiöse<br />

Aufgabe versteht, arbeitet es<br />

nach eigenen Angaben unabhängig<br />

von Glaube und Herkunft.<br />

„Im Herzen der sozialen<br />

Vision des Islams steht <strong>di</strong>e Ethik<br />

der Fürsorge für <strong>di</strong>e Schwachen“,<br />

verkündet <strong>di</strong>e Website. Das<br />

Mandat des AKDN sei eine<br />

Verbesserung der Lebensbe<strong>di</strong>ngungen<br />

und <strong>di</strong>e Realisierung<br />

des sozialen Bewusstseins des<br />

Islams.<br />

Der Aga Khan<br />

schenkt einen<br />

Park<br />

Dennoch scheint <strong>di</strong>e Verbindung<br />

zwischen dem Aga Khan<br />

und dem Kairoer Projekt von<br />

besonderer Natur zu sein. „Von<br />

Seiner Hoheit dem Aga Khan als<br />

Geschenk an <strong>di</strong>e Bewohner Kairos,<br />

in Gedenken an <strong>di</strong>e Stadtgründung<br />

seiner fat<strong>im</strong>i<strong>di</strong>schen<br />

Vorfahren…“ gibt eine Tafel am<br />

Eingang des Al­Azhar Parks<br />

stolz Kunde. In der Tat war es<br />

<strong>di</strong>e ismailitische Herrscherdy­<br />

nastie der Fat<strong>im</strong>iden, <strong>di</strong>e Kairo<br />

<strong>im</strong> 10. Jahrhundert gründete<br />

und es zum Mittelpunkt ihres<br />

riesigen Reiches machte, das für<br />

<strong>di</strong>e folgenden zwei Jahrhunderte<br />

den gesamten Mittelmeerraum<br />

kontrollieren sollte. In <strong>di</strong>ese Zeit<br />

schiitischer Herrschaft fällt auch<br />

der Streit um <strong>di</strong>e Führungsrolle,<br />

infolgedessen <strong>di</strong>e Nizari Ismailiten<br />

dem Imam­Kalifen in Kairo<br />

<strong>di</strong>e Anerkennung verweigerten<br />

und bis auf den heutigen Tag<br />

ihren eigenen Imamen folgen.<br />

Ob <strong>di</strong>e religiöse Komponente<br />

unter den hauptsächlich<br />

sunnitischen Musl<strong>im</strong>en des<br />

Stadtteils Darb Al­Ahmar eine<br />

Rolle spielt? „Vereinzelt kommen<br />

Zweifel auf. Natürlich gibt<br />

es Geschichten, der Aga Khan<br />

wolle den schiitischen Islam wieder<br />

in der Stadt verbreiten, aber<br />

das sind Einzelfälle. Die meisten<br />

Anwohner sind überzeugt<br />

von dem Projekt“, erklärt Seif<br />

Al­Rashi<strong>di</strong> dem [dī.wān]. Obgleich<br />

schon 60 Wohnhäuser <strong>im</strong><br />

Rahmen des Projektes renoviert<br />

worden sind, stechen – abgesehen<br />

von der alles überragenden<br />

Parkanlage – insbesondere <strong>di</strong>e<br />

restaurierten Moscheen hervor,<br />

glänzende Fremdkörper zwischen<br />

den baufälligen Häusern<br />

der angrenzenden Straßenzüge.<br />

Ein altes Schulgebäude wurde<br />

in ein modern ausgestattetes<br />

Kulturzentrum umgebaut, das<br />

Computerkursen, Kunstworkshops<br />

und einer Bibliothek Platz<br />

bietet.<br />

Ungewisse<br />

Zukunft<br />

Noch ist offen, wie sich das<br />

Viertel nach dem Rückzug des<br />

AKDN entwickeln wird, und ob<br />

eine erhöhte Lebensqualität Fuß<br />

fassen kann oder ob eine Veränderung<br />

der Sozialstruktur stattfinden<br />

wird, <strong>di</strong>e sich <strong>im</strong> Zuzug<br />

höherer Einkommensschichten<br />

und der Aus<strong>wan</strong>derung altein­<br />

gesessener Familien niederschlagen<br />

würde. „Die Bewohner<br />

haben gemerkt, dass Veränderung<br />

möglich ist“, meint Seif Al­<br />

Rashi<strong>di</strong>. „Und das ist ein Riesenerfolg.“<br />

Doch noch ist ein langer<br />

Weg zu gehen. Weitere 160<br />

Häuser sind zu renovieren und<br />

<strong>di</strong>e erfolgreiche Übergabe des<br />

Parkmanagements an <strong>di</strong>e ägyptische<br />

Regierung ist zu meistern.<br />

Ob der historische Kern <strong>di</strong>eser<br />

geschichtsträchtigen Stadt gerettet<br />

werden kann, wird sich<br />

Die Nizari Ismailyya<br />

zeigen, wenn <strong>di</strong>e Mittel der Aga<br />

Khan­Stiftung irgend<strong>wan</strong>n eingestellt<br />

werden und sich sowohl<br />

der Park als auch <strong>di</strong>e weitere<br />

Entwicklung des Darb Al­Ahmar<br />

selbst tragen müssen.<br />

Mit dem Tod des Propheten Muhammad 632 n. Chr. wurden seine Anhänger vor eine<br />

schwierige Frage gestellt. Wer ist der legit<strong>im</strong>e Nachfolger des Propheten, der <strong>di</strong>e<br />

Gemeinschaft der Gläubigen in Zukunft führen wird? – ein Problem das sich in der<br />

weiteren Geschichte des Islams noch häufig stellen sollte. Eine Gruppe der Musl<strong>im</strong>e<br />

– heute als Schiiten bekannt – ergriff für Muhammads Cousin und Schwiegersohn Ali<br />

Partei und ließ sich in der Folge von Imamen führen, <strong>di</strong>e Nachkommen Alis und der<br />

Prophetentochter Fat<strong>im</strong>a waren.<br />

Als jedoch Isma’il Ibn Dschafar -– der ältere Sohn des fünften Imams – vor seinem Vater<br />

starb, setzten <strong>di</strong>e einen <strong>di</strong>e Linie mit dem jüngeren Sohn fort, während <strong>di</strong>e anderen den<br />

verstorbenen Isma’il und seinen angeblichen Sohn als rechtmäßige Nachfolger akzeptierten.<br />

Ismail war es, der den Ismailiten seinen Namen verlieh.<br />

Im Jahr 969 gelang es der ismailitischen Fat<strong>im</strong>idendynastie, Ägypten einzunehmen.<br />

Das neu gegründete Kairo wurde Hauptstadt und Mittelpunkt des zwei Jahrhunderte<br />

währenden Reiches. Doch spaltete ein Bruderstreit 1094 <strong>di</strong>e Gemeinschaft ein weiteres<br />

Mal, als der übermächtige Wesir ddes Fat<strong>im</strong>idenkalifens Al-Mustansir dem jüngeren<br />

Sohn Al-Musta‘li auf den Thron verhalf. Sein älterer Bruder Nizar beanspruchte dennoch<br />

<strong>di</strong>e Führung des Reiches, wurde eingesperrt und starb <strong>im</strong> Gefängnis, was seine<br />

Anhänger nicht davon abhielt, <strong>di</strong>e Linie der Imame über seinen Enkel fortzusetzen. Eine<br />

Spaltung der Ismailyya in zwei große Zweige war vollzogen: Die Nizari Ismailiten und<br />

<strong>di</strong>e Musta‘li Ismailiten.<br />

Unterstützung fanden <strong>di</strong>e Nizaris unter den Ismailiten in der Levante und <strong>im</strong> Gebiet<br />

des heutigen Iran, doch eine Ausdehnung des Herrschaftsbereiches wie zu Zeiten der<br />

Fat<strong>im</strong>iden erreichten sie nicht noch einmal.<br />

Nach weiteren Spaltungen der Gemeinschaft erkennt heute <strong>di</strong>e Mehrheit der Nizari Ismailiten<br />

Kar<strong>im</strong> Aga Khan IV. als 49. rechtmäßigen Imam an. Wie alle seine Vorgänger<br />

beansprucht er für sich <strong>di</strong>e <strong>di</strong>rekte Abstammung vom Propheten Muhammad.<br />

Al-Azhar Park und Darb Al-Ahmar: 40 Millionen Euro wird das<br />

Revitalisierungsprojekt Ende des Jahres gekostet haben


24 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />

SPECIAL<br />

07.2007 [dī.wān] 25<br />

Gesunder Musl<strong>im</strong> in gesundem Körper<br />

Zu Zeiten des Propheten waren Reiten und Jagen <strong>di</strong>e Trendsportarten.<br />

Heute erobern Fitnesssu<strong>di</strong>os und Martial Arts <strong>di</strong>e musl<strong>im</strong>ischen Herzen<br />

Akın-H. Doğan<br />

Wer sich heutzutage <strong>im</strong> Internet<br />

durch <strong>di</strong>e islamischen<br />

Websites klickt, wird <strong>im</strong>mer<br />

wieder auf Fragen von Usern<br />

stoßen, <strong>di</strong>e sich mit sportlichen<br />

Betätigungen und deren rechtlichen<br />

Status <strong>im</strong> Islam beschäftigen.<br />

<strong>Sport</strong>arten unterschiedlichsten<br />

regionalen Ursprungs<br />

verbreiten sich durch <strong>di</strong>e Globalisierung,<br />

den Tourismus,<br />

<strong>di</strong>e Me<strong>di</strong>en und auf Profit basierenden<br />

Organisationen wie<br />

Fitnessstu<strong>di</strong>os auch in der islamischen<br />

Welt und werfen viele<br />

Fragen auf. „Darf ich als Frau<br />

Fahrrad fahren?“, „Ist <strong>di</strong>e Ausübung<br />

von Kung Fu gegen unsere<br />

Religion?“, „Komme ich in<br />

den H<strong>im</strong>mel, wenn ich mir be<strong>im</strong><br />

Schulsport das Genick breche?“,<br />

„Wie steht der Islam zum Skifahren?“,<br />

„Wie wichtig sollte <strong>Sport</strong><br />

<strong>im</strong> Leben eines Musl<strong>im</strong>s sein?“<br />

Fairness,<br />

Leistung,<br />

Schweiß,<br />

Geselligkeit,<br />

Geld?<br />

Die Assoziationen und Definitionsmöglichkeiten<br />

von <strong>Sport</strong><br />

reichen vom Hundertsten ins<br />

Tausendste. Zum Beispiel mögen<br />

einige Gesellschaften Jagen<br />

zu <strong>Sport</strong> zählen, während<br />

es für andere eine Art Ernährungsbeschaffung<br />

ist. Schach<br />

würde herausfallen, wenn nur<br />

<strong>di</strong>e motorischen Aktivitäten <strong>im</strong><br />

Vordergrund stünden. Die Definition<br />

von <strong>Sport</strong> kann je nach<br />

Ansicht der Kulturen, Nationen<br />

und Religionen sehr <strong>di</strong>vergierend<br />

sein. Es ist ein Hobby, eine angenehme<br />

Freizeitbeschäftigung,<br />

eine organisierte athletische<br />

Aktivität entweder in Teams<br />

oder einzeln, <strong>di</strong>e als Wettkämpfe<br />

physische Stärke und Fähigkeiten<br />

erfordern usw.<br />

So spaltet sich der Begriff<br />

in weitere Unterkategorien<br />

auf: Mannschaftssport, In<strong>di</strong>vidualsport,<br />

Breitensport, Leistungssport,<br />

Extremsport und<br />

Fun­<strong>Sport</strong>, um nur <strong>di</strong>e grobe<br />

Gliederung wiederzugeben. Die<br />

Unterteilung der <strong>Sport</strong>arten<br />

wiederum scheint unendlich<br />

zu sein: Angefangen von Abenteuersport<br />

gibt es eine unübersichtliche<br />

Bandbreite von<br />

Luft­, Wettkampf­, Ausdauer­,<br />

Unterhaltungs­ und Kraftsport,<br />

Winter­ und Wassersportarten,<br />

Gymnastik, Radfahren und viele<br />

weitere, einschließlich <strong>Sport</strong>arten<br />

mit Tieren wie Elefantenpolo,<br />

<strong>Sport</strong>fischen oder Hahnenkämpfe.<br />

In der frühislamischen Zeit<br />

waren sportliche Betätigungen<br />

Teil der militärischen Ausbildung.<br />

In einem Ha<strong>di</strong>th wird<br />

überliefert, dass der Prophet<br />

gesagt hat: „Lehrt euren Kindern<br />

Schw<strong>im</strong>men, Bogenschiessen<br />

und Reiten.“ In der vorislamischen<br />

Zeit waren Pferde­ und<br />

Kamelrennen, Falkenjagd und<br />

Ringen ebenfalls verbreitet und<br />

freuten sich auch nach der Offenbarung<br />

des Koran großer<br />

Beliebtheit. Bei der Begründung<br />

für <strong>di</strong>e Erlaubnis von <strong>Sport</strong>, arabisch<br />

riyadha, sind sich <strong>di</strong>e Gelehrten<br />

mehr oder weniger einig:<br />

Die Kräftigung des Körpers,<br />

um den Pflichten eines Musl<strong>im</strong>s<br />

nachkommen zu können, ist <strong>di</strong>e<br />

Basis der Argumentation: nach<br />

dem Motto: Gesunder Musl<strong>im</strong><br />

in gesundem Körper. Hingegen<br />

<strong>Sport</strong> <strong>im</strong> Sinne der Selbstüberhöhung,<br />

Stolz und Eitelkeit,<br />

zum Beispiel durch den Besitz<br />

eines schönen Körpers oder<br />

schöner Muskeln, ist verpönt.<br />

Weitere Regeln sind <strong>di</strong>e strikte<br />

Geschlechtertrennung, das<br />

Wett­ und Glücksspielverbot,<br />

<strong>di</strong>e Einhaltung der Kleidungsvorschriften,<br />

<strong>di</strong>e Einhaltung<br />

der islamischen Pflichten wie<br />

das regelmäßige Gebet und <strong>di</strong>e<br />

körperliche Unversehrtheit der<br />

beteiligten Personen.<br />

Islamischer<br />

<strong>Sport</strong>?<br />

Diese Regeln werden <strong>im</strong>mer<br />

wieder ergänzt wenn es darum<br />

geht, eine neue <strong>Sport</strong>art nach<br />

islamischen Gesichtspunkten zu<br />

beurteilen. Die Verbreitung vieler<br />

westlicher <strong>Sport</strong>arten durch<br />

den Kolonialismus etablierte<br />

Kricket, Hockey und Polo in<br />

Afghanistan, Bangladesch,<br />

In<strong>di</strong>en und Pakistan. Fußball<br />

zählt in den meisten islamisch<br />

geprägten Ländern, von Marokko<br />

bis Indonesien zum Nationalsport.<br />

Bei den Turkvölkern in<br />

Zentralasien sind neben Fußball<br />

am meisten Ringen in vielerlei<br />

Variationen, Pferderennen und<br />

Boxen verbreitet.<br />

Auch Kampfsportarten sind<br />

auf dem Vormarsch: Nachahmer<br />

von Jet Li, Bruce Lee und<br />

anderen Martial Arts­Größen,<br />

bekannt aus der Filmindustrie,<br />

bewog eine große Flut von Eiferern<br />

in den letzten 30 Jahren,<br />

sich Jiu­Jitsu, Karate, Tae Kwon<br />

Do, Ken Do und anderen fernöstlichen<br />

Kampfsportarten zuzuwenden.<br />

Neben der<br />

westlich geprägten<br />

Aerobicwelle in den<br />

70ern und 80ern<br />

hat auch Yoga Eingang<br />

in <strong>di</strong>e islamische W e l t<br />

gefunden. Diese <strong>Sport</strong>arten haben<br />

ihren Ursprung meist in<br />

polytheistischen Religionen wie<br />

Buddhismus oder Hinduismus<br />

und sind sehr mit deren Lehren<br />

verflochten. Der reli giöse Beigeschmack<br />

und <strong>di</strong>e spirituelle<br />

Beschaffenheit der <strong>Sport</strong>art sollen<br />

nur auf ihre rein physische<br />

Ebene reduziert werden, um<br />

islamisch korrekt angenommen<br />

werden zu können. Sonst käme<br />

<strong>di</strong>e Ausübung, nach Ansicht einiger<br />

Islamgelehrter, dem Polytheismus<br />

gleich.<br />

Viele musl<strong>im</strong>ische <strong>Sport</strong>ler<br />

sind weltweit für verschiedene<br />

Nationalmannschaften aktiv.<br />

Bestes Beispiel sind <strong>di</strong>e vielen<br />

musl<strong>im</strong>ischen Boxer oder <strong>di</strong>e<br />

Spieler der Basketballliga in den<br />

USA (NBA). An vielen internationalen<br />

<strong>Sport</strong>wettbewerben, wie<br />

besipielsweise den Olympischen<br />

Spielen, den Asian Games,<br />

nehmen islamisch geprägte<br />

Länder teil. Mit den Pan Arab<br />

Games und den Islamic Solidarity<br />

Games schaffen sie sich<br />

jedoch auch ihre eigene Arena.<br />

Die Grenzen zwischen „islamischem“,<br />

„nationalem“ und<br />

„globalem“ <strong>Sport</strong> verschw<strong>im</strong>men<br />

zusehends. Wenn unter<br />

den islamischen <strong>Sport</strong>arten nur<br />

<strong>di</strong>ejenigen gezählt würden, <strong>di</strong>e<br />

zu Zeiten des Propheten auf<br />

der arabischen Halbinsel betrieben<br />

wurden, dann würde in<br />

Malaysia und Indonesien keine<br />

islamische <strong>Sport</strong>art ausgeübt.<br />

Es gibt nicht <strong>di</strong>e „rein islamischen<br />

<strong>Sport</strong>arten“, sondern<br />

nur solche, <strong>di</strong>e nach islamischem<br />

Verständnis ausgeübt<br />

werden. Oder wie viele<br />

Musl<strong>im</strong>e auf der Arabischen<br />

Halbinsel wis sen, was<br />

Kabba<strong>di</strong>, <strong>di</strong>e Nationalsportart<br />

von Bangladesch,<br />

ist?<br />

Der türkische Premierminister<br />

Erdoǧan be<strong>im</strong> Kicken


26 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />

SPECIAL<br />

07.2007 [dī.wān] 27<br />

Das Leder rollt durch Teehäuser<br />

und über den Bildschirm<br />

Fußball ist in Ägypten der beliebteste <strong>Sport</strong>. Das Männerteam von<br />

Al-Ahly eilt in den einhe<strong>im</strong>ischen und afrikanischen Meisterschaften<br />

von einem Sieg zum nächsten. Von der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen<br />

entwickelt sich seit einigen Jahren auch der Frauenfußball<br />

am Nil<br />

von Philipp Dehne<br />

Freude bei den Spielerinnen von Muntakhab Al Qahera nach einem Tor<br />

<strong>Sport</strong> macht beweglich und<br />

ist bewegend, manchmal gar<br />

bewegender als der Betrachter<br />

auf den ersten Blick glauben<br />

möchte. Nachdem Mahmud<br />

Abbas am Samstag, dem 16.<br />

Dezember 2006, vorgezogene<br />

Neuwahlen in den Palästi nensergebieten<br />

angekün<strong>di</strong>gt hatte und<br />

sich langsam <strong>di</strong>e Frage nach<br />

einem Bürgerkrieg stellte, fand<br />

sich am Montag auf der Titelseite<br />

der staatlichen ägyptischen<br />

Wochenzeitung al­Ahram der<br />

Fußballclub Al­Ahly wieder.<br />

Ein knapper Artikel mit großem<br />

Bild, beide eingerahmt in einem<br />

roten Kasten, berichtete über<br />

den Erfolg der Mannschaft bei<br />

der FIFA Klub­WM in Japan. Al­<br />

Ahly, erfolgreichster ägyptischer<br />

Fußballverein aller Zeiten,<br />

und <strong>im</strong> Jahr 2000 zu Afrikas<br />

Mannschaft des Jahrhunderts<br />

gewählt, hatte be<strong>im</strong> Aufeinandertreffen<br />

der besten Klubs aus<br />

den verschiedenen Kontinenten<br />

den dritten Platz hinter Internacional<br />

aus Brasilien und dem FC<br />

Barcelona belegt. Nachrichten<br />

aus Ramallah finden sich weiter<br />

<strong>im</strong> Inneren der Zeitung, der<br />

Fußball vorn, so ist es in Ägypten<br />

wie <strong>im</strong> Nahen Westen.<br />

Hebt sich der Blick des<br />

Lesers aus der Zeitung und<br />

schwenkt ins öffentliche Leben<br />

hinüber, ist auch hier das Geschehen<br />

rund ums Leder nicht<br />

zu übersehen. Der durch Kairos<br />

Straßen Laufende weiß: Wenn<br />

das dauernde Gehupe der unzähligen<br />

Autos mit einem Mal<br />

über das gewöhnliche Maß ansteigt,<br />

handelt es sich entweder<br />

um eine Hochzeit oder Al­Ahly,<br />

<strong>di</strong>e gerade wieder einen Sieg<br />

eingefahren haben. Und führen<br />

<strong>di</strong>e Schritte an einem der zahlreichen<br />

Ahawi, den tra<strong>di</strong>tionellen<br />

Teehäusern, vorbei, sieht<br />

das Auge dort abends regelmäßig<br />

Männer sitzen, <strong>di</strong>e bei Tee,<br />

Kaffee und Wasserpfeife auf einen<br />

kleinen Bildschirm schau­<br />

en, auf dem grüner Rasen, kleine<br />

Männchen und ein weißer, sich<br />

schnell bewegender Punkt zu<br />

sehen sind.<br />

Abwechslung von der Fußballunterhaltung<br />

<strong>im</strong> Fernsehen<br />

bietet oftmals das Wrestling,<br />

<strong>di</strong>e <strong>Sport</strong>art, bei der ausgewachsene,<br />

muskelbepackte Männer,<br />

<strong>di</strong>e in einer Art Strampelanzug<br />

stecken, so tun, als ob sie sich<br />

gegenseitig verprügeln. Dieses<br />

Bild zwischen Teehauswirklichkeit<br />

und Fernsehgeschehen,<br />

das dem Betrachter bereits ein<br />

amüsiertes Lächeln oder Stirnrunzeln<br />

ins Gesicht treibt, wird<br />

noch skurriler, wenn <strong>di</strong>e vor<br />

ägyptischem Publikum über<br />

den Bildschirm fl<strong>im</strong>mernden<br />

Wrestler sich gerade zur Truppenerheiterung<br />

amerikanischer<br />

Soldaten <strong>im</strong> Irak befinden.<br />

Doch zurück von <strong>di</strong>eser<br />

männlichen Publikumsunterhaltung<br />

zum männlichen<br />

Fußball. Oder ist Fußball in<br />

Ägypten auch bei den Frauen<br />

populär? Die Ägypter sind da<br />

unterschiedlicher Meinung.<br />

Manche haben noch nie etwas<br />

davon gehört, viele wissen, dass<br />

es ägyptischen Damenfußball<br />

gibt, gesehen haben ein Spiel jedoch<br />

<strong>di</strong>e Wenigsten.<br />

Die Frauenliga<br />

erntet Erfolg und<br />

Kritik<br />

Es sind ungefähr 600 Spielerinnen,<br />

<strong>di</strong>e in der ägyptischen<br />

Frauenfußballliga regelmäßig<br />

kicken. Nach Schätzungen spielen<br />

insgesamt etwa 2500 Ägypterinnen<br />

in 20 Vereinen, sei<br />

es zum Spaß oder in der Liga.<br />

Ihren offiziellen Anfang genommen<br />

hat <strong>di</strong>e Entwicklung des<br />

ägyptischen Frauenfußballs in<br />

den frühen neunziger Jahren.<br />

Sahar al­Hawari, Tochter eines<br />

bekannten ägyptischen Schieds­<br />

richters, begann durch Ägypten<br />

zu reisen, um Spielerinnen für<br />

ein Team zu suchen. Danach<br />

hatten sich 25 Mädchen und<br />

junge Frauen zwischen 15 und<br />

22 Jahren zusammengefunden,<br />

<strong>di</strong>e für fünf Jahre mit Sahar al­<br />

Hawari lebten und trainierten.<br />

1996 gründete al­Hawari <strong>di</strong>e<br />

Frauenfußball­Kommission<br />

be<strong>im</strong> ägyptischen Fußballverband<br />

EFA (Egyptian Football<br />

Association). Seitdem setzt sie<br />

sich auch in anderen arabischen<br />

Ländern wie Bahrain, den Vereinigten<br />

Arabischen Emiraten<br />

und Kuwait für <strong>di</strong>e Förderung<br />

ihrer Disziplin ein. Heute ist <strong>di</strong>e<br />

Vierzigjährige unter anderem<br />

Besitzerin eines Klubs, Mitglied<br />

des ägyptischen und des afrikanischenFrauenfußball­Kommitees<br />

sowie der FIFA.<br />

Neben dem Erfolg in den<br />

letzten Jahren erfuhr der Frauenfußball<br />

viel Kritik von unterschiedlichen<br />

Seiten. Manche,<br />

vor allem konservative und religiöse<br />

Gruppen, betrachten Fußball<br />

spielende Frauen als nicht<br />

mit der islamischen Lehre vereinbar.<br />

Andere Meinungen besagen,<br />

dass Fußball generell ein<br />

Männer<strong>di</strong>ng und deshalb nichts<br />

für Frauen sei. Auch <strong>di</strong>e Familien<br />

der Spielerinnen hatten und<br />

haben so manche Bedenken.<br />

Mag <strong>di</strong>ese Haltung zum Frauenfußball<br />

auf den ersten Blick<br />

fremd erscheinen, ist sie doch<br />

räumlich näher, als man denkt,<br />

nur zeitlich etwas weiter entfernt.<br />

Als der Deutsche Fußballbund<br />

(DFB) 1955 <strong>di</strong>e offizielle<br />

Einführung des Damenfußballs<br />

<strong>di</strong>skutierte, lehnte er sie mit der<br />

Begründung ab, dass <strong>di</strong>e Annahme<br />

des Balls mit der Brust<br />

Brustkrebs verursachen würde,<br />

Frauen kon<strong>di</strong>tionell nicht in der<br />

Lage seien, ein neunzigminütiges<br />

Spiel durchzustehen und<br />

Treten spezifisch männlich sei.<br />

Erst 1970 wurde der Damenfußball<br />

aufgenommen.


28 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />

SPECIAL<br />

07.2007 [dī.wān] 29<br />

Kritik entzündete sich in<br />

Ägypten auch an der zu erwartenden<br />

Verführungskraft der<br />

den Körper nicht umfassend<br />

genug verhüllenden Trikots.<br />

Die meisten Frauen tragen ihren<br />

Dress auf <strong>di</strong>e gleiche Art wie<br />

<strong>di</strong>e Männer. Andere bevorzugen<br />

es, ihre Stutzen be<strong>im</strong> Spielen<br />

hoch bis über <strong>di</strong>e Knie zu ziehen<br />

und ein Kopftuch zu tragen.<br />

In der Vergangenheit war das<br />

Bedecken des Knies be<strong>im</strong> Spiel<br />

schon mal Pflicht, jedoch für <strong>di</strong>e<br />

Männer. 1904 hob <strong>di</strong>e in jenem<br />

Jahr in Paris gegründete FIFA<br />

eine <strong>di</strong>esbezügliche Best<strong>im</strong>mung<br />

auf.<br />

Zu Gast in<br />

Deutschland<br />

In der Gegenwart können<br />

sich <strong>di</strong>e Spielerinnen laut Sahar<br />

al­Hawari darüber freuen, inzwischen<br />

für ihre Leistung und<br />

seltener für <strong>di</strong>e Tatsache des<br />

Fußballspielens an sich kritisiert<br />

zu werden. Zu <strong>di</strong>eser erhöhten<br />

Anerkennung ihres <strong>Sport</strong>s trug<br />

nach Meinung der Spielerinnen<br />

<strong>di</strong>e erste offizielle arabische<br />

Frauenfußball­Meisterschaft<br />

bei, <strong>di</strong>e vom 19. bis 29. April<br />

2006 in Alexandria stattfand.<br />

Neben den ägyptischen Gastgeberinnen<br />

waren <strong>di</strong>e National­<br />

teams aus Tunesien, Algerien,<br />

Marokko, Libanon, Bahrain,<br />

Syrien, Palästina und dem Irak<br />

vertreten. Einige der Spiele wurden<br />

live <strong>im</strong> ägyptischen Fernsehen<br />

übertragen und erreichten<br />

damit ein neues Publikum.<br />

Live übertragen wurde auch<br />

<strong>di</strong>e erste Begegnung zwischen<br />

der ägyptischen Damen­Nationalmannschaft<br />

und dem TSV<br />

Ludwigsburg, <strong>di</strong>e sich kurz vor<br />

der Meisterschaft, ebenfalls <strong>im</strong><br />

April, in Alexandria und Kairo<br />

gegenüber standen. Dieses<br />

Treffen war Teil eines vom Goethe<br />

Institut in Zusammenarbeit<br />

mit der EFA initiierten Projekts,<br />

dem vor kurzem der Gegenbesuch<br />

in Deutschland folgte, der<br />

<strong>di</strong>e Möglichkeit bot, <strong>di</strong>e Spielerinnen<br />

auch hier live auf dem<br />

Rasen zu sehen.<br />

Zurück in Kairo werden sie<br />

wieder auf ihren gewohnten Plätzen<br />

spielen. Die Hinterhöfe oder<br />

Straßen, der größte Fußballplatz<br />

Ägyptens, gehören jedoch nicht<br />

dazu. Hier sind <strong>di</strong>e Kinder und<br />

Jugendlichen vor allem männlich,<br />

so ist es in Ägypten wie <strong>im</strong><br />

Nahen Westen.<br />

Kurz vor dem Anpfiff gegen den TSV Ludwigsburg<br />

in Kairo <strong>im</strong> vergangenen Jahr<br />

„P<strong>im</strong>p my Muscles“<br />

Bodybuil<strong>di</strong>ng ist nach Fußball <strong>di</strong>e populärste <strong>Sport</strong>art in Marokko.<br />

In den Städten verbringt ein Großteil der Männer <strong>di</strong>e Freizeit in einer<br />

der zahlreichen „Muckie-Buden“. Körperkult ist angesagt, und der<br />

Muskelwahn bildet eine lukrative Einkommensquelle der Schönheitsindustrie.<br />

Doch wie einsam das Leben des starken Geschlechts sein<br />

kann, weiß der Profi-Bodybuilder Abderrazak Essahabi zu erzählen<br />

von Dörthe Engels und Omar Ansari<br />

Fußball entwickelt bei manchen<br />

Männern Suchtcharakter<br />

und kann vor allem bei passiver<br />

Begeisterung vor dem<br />

Fernsehapparat wie überall in<br />

der Welt auch in Marokko zu<br />

ernsthaften Schwierigkeiten<br />

mit der Ehefrau führen. Bodybuil<strong>di</strong>ng<br />

hingegen birgt bei dem<br />

Wunsch nach <strong>im</strong>mer größeren<br />

Muskeln jedoch noch ganz andere<br />

Risiken. Beitragsgelder,<br />

Ausrüstung und spezielle Nahrungsmittel<br />

verschlingen nicht<br />

selten große Teile des ohnehin<br />

meist niedrigen Monatslohns.<br />

Das stundenlange Training, <strong>di</strong>e<br />

Ichbezogenheit des <strong>Sport</strong>s und<br />

<strong>di</strong>e Verlockung aufputschender<br />

Mittel katapultieren viele Männer<br />

aus ihrem Alltag mit Familie<br />

und Job in eine ganz eigene<br />

Welt, wie der professionelle Bodybuilder<br />

Abderrazak Essahabi<br />

(36) zu erzählen weiß. Seit dem<br />

Gewinn der marokkanischen<br />

Meisterschaft 1998 zählt er zu<br />

den Großen der internationalen<br />

Szene. Doch <strong>di</strong>e Teilnahme an<br />

den letzten Weltmeisterschaften<br />

in der Türkei verhinderte ein<br />

positiver Doping­Befund.<br />

Symmetrie der<br />

Muskeln<br />

Das A und O des Bodybuilders<br />

ist sein Körper, dessen<br />

gleichmäßige Muskulösität es<br />

<strong>im</strong> Wettkampf auf einer Bühne<br />

zu präsentieren gilt. Dazu treten<br />

<strong>di</strong>e Männer (Frauen bilden<br />

weiterhin <strong>di</strong>e Ausnahme in <strong>di</strong>esem<br />

<strong>Sport</strong>) in unterschiedlichen<br />

Klassen mit einem Posing­Slip<br />

bekleidet vor eine Jury. Kriterium<br />

ist neben der Symmetrie der<br />

Muskeln auch <strong>di</strong>e Sichtbarkeit<br />

der Venen, <strong>di</strong>e Zeichen eines<br />

niedrigen Körperfettanteils<br />

sind. Je mehr Venen in Pflicht­<br />

Posing und Kür zu sehen sind,<br />

desto höher <strong>di</strong>e Wertung – und<br />

umso niedriger <strong>di</strong>e Akzeptanz<br />

in der Gesellschaft, denn Profi­<br />

Bodybuilder werden zumeist als<br />

hässlich und krank empfunden.<br />

Dennoch ist auch in<br />

Deutschland das Interesse an<br />

<strong>im</strong>mer mehr Muskeln nicht zu<br />

bremsen – vor allem bei türkisch­<br />

und arabischstämmigen<br />

Männern. Im Online­Forum von<br />

„maroczone.de“ tauschen sich<br />

junge Marokkaner über Tipps<br />

und Tricks be<strong>im</strong> Bodybuil<strong>di</strong>ng<br />

aus: Wie man <strong>di</strong>e Spritze richtig<br />

setzt, welches Essen <strong>di</strong>e Mutter<br />

kochen sollte und was be<strong>im</strong> Sex<br />

zu beachten ist, denn der kleine<br />

Freund des Mannes verhält sich<br />

bei permanentem Anabolikagebrauch<br />

teils eigensinnig. Der<br />

Schein des starken Geschlechts<br />

trügt also – und dennoch finden<br />

<strong>im</strong> Internet wie auch in<br />

der herkömmlichen Apotheke<br />

Dopingpräparate aller Art reißenden<br />

Absatz. Was hier nicht<br />

legal zu bekommen ist, wird aus<br />

dem Urlaub in der Türkei mitgebracht<br />

– dem Eldorado fürs<br />

„Stoffen“.<br />

Wunsch nach<br />

Respekt<br />

Was <strong>di</strong>ese Männer antreibe,<br />

sei zumeist der Respekt auf der<br />

Straße, dann der Reiz des großen<br />

Geldes, erzählt Abderrazak. Er<br />

selbst ist heute in eine Spirale aus<br />

Versagensängsten und Doping<br />

gerutscht, <strong>di</strong>e ihm <strong>im</strong> Kampf mit<br />

dem eigenen Körper Kraft für<br />

andere Dinge des Lebens raubt.<br />

Schon als Jugend licher trainierte<br />

er an sechs Tagen der Woche in<br />

einem kleinen Fitness­Stu<strong>di</strong>o<br />

inmitten des Arbeiterviertels<br />

Sbaeta in Casablanca. Seit Jahren<br />

muss sein einziger freier<br />

Tag in der Woche zugunsten<br />

stän<strong>di</strong>ger Wettkampfvorbereitungen<br />

ausfallen. Seinen Wohnsitz<br />

hat er zwischenzeitlich nach<br />

Sau<strong>di</strong>­Arabien verlegt, wo er als<br />

Trainer von Nachwuchstalenten<br />

tätig ist. Allein von den Gewinnprämien<br />

oder Werbeeinnahmen<br />

zu leben, ist unmöglich. Ganz<br />

zu schweigen von finanzieller<br />

Unterstützung durch den marokkanischen<br />

Staat, wie sie in<br />

Europa durch <strong>di</strong>e Förderung<br />

von Profisportlern üblich ist.<br />

Kein Wunder also, dass <strong>di</strong>e berühmtesten<br />

Bodybuilder aller<br />

Zeiten wie Arnold Schwarzen­


30 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />

SPECIAL<br />

07.2007 [dī.wān] 31<br />

egger (Österreich), Jean­Claude<br />

van Damme (Belgien) oder Ralf<br />

Möller (Deutschland) nicht aus<br />

dem Maghreb stammen.<br />

Dieser <strong>Sport</strong> ist<br />

grenzenlos<br />

Der Gedanke an ein Aufhören<br />

kommt Abderrazak aufgrund<br />

seiner Chancenlosigkeit<br />

auf dem marokkanischen Arbeitsmarkt<br />

ohne Schulabschluss<br />

und Ausbildung nicht in den<br />

Sinn. Seine Muskeln sind sein<br />

Einkommen. „Dieser <strong>Sport</strong><br />

kennt keine Grenzen“, erklärt<br />

er mit Verweis auf zahlreiche<br />

körperliche und auch seelische<br />

Verletzungen. Ohne einen Hehl<br />

daraus zu machen, zählt er auf,<br />

was Anabolika­Spritzen, Aufbaupräparate<br />

und sonstiges<br />

Doping aus einem Menschen<br />

machen können. Gegen <strong>di</strong>e<br />

Schmerzen <strong>im</strong> Körper helfen<br />

Me<strong>di</strong>kamente, gesundheitliche<br />

Risiken wie Nierenversagen oder<br />

Herzbeschwerden sowie Impotenz<br />

und überd<strong>im</strong>ensionales<br />

Wachstum der Brust verdrängt<br />

er – <strong>di</strong>e Einsamkeit müssen <strong>di</strong>e<br />

Trainingskollegen lindern, <strong>di</strong>e<br />

in ihm jedoch auch oft nur den<br />

Kontrahenten sehen. Manche<br />

bewundern ihn jedoch auch.<br />

„Und was Frauen betrifft… Sie<br />

mögen eher natürliche Körper!<br />

Die meisten stehen nicht<br />

auf Männer mit Bodybuil<strong>di</strong>ng­<br />

Muskeln.“ Schl<strong>im</strong>mer noch. Er<br />

berichtet von Erlebnissen, <strong>di</strong>e<br />

ihm bewusst machten, dass sein<br />

Körper auch als furchterregend<br />

empfunden werden kann. „Eines<br />

Tages hat mich ein Mädchen<br />

am Strand gesehen. Sie begann<br />

zu schreien und versteckte sich<br />

hinter ihren Schwestern. Ich bin<br />

dann abgehauen.“ Für manche<br />

Männer auf der Straße ist er <strong>di</strong>e<br />

Provokation in Person. „Männer<br />

beginnen, mich grundlos<br />

zu besch<strong>im</strong>pfen. Einmal hielten<br />

zwei Männer Glasflaschen in<br />

den Händen und wollten sich<br />

mit mir prügeln, weil sie dachten,<br />

ich hätte sie angemacht.“<br />

Sein Lachen über <strong>di</strong>ese Vorfälle<br />

klingt beschwerlich.<br />

Das Ende des<br />

Leidens<br />

Bei der Frage, ob er ein Vorbild<br />

für Kinder und Jugendliche<br />

sei, wird er nachdenklich. <strong>Sport</strong><br />

halte Menschen von Drogen wie<br />

Alkohol und Haschisch fern. Er<br />

sagt, <strong>di</strong>e einzige Abhängigkeit<br />

eines <strong>Sport</strong>lers seien Essen und<br />

Training. Doch der <strong>Sport</strong> kön­<br />

Muskelmasse und Venenspiel – Abderrazak Essahabi bei der Qualifikation für <strong>di</strong>e Weltmeisterschaft<br />

ne auch zu einer Sucht werden:<br />

„Dann verlierst Du Dich irgendwo.<br />

Die meisten Leute gehen<br />

dann nicht mehr zur Schule,<br />

verlieren ihre Arbeitsstelle und<br />

so weiter.“ Das Ende des Lieds<br />

sei oft <strong>di</strong>e Erkenntnis, dass <strong>di</strong>e<br />

Muskeln das einzige sind, was<br />

einem verblieben ist. Eben <strong>di</strong>ese<br />

Typen stünden nachts als Türsteher<br />

vor Diskotheken oder<br />

verkauften Drogen.<br />

Und dennoch… <strong>di</strong>e Faszination<br />

bleibt. Den Körper bis zum<br />

Letzten zu perfektionieren, <strong>di</strong>e<br />

Schönheit mit aller Disziplin<br />

zu erkämpfen, <strong>di</strong>e Harmonie<br />

der Sehnen und Muskeln zu genießen.<br />

Oder ist es nicht doch<br />

vielmehr der äußere Schmerz,<br />

der <strong>di</strong>e innere Lehre füllt? Zumindest<br />

ist Schönheit relativ.<br />

Frauen­Bodybuil<strong>di</strong>ng, wie in Europa<br />

und den USA seit Längerem<br />

ausgeübt, lehnt <strong>di</strong>e Mehrheit<br />

der Hobby­ und Profibodybuilder<br />

ab. Muskeln seien nur etwas<br />

für harte Kerle – Frauen sollten<br />

menschlich bleiben. Wenn auch<br />

fitte Menschen.<br />

Ebru boxt sich durch<br />

Wenn musl<strong>im</strong>ische Mädchen <strong>Sport</strong> treiben möchten, müssen viele<br />

von ihnen mehr als nur sportliche Hürden nehmen, um auf dem<br />

Siegertreppchen zu stehen. Besonders der Schw<strong>im</strong>munterricht ist<br />

frommen Musl<strong>im</strong>en ein Dorn <strong>im</strong> Auge<br />

von Katharina Mühlbeyer<br />

Ebru Shikh Ahmed war bis<br />

zu ihrem 15. Lebensjahr eine erfolgreiche<br />

Schw<strong>im</strong>merin, doch<br />

zum Training ging sie he<strong>im</strong>lich.<br />

Als sich <strong>di</strong>e Wettkämpfe häuften<br />

und <strong>di</strong>e Trainingszeiten länger<br />

wurden, flog <strong>di</strong>e junge <strong>Sport</strong>lerin<br />

auf, und ihr Vater setzte<br />

ihrer Schw<strong>im</strong>mkarriere ein<br />

Ende. Le<strong>di</strong>glich mit Badeanzug<br />

bekleidet zeige sie zu viel Haut –<br />

besonders vor den männlichen<br />

Trainern und Teamkollegen.<br />

Auf <strong>Sport</strong> aber wollte <strong>di</strong>e junge<br />

Frau damals nicht verzichten<br />

und kam so auf eine <strong>Sport</strong>art,<br />

<strong>di</strong>e mehr Bekleidung erlaubte:<br />

Karate.<br />

So kann man <strong>di</strong>e Geschichte<br />

der heute 32­jährigen Ebru<br />

Shikh Ahmed auf der Internetseite<br />

des Deutschen Olympischen<br />

<strong>Sport</strong>bundes (DOSB)<br />

nachlesen, denn <strong>di</strong>e dreifache<br />

Karate­Europameisterin ist seit<br />

2006 Integrationsbotschafterin<br />

des DOSB. Aus einer türkischmusl<strong>im</strong>ischen<br />

Familie stammend,<br />

<strong>im</strong> schwäbischen Reutlingen<br />

geboren, setzt sich <strong>di</strong>e<br />

gläubige Musl<strong>im</strong>in besonders<br />

für <strong>di</strong>e Integration musl<strong>im</strong>ischer<br />

Mädchen in Deutschland ein.<br />

Es liegt noch viel Arbeit vor<br />

Shikh Ahmed, denn laut einer<br />

Umfrage treiben türkisch­musl<strong>im</strong>ische<br />

Mädchen in Deutschland<br />

von allen Migrantinnen am<br />

wenigsten <strong>Sport</strong>. Die meisten<br />

der jungen Musl<strong>im</strong>innen wün­<br />

schen sich zwar mehr sportliche<br />

Aktivität, am liebsten jedoch<br />

in reinen Mädchensportgruppen.<br />

Auch für <strong>di</strong>e islamischen<br />

Organisationen in Deutschland<br />

scheint der koedukative <strong>Sport</strong>­<br />

und Schw<strong>im</strong>munterricht ein<br />

Problem darzustellen.<br />

Islamische Organisationen<br />

gegen<br />

koedukativen<br />

<strong>Sport</strong>unterricht<br />

Dass das Verhältnis Islam<br />

und <strong>Sport</strong> ein besonderes ist,<br />

erkennt man schon daran, dass<br />

der Islamrat, der Zentralrat der<br />

Musl<strong>im</strong>e in Deutschland und<br />

Milli Görüş dem Thema jeweils<br />

K.O. in Kreuzberg –<br />

Migrantinnen boxen sich durch


32 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />

SPECIAL<br />

07.2007 [dī.wān] 33<br />

eigene Beiträge auf ihren Internetseiten<br />

widmen, <strong>di</strong>e vor allem<br />

aus Wiedergaben von Urteilen<br />

deutscher Gerichte bestehen.<br />

Besonders häufig verweisen <strong>di</strong>e<br />

islamischen Organisationen<br />

auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts<br />

von 1993.<br />

Es ermöglichte, eine zwölfjährige<br />

musl<strong>im</strong>ische Schülerin vom<br />

koedukativen <strong>Sport</strong>unterricht<br />

zu befreien, wenn <strong>di</strong>eser „<strong>im</strong><br />

Hinblick auf <strong>di</strong>e Bekleidungsvorschriften<br />

des Korans, <strong>di</strong>e sie<br />

als verbindlich ansieht, zu einem<br />

Gewissenskonflikt“ führt (Az.:<br />

6 C 8/91). Der Islamrat erklärt<br />

<strong>di</strong>esen islamischen Gewissenskonflikt<br />

auf seiner Homepage<br />

mit besonderen islamischen<br />

Verhüllungsgeboten und weiter,<br />

dass „Musl<strong>im</strong>e ein stärkeres<br />

Empfinden für <strong>di</strong>e Trennung der<br />

Geschlechter sowie auch für <strong>di</strong>e<br />

Trennung zwischen dem öffentlichen<br />

und dem privaten Bereich<br />

haben. Dies gilt gleichermaßen<br />

für Männer und Frauen“. Interessant<br />

ist daran, dass es in all<br />

den erwähnten Gerichtsurteilen<br />

nie um <strong>di</strong>e Befreiung eines<br />

musl<strong>im</strong>ischen Jungen vom gemischten<br />

<strong>Sport</strong>unterricht ging.<br />

Keine „Kapitulation<br />

vor dem<br />

Islam“ in Sicht<br />

Der Standpunkt des organisierten<br />

Islams in Deutschland<br />

zum Thema <strong>Sport</strong> entspricht<br />

jedoch nicht dem tatsächlichen<br />

Verhalten der meisten musl<strong>im</strong>ischen<br />

Schülerinnen und ihrer<br />

Eltern. Dass musl<strong>im</strong>ische Familien<br />

reihenweise den deutschen<br />

<strong>Sport</strong>­ und Schw<strong>im</strong>munterricht<br />

boykottieren und mit Klage und<br />

Koran vor Gerichte ziehen, um<br />

<strong>di</strong>e Scharia in deutschen Klassenz<strong>im</strong>mern<br />

durchzusetzen,<br />

mag ein frommer Wunsch<br />

mancher Islamisten und <strong>di</strong>e<br />

Angstversion der Broders<br />

und Ulfkottes sein. Doch we­<br />

der ausreichende Zahlen noch<br />

Aussagen von Schulen oder<br />

verantwortlichen Behörden belegen<br />

<strong>di</strong>ese vermeintliche Islamisierung<br />

deutscher Schulen. In<br />

einem Artikel der ZEIT aus dem<br />

Jahr 2006 erfährt man: In <strong>Berlin</strong><br />

blieben <strong>im</strong> Jahr 2005 genau fünf<br />

Schüler, nicht ausschließlich<br />

Musl<strong>im</strong>e, dem Schw<strong>im</strong>munterricht<br />

aus religiösen Gründen<br />

fern – von insgesamt 68 generellen<br />

<strong>Sport</strong>befreiungen.<br />

Kopftuch, Kontrolle,<br />

Karate<br />

Laut einer Stu<strong>di</strong>e sind <strong>di</strong>e<br />

familiären Widerstände gegen<br />

das sportliche Engagement der<br />

Töchter dann am größten, wenn<br />

<strong>di</strong>e musl<strong>im</strong>ischen Eltern und<br />

Ver<strong>wan</strong>dten besonders streng<br />

auf <strong>di</strong>e Einhaltung islamisch<br />

verstandener Prinzipien und<br />

Gebote achten. Kopftuch, Ganzkörperbedeckung<br />

oder stän<strong>di</strong>ge<br />

Kontrolle durch männliche Familienmitglieder<br />

erschweren<br />

sportliche Betätigung erheblich.<br />

Schier unmöglich wird Fitness<br />

und Bewegung dann, wenn<br />

Spaß und Spiel mit nichtmusl<strong>im</strong>ischen<br />

<strong>Sport</strong>kamera<strong>di</strong>nnen<br />

– mit männlichen Kameraden<br />

ohnehin – verpönt sind, weil<br />

<strong>di</strong>ese als „Ungläubige“ gelten.<br />

Die Stu<strong>di</strong>e nennt auch <strong>di</strong>e<br />

Ursachen für <strong>di</strong>e Vorbehalte<br />

konservativer Musl<strong>im</strong>e gegenüber<br />

dem <strong>Sport</strong>unterricht: <strong>di</strong>e<br />

Familien fürchten den vorehelichen<br />

Verlust der Jungfräulichkeit<br />

und damit <strong>di</strong>e Entehrung<br />

der gesamten Familie hinter<br />

dem sportlichen Treiben der<br />

Töchter. Diese Ängste bestätigt<br />

auch Riccardo Cicciarella, Lehrer<br />

an einer Sonderschule für<br />

Erziehungshilfe in Freiburg: „Oft<br />

verbirgt sich hinter dem krassen<br />

Verhalten musl<strong>im</strong>ischer Familien<br />

einfach nur Unwissen. Viele<br />

Eltern wissen nicht einmal, wie<br />

<strong>Sport</strong>­ oder Schw<strong>im</strong>munterricht<br />

oder der Alltag in einem <strong>Sport</strong>verein<br />

abläuft und malen sich <strong>di</strong>e<br />

absurdesten Gefahren für ihre<br />

Töchter aus. Diese Ängste muss<br />

man zunächst einmal ernst nehmen.“<br />

Cicciarella sieht <strong>di</strong>e Schulen<br />

und Pädagogen in der Pflicht,<br />

sich zu verändern und auf <strong>di</strong>e<br />

Befindlichkeiten der Eltern und<br />

Schüler einzugehen: „Vom getrennten<br />

Unterricht geht das<br />

Abendland nicht unter – wenn<br />

dann alle mitmachen, pr<strong>im</strong>a!“, so<br />

Cicciarella. Doch auch seine Toleranz<br />

hat Grenzen: „Familien,<br />

<strong>di</strong>e keine Kompromisse machen<br />

und ihre Kinder aus der Schule<br />

fernhalten, sind ein Fall für das<br />

Jugendamt ­ religiöse Gefühle<br />

hin oder her. Aber mal ehrlich:<br />

Wie oft kommt das schon vor?“<br />

Deutsch-<br />

Türkinnen<br />

auf dem<br />

Siegertreppchen<br />

Im Schatten aufgeregter Debatten<br />

um unterdrückte Türkinnen<br />

und leere Klassenz<strong>im</strong>mer<br />

in <strong>Berlin</strong>­Kreuzberg haben sich<br />

deutsch­türkische Leistungssportlerinnen<br />

<strong>di</strong>e Teilnahme an<br />

Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften<br />

erdribbelt und<br />

erboxt. Eine Stu<strong>di</strong>e mit sieben<br />

<strong>di</strong>eser Hochleistungssportlerinnen<br />

türkischer Herkunft hat<br />

ergeben, dass sie alle einen hohen<br />

Preis für den sportlichen<br />

Erfolg bezahlt haben. Denn mit<br />

ihm ist in den meisten Fällen<br />

eine gehobene Bildungskarriere,<br />

eine geglückte Integration und<br />

der Wunsch nach körperlicher<br />

und sexueller Selbstbest<strong>im</strong>mung<br />

verbunden. Die <strong>Sport</strong>lerinnen<br />

entwickelten sich zu starken<br />

Frauen, <strong>di</strong>e Kleidung und Partner<br />

selbst wählen und in<strong>di</strong>viduelle<br />

Lebensentscheidungen<br />

treffen, was häufig <strong>im</strong> Widerspruch<br />

zu den Vorstellungen der<br />

männlichen Ver<strong>wan</strong>dten steht.<br />

Deshalb haben sie sportliche<br />

Aktivitäten aufgegeben und<br />

neue durchgesetzt, sie mussten<br />

Ziele, Wünsche und Bedürfnisse<br />

verwerfen, <strong>di</strong>e erste Liebe<br />

aus dem <strong>Sport</strong>verein musste erst<br />

verhe<strong>im</strong>licht werden und als das<br />

nicht mehr ging, drohte Z<strong>wan</strong>gsverheiratung<br />

in <strong>di</strong>e Türkei oder<br />

<strong>di</strong>e Verstoßung aus der Familie.<br />

Auch körperliche Gewalt wurde<br />

einigen <strong>di</strong>eser heute so erfolgreichen<br />

Leistungssportlerinnen<br />

angedroht, manchen auch angetan.<br />

Tränen, Töchter,<br />

Tae Kwon Do<br />

Die Wahl der <strong>Sport</strong>art, so <strong>di</strong>e<br />

Ausübung von <strong>Sport</strong> möglich<br />

ist, ist von großer Bedeutung,<br />

und wie Shikh Ahmed wählen<br />

viele Musl<strong>im</strong>innen in Deutschland<br />

<strong>Sport</strong>arten, <strong>di</strong>e eine keusche<br />

Bekleidung ermöglichen:<br />

Karate, Tae Kwon Do, Boxen,<br />

Fußball. Doch selbst in <strong>Sport</strong>arten,<br />

in denen <strong>di</strong>e Geschlechter<br />

unter sich bleiben und lange,<br />

weite Kleidung getragen wird,<br />

kann es zu Problemen kommen.<br />

So berichtet eine <strong>Sport</strong>lerin der<br />

Stu<strong>di</strong>e vom Zorn ihres Vaters,<br />

als der männliche Preisrichter<br />

be<strong>im</strong> Tea Kwon Do den Arm der<br />

Siegerin – seiner Tochter – in<br />

<strong>di</strong>e Höhe hielt.<br />

Ungleiches Strandvergnügen<br />

Der Burkini<br />

ermöglicht züchtigen<br />

Spaß am<br />

Strand<br />

Das islamisch korrekter<br />

<strong>Sport</strong> möglich ist, und man<br />

frommen Musl<strong>im</strong>innen und<br />

Musl<strong>im</strong>en keine generelle <strong>Sport</strong>feindlichkeit<br />

nachsagen kann,<br />

zeigen zahlreiche Initiativen, <strong>di</strong>e<br />

sich <strong>di</strong>e Mühe machen, auf <strong>di</strong>e<br />

Bedürfnisse musl<strong>im</strong>ischer Mädchen<br />

einzugehen: Das Projekt<br />

BOXGIRLS in Kreuzberg fördert<br />

besonders junge Migrantinnen,<br />

und deshalb wird hier auch mal<br />

mit Kopftuch zugeschlagen.<br />

Viele Schw<strong>im</strong>mbäder in Städten<br />

mit hohem musl<strong>im</strong>ischen<br />

Bevölkerungsanteil bieten gern<br />

Badezeiten für Musl<strong>im</strong>innen an<br />

– Männern ist in <strong>di</strong>eser Zeit der<br />

Zutritt verboten; Fenster werden,<br />

wenn nötig, blick<strong>di</strong>cht gemacht.<br />

Für <strong>di</strong>e fitnessbegeisterte<br />

Musl<strong>im</strong>a hat das Bildungs­ und<br />

Freizeitzentrum musl<strong>im</strong>ischer<br />

Frauen in Dortmund spezielle<br />

Aerobickurse <strong>im</strong> Angebot, während<br />

<strong>di</strong>e Musl<strong>im</strong>ische Jugend<br />

in Deutschland ganze Ski­ und<br />

Snowboard freizeiten in <strong>di</strong>e<br />

Schweiz oder nach Österreich<br />

organisiert. An <strong>di</strong>e modebewusste<br />

Musl<strong>im</strong>a verkauft <strong>di</strong>e<br />

Firma Capsters tren<strong>di</strong>ge <strong>Sport</strong>kopftücher<br />

für alle Anlässe: ein<br />

Teil für Aerobic, ein Schnitt für<br />

Tennis, ein Skate­ und ein Outdoor­Modell.<br />

Und seit Aheda<br />

Zanetti, eine libanesischstämmige<br />

Australierin, den „Burkini“<br />

entworfen hat, sind Sommer,<br />

Sonne, Strandvergnügen für<br />

fromme Musl<strong>im</strong>innen kein Tabu<br />

mehr. Der anliegende Ganzkörperanzug<br />

mit angenähtem Kopftuch<br />

verbindet <strong>di</strong>e tra<strong>di</strong>tionelle<br />

Burka und den sün<strong>di</strong>gen Bikini<br />

zu einer keuschen Badebekleidung.<br />

Musl<strong>im</strong>innen, <strong>di</strong>e auf Kopftuch,<br />

Körperbedeckung und<br />

Geschlechtertrennung bestehen,<br />

sind eine Herausforderung<br />

für Schulen, <strong>Sport</strong>vereine und<br />

öffentliche Schw<strong>im</strong>mbäder. Die<br />

nichtmusl<strong>im</strong>ische Mehrheitsgesellschaft<br />

<strong>di</strong>skr<strong>im</strong>iniert Musl<strong>im</strong>e,<br />

wenn sie sie von sportlichen<br />

Aktivitäten ausschließt, indem<br />

sie <strong>di</strong>e moralischen Befindlichkeiten<br />

der Gläubigen ignoriert.<br />

Und weder Familienpatriarchen<br />

noch islamische Organisationen<br />

haben das Recht, musl<strong>im</strong>ischen<br />

Frauen und Männern zu verbieten,<br />

so <strong>Sport</strong> zu treiben, wie sie<br />

es möchten.


34 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />

SPECIAL<br />

07.2007 [dī.wān] 35<br />

<strong>Sport</strong> für den Geist<br />

Schach ist keinesfalls nur ein einfaches Brettspiel, sondern ein multikulturelles<br />

Phänomen. Das Spiel entstand <strong>im</strong> 6. Jahrhundert und<br />

wurde <strong>im</strong> Zuge der islamischen Expansion von den Arabern übernommen,<br />

<strong>di</strong>e es nach Europa brachten. Über <strong>di</strong>e Ursprünge des wohl<br />

bekanntesten Denksports der Welt<br />

von Nora K. Schmid<br />

Veselin Topalov, Vis<strong>wan</strong>athan<br />

Anand und Vlad<strong>im</strong>ir Kramnik,<br />

so heißen <strong>di</strong>e drei derzeitigen<br />

Giganten der internationalen<br />

Schachelite. In einem Länderranking<br />

nehmen Russland, <strong>di</strong>e<br />

Ukraine, Armenien, Amerika,<br />

Ungarn, Israel und China <strong>di</strong>e<br />

vorderen Positionen ein. Doch<br />

nicht nur <strong>di</strong>e Herkunft der Spieler<br />

ist vielfältig, auch <strong>di</strong>e Varianten,<br />

in denen Schach gespielt<br />

wird, sind zahllos und übertreffen<br />

sich <strong>im</strong> Grad an Abstraktion.<br />

So gibt es Blindschach, bei dem<br />

<strong>di</strong>e Spieler das Schachbrett nicht<br />

zu Gesicht bekommen dürfen,<br />

Blitzschach, bei dem jeder Spieler<br />

in der Regel fünf Minuten<br />

Bedenkzeit für einen Zug hat,<br />

und S<strong>im</strong>ultanschach, bei dem<br />

man es gleichzeitig mit mehreren<br />

Gegnern aufnehmen muss.<br />

Herausforderungen, bei denen<br />

jeden Amateur das kalte Grauen<br />

packt...<br />

Doch woher kommt <strong>di</strong>eses<br />

faszinierend vielseitige und<br />

weit verbreitete Spiel, das heute<br />

Denksportler auf der ganzen<br />

Welt beschäftigt? Ist es arabisches<br />

oder persisches Erbe,<br />

wie der Name des Spiels vermuten<br />

lässt? Und wie konnte sich<br />

ein einfaches Spiel auf einem<br />

banalen Brett mit 64 Quadraten,<br />

das mit 32 Figuren gespielt wird,<br />

in etwas mehr als einem Jahrtausend<br />

derart weit verbreiten<br />

und Strategen aus allen Teilen<br />

der Welt in Atem halten?<br />

Viele Legenden ranken sich<br />

um <strong>di</strong>e Entstehung des Strategiespiels<br />

Schach. So soll es ein<br />

brahmanischer Weiser namens<br />

Sissa für seinen König Balhait<br />

erfunden haben, der <strong>di</strong>esem<br />

dafür so dankbar war, dass er<br />

ihm einen Wunsch freistellte.<br />

Der Weise war bescheiden. Er<br />

wünschte sich ein Reiskorn auf<br />

das erste Feld, zwei auf das zweite<br />

und auf jedes folgende <strong>im</strong>mer<br />

<strong>di</strong>e doppelte Anzahl von Reiskörnern.<br />

Der König lachte über so<br />

viel Zurückhaltung, gewährte ihm<br />

den Wunsch – und hatte später das<br />

Nachsehen, denn der schlitzohrige<br />

Weise hatte sich damit genau<br />

2 64–1 Reiskörner gewünscht, also<br />

18.446.744.073.709.551.615 Reiskörner.<br />

Das entspricht bescheidenen<br />

500 Milliarden Tonnen<br />

Reis.<br />

Von Brahmanen<br />

und in<strong>di</strong>schen<br />

Königen<br />

Anders als <strong>di</strong>e Legende es<br />

vermuten lässt, verlieren sich<br />

<strong>di</strong>e wirklichen Ursprünge des<br />

Spiels jedoch <strong>im</strong> Dunkeln.<br />

Historiker aller Zeiten haben<br />

seine Erfindung abwechselnd<br />

den Griechen, Ägyptern, Hebräern,<br />

Babyloniern, Chinesen,<br />

Indern, Persern und Arabern<br />

zugeschrieben. Als Väter des<br />

Spiels wurden schon Xerxes,<br />

Salomon, Hippokrates und eine<br />

unerschöpfliche Zahl Wesire,<br />

Sultane und sogar der biblische<br />

Adam höchstpersönlich veranschlagt.<br />

Eine erneute Auseinandersetzung<br />

mit dem vorliegenden<br />

Quellenmaterial hat in jüngerer<br />

Zeit Wissenschaftler zu der<br />

Vermutung veranlasst, dass ein<br />

Vorläufer des heutigen Schachspiels<br />

in China bereits während<br />

der Regierung von Wu Ti (560­<br />

578 n. Chr.) unter dem Namen<br />

„Xiang Qi“ bekannt war. Die<br />

Mehrzahl der Historiker glaubt<br />

aller<strong>di</strong>ngs, dass das erste prototypische<br />

Schachspiel aus<br />

In<strong>di</strong>en stammt. Ein späterer<br />

Sanskrit­Text mit dem Titel<br />

„Manasollasa“ beschreibt ein<br />

Spiel namens „Chaturanga“, <strong>di</strong>e<br />

„vier Elemente“ der in<strong>di</strong>schen<br />

Armee: Elefanten, Kavallerie,<br />

Kriegswagen und Infanterie. Es<br />

handelte sich dabei noch um ein<br />

Spiel zwischen vier Parteien, bei<br />

dem <strong>di</strong>e Figuren in den Ecken<br />

des Bretts standen und bei dem<br />

gewürfelt wurde, bis ein Spieler<br />

alle Gegner besiegt hatte.<br />

Eines der frühesten Dokumente,<br />

welches nahe legt, dass<br />

Schach von In<strong>di</strong>en aus nach<br />

Persien gelangte, ist eine persische<br />

Geschichtensammlung<br />

aus dem frühen 7. Jahrhundert,<br />

<strong>di</strong>e den Namen „Chatrang­namak“<br />

trägt. Vier Jahrhunderte<br />

später berichtete auch der persische<br />

Poet Abu l­Qas<strong>im</strong>, besser<br />

bekannt als Firdawsi, in seinem<br />

64 Quadrate und 32 Figuren machen Geschichte<br />

monumentalen Werk „Shahname“,<br />

dem „Buch der Könige“,<br />

vom in<strong>di</strong>schen Ursprung des<br />

Spiels. Archäologische Fundstücke<br />

wie sieben kleine Elfenbeinschnitzereien<br />

des 7. Jahrhunderts<br />

aus der Gegend um<br />

Samarkand <strong>im</strong> heutigen Usbekistan<br />

legen ebenfalls nahe, dass<br />

Schach in Persien schon vor der<br />

Eroberung durch <strong>di</strong>e Araber bekannt<br />

war. Dies zeigt auch der<br />

arabische Name des Spiels – das<br />

Wort Schatrandsch mag von<br />

dem persischen chatrang abgeleitet<br />

sein und <strong>di</strong>es kann wiederum<br />

aus dem Sanskrit, also von<br />

chaturanga stammen.<br />

Das arabische<br />

Schatrandsch<br />

„Ein edler Mann stellt das<br />

Schachspiel auf, um dadurch<br />

Konsequenzen zu erkennen, <strong>di</strong>e<br />

ein Unwissender nicht bemerkt.<br />

Mit verstän<strong>di</strong>gem Blick sieht er<br />

<strong>di</strong>e Folgen zukünftiger Ereignisse<br />

voraus inmitten von Dünkel<br />

und Spott“, so schrieb der<br />

arabische Philosoph al­Mas‘u<strong>di</strong><br />

(ca. 895­956 n. Chr.) in seinem<br />

Werk „Murudsch adh­dhahab<br />

wa­ma’a<strong>di</strong>n al­dschawahir“<br />

(„Die Goldwiesen und Edelsteingruben“).<br />

Die Araber übernahmen<br />

Schach einige Zeit nach der<br />

Eroberung Persiens <strong>im</strong> Jahr 644<br />

n. Chr. Das Spiel war nur eine<br />

Facette der multikulturellen Einflüsse<br />

aus Persien, Griechenland<br />

und Byzanz. In den folgenden<br />

Jahrhunderten zerbrachen sich<br />

arabische Schachspieler <strong>di</strong>e<br />

Köpfe über dem Spiel, welches<br />

sie Schatrandsch nannten,<br />

so dass sie es auf <strong>di</strong>ese Weise<br />

erweiterten und weiterentwi­<br />

ckelten. Erste Kompilationen<br />

entstanden, so verfasste Ishaq<br />

an­Nad<strong>im</strong> eine Auflistung mehrerer<br />

Generationen von Spielern<br />

– darunter zwei bekannte<br />

Schachmeister, al­‘Adli und ar­<br />

Razi, <strong>di</strong>e unter dem Kalifen al­<br />

Mutawakkil (847­862 n. Chr.) gegeneinander<br />

angetreten waren.<br />

In jener Zeit entstanden auch<br />

erste umfassende Darstellungen<br />

der Regeln und ausgewählter<br />

Probleme von Hand der Spieler.<br />

Zu <strong>di</strong>esen gehören das Buch des<br />

Schachmeisters as­Suli und das<br />

seines Schülers al­Ladschladsch<br />

über Schachprobleme (Mansubat).<br />

Trotz seiner Popularität<br />

wurde Schatrandsch jedoch von<br />

einigen religiösen Autoritäten<br />

verdammt. So wird von einem<br />

gewissen ‘Ar ibn ‘Auf überliefert,<br />

dass er einst zu Schachspielern<br />

gesagt habe: „Der Krieg hat ein<br />

Ende genommen!“ Darauf habe


36 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />

SPECIAL<br />

07.2007 [dī.wān] 37<br />

er ihr Spielbrett umgeworfen.<br />

Auch von Abu Musa al­Asch‘ari<br />

ist <strong>di</strong>e Äußerung überliefert:<br />

„Nur ein Sünder spielt Schach.“<br />

Die Spieler jedoch rechtfertigten<br />

sich damit, dass ihr Spiel<br />

Intellekt und strategisches Denken<br />

schule.<br />

Eine kontinuierlich wachsende<br />

Zahl literarischer Quellen<br />

und archäologischer Fundstücke<br />

legt nahe, dass das Schachspiel<br />

seine Wanderschaft <strong>im</strong> 8. und<br />

9. Jahrhundert, wahrscheinlich<br />

entlang der Seidenstraße, fortsetzte.<br />

Es gelangte zwei Jahrhunderte<br />

später nach Japan, Burma<br />

und Indochina, aber auch in<br />

weite Teile Afrikas. Damit war<br />

es in etwa sechs Jahrhunderten<br />

zu einem nahezu weltweit bekannten<br />

Brettspiel geworden.<br />

Wie Schach nach<br />

Europa kam<br />

Über <strong>di</strong>e „Brücken“ Spanien,<br />

Sü<strong>di</strong>talien und Sizilien gelangte<br />

Schach schließlich nach<br />

Europa. Nachdem <strong>di</strong>e Araber<br />

ihren Einflussbereich über fast<br />

<strong>di</strong>e gesamte iberische Halbinsel<br />

ausgedehnt hatten, 756 n.<br />

Chr. von dem Umayyaden ‘Abd<br />

ar­Rahman I. ein unabhängiges<br />

Emirat gegründet und ungefähr<br />

weitere zweihundert Jahre<br />

später das Kalifat von Córdoba<br />

geschaffen worden war, bildete<br />

das blühende Spanien das Zentrum<br />

der intellektuellen Aktivitäten<br />

in Europa. Wen wundert<br />

es, dass aus <strong>di</strong>eser Zeit auch <strong>di</strong>e<br />

ersten Erwähnungen zu Schach<br />

in europäischen Quellen stammen?<br />

Eines der ersten Bücher<br />

darüber wurde unter Alfonso X.<br />

(1252­1284 n. Chr.), dem christlichen<br />

König von Kastilien und<br />

León, verfasst. Es trägt den Titel<br />

„Libros del axedrez, dados et<br />

tablas“ und darin werden mehr<br />

als hundert Schachprobleme geschildert.<br />

Auf <strong>di</strong>ese Weise hatte das<br />

Strategiespiel eine neue Reise<br />

unternommen und sollte <strong>im</strong><br />

Laufe der folgenden Jahrhunderte<br />

seine Eroberung des gesamten<br />

Globus fortsetzen.<br />

Ein Spiel um<br />

Macht und Herrschaft<br />

„Schachmatt!“, ruft noch<br />

heute der glückliche Gewinner<br />

einer Schachpartie. Und wie<br />

ein leises Echo aus vergangen<br />

Zeiten klingt <strong>di</strong>e ursprüngliche<br />

Bedeutung der Worte an<br />

– „asch­Schah mata“, der Schah<br />

ist tot.<br />

Trotz der deutlichen arabisch­persischen<br />

Einflüsse lässt<br />

sich Schach jedoch nicht ausschließlich<br />

als kulturelles Produkt<br />

der Araber und Perser<br />

betrachten. Schach ist vielmehr<br />

seit Jahrhunderten zu einem<br />

globalen Phänomen geworden.<br />

Die Geschichte des mythischen<br />

Brettspiels ist eine Geschichte<br />

ununterbrochener Transformationen<br />

und Adaptionen, <strong>di</strong>e<br />

dennoch seinem ursprünglichen<br />

Wesen nichts anhaben<br />

konnten. Gesellschaften, <strong>di</strong>e das<br />

Spiel übernahmen, passten es<br />

ihren eigenen Bedürfnissen an,<br />

<strong>di</strong>e Figur des Wesirs wurde zur<br />

Königin, das Spiel um Macht<br />

und Herrschaft entwickelte sich<br />

zu einem abstrakten Kampf der<br />

Intellekte. Doch eines hat sich<br />

nicht verändert: Schach ist von<br />

je her ein Spiegel der menschlichen<br />

Gesellschaften gewesen.<br />

Buzkaschi – der Kampf um <strong>di</strong>e Ziege<br />

Der Nationalsport Afghanistans ist ein an Polo erinnerndes Reiterspiel,<br />

dessen Ursprung auf <strong>di</strong>e Zeit Dschingis Khans zurückgeführt wird.<br />

Noch heute wird es mit unverminderter Kampfeslust in der<br />

afghanischen Steppe ausgetragen<br />

von Nushin Atmaca<br />

Mitten in der nordafghanischen<br />

Steppe prescht eine<br />

Horde Reiter vorbei, Staub wird<br />

aufgewirbelt, nur noch schemenhaft<br />

sind <strong>di</strong>e Bewegungen<br />

zu erkennen, und mitten in<br />

dem ganzen Getümmel ist ein<br />

großes, schwarzes Etwas auszumachen,<br />

das <strong>im</strong> Gegensatz zu<br />

Reitern und Pferden regungslos<br />

ist. Das ist keine Kriegserklärung,<br />

sondern <strong>Sport</strong> und heißt<br />

hier Buzkaschi.<br />

So einen ersten Eindruck<br />

würde man wohl vom<br />

Nationalsport der Afghanen<br />

bekommen, begäbe man sich<br />

dazu in <strong>di</strong>e nordafghanische<br />

Steppe. Verbreitet ist das Spiel<br />

aller<strong>di</strong>ngs nicht nur in <strong>di</strong>esem<br />

Teil des Hindukusch, sondern<br />

<strong>im</strong> gesamten Süden Zentralasiens.<br />

Auch in Kirgisien gilt es<br />

als Nationalsport, aller<strong>di</strong>ngs unter<br />

dem Namen kök böru oder<br />

oğlak tartiş. Kök böru bedeutet<br />

„Blauer Wolf“ und ist wahrscheinlich<br />

auf den Kopfschmuck<br />

der Reiter zurückzuführen,<br />

<strong>di</strong>e Mützen aus Wolfs­ oder<br />

Fuchspelz tragen. Und gerade<br />

<strong>di</strong>e Eigenschaften <strong>di</strong>eser beiden<br />

Tiere werden den Reitern<br />

<strong>im</strong> Spiel auch abverlangt: Stärke,<br />

Schnelligkeit, Jagdtrieb und<br />

Gerissenheit. Während also der<br />

kirgisische Name, der in anderen<br />

Turkstaaten wie Usbekistan<br />

und Turkmenistan ebenfalls geläufig<br />

ist, sowohl auf <strong>di</strong>e Bekleidung<br />

als auch auf <strong>di</strong>e Rolle des<br />

Reiters hinweist, beschreibt der<br />

afghanische, darische Name den<br />

Kern des Spiels: „Ziege ziehen/<br />

packen“ (buz bedeutet „Ziege“,<br />

kaschi „packen, ziehen“).<br />

Denn be<strong>im</strong> Buzkaschi geht es<br />

um nichts Geringeres, als einen<br />

Ziegenkadaver, manchmal auch<br />

den Kadaver eines Kalbes, vom<br />

Pferderücken aus zu packen und<br />

ins Ziel zu bringen. Derjenige,<br />

der das in einem Pulk von möglicherweise<br />

Hunderten von Reitern<br />

schafft, ist der Sieger des<br />

Spiels, ein wahrer Chapandaaz.<br />

Dieser Ehrentitel der Reiter leitet<br />

sich vom chapan, dem tra<strong>di</strong>tionellen<br />

Umhängemantel der<br />

Nordafghanen ab und (an)daaz<br />

vom Verb daachtan, zu deutsch<br />

„werfen“. Der Reiter ist „derjenige,<br />

der sich den Mantel umwirft“.<br />

Und tatsächlich gehört<br />

<strong>di</strong>eser Mantel zur tra<strong>di</strong>tionellen<br />

Kleidung der Buzkaschi­Spieler,<br />

neben der bereits erwähnten<br />

Pelzmütze, den Lederstiefeln<br />

und dem gefütterten Jackett,<br />

welches über dem Mantel getragen<br />

wird.<br />

Buzkaschi ist<br />

nichts für<br />

sanfte Gemüter<br />

Der vielleicht wichtigste Bestandteil<br />

der Reiterausrüstung<br />

aber ist eine Peitsche, <strong>di</strong>e sowohl<br />

zum Antreiben des eigenen<br />

Pferdes als auch zum Angriff<br />

auf <strong>di</strong>e Gegner – Mensch<br />

sowie Pferd – <strong>di</strong>ent. Also nichts<br />

für sanfte Gemüter, denn Verletzungen<br />

wie Knochenbrüche<br />

und Schnittwunden gehören<br />

zum Spielalltag, keinesfalls werden<br />

sie als Grund zur Aufgabe


38 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />

SPECIAL<br />

07.2007 [dī.wān] 39<br />

betrachtet, <strong>im</strong> Gegenteil: Das<br />

soziale Prestige eines siegenden<br />

chapandaaz ist durch nichts aufzuwiegen.<br />

Schubsen, Treten,<br />

Schieben,<br />

Pferde wechseln<br />

– alles ist erlaubt<br />

So weit, so gut. Aber wie<br />

läuft das Spiel mit der Ziege nun<br />

wirklich ab? Zuerst einmal muss<br />

ein geeigneter Ziegenkadaver<br />

her, ohne Kopf, ohne Eingeweide<br />

und mit bis zum Kniegelenk<br />

gekürzten Gliedmaßen. In kaltem<br />

Wasser eingelegt, um ihn<br />

zu härten und damit vor dem<br />

Auseinanderfallen zu schützen,<br />

und manchmal noch zusätzlich<br />

durch Sand beschwert kann er<br />

ein Gewicht von bis zu 70 kg<br />

erreichen. Dieser präparierte<br />

Kadaver wird vor Spielbeginn<br />

in eine Senke in der Mitte des<br />

Spielfeldes gelegt, den so genannten<br />

Kreis der Gerechtigkeit<br />

(halal), um den sich <strong>di</strong>e Reiter<br />

zu Pferde versammeln. Be<strong>im</strong><br />

Startzeichen versucht jeder, sich<br />

den Kadaver zu schnappen. Ziel<br />

ist es – je nach Spielart – sich<br />

mit dem Kadaver in der Hand<br />

weit genug von den anderen<br />

Reitern abzusetzen oder ihn<br />

nach der Umrundung zweier an<br />

den kurzen Spielfeldseiten aufgestellter<br />

Markierungen wieder<br />

in den Kreis der Gerechtigkeit<br />

zurückzubringen. Der Sieger<br />

muss den Kadaver nicht notwen<strong>di</strong>gerweise<br />

<strong>di</strong>e ganze Zeit<br />

getragen haben – selbst wenn er<br />

ihn einem anderen Reiter kurz<br />

vor dem Ziel aus der Hand reißt,<br />

gilt er als Gewinner des Spiels.<br />

Um dem Ziegenkadaver näher<br />

zu kommen, ist den Reitern<br />

körperlicher Einsatz erlaubt und<br />

durchaus lohnenswert, denn<br />

dem Sieger winkt ein begehrenswerter<br />

Preis, der aller<strong>di</strong>ngs<br />

nicht in barer Münze ausgezahlt<br />

werden muss: Auch Turbane,<br />

Gewehre und Chapane sind beliebt.<br />

Oft erhält der Sieger zusätzlich<br />

eine Prämie des Pferdebesitzers,<br />

denn der Erfolg mehrt<br />

auch den Ruhm des Reittieres.<br />

Mindestens seit<br />

dem 13. Jahrhundert<br />

existiert<br />

<strong>di</strong>eser <strong>Sport</strong><br />

Die Entstehung des Buzkaschi<br />

wird auf das 13. Jahrhundert<br />

zurück datiert und dem Einfall<br />

und Einfluss des Djingis Khan<br />

in Zentralasien zugeschrieben.<br />

Aller<strong>di</strong>ngs gibt es andere Standpunkte,<br />

<strong>di</strong>e etwa besagen, dass<br />

<strong>di</strong>e tra<strong>di</strong>tionelle Art von Vieh<strong>di</strong>ebstahl<br />

und auch <strong>di</strong>e Entführung<br />

von Gegnern vom galoppierenden<br />

Pferd aus erfolgte<br />

und sich <strong>di</strong>e Angegriffenen<br />

Vertei<strong>di</strong>gungsstrategien überlegten,<br />

aus denen schließlich das<br />

Buzkaschi resultierte. Daneben<br />

beanspruchen <strong>di</strong>e Afghanen,<br />

das erste Volk gewesen zu sein,<br />

welches Pferde domestizierte<br />

und schon zu Zeiten Alexander<br />

des Großen hervorragende Reiter<br />

hervorbrachte. Nachdem das<br />

Bogenschießen aus der Mode<br />

kam, wurde das Pferd in erster<br />

Linie als Transportmittel und<br />

„Buzkaschi­Spieler“ betrachtet.<br />

Entwickelt hat sich das Buzkaschi<br />

<strong>di</strong>eser Ansicht nach aus der<br />

Bergziegenjagd, <strong>di</strong>e vom Pferde<br />

aus geführt wurde.<br />

Bis heute hat sich <strong>di</strong>eser<br />

<strong>Sport</strong> gehalten und wird trotz<br />

des Verbots unter den Taliban<br />

mit unvermindertem Engagement<br />

fortgeführt. Begleitet werden<br />

<strong>di</strong>e Buzkaschi­Spiele oft von<br />

Ringkämpfen, denn ein guter<br />

Chapandaaz muss seine Kraft<br />

und Geschicklichkeit sowohl auf<br />

dem Boden als auch bei einem<br />

abschließenden Pferderennen<br />

unter Beweis stellen. Selbst <strong>im</strong><br />

Exil in Pakistan wird <strong>di</strong>eser Teil<br />

der afghanischen Kultur weiter<br />

gepflegt. Und noch <strong>im</strong>mer<br />

symbolisiert er <strong>di</strong>e Energie und<br />

Kampfeslust der Afghanen und<br />

<strong>di</strong>e Wildheit ihres Landes.<br />

Tipp: Wer noch tiefer in <strong>di</strong>e<br />

Welt der Chapandaaz eintauchen<br />

möchte, dem sei der Roman<br />

„Die Steppenreiter“ (original:<br />

Les Cavaliers) von Joseph<br />

Kessel wärmstens empfohlen.<br />

Auch wenn es manchmal etwas<br />

stereotyp anmutet, fängt er<br />

das Leben in der afghanischen<br />

Steppe, <strong>di</strong>e Atmosphäre der<br />

Spiele und <strong>di</strong>e Bedeutung des<br />

Buzkaschi auf fesselnde Weise<br />

ein. Das Buch wurde zudem<br />

mit dem Schauspieler Omar<br />

Scharif verfilmt.<br />

Schnell wie der Wind<br />

Dubai hat nicht nur dank architektonischer Großprojekte Weltruhm erlangt,<br />

sondern auch aufgrund zahlreicher internationaler <strong>Sport</strong>veranstaltungen.<br />

In <strong>di</strong>esem Jahr fand zum zwölften Mal der Dubai World Cup statt, das mit über<br />

20 Millionen Dollar höchstdotierte Pferderennen der Welt<br />

von Dörthe Engels<br />

An einem Tag <strong>im</strong> Jahr 1969<br />

brodelte plötzlich Öl aus dem<br />

Wüstensand, und niemand<br />

brauchte mehr in Dubai nach<br />

Perlen zu tauchen. Aus dem<br />

einstigen Fischerdorf am Golf<br />

entwickelte sich eine Stadt<br />

der Superlativen. Das einzige<br />

Sieben­Sterne­Hotel der Welt<br />

wird sich in kürzester Zeit in<br />

unmittelbarer Nachbarschaft<br />

mit dem höchsten Gebäude<br />

befinden, der künstlichen Riesen­Insel<br />

in Palmenform folgen<br />

bereits <strong>di</strong>e Nachfolgemodelle,<br />

und jeder Vierte der gerade mal<br />

200.000 Bürger des Emirats ist<br />

heute schon Dollar­Millionär<br />

und sichert durch Investitionen<br />

in Handel und Tourismus das<br />

Anhalten des Booms.<br />

Ähnliche D<strong>im</strong>ensionen<br />

gelten auch und vor allem für<br />

den Pferdesport. Scheich Muhammad<br />

bin Raschid Al Maktum,<br />

Premierminister und Vizepräsident<br />

der Vereinigten<br />

Arabischen Emirate sowie<br />

Herrscher über Dubai, stellte<br />

jüngst sein neuestes Projekt vor:<br />

Meidan Horse City – eine neue<br />

Rennstrecke samt Pferdestadt,<br />

wie sie <strong>di</strong>e Welt zuvor noch<br />

nicht gesehen hat. Im Jahr 2009<br />

soll <strong>di</strong>eses ehrgeizige Vorhaben<br />

<strong>di</strong>e bisherige Rennstrecke Nad<br />

al­Scheba ersetzen, wo schon<br />

jetzt Luxushotels, Restaurants<br />

der Spitzenklasse und Einkaufszentren<br />

alljährlich <strong>di</strong>e Schönen<br />

und Reichen anziehen. Doch ein<br />

Privateigentum von geschätzten<br />

21 Milliarden Euro plus etwa<br />

<strong>di</strong>eselbe Summe in Form von Familienbesitz<br />

lassen auch <strong>di</strong>eses<br />

kleine Mehr an Vergnügen zu.<br />

Mittelpunkt der<br />

Pferdewelt<br />

Am 31. März <strong>di</strong>eses Jahres<br />

richtete abermals <strong>di</strong>e ganze Welt<br />

den Blick auf <strong>di</strong>e grasbewachsene<br />

Rennbahn, als <strong>di</strong>e Crème<br />

de la Crème des internationalen<br />

Galoppsports zur Startmaschine<br />

geführt wurde. Über 1000<br />

Journalisten übertrugen das<br />

höchstdotierte Rennen der Welt<br />

in mehr als 150 Länder. Damit<br />

droht Scheich Maktum inner­<br />

halb nur eines Jahrzehnts dem<br />

fast dreihundertjährigen Rennen<br />

von Ascot in England als<br />

wichtigstes Pferdeereignis des<br />

Jahres den Rang abzulaufen.<br />

In einem der seltenen Interviews<br />

erklärte Scheich Maktum<br />

<strong>im</strong> Jahre 2005 gegenüber dem<br />

ersten deutschen Pferdesportsender<br />

RAZE: „Meine Intention<br />

ist es vor allem, den Menschen<br />

<strong>di</strong>e Faszination des Pferdesports<br />

nahe zu bringen. Ich fühle mich<br />

den Tieren zutiefst verbunden<br />

und will der Welt zeigen, dass<br />

<strong>di</strong>eser <strong>Sport</strong> eine faszinierende<br />

Leidenschaft ist.“ Dieser Liebe<br />

zu Pferden scheint <strong>di</strong>e gesamte<br />

Familie Maktum verfallen zu<br />

sein. Wie seine Brüder und Cousins<br />

n<strong>im</strong>mt Muhammad bin Raschid<br />

regelmäßig selbst an Wettkämpfen<br />

in der Disziplin des<br />

Distanzreitens teil, einer sehr<br />

strapaziösen Form des Wettrennens,<br />

<strong>di</strong>e sich in den Emiraten<br />

großer Beliebtheit erfreut. 2002<br />

ge<strong>wan</strong>n einer aus der Maktum­<br />

Familie sogar den Weltmeistertitel.


40 [dī.wān] 07.2007 SPECIAL<br />

MUSLIME IN BERLIN<br />

07.2007 [dī.wān] 41<br />

Dubais Herrscher Scheich<br />

Muhammad ibn Raschid Al Maktum<br />

Dubais Pferderennstrecke<br />

Nad al-Scheba<br />

Legendär und von internat<br />

ionaler Bedeutung war <strong>di</strong>e Leidenschaft<br />

zum Pferdesport des<br />

2006 verstorbenen Herrschers<br />

Scheich Maktum bin Raschid<br />

Al Maktum. Zusammen mit<br />

seinen Brüdern gründete er<br />

<strong>di</strong>e äußerst erfolgreichen Godolphin­Stallungen.<br />

Hunderte<br />

seiner erstklassigen Vollblüter<br />

ge<strong>wan</strong>nen weltweit unzählige<br />

Rennen. Sein Sohn Muhammad<br />

bin Raschid führt gemeinsam<br />

mit seinen Familienangehörigen<br />

<strong>di</strong>e Tra<strong>di</strong>tion des Pferderennsports<br />

fort und investiert hohe<br />

Summen in den Ausbau der<br />

hoheitlichen Stallungen überall<br />

in der Welt. Dem Pferderennsportverband<br />

der Emirate zufolge<br />

wirft der Pferdesport jedoch<br />

auch außerordentliche Profite<br />

ab. Pro 100 Dirham (ca. 27 US­<br />

Dollar), <strong>di</strong>e in Dubai ins Training<br />

und <strong>di</strong>e Unterhaltskosten<br />

der Rennpferde investiert werden,<br />

werden durchschnittlich<br />

230 Dirham (ca. 63 US­Dollar)<br />

an steuerfreien Preisgeldern gewonnen.<br />

Diese außerordentlich<br />

hohe Ren<strong>di</strong>te zählt <strong>im</strong> Pferderennsport<br />

neben der in Singapur<br />

zu den größten der Welt.<br />

Ein Para<strong>di</strong>es<br />

für Pferde<br />

Das Königshaus spezialisierte<br />

sich vornehmlich auf <strong>di</strong>e<br />

Züchtung von englischen Vollblütern.<br />

Die Stallungen gleichen<br />

einem Pferdepara<strong>di</strong>es. Eigens<br />

eingerichtete Krankenhäuser,<br />

erstklassige Trainingsmöglichkeiten<br />

und Profi­Rennbahnen<br />

sind selbstverständlich. Internationale<br />

Spezialisten samt<br />

Tierärzten kümmern sich rund<br />

um <strong>di</strong>e Uhr um das Wohl der<br />

teuren Vierbeiner. Bereits das<br />

Frühstück ist königlich: mit<br />

Honig um mantelter Hafer,<br />

Energy­Drinks mit Elektrolyten<br />

und Vitaminen, zwischendurch<br />

Knoblauchmehl zur Stärkung<br />

des Immunsystems und Melasse.<br />

Zwei Pfleger sind für drei<br />

Tiere zustän<strong>di</strong>g. Sie putzen und<br />

striegeln sie, kämmen ihre Mähnen<br />

und führen sie spazieren.<br />

Die Wege zwischen den Ställen<br />

sind mit einer dünnen Kunststoffpolsterung<br />

überzogen,<br />

damit sich <strong>di</strong>e Tiere nicht verletzen.<br />

Manchmal geht es zum<br />

Schw<strong>im</strong>men in den Pferdepool<br />

oder zum Joggen aufs Laufband.<br />

Und damit auch in den Boxen<br />

keine Langeweile herrscht, liegen<br />

rote Gummibälle zum Spielen<br />

auf frischen Sägespänen.<br />

Unter <strong>di</strong>esen Be<strong>di</strong>ngungen<br />

ist es kein Wunder, dass in fast<br />

jedem zweiten Finalrennen des<br />

Dubai World Cups ein Pferd<br />

aus dem Stall Maktum <strong>di</strong>e mit<br />

6 Mio. US­Dollar dotierte Siegestrophäe<br />

mit nach Hause<br />

nehmen darf. Eine Niederlage<br />

stellt eine ungeheure Schmach<br />

dar – letztmalig geschehen <strong>im</strong><br />

Jahre 2005, als <strong>di</strong>e Stute Roses<br />

in May aus den USA als erstes<br />

Pferd <strong>di</strong>e Ziellinie durchlief.<br />

Doch in <strong>di</strong>esem Jahr konnte der<br />

Auftakt kaum besser sein. Im<br />

ersten Rennen über 2000 Meter<br />

gingen gleich alle drei der Maktum­Pferde<br />

als erste durchs Ziel,<br />

wobei hier <strong>di</strong>e Siegesprämie mit<br />

250.000 Dollar verhältnis mäßig<br />

lächerlich ausfiel. Am Ende vereinte<br />

das Herrscherhaus jedoch<br />

einen gehörigen Anteil des gestifteten<br />

Preisgeldes auf sich,<br />

nicht zuletzt, weil der Hengst<br />

Invasor das letzte Rennen ge<strong>wan</strong>n<br />

und Scheich Maktum<br />

sich förmlich selbst den riesigen<br />

Pokal überreichen konnte.<br />

Trotz all des Prunks wird<br />

deutlich, dass für den Scheich<br />

keineswegs nur der Profit des<br />

Pferdesports zählt. Er ist vielmehr<br />

eine Begleiterscheinung,<br />

<strong>di</strong>e in der Stadt am Golf dazugehört.<br />

Er ist der Liebe zu Pferden<br />

verfallen, und wahrer <strong>Sport</strong>sgeist<br />

ist es, der ihn an den Menschen<br />

fasziniert. „Nicht jeder, der ein<br />

Pferd reitet, ist auch ein Jockey“,<br />

hat der Scheich in einem seiner<br />

Ge<strong>di</strong>chte geschrieben. Von <strong>di</strong>esem<br />

Vers war er selbst so begeistert,<br />

dass er ihn buchstäblich<br />

in den Persischen Golf schütten<br />

ließ: Jedes Wort liegt als kleine<br />

künstlich geschaffene San<strong>di</strong>nsel<br />

vor der Küste Dubais <strong>im</strong> Wasser<br />

und ist be<strong>im</strong> Anflug auf das<br />

Emirat für jeden zu lesen.<br />

Zukunft der Geschichte<br />

Geschichtsunterricht an deutschen Schulen ist nach wie vor national<br />

und homogen konzipiert. Das letzte Jahrhundert ist ein Sammelsurium<br />

an Fakten, in dem Minderheiten meist keinen Platz haben.<br />

Dabei hat heute ein Viertel aller Jugendlichen in Deutschland einen<br />

Migrationshintergrund, und <strong>di</strong>e Grenzen zu anderen EU-Ländern<br />

sind fließend. Zeit zur Veränderung, dachten sich Mitarbeiter des<br />

Anne Frank Zentrums in <strong>Berlin</strong> und entwickelten in zweijähriger<br />

Arbeit Materialien zur interkulturellen Geschichtsvermittlung in der<br />

Ein<strong>wan</strong>derungsgesellschaft<br />

von Dörthe Engels<br />

Nicht nur in Deutschland ist<br />

<strong>di</strong>e Geschichte Anne Franks, <strong>di</strong>e<br />

zwei Jahre <strong>im</strong> Versteck lebte und<br />

1945 <strong>im</strong> Konzentrationslager<br />

Bergen­Belsen ermordet wurde,<br />

bekannt. Menschen in aller Welt<br />

können ihr Tagebuch heute in<br />

mehr als 60 Sprachen lesen. Alljährlich<br />

schauen sich zudem gut<br />

20.000 Besucher <strong>di</strong>e Ausstellung<br />

„Anne Frank. Hier & heute“ <strong>im</strong><br />

<strong>Berlin</strong>er Anne Frank Zentrum<br />

an, erkennen durch sie <strong>di</strong>e Gewalt<br />

des Nationalsozialismus<br />

und ziehen Parallelen zu heu­<br />

te. Denn <strong>di</strong>e Fragen, <strong>di</strong>e Anne<br />

stellte, sind bis heute <strong>di</strong>eselben<br />

geblieben: Warum gibt es Krieg<br />

und Verfolgung, und was können<br />

wir dagegen tun?<br />

Der Arbeitsbereich „Interkulturelle<br />

Entwicklung und<br />

Qualifizierung“ hatte aufgrund<br />

des Erfolgs des biographischen<br />

Zugangs zur NS­Zeit anhand<br />

von Anne Frank <strong>di</strong>e Idee, <strong>di</strong>ese<br />

Methode auch für andere Bereiche<br />

des Lernens anzuwenden.<br />

Das Ziel war es, eine ganz<br />

neue Pädagogik zu wagen, <strong>di</strong>e<br />

der noch <strong>im</strong>mer bestrittenen<br />

Realität entspricht: Deutschland<br />

ist ein Ein<strong>wan</strong>derungsland<br />

mit vielen Kulturen, <strong>di</strong>e nicht<br />

nur national, sondern auch sozial,<br />

religiös oder sexuell gedacht<br />

werden müssen. Jeder Mensch<br />

trägt seine eigene Identität in<br />

sich, und viele sehen sich tagtäglichMenschenrechtsverletzungen<br />

ausgesetzt.<br />

Das Ergebnis „Mehrheit,<br />

Macht, Geschichte“ umfasst<br />

ein Lesebuch für 14­19jährige<br />

Das Team von „Mehrheit, Macht, Geschichte“ des Anne Frank Zentrums und zwei Biographien aus dem Lesebuch: Petra Rosenberg und Jean-Pierre<br />

Félix Eyoum (vorne 2. u. 3. v. links)


42 [dī.wān] 07.2007 07.2007 [dī.wān] 43<br />

insbesondere bildungsbenachteiligte<br />

Jugendliche sowie ein<br />

Methodenbuch für den Lehrer<br />

inklusive einer DVD mit<br />

weiterführenden Materialien<br />

wie Video­Interviews, Fotos,<br />

Arbeitsblättern, Musik etc. Anhand<br />

von sieben authentischen<br />

Biographien der letzten hundert<br />

Jahre sollen <strong>di</strong>e Schüler einen<br />

mult<strong>im</strong>e<strong>di</strong>alen Türöffner zu<br />

den großen Geschichtsblöcken<br />

Kolonialismus, Nationalsozialismus,<br />

Krieg und Migration bekommen.<br />

Hauptziel ist es, durch<br />

erfahrungsorientierte Methoden<br />

und Diskussionen zwischen<br />

der eigenen Lebensrealität und<br />

der Geschichte eine Beziehung<br />

herzustellen, Diskr<strong>im</strong>inierungsstrukturen<br />

in Geschichte und<br />

Gegenwart zu erkennen und so<br />

<strong>di</strong>e Einhaltung von Menschenrechten<br />

durch politisches und<br />

soziales Engagement zukünftig<br />

zu fördern.<br />

„Mehrheit,<br />

Macht,<br />

Geschichte“<br />

Im Falle des Kameruner Königssohnes<br />

Rudolf Duala Manga<br />

Bell, der <strong>im</strong> jugendlichen Alter<br />

nach Deutschland in eine Pflegefamilie<br />

zwecks besserer Ausbildung<br />

kam und 1914 aufgrund<br />

des Widerstandes gegen das<br />

deutsche Fremdreg<strong>im</strong>e hingerichtet<br />

wurde, schaut der neue<br />

Zugang zur Geschichte des Kolonialismus<br />

folgendermaßen aus:<br />

Zunächst wird <strong>di</strong>e Person durch<br />

Fotos und Videos, in <strong>di</strong>esem Fall<br />

ein Interview mit seinem Großneffen<br />

Jean­Pierre Félix Eyoum,<br />

kennengelernt. Selbst etwas<br />

schreiben und malen oder das<br />

Einüben von kleinen Rollenspielen<br />

sollen das Hineinfühlen in<br />

den Menschen erleichtern und<br />

bereits Diskussionen ermöglichen,<br />

wie zum Beispiel über<br />

seinen interessanten Namen<br />

oder <strong>di</strong>e Bedeutung von Bildung<br />

<strong>im</strong> Afrika des 19. Jahrhunderts.<br />

Collagen, Brainstorming oder<br />

Assoziationsübungen verbinden<br />

<strong>di</strong>e Biographie mit Geschichte.<br />

„Stell Dir vor, Du<br />

wärst Rudolf…“<br />

Ein Lernspiel sieht <strong>di</strong>e Aufteilung<br />

des Klassenraums in<br />

eine Ja­ und eine Nein­Ecke<br />

vor. Der Pädagoge liest den sich<br />

<strong>im</strong> Raum bewegenden Schülern<br />

verschiedene Fragen vor:<br />

„Wie hättest Du Dich verhalten,<br />

wenn Dein Vater Dich ganz allein<br />

nach Deutschland hätte<br />

schicken wollen?“ oder „Hättest<br />

Du anstelle der Mutter gegen<br />

den Ehemann Einspruch erhoben?“.<br />

Die Schüler sollen sich<br />

an schließend bei Ja oder Nein<br />

einfinden, ihre Meinung offen<br />

begründen, sie bei Widerspruch<br />

vertei<strong>di</strong>gen oder auch aufgeben<br />

und <strong>di</strong>e Seite wechseln. Im Gespräch<br />

kommt es ganz automatisch<br />

zu Vergleichen zwischen<br />

gestern und heute, Deutschland<br />

und Afrika, Mann, Frau und<br />

Kind. Die abstrakte Geschichte<br />

wird heruntergeholt auf <strong>di</strong>e Ebene<br />

des Menschen, auf <strong>di</strong>e Ebene<br />

eines Du und Ich. Das Empathievermögen<br />

für verschiedene<br />

Situationen wird also ebenso<br />

geschult wie Diskussionskultur<br />

und sozialer Umgang. Im Idealfall<br />

berichten <strong>di</strong>e Mitschüler mit<br />

Migrationshintergrund über<br />

ihre eigenen Biographien. Erst<br />

in Form <strong>di</strong>eser groß angelegten<br />

Multiperspektivität wird der<br />

wahre Kern der Geschichte ersichtlich<br />

und begreifbar.<br />

Die Hierarchie<br />

der Opfer<br />

Von vielen Problemen der<br />

Minderheiten in Deutschland<br />

haben selbst engagierte<br />

Menschen noch nichts gehört.<br />

So erzählt <strong>di</strong>e Vorsitzende des<br />

Landesverbandes der Sinti und<br />

Roma <strong>Berlin</strong>­Brandenburg<br />

Petra Rosenberg ebenfalls eine<br />

der behandelten Biographien in<br />

den neuen Geschichtsmaterialien,<br />

wie geschockt sie von dem<br />

sich jüngst entwickelnden Hass<br />

der Türken und Araber gegen<br />

ihr Volk sei: „Die ‚Zigeuner’ sind<br />

<strong>di</strong>e unterste Stufe der deutschen<br />

Gesellschaft und Migrantenkinder<br />

stürzen sich begierig<br />

auf <strong>di</strong>ese, um auch endlich mal<br />

nach unten treten zu können.“<br />

Eben solche Situationen sollen<br />

anhand aller Biographien problematisiert<br />

werden. Es geht um<br />

<strong>di</strong>e Sensibilisierung für Diskr<strong>im</strong>inierungen<br />

<strong>im</strong> Alltag, Empathie<br />

für <strong>di</strong>e Opfer und Entwicklung<br />

von Zivilcourage.<br />

Die Türken finden ihre Beispielbiographie<br />

in der Person<br />

Gülay Ceddens, <strong>di</strong>e als kleines<br />

Kind in <strong>di</strong>e Bundesrepublik kam,<br />

wo ihr Vater zum Facharzt ausgebildet<br />

wurde. Als 17jährige erfährt<br />

sie bei der Rückkehr in <strong>di</strong>e<br />

Türkei eine Trennung von dem<br />

Land, das sie nie als Zwischenstation<br />

der Arbeitsmigration<br />

empfunden hat. Hier können<br />

<strong>di</strong>e Jugendlichen in einem Quiz<br />

ihr Wissen über Ausländer in<br />

Deutschland erst einmal testen:<br />

Wie viele Menschen ohne deutschen<br />

Pass leben hier? Wann<br />

<strong>wan</strong>derte welche Zahl an Türken<br />

ein bzw. wieder aus? Was<br />

sind Flüchtlinge? Und wer ist<br />

illegal?<br />

Das pädagogische Lernziel<br />

ist klar: Migration ist <strong>im</strong>mer der<br />

Normalfall in der deutschen Geschichte<br />

gewesen. So <strong>wan</strong>derten<br />

<strong>im</strong> 19. Jahrhundert auch 5,5 Millionen<br />

Deutsche nach Amerika<br />

aus, in der Hoffnung, dort ein<br />

besseres Leben zu finden – wie<br />

<strong>di</strong>e Eltern und Großeltern der<br />

Migrantenkinder heute. Während<br />

<strong>di</strong>e Deutschen jedoch in<br />

Amerika <strong>di</strong>e Chance bekamen,<br />

aktiv an der Gesellschaftsentwicklung<br />

mitzuwirken, waren<br />

Türken hier erst billige Arbeits­<br />

kräfte, dann ungewollte Dauergäste<br />

und heute Projektoren der<br />

Angst vor Islamismus und Terrorismus.<br />

Empathie<br />

statt Angst<br />

Interkulturelles Lernen bedeutet<br />

voneinander lernen und<br />

miteinander leben. Damit ist es<br />

<strong>im</strong> Grunde das ureigenste Bedürfnis<br />

einer leben<strong>di</strong>gen Gesellschaft,<br />

pädagogische Konzepte<br />

wie <strong>di</strong>e des Anne Frank Zentrums<br />

auch auf politischer Ebene<br />

zu fördern. Die Realität schaut<br />

leider anders aus. Nicht­deutsche<br />

Kinder fühlen sich in der<br />

veralteten Form von Pädagogik<br />

nicht zu Unrecht ausgeschlossen<br />

und beginnen, gegen <strong>di</strong>e nur<br />

auf sich bezogene Mehrheitsgesellschaft,<br />

<strong>di</strong>e sie in der Schule<br />

erfahren, zu rebellieren. „Wenn<br />

türkische und arabische Kinder<br />

davon sprechen, <strong>di</strong>e Deutschen<br />

auszurotten, kriege ich es mit<br />

der Angst zu tun. Aber ich will in<br />

<strong>di</strong>esem negativen Gefühl nicht<br />

steckenbleiben, sondern verstehen,<br />

warum sie so denken“,<br />

erklärt eine Lehrerin aus Neukölln.<br />

Mit <strong>di</strong>esem Interesse hat<br />

sie bereits ein gehöriges Stück<br />

interkulturelle Kompetenz gewonnen<br />

und ist dem deutschen<br />

Bildungsministerium, das nun<br />

– nach der theoretischen Entwicklung<br />

des interkulturellen<br />

Geschichtslernens – für dessen<br />

Umsetzung zustän<strong>di</strong>g ist, um<br />

Meilen voraus.<br />

Weitere Informationen<br />

„Mehrheit, Macht, Geschichte“<br />

Methodenbuch (inkl. DVD) 29,80 €, Lesebuch 11 €<br />

Bestellbar <strong>di</strong>rekt be<strong>im</strong> Anne Frank Zentrum in <strong>Berlin</strong><br />

Anne Frank Zentrum<br />

Rosenthaler Straße 39<br />

10178 <strong>Berlin</strong><br />

zentrum@annefrank.de<br />

030-2 88 86 56 01<br />

www.annefrank.de<br />

Öffnungszeiten<br />

Dienstag bis Sonntag 10-20 Uhr (Mai-September)<br />

10-18 Uhr (Oktober-April)<br />

Eintrittpreis: 4 €/ermäßigt 2,50 €<br />

Anmeldung für Führungen durch <strong>di</strong>e Ausstellung<br />

„Anne Frank. hier & heute“ unter: 030-2 88 86 56 10<br />

oder ausstellung@annefrank.de<br />

Von links nach rechts: Thomas Heppener (Leiter des Anne Frank Zentrums in <strong>Berlin</strong>),<br />

Petra Rosenberg (Vorsitzende des Landesverbandes der Sinti und Roma <strong>Berlin</strong>-Brandenburg)<br />

und Jean-Pierre Félix Eyoum (Großneffe von Rudolf Duala Manga Bell)


44 [dī.wān] 07.2007 MUSLIME IN BERLIN<br />

MUSLIME IN BERLIN<br />

07.2007 [dī.wān] 45<br />

„Wir sind <strong>im</strong>mer aktiv“<br />

Evangelische und katholische Kindergärten genießen heutzutage<br />

einen guten Ruf in Deutschland. Doch wie verhält es sich mit<br />

islamischen Betreuungseinrichtungen? Me<strong>di</strong>enberichte über Koranschulen<br />

in Pakistan oder Kleinkinder mit Bombenattrappen prägen<br />

ein negatives Bild. Ein Besuch in der Kindergruppe der Islamischen<br />

Gemeinschaft Potsdam könnte jedoch so manchen Kritiker vom<br />

Gegenteil überzeugen von Dörthe Engels<br />

Wenn man sich <strong>im</strong> Kindergarten<br />

der Islamischen Gemeinschaft<br />

Potsdam auf <strong>di</strong>e Suche<br />

nach der typischen islamischen<br />

Kindererziehung begibt, könnte<br />

man <strong>im</strong> ersten Moment fast enttäuscht<br />

sein. Es hängen keine<br />

Mekka­Bilder an der Wand, von<br />

Gebetsteppichen keine Spur,<br />

und Erzieherinnen wie Kinder<br />

sprechen selbstverständlich<br />

deutsch, denn ein Großteil der<br />

Gemeindemitglieder sind Konvertiten.<br />

Das hübsche Haus in<br />

der Weinbergstraße nahe des<br />

Parks Sanssouci ist das Zentrum<br />

einer sufischen Glaubensrichtung<br />

des Islams, zu der sich<br />

<strong>di</strong>e gut 100 Menschen bewusst<br />

zusammengefunden haben.<br />

Die musl<strong>im</strong>ische Kindergruppe<br />

wurde <strong>im</strong> Rahmen der<br />

Aktivitäten des We<strong>im</strong>ar Institutes<br />

e. V. <strong>im</strong> Oktober 2003<br />

eingerichtet. Zurzeit werden<br />

hier acht Kinder an drei Tagen<br />

der Woche vormittags betreut.<br />

In der Vergangenheit<br />

waren es auch schon mehr und<br />

selbst christliche Kinder aus der<br />

Nachbarschaft waren selbstverständlich<br />

Teil der islamischen<br />

Gemeinschaft, <strong>di</strong>e zu leben das<br />

wichtigste Ziel der beiden Erzieherinnen<br />

Si<strong>di</strong>qa Woy­Küffner<br />

und Na<strong>im</strong>a Lehmann ist, „denn<br />

der ‚Din‘ (arab. Glaube) konzentriert<br />

sich nicht nur auf den<br />

Freitag“.<br />

Spielend <strong>di</strong>e Schöpfung Gottes entdecken<br />

In der Gemeinschaft<br />

leben<br />

Für Si<strong>di</strong>qa Woy­Küffner ge<strong>wan</strong>n<br />

das gemeinschaftliche Leben<br />

derart an Bedeutung, dass<br />

sie kurzerhand von <strong>Berlin</strong> nach<br />

Potsdam zog. Ihr eigenes Kind<br />

turnt trotz seiner erst eineinhalb<br />

Jahre ganz selbstverständlich bei<br />

den „Großen“ mit. Die stu<strong>di</strong>erte<br />

Sozialpädagogin steht selbstbewusst<br />

zu dem Leben, das sogar<br />

in den „emanzipierten“ Kreisen<br />

der CDU als Hausmütterchendasein<br />

belächelt werden<br />

würde. Für sie resultiert aus der<br />

Entscheidung für Familie ganz<br />

natürlich <strong>di</strong>e Verpflichtung insbesondere<br />

der Mutter, <strong>di</strong>e nächsten<br />

Jahre vor allem für das Kind<br />

da zu sein – an ein Mauerblümchendasein<br />

<strong>im</strong> Schatten des arbeitenden<br />

Mannes erinnert <strong>di</strong>e<br />

junge Frau jedoch keineswegs.<br />

„Kinder zu haben ist doch das<br />

Schönste, was es gibt. Es ist<br />

keine Errungenschaft, als Frau<br />

arbeiten gehen und das Kind<br />

in eine Einrichtung geben zu<br />

müssen. Es ist Luxus, <strong>di</strong>e ersten<br />

Jahre mit dem Kind zu Hause<br />

zu genießen. Aber das ist in der<br />

Gesellschaft heute nicht mehr<br />

angesehen.“<br />

Auch Na<strong>im</strong>a Lehmann, gelernte<br />

Erzieherin, übt heftige<br />

Kritik an der Politik, <strong>di</strong>e durch<br />

Konsumterror ihre Menschlichkeit<br />

verloren habe und sich<br />

nicht mehr um <strong>di</strong>e Bedürfnisse<br />

von Familien kümmere. Wichtige<br />

Anliegen würden hinter<br />

wirtschaftliche Interessen gestellt.<br />

So sei nur <strong>di</strong>e Arbeit anerkannt,<br />

<strong>di</strong>e bezahlt würde.<br />

Schlechte Karten für <strong>di</strong>e zwei<br />

Frauen, <strong>di</strong>e beide ehrenamtlich<br />

für <strong>di</strong>e Kindergruppe beschäftigt<br />

sind. Wer ihnen jedoch eine<br />

Weile zuhört, bekommt schnell<br />

das Gefühl, dass für sie <strong>di</strong>e alltäglichen<br />

Erfahrungen mit den<br />

Kindern ohnehin unbezahlbar<br />

sind. „Es gibt keine Langeweile.<br />

Die Kinder entdecken jeden<br />

Tag etwas Neues“, erzählt<br />

Frau Woy­Küffner enthusiastisch.<br />

Meist verbringen sie <strong>di</strong>e<br />

Zeit in der Natur am Rande<br />

Erzieherin der musl<strong>im</strong>ischen Kindergruppe in Potsdam: Si<strong>di</strong>qa Woy-Küffner<br />

Potsdams. Aber auch regelmäßige<br />

Gänge zu tra<strong>di</strong>tionellen<br />

Handwerkern und Künstlern<br />

stehen auf dem Programm. All<br />

<strong>di</strong>es soll <strong>di</strong>e Kinder in <strong>di</strong>rekten<br />

Kontakt mit der Schöpfung<br />

Gottes bringen und eines Tages<br />

den aufrichtigen Lobpreis Seiner<br />

Taten folgen lassen.<br />

Spielend Allah<br />

erleben<br />

Alles scheint hier möglich zu<br />

sein – nur kein Z<strong>wan</strong>g. Es geht<br />

einfach um <strong>di</strong>e Begleitung der<br />

Kinder bei ihrem natürlichen<br />

Spiel­ und Forschungstrieb und<br />

das aktive Vorleben des Islams.<br />

Frau Woy­Küffner betont <strong>di</strong>e<br />

Notwen<strong>di</strong>gkeit der eigenen Sensibilität<br />

bei ihrer Arbeit: „Wir<br />

müssen sehr fein sein, in dem<br />

was wir dem Kind beibringen.<br />

Wir können von ihnen nicht Un­<br />

terscheidung zwischen Gut und<br />

Böse erwarten, wenn wir es ihnen<br />

nicht vorleben. Das Feine in<br />

dem Kind bewahren ist es, was<br />

für uns gilt.“ Nur so verstehen<br />

beide <strong>di</strong>e Lehre des „Dins“ und<br />

nicht als monotones Vorlesen<br />

von koranischen Geschichten<br />

aus Bilderbüchern oder gar das<br />

Abspielen von Kassetten. Übertriebene<br />

intellektuelle Einflussnahme<br />

würden das Kind aus seinem<br />

natürlichen Gleichgewicht<br />

mit sich und Gott nur herausreißen.<br />

„Erziehung muss wirklich<br />

aufrichtig sein und von Herzen<br />

kommen. Kinder spüren so etwas“,<br />

erklärt Frau Woy­Küffner<br />

ihre Pädagogik, der sie ausdrücklich<br />

keine Konzeptualisierung<br />

zuschreibt. Die gibt es für<br />

sie nicht, allein <strong>di</strong>e Natürlichkeit<br />

des Lebens, <strong>di</strong>e für sie gleichbedeutend<br />

mit dem Islam und der<br />

Gemeinschaft der Gläubigen ist.<br />

An <strong>di</strong>e Stelle der tra<strong>di</strong>tionellen<br />

Großfamilie sei heute <strong>di</strong>e Islamische<br />

Gemeinschaft Potsdam<br />

getreten. Auch der Kindergarten<br />

verstünde sich als ein erweitertes<br />

Zuhause. Folglich hätten<br />

<strong>di</strong>e Eltern auch keine Bedenken,<br />

ihren Nachwuchs in <strong>di</strong>e Obhut<br />

der Gruppe zu geben. Hier haben<br />

Kinder ganz einfach mehrere<br />

Mütter und Väter.<br />

Islamische Gebete und Festlichkeiten<br />

lernen <strong>di</strong>e Kinder spielerisch<br />

nebenbei durch Beobachten,<br />

Fragen und Nach machen<br />

des „gesunden Vorbildes“ – der<br />

gläubigen Eltern. Dies sei das<br />

ureigenste islamische Prinzip<br />

der Erziehung, das auch später<br />

in Form der Nachahmung<br />

des Propheten Muhammads<br />

anhand von Koran und Sunna<br />

nicht aufhöre. Ohne Druck und<br />

Z<strong>wan</strong>g, allein mit Liebe und Begleitung,<br />

sollen <strong>di</strong>e Kinder zu<br />

gläubigen und glücklichen Menschen<br />

erzogen werden. „Wir<br />

wollen <strong>di</strong>e Kinder ja mit einer<br />

musl<strong>im</strong>ischen Identität aus dem<br />

Elternhaus entlassen, zu der sie<br />

wirklich stehen können. Eine<br />

adäquate Lebensform zu finden,<br />

wird in Zukunft ohnehin <strong>im</strong>mer<br />

schwieriger, solange sich <strong>im</strong>mer<br />

mehr Menschen zu willenlosen<br />

Konsumenten heranzüchten<br />

lassen“, erklärt Frau Woy­Küffner<br />

nachdenklich.<br />

Wie ökonomische<br />

Faktoren der Zukunft<br />

sehen <strong>di</strong>e Kinder der<br />

Zur weiteren Information<br />

Islamischen Gemein­ Islamische Gemeinschaft Potsdam<br />

schaft Potsdam tat­ Weinbergstraße 21 • 14496 Potsdam<br />

sächlich nicht aus. Wer 03 31-2 70 60 77<br />

ihnen be<strong>im</strong> Spielen www.we<strong>im</strong>arinstitut.net<br />

zusieht, der erkennt,<br />

dass sie an einem Ort aufwachsen,<br />

an den Mekka­Bilder und<br />

Gebetsteppiche in etwa so sehr<br />

gehören, wie stän<strong>di</strong>ge Bußeübungen<br />

und Kirchenlatein in einen<br />

christlichen Kindergarten.<br />

Nämlich gar nicht.


46 [dī.wān] 07.2007 INTERVIEW<br />

07.2007 [dī.wān] 47<br />

[dī.wān] Was ist <strong>di</strong>e erste Frage,<br />

<strong>di</strong>e <strong>di</strong>r Journalisten <strong>im</strong>mer<br />

stellen?<br />

SAHIRA Erstmal zwei kurze Fragen<br />

zu Musik, dann wie es ist, mit<br />

all den „bösen Gangstern“ <strong>im</strong><br />

Musikbusiness zu arbeiten und<br />

schließlich, was ich vom 9. 11.<br />

halte, als ob ich <strong>im</strong> Flugzeug<br />

gesessen hätte. Es geht selten<br />

um meine Person an sich, sondern<br />

eher, wie ich zu politischen<br />

Themen stehe.<br />

[dī.wān] Nervt <strong>di</strong>ch das?<br />

SAHIRA Es hängt <strong>im</strong>mer davon ab,<br />

wer mich wie und wonach fragt.<br />

Über manche Grenzen sollten<br />

sich Menschen aber schon bewusst<br />

sein. Für einen Bericht<br />

wollte mich jemand in einer<br />

Disko filmen und Vorher­ Nachher­Fotos<br />

haben. Gemeint war<br />

Nur aus dem<br />

Bitteren kann das<br />

Süße entstehen<br />

Die 27jährige Wahl-Wed<strong>di</strong>ngerin<br />

Sahira Awad schreibt und produziert ihre<br />

Tracks selbst und vertreibt sie in ihrem<br />

eigenen Musiklabel „Iman<strong>im</strong>usic“.<br />

Ihr Debüt feierte <strong>di</strong>e berlinernde allein<br />

erziehende Mutter und bekennende<br />

Musl<strong>im</strong>a palästinensischer Herkunft mit<br />

dem Streetalbum „Frei Schnauze“<br />

mein Haartuch. Da war ich schon<br />

sehr irritiert und fand es unfassbar,<br />

was Menschen manchmal<br />

für Erwartungen haben. So was<br />

lehne ich dann ab.<br />

[dī.wān] Ich habe in einem<br />

Interview von <strong>di</strong>r gelesen, dass<br />

dein Haartuch für <strong>di</strong>ch auch<br />

eine Grenze für dein eigenes Ego<br />

ist. Wo ziehst du <strong>di</strong>e Grenze?<br />

SAHIRA So lange eine Frau authentisch<br />

bleibt und sich nicht <strong>di</strong>ktieren<br />

lässt, wie sie sich anziehen<br />

soll, ist es richtig. Ich habe viele<br />

Freun<strong>di</strong>nnen, <strong>di</strong>e <strong>im</strong> Minirock<br />

laufen. Ich würde ihnen gegenüber<br />

nie respektlos sein. Frauen<br />

und Mädchen sollen in sich gehen<br />

und das anziehen, womit<br />

sie sich wohl fühlen. Übrigens,<br />

ich nenne es Haartuch, weil ich<br />

nicht meinen Kopf verschleiere,<br />

sondern mein Haar! [Lachen]<br />

[dī.wān] Du hast einen sechsjährigen<br />

Sohn. Wie wichtig ist für<br />

<strong>di</strong>ch Familie?<br />

SAHIRA Ohne meine Familie<br />

wüsste ich nicht, wo ich wäre.<br />

Ich komme aus einer großen<br />

Familie, und das gibt mir sehr<br />

viel Kraft. Als ich noch ein<br />

dummes Mädchen war, habe<br />

ich meine Zeit so verbracht wie<br />

ich es wollte. Dann habe ich<br />

mich gefragt, was ich überhaupt<br />

davon habe. Man merkt, dass<br />

Nicht­Bewusstsein wie eine<br />

Betäubung ist. Bewusstsein erschwert<br />

vieles, aber zeigt auch,<br />

was wirklich wertvoll <strong>im</strong> Leben<br />

ist. Familie ist sehr wichtig.<br />

[dī.wān] Wie hat es bei <strong>di</strong>r mit<br />

der Musik angefangen? Hat <strong>di</strong>e<br />

Familie dabei auch eine Rolle<br />

gespielt?<br />

SAHIRA Ja, klar! Mein Bruder hat<br />

mit seinen „coolen“ Freunden<br />

Musik gemacht und hat ihnen<br />

mal, ohne es mir zu sagen, Tapes<br />

von mir vorgespielt. Ich war damals<br />

zwölf. Und <strong>di</strong>ese 17jährigen<br />

„großen“ Jungs haben mich voll<br />

gelobt, und mit 15 bin ich zum<br />

ersten Mal ins Stu<strong>di</strong>o gegangen.<br />

Und dann kam eins nach dem<br />

anderen. Außerdem war meine<br />

Mutter selbst Sängerin.<br />

[dī.wān] Wie kriegst du als Mutter<br />

den Spagat zwischen Arbeit<br />

und Kind hin? Hast du manchmal<br />

Angst, eine schlechte Mutter<br />

zu sein?<br />

SAHIRA Jeden Tag, hör bloß auf!<br />

Ich habe meinen Sohn mit 21<br />

bekommen, und er ist das Wundervollste<br />

in meinem Leben und<br />

eine der besten Entscheidungen,<br />

<strong>di</strong>e ich getroffen habe. Mein<br />

Sohn gibt mir so viel Kraft. Ich<br />

bin in erster Linie Musl<strong>im</strong>a,<br />

gleich daneben, fast auf derselben<br />

Ebene, Mutter. Es ist für<br />

mich sehr wichtig, dass er mit<br />

allem zu mir kommen kann. Er<br />

hat mich neulich gefragt, was<br />

„schwul“ ist. Ich bin aus allen<br />

Wolken gefallen und dachte mir<br />

Offizielle Website<br />

www.<strong>im</strong>an<strong>im</strong>usic.de<br />

selbst, was er mich mit seinen<br />

sechs Jahren schon fragt. Ich<br />

habe es ihm natürlich erklärt<br />

und denke <strong>im</strong>mer, was ich ihm<br />

nicht beantworte, beantwortet<br />

<strong>di</strong>e Straße.<br />

[dī.wān] Zurück zur Musik. Was<br />

für Träume und Projekte bahnen<br />

sich gerade bei <strong>di</strong>r an?<br />

SAHIRA Voraussichtlich kommt<br />

Ende des Jahres das zweite Album<br />

raus. Hoffentlich! Hmmh...<br />

Ich würde gerne mit „Massiv“<br />

einen Track aufnehmen. Ich<br />

habe sein Video gesehen und<br />

bekam eine Gänsehaut. Er singt<br />

aus seinem Leben nach dem<br />

Motto: „Angriff ist <strong>di</strong>e beste<br />

Vertei<strong>di</strong>gung“. Ich respektiere<br />

Sami Yusuf sehr, und Ammars<br />

Bescheidenheit und Echtheit<br />

berühren mich. Er geht auf <strong>di</strong>e<br />

Bühne und sagt: „Leute, klatscht<br />

nicht für mich.“<br />

[dī.wān] Wie definierst du islamische<br />

Musik?<br />

SAHIRA Bewusste Musik. Fromme<br />

Musik muss ja nicht z<strong>wan</strong>gsläufig<br />

islamisch sein. Sie ist <strong>di</strong>e<br />

Musik, bei der man Gott und<br />

seine Seele nicht vergisst.<br />

[dī.wān] Dein Streetalbum „Frei<br />

Schnauze“ ist sehr sozialkritisch.<br />

Es dreht sich viel um Existenzangst.<br />

Verantwortung aber auch<br />

Wut kommen sehr stark heraus.<br />

Gleichzeitig geht es oft um Männer<br />

und Bezieh ungen. Würdest<br />

du sagen, dass du weiblichen<br />

Hip-Hop machst?<br />

SAHIRA Also, <strong>di</strong>e Wut ist erstmal<br />

eine konstruktive Wut. Ich analysiere<br />

in meinen Liedern, gucke<br />

was mein Alltag, meine Gefühle<br />

sagen. Dann gehe ich den<br />

Weg der Auseinandersetzung,<br />

manchmal auch der Frustra tion<br />

und schließe am Ende doch mit<br />

Hoffnung ab. Zu der anderen<br />

Frage: Ich bin nunmal eine Frau.<br />

Natürlich beschäftigen mich<br />

Männer, ob es meine Brüder<br />

sind oder andere. Es ist wie Yin<br />

und Yang. Ich selbst würde meine<br />

Musik nicht als weiblichen<br />

Hip­Hop bezeichnen, aber es<br />

sind doch mehr <strong>di</strong>e Frauen, <strong>di</strong>e<br />

sich <strong>di</strong>e Musik geben. Sie ist mit<br />

Herz, Klartext und Frei Schnauze<br />

halt.<br />

[dī.wān] Hast du auch was für<br />

deinen Sohn geschrieben?<br />

SAHIRA Ja. Es ist mir schwer gefallen,<br />

weil ich ihm so viel sagen<br />

möchte. Ich habe bei dem Lied<br />

darüber nachgedacht, was ich<br />

ihm geben möchte, wenn ich<br />

einmal tot bin. Einen Track, den<br />

er sich <strong>im</strong>mer anhören kann. Ich<br />

will, dass er weiß, dass nur aus<br />

dem Bitteren das Süße entstehen<br />

kann und er <strong>di</strong>e Hoffnung nie<br />

verlieren soll.<br />

[dī.wān] Sahira, der [dī.wān]<br />

dankt <strong>di</strong>r für das schöne Gespräch.<br />

Die Fragen stellte<br />

Akın-H. Doğan


48 [dī.wān] 07.2007 HÖRBAR<br />

LESBAR<br />

07.2007 [dī.wān] 49<br />

Eigentümliche Grazie,<br />

lächelnde Wehmut<br />

Ohne Worte gelingt dem Iraner Farid Farjad eine hinreißend<br />

traurige und doch schwebend verzaubernde Verschmelzung<br />

der orientalischen und westlichen Musikkulturen<br />

von Nora Derbal<br />

„Das ist das Eigentümliche, eine graziöse Resignation,<br />

mit liebenswür<strong>di</strong>ger Form über das Elend<br />

des Daseins lächelnd wehmütig hinwegzugleiten.“<br />

Passender hätten Richard Wagners Worte wohl nicht<br />

ausfallen können, wenn <strong>di</strong>e sanfte Schwermut der<br />

scheinbar jeder Zeit und jedem Ort entrückten Töne<br />

Anroozhas seine Ohren erreicht hätten. So gelungen<br />

klingt es, wenn sich konkrete Form und klassischer<br />

Aufbau der orientalisch­volkstümlichen Improvisation<br />

bei Farid Farjads Violine unter Begleitung des Pianisten<br />

Ab<strong>di</strong> Yamini hingeben. Beide in Teheran geboren,<br />

vollendeten sie ihre musikalische Ausbildung in<br />

England, wo <strong>di</strong>e Idee entstand, persische Volkslieder<br />

der vergangenen Jahrhunderte in einer westlich­klassischen<br />

Form wieder auferstehen zu lassen. Hingebungsvoll,<br />

auffordernd, leidenschaftlich und doch in<br />

jedem Stück – einer neuen zarten Begegnung gleich –<br />

umspielen sich sehnsuchtsvoll <strong>di</strong>e in Harmonisch­<br />

Moll gehaltenen Improvisationen der Geige und des<br />

Pianisten.<br />

So verwundert es nicht, dass nach dem ersten<br />

Erfolg von Anroozha eine weite Anhängerschaft vom<br />

Okzident bis in den <strong>Orient</strong> nach einer weiteren Veröffentlichung<br />

verlangte. Das <strong>im</strong> Herbst 2006 erschienene,<br />

mittlerweile fünfte Album <strong>di</strong>eser Serie, wirkt<br />

aller<strong>di</strong>ngs wie ein enttäuschender Schatten der ersten<br />

Produktionen. Nichtsdestotrotz, nicht nur für Liebhaber<br />

der Klassik erklingt Anroozha eindrucksvoll als<br />

Hommage an <strong>di</strong>e Verschmelzung der Kulturen.<br />

Farid Farjad<br />

Anroozha<br />

Taraneh Records<br />

Ein Werk der islamischen Aufklärung?<br />

Ibn Warraqs „Warum ich kein Musl<strong>im</strong> bin“<br />

Eine Rezension von Dörthe Engels<br />

Er war ein gläubiger Musl<strong>im</strong>.<br />

Aufgewachsen in Pakistan,<br />

Beschneidung <strong>im</strong> Alter von<br />

sechs Jahren, Besuch der Koranschule…<br />

und er wäre auch<br />

als Musl<strong>im</strong> begraben worden,<br />

wenn er nicht viele Jahre später<br />

begonnen hätte, seine Religion<br />

zu hinterfragen.<br />

Emotionaler Auslöser <strong>di</strong>eses<br />

Selbstfindungsprozesses war<br />

<strong>di</strong>e Verurteilung von Salman<br />

Rush<strong>di</strong>e („Die Satanischen<br />

Verse“) durch Chomeini. Auf<br />

Apostasie steht <strong>im</strong> Islam <strong>di</strong>e<br />

Todesstrafe, und so fand auch<br />

der Autor von „Warum ich kein<br />

Musl<strong>im</strong> bin“ den Weg in den<br />

Westen und begann sein Schreiben<br />

unter dem bekannten Pseudonym<br />

vieler Religionskritiker<br />

– Ibn Warraq.<br />

Er sei kein Islamhasser, aber<br />

eine Stellungnahme <strong>im</strong> innerislamischen<br />

Krieg wolle er wagen,<br />

stellt er einleitend fest. Was<br />

folgt, ist eine Einführung in <strong>di</strong>e<br />

westliche Islamwissenschaft der<br />

letzten Jahrzehnte erster Klasse.<br />

Keinen Anspruch auf Originalität<br />

erhebend belässt Ibn Warraq<br />

es bei Kommentaren zu wissenschaftlichen<br />

Größen wie Watt,<br />

Crone oder Goldziher und zieht<br />

Vergleiche zu der heutigen Situation<br />

in islamischen Ländern.<br />

Er geht den Kritiken des Westens<br />

am Islam in Hinsicht auf<br />

dessen Einstellung zur Gewalt,<br />

Benachteiligung von Frauen und<br />

Intoleranz gegenüber Nicht­<br />

musl<strong>im</strong>en auf den Grund – ohne<br />

dabei voreingenommen zu sein.<br />

Sein Vorhaben, zwischen Geschichte<br />

und Mythos, religiöser<br />

Theorie und menschlichem<br />

Pragmatismus zu <strong>di</strong>fferenzieren,<br />

gelingt ihm ausgesprochen gut.<br />

In einer spannenden historischen<br />

und linguistischen Analyse<br />

des Korans und der Sunna<br />

widerlegt er sämtliche musl<strong>im</strong>ische<br />

Mythen und macht deutlich,<br />

dass bisher kein Buch vom<br />

H<strong>im</strong>mel gefallen ist. Die Tra<strong>di</strong>erung<br />

pseudo­göttlicher Normen<br />

und Werte, gefördert durch <strong>di</strong>e<br />

Schriftgläubigkeit der Musl<strong>im</strong>e,<br />

sind für ihn das Haupthindernis<br />

für eine Entwicklung der islamischen<br />

Länder und <strong>di</strong>e Einhaltung<br />

der universalen Menschenrechte.<br />

Etwas zurückhaltender<br />

formuliert er <strong>di</strong>e Auswirkungen<br />

der uneingeschränkten politischen<br />

Totalität des Propheten<br />

Muhammads bis in unsere Zeit.<br />

Moderne Missstände stellt er<br />

zunächst in scharfer Abgrenzung<br />

zu den islamischen Lehren<br />

dar, um sie anschließend nur<br />

in einzelnen Fällen als aus dem<br />

Islam resultierend zu kritisieren<br />

– dennoch eine wohltuende<br />

Offenheit für alle westlichen<br />

Islam­Aufklärer und eine unbequeme<br />

St<strong>im</strong>me für konservative<br />

Musl<strong>im</strong>e.<br />

Musl<strong>im</strong>ische Freidenker<br />

könnte er mit <strong>di</strong>eser Methode<br />

eventuell sogar überzeugen –<br />

wenn <strong>di</strong>ese das Buch überhaupt<br />

in <strong>di</strong>e Hände bekommen. Da<br />

Verlage in der islamischen Welt<br />

in der Hand konservativer Interessensverbände<br />

liegen, <strong>di</strong>e Ibn<br />

Warraq als zersetzend betrachten<br />

dürften, wird es wohl allein<br />

den Interessierten <strong>im</strong> Westen<br />

vergönnt sein, „Warum ich kein<br />

Musl<strong>im</strong> bin“ zu lesen.<br />

Ibn Warraq<br />

Warum ich kein Musl<strong>im</strong> bin<br />

Verlag: Matthes & Seitz <strong>Berlin</strong> 2004<br />

Gebunden 522 Seiten<br />

Sprache: deutsch<br />

Original: englisch („Why I am not a Musl<strong>im</strong>“ 1995)<br />

ISBN: 3-88221-838-X<br />

Preis: 28,90 €


50 [dī.wān] 07.2007 BERLIN IM VISIER BERLIN IM VISIER<br />

07.2007 [dī.wān] 51<br />

Veranstaltungskalender<br />

Juli bis Oktober 2007<br />

4. Juli 2007 | 19:30 Uhr<br />

Dialogforum<br />

Afrika in der Wissenschaft:<br />

Bis hierhin und nicht weiter!?<br />

Über <strong>di</strong>e Marginalisierung und<br />

Vernachlässigung von Afrika in<br />

der Wissenschaft und Afrika­Wissenschaftlern<br />

in der Akademia<br />

Heinrich-Böll-Stiftung,<br />

<strong>Berlin</strong> Raum: Galerie<br />

Rosenthalerstraße 40/41<br />

10178 <strong>Berlin</strong> (Hackesche Höfe)<br />

Telefon: 030-28 53 43 40<br />

E-Mail: adolf@boell.de<br />

9. Juli 2007 | 19:00 Uhr<br />

„The Nationalization<br />

of the Ottoman<br />

Empire’s War” Vortrag<br />

Es spricht Dr. Erol Köroğlu,<br />

Fellow des Forschungsprogramms<br />

„Europa <strong>im</strong> Nahen<br />

Osten – Der Nahe Osten in<br />

Europa“<br />

<strong>Berlin</strong>-Brandenburgische<br />

Akademie der Wissenschaften<br />

Einsteinsaal<br />

Jägerstraße 22/23<br />

10117 <strong>Berlin</strong><br />

Kontakt: Biagia Bongiorno,<br />

b.bongiorno@isr.tu-berlin.de<br />

11. Juli 2007 | 19:00 Uhr<br />

„Go East“ Vortrag<br />

Deutsche und Österreichische<br />

Arbeiter in der Türkei und auf<br />

dem Balkan vor hundert Jahren<br />

Vortrag von Dr. Malte Fuhrmann<br />

(Zentrum Moderner <strong>Orient</strong>)<br />

<strong>Berlin</strong>-Brandenburgische<br />

Akademie der Wissenschaften<br />

Einsteinsaal<br />

Jägerstraße 22/23<br />

10117 <strong>Berlin</strong><br />

Kontakt: Biagia Bongiorno,<br />

b.bongiorno@isr.tu-berlin.de<br />

11. Juli 2007 | 19:00 Uhr<br />

Internationales<br />

Literaturfestival<br />

Lesungen von Autoren, <strong>di</strong>e<br />

thematisch den interkulturellen<br />

Dialog zwischen Europa und<br />

dem Nahen Osten widerspiegeln<br />

<strong>Berlin</strong>-Brandenburgische<br />

Akademie der Wissenschaften<br />

Einsteinsaal<br />

Jägerstraße 22/23<br />

10117 <strong>Berlin</strong><br />

Kontakt: Biagia Bongiorno,<br />

b.bongiorno@isr.tu-berlin.de<br />

4. September 2007 | 19:00 Uhr<br />

Klangreise<br />

<strong>Orient</strong> Okzident<br />

Festival zur Musik aus dem<br />

islamischen Kulturkreis bzw.<br />

deren Einflüssen auf <strong>di</strong>e europäische<br />

Kunstmusik<br />

Konzerthaus am<br />

Gendarmenmarkt<br />

Kontakt: Biagia Bongiorno,<br />

b.bongiorno@isr.tu-berlin.de<br />

23. Oktober 2007 | 20:00 Uhr<br />

Derwisch Tanzensemble<br />

Galata<br />

Mevlevi Konzert<br />

Das auf über 600 Jahre Tra<strong>di</strong>tion<br />

zurückblickende, weltberühmte<br />

„Galata Mevlevi Ensemble“ aus<br />

Istanbul zeigt <strong>di</strong>e Schönheit und<br />

Spiritualität des Drehtanz­Rituals<br />

und der Sufismus­Tra<strong>di</strong>tion<br />

Kammermusiksaal<br />

Philharmonie<br />

www.albakultur.de<br />

23. Juni 2007 | 15:00 Uhr<br />

Musl<strong>im</strong>e in <strong>Berlin</strong><br />

Bauwerke,<br />

Erin ner ungsorte und<br />

Lebenszeichen Führung<br />

Zweistün<strong>di</strong>ge Führung für bis<br />

zu 15 Personen an signifikante<br />

Orte musl<strong>im</strong>ischen Lebens. Das<br />

Miteinander der Kulturen unter<br />

der Leitung von Biagia Bongiorno<br />

(TU­<strong>Berlin</strong>)<br />

<strong>Berlin</strong>-Brandenburgische<br />

Akademie der Wissenschaften<br />

Einsteinsaal<br />

Jägerstraße 22/23<br />

10117 <strong>Berlin</strong><br />

Kontakt: Biagia Bongiorno,<br />

b.bongiorno@isr.tu-berlin.de<br />

Dauerveranstaltungen<br />

ab 30. Mai | 20:00 Uhr<br />

Sprachlos<br />

Theateraufführung<br />

Das Theaterstück des iranischfranzösischen<br />

Theatermachers<br />

Pedro Ka<strong>di</strong>var entwickelt <strong>di</strong>e<br />

Erfahrung von Lebens­ und Gefühlsintensität<br />

eines Menschen<br />

aus einem für <strong>di</strong>e Sprechbühne<br />

eher ungewöhnlichen Motiv:<br />

Einer seit Jahren praktizierten<br />

Sprachlosigkeit<br />

Di­So 10.00 ­ 18.00 Uhr;<br />

Do 10.00 ­ 22.00 Uhr<br />

Kosten: 12 € (ermäßigt: 10 €)<br />

Anmeldung erforderlich unter<br />

Telefon 030­20 90 54 01<br />

oder 030­20 90 54 32<br />

Pergamonmuseum<br />

Theodor­Wiegand­Saal<br />

ab Mai | <strong>di</strong>enstags, 18:00 Uhr<br />

CNN, Al Dschasira<br />

und wir – Deutsche<br />

Welle TV und ihre<br />

Konkurrenz weltweit<br />

Ringvorlesung<br />

Diskurs zu Aspekten des politischen<br />

Journalismus durch<br />

prominente Vertreter der deutschen<br />

Me<strong>di</strong>en<br />

unter der Schirmherrschaft der<br />

Friedrich Naumann Stiftung,<br />

Otto-Suhr-Institut<br />

Ihnestraße 21<br />

14195 <strong>Berlin</strong><br />

21. Juli– 18. August<br />

International<br />

Summer University<br />

zum Interkulturellen<br />

Dialog<br />

Spezieller Kurs mit dem Titel<br />

„Intercultural Dialogue or Clash<br />

of Civilizations: Islam and the<br />

West ­ Exploring Cultural Differences<br />

and Commonalities“.<br />

Wie viel wissen wir über „den<br />

anderen“ und wie viel wissen wir<br />

über uns?<br />

Freie Universität <strong>Berlin</strong><br />

fubis@fubis.org<br />

Infos: http://www.fubis.org<br />

31. August – 16. September<br />

21. Jü<strong>di</strong>sche Kulturtage<br />

<strong>Berlin</strong><br />

Israelische Popstars, verbotene<br />

Klänge, eine Begegnung<br />

jü<strong>di</strong>scher und arabischer Musiker<br />

aus Israel, <strong>di</strong>e wiedergefundenen<br />

Träume eines 15­jährigen<br />

Mädchens und <strong>di</strong>e Eröffnung der<br />

größten Synagoge Deutschlands<br />

Kosten: 12 € (ermäßigt: 10 €)<br />

verschiedene Orte<br />

Tickets gibt es in der<br />

Joach<strong>im</strong>staler Chaussee 13<br />

10719 <strong>Berlin</strong><br />

jkt@jg-berlin.org<br />

Telefon: 030­8 82 42 50<br />

www.jue<strong>di</strong>sche-kulturtage.org


[dī.wān]

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!