Dimensionstheorie Linearer Gleichungssysteme
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86 LinAlg I – Version 1 – 6. Januar 2006 c○ Rudolf Scharlau<br />
2.5 <strong>Dimensionstheorie</strong> <strong>Linearer</strong> <strong>Gleichungssysteme</strong><br />
Früher eingeführte Konzepte für Lineare <strong>Gleichungssysteme</strong> wie elementare Umformungen<br />
(siehe 2.2.5) und die Stufenform aus 2.2.7 übertragen sich unmittelbar<br />
auf Matrizen. In diesem Fall spricht man genauer von der Zeilenstufenform. Eine<br />
Matrix � A hat Zeilenstufenform, falls Indices k1 < k2 < . . .kr existieren mit<br />
�aiki = 1, �aij = 0 für j < ki oder i > r. Wir nennen diese Indices auch die Stufenindices<br />
von � A. Der Rang von � A ist gleich r, der Rang einer beliebigen Matrix<br />
definitionsgemäß gleich dem Rang einer durch elementare Umformungen daraus<br />
erzeugten Matrix im Zeilenstufenform. Allerdings kann man von einer gegebenen<br />
Matrix zu verschiedenen Zeilenstufenformen gelangen, und der Rang könnte vielleicht<br />
nicht immer der gleiche sein. Um dieses Problem zu beseitigen, geben wir<br />
eine Neubegründung des Begriffs “Rang” mit Hilfe des Dimensionsbegriffs.<br />
Definition 2.5.1 (Rang)<br />
a) Der Rang eins Vektorsystems v1, v2, . . .,vm in einem Vektorraum V ist definiert<br />
als<br />
rang{v1, v2, . . .,vm} := dim Lin{v1, v2, . . .,vm}.<br />
b) Der Spaltenrang einer Matrix A mit Spalten �a1,�a2, . . .,�an ∈ K m ist definiert<br />
als rang{�a1,�a2, . . .,�an}<br />
c) Der Zeilenrang einer Matrix mit Zeilen a 1, a 2, . . .,a m ∈ K 1×n ist definiert<br />
als rang{a 1, a 2, . . .a m}.<br />
Der von den Zeilen einer m × n-Matrix A erzeugte Unterraum des K 1×n heißt<br />
auch Zeilenraum von A; der von den Spalten von A erzeugte Unterraum des K m<br />
heißt Spaltenraum von A. Der Zeilen- bzw. Spaltenrang ist also definitionsgemäß<br />
gleich der Dimension des Zeilen- bzw. Spaltenraumes.<br />
Später werden wir sehen, daß der Zeilenrang immer gleich dem Spaltenrang ist.<br />
Das ist sehr praktisch und leicht zur merken, aber nicht ganz leicht zu begründen.<br />
Lemma 2.5.2 Bei den folgenden Umformungen eines Vektorsystems v1, v2, . . .,vm<br />
ändert sich die lineare Hülle Lin{v1, v2, . . ., vm} und somit auch der Rang nicht.<br />
1. Vertauschen zweier Vektoren;<br />
2. Ersetzen eines der vi durch αvi für einen Skalar α �= 0;<br />
3. Ersetzen eines der vi durch vi + αvj für einen Skalar α und ein j �= i.
LinAlg I – Version 1 – 6. Januar 2006 c○ Rudolf Scharlau 87<br />
Wie man sieht, handelt es sich hier um eine offensichtliche Verallgemeinerung der<br />
elementaren Zeilenumformungen von Matrizen.<br />
Korollar 2.5.3 Der Zeilenrang einer Matrix A ist gleich der Anzahl der von Null<br />
verschiedenen Zeilen einer daraus durch elementare Zeilenumformungen erhaltenen<br />
Matrix � A in Zeilenstufenform. Er entspricht somit dem früher definierten<br />
Rang des zugehörigen linearen Gleichungssystems.<br />
Zum Beweis muss man sich nur noch überlegen, daß die ersten r Zeilen von � A<br />
linear unabhängig sind, also eine Basis des Zeilenraumes bilden.<br />
Die 2. Interpretation der Matrix-Vektormultiplikation (siehe 2.4.2) liefert folgende<br />
wichtige Interpretation des Spaltenraumes:<br />
Bemerkung 2.5.4 Der Spaltenraum einer Matrix A besteht aus genau denjenigen<br />
Vektoren � b ∈ K m , für die das LGS A�x = � b eine Lösung hat. Er kann<br />
auch als das Bild der zur Matrix A gehörigen linearen Abbildung FA (siehe 2.4.4)<br />
aufgefasst werden.<br />
Wenn man elementare Zeilenumformungen durchführt, erhält man eine eins-zueins-Korrespondenz<br />
(bijektive Abbildung) zwischen dem möglichen rechten Seiten,<br />
d.h. den Bildmengen von FA, zur alten und neuen Matrix. Diese Beobachtung<br />
liefert zwar keinen exakten Beweis, aber eine gute Begründung für folgendes<br />
wichtige Lemma. Den vollständigen Beweis tragen wir später nach.<br />
Lemma 2.5.5 Der Spaltenrang einer Matrix ändert sich bei elementaren Zeilenumformungen<br />
nicht.<br />
Nun folgt relativ leicht der folgende erste wichtige Satz dieses Abschnitts:<br />
Satz 2.5.6 Der Zeilenrang einer Matrix ist immer gleich ihrem Spaltenrang.<br />
Dieses ist ein wirklich bemerkenswerter Satz, auch wenn er einfach klingt. Wir<br />
weisen noch einmal auf die völlig unterschiedliche Bedeutung des Zeilen- und<br />
Spaltenraumes hin.<br />
Der Rang einer Matrix A wird im folgenden mit rang(A) bezeichnet. Der Rang<br />
einer m ×n-Matrix kann höchstens gleich der kleineren der beiden Zahlen m und<br />
n sein.<br />
Wir wollen im Rest dieses Abschnittes den Begriff des Ranges auf lineare <strong>Gleichungssysteme</strong><br />
anwenden, genauer auf deren Lösbarkeit und die Struktur der<br />
Lösungsmenge.<br />
Gegeben sein ein LGS A�x = � b, wobei A eine m × n-Matrix ist. Die m × (n + 1)-<br />
Matrix (A, � b) heißt auch erweiterte Matrix des Systems. Es wird also die rechte<br />
Seite � b des LGS der Koeffizientenmatrix als weitere Spalte hinzugefügt.
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Proposition 2.5.7 Das Gleichungssystem A�x = � b hat genau dann eine Lösung,<br />
wenn der Rang der Koeffizientenmatrix mit dem Rang der erweiterten Matrix<br />
übereinstimmt: rang A = rang(A, � b).<br />
Wenn man <strong>Gleichungssysteme</strong> wie üblich mit dem Gauß-Verfahren löst, braucht<br />
man diesen Satz nicht (das System ist genau dann lösbar, wenn der Vektor � b<br />
nach Umformung in der r + 1-ten bis m-ten Komponente eine Null hat). Er ist<br />
eher von prinzipieller Bedeutung: jedes wie auch immer geartete Verfahren zur<br />
Rangbestimmung liefert auch einen Test auf Lösbarkeit eines LGS (aber noch<br />
nicht unbedingt die explizite Bestimmung der Lösung).<br />
Nun kommen wir zum Hauptsatz der Lösungstheorie linearer <strong>Gleichungssysteme</strong>.<br />
Wir erinnern daran, daß die Lösungsmenge L(A,�0) eines homogenen LGS mit n<br />
Unbestimmten ein Untervektorraum des K n ist.<br />
Theorem 2.5.8 (Dimensionsformel für LGS) Der Lösungsraum eines homogenen<br />
LGS A�x = �0, wobei A eine m × n-Matrix ist, hat die Dimension<br />
dim L(A,�0) = n − rang(A).<br />
Falls A bereits Zeilenstufenform hat und etwa die ersten r Indices die Stufenindices<br />
sind (also aii = 1 für i = 1, . . .,r := rang(A) ), so erhält man eine Basis<br />
von L(A,�0), indem man für die letzten n − r Komponenten nacheinander die<br />
n−r Einheitsvektoren des K n−r einsetzt und den jeweils zugehörigen eindeutigen<br />
Lösungsvektor bestimmt.<br />
Für inhomogene Systeme A�x = � b brauchen wir keine eigene Dimesionsformel.<br />
Falls es nämlich überhaupt eine Lösung �c gibt, so ist bekanntlich die Lösungsmenge<br />
L(A, � b) = �c + L(A,�0)<br />
eine affiner Unterraum. Seine Dimension ist definitionsgemäß (wie es der Anschauung<br />
entspricht) gleich der Dimension des zugehörigen Untervektorraumes.<br />
Übrigens nennt man zwei affine Unterräume v+U und w+U eines Vektorraumes<br />
auch parallel. Alle Verschiebungen von U sind nach Definition parallel zu U selbst.<br />
Ein paar Worte zur Veranschaulichung und Interpretation des Dimensionssatzes<br />
2.5.8. Zunächst betrachten wir ein paar Spezialfälle.<br />
Wenn man eine nicht-triviale Gleichung in zwei Unbestimmten hat, so ist die<br />
Lösungsmenge eine Gerade im K 2 , also von der Dimension 1 = 2 − 1.<br />
Wenn man eine nicht-triviale Gleichung in drei Unbestimmten hat, so ist die<br />
Lösungsmenge eine Ebene im K 3 , also von der Dimension 2 = 3 − 1.<br />
Wenn zwei nicht proportionale Gleichungen mit drei Unbestimmten vorliegen,<br />
so ist der Rang gleich 2 und die Lösungsmenge von der Dimension 1 = 3 −2, also<br />
eine Gerade.
LinAlg I – Version 1 – 6. Januar 2006 c○ Rudolf Scharlau 89<br />
Wenn man eine weitere Gleichung hinzunimmt, die jedoch abhängig von den<br />
beiden ersten ist, das heißt die entsprechende Zeile eine Linearkombination der<br />
ersten beiden Zeilen, dann ändert sich die Lösungsmenge nicht, und der Rang<br />
r = 2 ebensowenig.<br />
Allgemein liefert der Satz eine präzisierte und quantifizierte Version der offensichtlichen<br />
Beobachtung, daß eine Lösungsmenge um so kleiner wird, je mehr<br />
Gleichungen man hat. Dabei ist das Maß für die Größe eines Vektorraums seine<br />
Dimension. Allerdings ist die Dimension eines Lösungsraumes nicht n − m,<br />
wie man naiverweise erwarten könnte, sondern die Anzahl der Gleichungen m<br />
ist durch den Rang r zu ersetzen. In der Tat kann der Zeilenrang r als die Anzahl<br />
der “wesentlichen verschiedenen” (d.h. linear unabhängigen) Gleichungen<br />
beschrieben werden.<br />
Wir schauen uns zwei Spezialfälle von 2.5.8 an, nämlich die Fälle mit größtmöglichem<br />
Rang.<br />
Korollar 2.5.9 Gegeben sei ein LGS A�x = � b, das wenigstens eine Lösung besitzt.<br />
Dabei ist A eine m × n-Matrix vom Rang r. Die Lösung ist eindeutig<br />
bestimmt genau dann, wenn r = n ist.<br />
Zum Beweis zieht man sich auf den homogenen Fall zurück: es ist L(A, � b) =<br />
�c+L(A,�0), wobei �c die nach Voraussetzung existierende Lösung ist. Diese Menge<br />
besteht genau dann nur aus �c, wenn L(A,�0) nur aus der Null besteht, d.h. als<br />
Vektorraum die Dimension 0 hat. Nach der Dimensionsformel läuft das auf r = n<br />
hinaus.<br />
Korollar 2.5.10 Gegeben sei eine m × n-Matrix vom Rang r. Das LGS A�x = � b<br />
ist für jedes � b ∈ K m lösbar (man sagt auch: universell lösbar) genau dann, wenn<br />
r = m ist.<br />
Dieses folgt leicht aus der Bemerkung 2.5.4 zusammen mit Korollar 2.3.19: Lösbar<br />
ist das LGS genau dann, wenn � b im Spaltenraum liegt, und dieser ist genau dann<br />
gleich ganz K m , wenn seine Dimension r gleich m ist.<br />
Wir wenden uns schließlich noch denjenigen Matrizen A zu, deren LGS universell<br />
und eindeutig lösbar ist. Nach den beiden letzten Sätzen muss hier m = n = r<br />
sein. Solche Matrizen bekommen einen eigenen Namen.<br />
Definition 2.5.11 Eine Matrix heißt regulär, wenn sich quadratisch ist, also eine<br />
n × n-Matrix für passendes n, und ihr Rang größtmöglich, also gleich n ist.<br />
Definition 2.5.12 Die Einheitsmatrix En der Größe n über dem Körper K ist<br />
die Matrix, deren Spalten (oder Zeilen) die kanonischen Einheitsvektoren des K n
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sind:<br />
⎛ ⎞<br />
1 0 . . . 0 0<br />
⎜ ⎟<br />
⎜0<br />
1 . . . 0 0⎟<br />
⎜ ⎟<br />
En = ⎜<br />
⎜.<br />
.<br />
⎟ .<br />
⎜ ⎟<br />
⎝0<br />
0 . . . 1 0⎠<br />
0 0 . . . 0 1<br />
Für die Einheitsmatrix gilt En�x = �x für jeden Spaltenvektor �x und EnB =<br />
B sowie AEn = A für beliebige Matrizen A und B passender Größe. D.h. En<br />
liefert die identische Abbildung K n → K n und ist neutrales Element für die<br />
Matrizenmultiplikation (aufgefasst als Verknüpfung).<br />
Satz und Definition 2.5.13 a) Für eine n ×n-Matrix A sind die folgenden<br />
Eigenschaften äquivalent:<br />
1. A ist regulär, also vom Rang n.<br />
2. Für jedes � b ∈ K n hat das LGS A�x = � b eine eindeutige Lösung.<br />
3. A ist invertierbar, d.h. es existiert eine Matrix X so, daß AX = En.<br />
Die Matrix X aus 3. ist eindeutig bestimt und hießt die inverse Matrix zu<br />
X, Bezeichnung X =: A −1 .<br />
b) Bei regulärem A und gegebenem � b ∈ K n wird die nach 2. eindeutige Lösung<br />
des LGS A�x = � b durch �x = A −1� b gegeben.<br />
Die Lösung der Matrixgleichung AX = En ist gleichwertig zur Lösung der n<br />
Vektorgleichungen A�xi = �ei, i = 1, . . ., n. Dabei ist �xi die i-te Spalte von X. Die<br />
Lösung von LGS mit dem Gauß-Verfahren liefert also folgendes<br />
Verfahren zur Bestimmung der inversen Matrix. Gegeben sei die reguläre<br />
n ×n-Matrix A. Bilde die n ×2n-Matrix (A, En) und überführe den linken Block<br />
A durch elementare Zeilenumformungen in die Einheitsmatrix En. Die hierbei im<br />
rechten Block entstehende Matrix X erfüllt AX = En, ist also die inverse Matrix<br />
X = A −1 .<br />
Zusatz 2.5.14 Die durch die Gleichung AA −1 = En gekennzeichnete Inverse<br />
A −1 einer regulären Matrix A erfüllt auch die Gleichung A −1 A = En (“jede<br />
rechtsinverse Matrix ist auch linksinvers”).<br />
Wenn umgekehrt zu einer n × n-Matrix A eine Matrix X mit XA = En<br />
existiert, so ist A regulär und X die inverse Matrix zu A (“jede linksinverse<br />
Matrix ist auch rechtsinvers”).
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Eine Folgerung aus diesem Zusatz ist, daß die invertierbaren Matrizen einer festen<br />
Größe über einem festen Körper eine Gruppe bilden. Das gemäß den Gruppenaxiomen<br />
erforderliche inverse Element ist die inverse Matrix. Zu zeigen ist<br />
allerdings noch, daß das Matrizenprodukt von zwei invertierbaren Matrizen A<br />
und B wieder invertierbar ist. Das ist nicht schwer: die Matrix B −1 A −1 ist offenbar<br />
invers zu AB.<br />
Der Zusatz gewinnt noch an Bedeutung, wenn man die Matrizen als lineare<br />
Abbildungen auffasst. Bekanntlich drückt die Existenz eines Rechtsinversen die<br />
Surjektivität aus, die Existenz eines Linksinversen die Injektivität. Im allgemeinen<br />
sind das ganz verschiedene Eigenschaften. Für lineare Abbildungen F : V →<br />
V , wo V ein endlich-dimensionaler Vektorraum ist (oder auch F : V → W mit<br />
dim V = dim W < ∞) gilt jedoch: F ist injektiv genau dann, wenn F surjektiv<br />
ist. Dieses ist übrigens völlig analog zur Situation von beliebigen Abbildungen<br />
zwischen endlichen Mengen gleicher Mächtigkeit. Für lineare Abbildungen<br />
F = FA : K n → K n (vergleiche 2.4.9) kann man die letzte Behauptung schnell<br />
aus Satz 2.5.13 schließen; der allgemeine Fall ergibt sich später, wenn wir die<br />
Dimensionsformel 2.5.8 auf lineare Abbildungen übertragen haben.