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Artikel als PDF-Download - Am Basler Zentrum arbeiten Spezialisten

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Interview mit der international bekannten auf Spalten spezialisierten Stillberaterin<br />

Frau Regina Masaracchia,( http://www.stillenbeispalte.org)<br />

Liebe Frau Privatdozentin Dr. Dr. Schwenzer-Zimmerer, bitte stellen Sie sich kurz vor.<br />

Abb 1: PD Dr. Dr. Katja Schwenzer-Zimmerer<br />

© copyright: K. Schwenzer-Zimmerer<br />

Meine ersten Einblicke in die Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie erhielt ich <strong>als</strong> Kind. Mein Vater war<br />

Ordinarius für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie am Universitätsklinikum in Tübingen. In seiner<br />

Tätigkeit hatte er einen besonderen Schwerpunkt und viel persönlichen Idealismus auf die<br />

chirurgische Behandlung von Kindern mit angeborenen Fehlbildungen gelegt. In Tübingen<br />

bestand unter seiner Leitung bereits in den frühen 80er Jahren ein interdisziplinäres Spalten-<br />

<strong>Zentrum</strong> im heutigen Sinne mit einer Stillberaterin im Team.<br />

<strong>Am</strong> Wochenende durfte ich meinen Papa zu den Visiten im Krankenhaus begleiten. Hierbei hat<br />

sich wohl sein Enthusiasmus für die Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie auf mich übertragen.<br />

Besonders die kleinen Babies mit angeborenen Fehlbildungen weckten <strong>als</strong> kleines Mädchen<br />

mein Interesse und für mich war schon dam<strong>als</strong> klar, dass ich eines Tages auch Kinder operieren<br />

lernen wollte.<br />

Ich verbrachte meine Kinder- und Jugendzeit in Tübingen, machte dort Abitur und studierte von<br />

1987-1994 parallel Medizin und Zahnmedizin an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. 1994<br />

schloss ich beide Studiengänge und meine medizinische Doktorarbeit über objektive<br />

Hörmessungen bei Kindern erfolgreich ab. 1996 folgte der Abschluss meiner zahnmedizinischen<br />

Dissertation in der Grundlagen-Forschung auf dem Gebiet der Lasertechnologie.<br />

Meine Facharztausbildung zur Mund-Kiefer-Gesichtschirurgin begann ich 1994 in Tübingen und<br />

setzte sie 1996 in München an der Ludwig-Maximilians-Universität unter Prof. Ehrenfeld fort.<br />

Auch er maß der Fehlbildungschirurgie einen besonderen Stellenwert zu und betrieb sie im<br />

interdisziplinären Team auf sehr hohem Niveau nach Tübinger Tradition. Ich war zu Beginn<br />

meiner Münchner Zeit <strong>als</strong> Privatassistentin für die Betreuung der Spaltenkinder und die<br />

Spaltensprechstunden mit zuständig und engagierte mich für diese Aufgabe mit großer<br />

Begeisterung. 1998 erhielt ich den Deutschen Facharzttitel sowie 2002 den Europäischen<br />

Facharzttitel und die Zusatzbezeichnung „plastische Operationen“ auf der Basis einer breiten<br />

und fundierten allgemeinen operativen mund-kiefer-gesichtschirurgischen Weiterbildung in der<br />

Münchner Klinik. Während dieser Zeit beschäftigte ich mich neben intensiver


Auseinandersetzung mit der Chirurgie von Kieferfehlstellungen und einem besonderen<br />

Schwerpunkt in der ablativen und rekonstruktiven Tumorchirurgie weiterhin mit besonderem<br />

Engagement mit den kleinen Spaltpatienten. Ich stellte fest, dass ich Kindern mit diesem<br />

Problem nicht nur in Deutschland, sondern auch an weniger privilegierten Ländern auf der Welt<br />

helfen wollte, wo Menschen mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten ja oft bis in das Erwachsenenalter<br />

unoperiert bleiben. Seit 1998 beteilige ich mich daher regelmäßig an humanitären Projekten in<br />

Nepal, Burma, Indien und Kambodscha, wo ich im Laufe der Jahre unentgeltlich mehrere 1000<br />

Patienten operiert habe. Inzwischen bin ich Mitglied des Vorstandes von „Ärzte der Welt<br />

Deutschland“ e.V. www.aerztederwelt.com und leite in dieser Eigenschaft verantwortlich das<br />

Pojekt „L‘operation sourire - Kampong Cham/Oreang Ov“ in Kambodscha. Zusätzlich habe ich<br />

zusammen mit meinem Mann und einer Gruppe engagierter Mitstreiter eine eigene kleine<br />

Hilfsorganisation „Vergessene Patienten e.V." www.Vergessene-Patienten.com ins Leben<br />

gerufen. Jedes Jahr bringen mein Mann (Dr. Stephan Zimmerer, Neurochirurg) und ich<br />

gemeinsam insgesamt 4 Wochen auf solchen ehrenamtlichen Operations-Einsätzen in<br />

Kambodscha und anderen Ländern zu.<br />

Abb. 2: K. Schwenzer-Zimmerer mit kleinem Patienten vor der Operation in Kambodscha, ©<br />

copyright: K. Schwenzer-Zimmerer<br />

Meine Habilitation über Hightech-Verfahren in der Spaltchirurgie schloss ich 2008 ab. Die<br />

Grundlagen hierfür erarbeitete ich seit 2002/2003 im Team von Prof. Zeilhofer in der Forschung<br />

am Hightech-Forschungszentrum der Technischen Universität München und wechselte dann<br />

2003 an das Universitätsspital Basel. 2002 lernte ich Prof. Klaus Honigmann auf einem<br />

Operationsworkshop zum Thema Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten persönlich kennen. Wir<br />

begannen gemeinsam Spalten zu operieren und Erfahrungen und Gemeinsamkeiten in der<br />

Spaltchirurgie auszutauschen (wir kamen ja aus unterschiedlichen „Schulen“). Wir freundeten<br />

uns an und ich schätzte seine ehrliche Meinung <strong>als</strong> väterlicher Freund und erfahrener<br />

exzellenter Chirurg immer sehr. Seit 2005 bin ich <strong>als</strong> Nachfolgerin von Prof. Honigmann Leiterin<br />

des Spaltenzentrums in Basel und kann hier unter optimalen klinischen Verhältnissen mit<br />

ausgesprochen kompetenten Team-Kollegen sowohl in den ambulanten Sprechstunden <strong>als</strong><br />

auch in der Kinderklinik <strong>arbeiten</strong>. Hierbei können wir auf eine fundierte wissenschaftliche Basis<br />

aus Hightech-Forschung zu allen Belangen des LKG-Komplexes zurückgreifen. Ich leite das<br />

momentan größte Spaltzentrum in der Schweiz, im Dreiländereck Deutschland – Frankreich –<br />

Schweiz, das inzwischen zu einem der bedeutendsten Zentren europaweit zählt.<br />

Als Chirurgin, die selbst auch Mutter ist, kann ich einerseits meine fachliche Kompetenz<br />

professionell bei der Behandlung meiner kleinen Patienten einbringen und gleichzeitig die


Sorgen und Nöte junger Eltern, besonders natürlich der Mütter, aus eigener Erfahrung gut<br />

nachfühlen.<br />

Seit wann wird in Ihrem Krankenhaus einzeitig operiert?<br />

Der einzeitige Spaltverschluss wurde in Basel von Klaus Honigmann (übrigens parallel zu<br />

vereinzelten anderen gleichgesinnten Chirurgen an verschiedenen anderen Standorten in der<br />

Welt) zu Beginn der achtziger Jahre entwickelt und wird seitdem in Basel und im grenznahen<br />

deutschen Lörrach routinemässig bei allen Spaltformen durchgeführt. Hierbei muss man auch<br />

die Erfahrung und Kontinuität unserer Kinderanästhesie hervorheben, die unter der Leitung von<br />

Prof. Franz Frei in Basel und Dr. Dr. Walter Heindl in Lörrach seit vielen Jahren mit besonderer<br />

Fach-Kompetenz unsere Kinder während der Operationen und danach von Anästhesie-Seite<br />

mitbehandeln. Wir können inzwischen auf mehr <strong>als</strong> 20 Jahre Erfahrung und gut dokumentierte<br />

Fälle in unserem <strong>Zentrum</strong> zurückblicken. Im Juni dieses Jahres konnten wir die ersten<br />

Langzeitergebnisse im internationalen Vergleich zu mehrzeitigen Konzepten bei der<br />

Primärversorgung (EURO-CLEFT-Studie) vor internationalem Publikum am Bernd-Spiessl-<br />

Symposium für Innovative und Visionäre Technologien in der Cranio-Maxillo-Facialen Chirurgie<br />

vorstellen.<br />

Inzwischen habe ich die Methode basierend auf den Erkenntnissen aus den wissenschaftlichen<br />

Auswertungen der <strong>Basler</strong> Patienten, aufgrund jahrzehntelanger Erkenntnisse erfahrener<br />

Spaltchirurgen (z.B. Norbert Schwenzer, Dieter Schumann und anderer) sowie aufgrund meiner<br />

eigenen Vorerfahrungen aus der Tübinger und der Münchener Klinik und weiteren Zentren<br />

international wie folgt weiterentwickelt und verfeinert:<br />

Mit den von Dr. Margit Bacher in Tübingen entwickelten Techniken zur Behandlung von Kindern<br />

mit Pierre Robin-Syndrom und Franceschetti Syndrom oder ähnlichen Problemen können wir vor<br />

der ersten Operation die Atemwege sichern und die Operation optimal vorbereiten. Das Gleiche<br />

gilt auch für Babies mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten für die präoperative Ausformung und<br />

Vorbereitung der Lippen- und Kiefersegmente sowie der Nase. In meiner Tübinger Zeit durfte ich<br />

mit Frau Dr. Bacher, zu der ich nach wie vor einen engen Kontakt pflege, zusammen<strong>arbeiten</strong><br />

und von ihr persönlich <strong>als</strong> Assistenzärztin ihre Techniken erlernen. Nach dieser präoperativen<br />

Vorbehandlung – eventuell bei extremen Spalten in Verbindung mit einem kleinen<br />

vorbereitenden Eingriff, der sog. Lippenheftung - kann im Unterschied zu dem Konzept von<br />

Honigmann eine Gingivoperiostal-Plastik (d.h. direkter Kieferverschluss) statt primärer<br />

Osteoplastik durchgeführt werden. Zudem hat sich aus meiner klinischen Erfahrung ein früherer<br />

Operationszeitpunkt, nämlich die Komplettoperation schon ab 3 Monaten bei einem<br />

Mindestgewicht von 5 kg, bewährt. Wesentlich ist hierbei in meinen Augen, Bluttransfusionen zu<br />

vermeiden und Schmerzen möglichst gering zu halten, den Aufenthalt auf der Intensivstation zu<br />

minimieren und die Kinder unter keinen Umständen zu fixieren. Hierbei habe ich in schon mit der<br />

Anästhesie in München in gemeinsamen Studien und Forschungs<strong>arbeiten</strong> Verfahren zur<br />

Einschränkung des Blutverlustes, der Schmerztherapie und des Vorgehens rund um die<br />

Operation und der Narkose entwickelt (spezielle Lagerung, spezielle Blutstillung, besondere<br />

Anästhesietechniken). So benötigen die von mir operierten Kinder so gut wie nie eine<br />

Bluttransfusion, können direkt nach der Operation oral gefüttert (keine Sondierung!!) und in der<br />

Regel nach 3-4 Tagen nach Hause entlassen werden. Dass ein Elternteil ständig beim Baby<br />

bleiben kann, ist hierbei selbstverständlich. Mit diesem modernen kinder- und familiengerechten<br />

Vorgehen beträgt - alle spaltbedingten Eingriffe zwischen 0 und 20 Jahren<br />

zusammengenommen - die durchschnittliche stationäre Gesamtverweildauer im Krankenhaus<br />

nur etwa 14 Tage. Im Vergleich dazu berichten Patienten, die nach anderen Konzepten


ehandelt werden, bzw. ältere Spaltträger von bis zu 40 Operationen und<br />

Krankenhausaufenthalten von mehreren Monaten.<br />

Die „all-in-one-Technik“, die wir bei der Primäroperation durchführen, wird ggf. bei der<br />

Schlusskorrektur ebenfalls soweit wie möglich berücksichtigt, sodass auch hier möglichst viele<br />

operative Eingriffe „all-in-one“, d.h. in einer Narkose durchgeführt werden.<br />

Weitere besondere Schwerpunkte sind darüber hinaus die individualisierte<br />

morphologieorientierte mikrochirurgische Operationstechnik mit maßgeschneiderten<br />

Schnittführungen, gestützt auf computerunterstützten Hightech-Planungen in 3D. Hierbei legen<br />

wir perioperativ besonderen Wert auf die konsequente funktionelle Vor- und Nachbetreuung.<br />

Seit einigen Jahren führe ich innerhalb des Primärverschlusses die primäre Korrektur der Nase<br />

im Zuge des Lippenverschlusses basierend auf US-amerikanischen Techniken von Curt Cutting<br />

und John F. Mulliken durch. Zusätzlich unterstützen wir unsere Therapie durch ein<br />

ganzheitliches und komplementärmedizinisches supportives Behandlungskonzept.<br />

Abb 3a: Flyer LKG-<strong>Zentrum</strong> Seite 1 mit Kontakten, © copyright: K. Schwenzer-Zimmerer


Abb. 3b: Flyer LKG-<strong>Zentrum</strong> Seite 2, © copyright: K. Schwenzer-Zimmerer<br />

Wie sieht das Procedere nach der Geburt eines Babies mit LKG in Ihrem<br />

Krankenhaus aus?<br />

Das Universitätsspital Basel führt routinemässig 3D-Ultraschall-Untersuchungen in der<br />

Schwangerschaft durch. Besteht der Verdacht einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte bei einem<br />

Baby im Mutterleib, wird unser Team direkt zu dem Ultraschall Termin in der Gynäkologie<br />

hinzugezogen. Wir können uns so schon vor der Geburt selbst ein Bild von der zu erwartenden<br />

Fehlbildung machen, die Eltern ausführlich informieren und ihren Ängsten begegnen. Wir<br />

vermitteln Kontakte zu anderen Betroffenen und können die Geburt mit anschliessender<br />

Betreuung optimal planen. Direkt nach der Geburt werden Mutter und Kind von unserem Team<br />

(MKG-Chirurg zusammen mit Stillberaterin) betreut. Hierbei wird die genaue Ausdehnung der<br />

Fehlbildung festgestellt und dokumentiert. Wir können direkt auf Fragen und Bedürfnisse der<br />

Eltern eingehen. Wir nehmen in der Regel bei guter nachgeburtlicher Anpassung des Babies (an<br />

die „neue“ Welt ausserhalb des Mutterleibes) am ersten oder zweiten Lebenstag einen<br />

Oberkiefer-Abdruck und fertigen in unserem Zahntechniklabor im Hause ein erstes<br />

Trinkplättchen an, so dass der erste Trinkversuch unter Anleitung der mit Spalten erfahrenen<br />

Stillberaterinnen stattfinden kann. Wenn das Baby bis auf die Spaltbildung gesund ist, erfolgt die


Behandlung auf der gynäkologischen Mutter-Kind-Station. Hier werden Mutter und Kind nicht<br />

getrennt und der natürliche Aufbau der Mutter-Kind-Beziehung in der wichtigen nachgeburtlichen<br />

Prägungsphase (der Bonding-Phase) kann so ungestört stattfinden. Die Mutter, der Vater,<br />

Geschwister und andere Familienangehörige sollen einen möglichst natürlichen Umgang mit<br />

dem Neugeborenen entwickeln können und eine familienfreundliche Atmosphäre vorfinden,<br />

damit der neue Erdenbürger auch mit seiner Spalte von seinem Umfeld ohne Ängste<br />

angenommen werden kann. Hierbei unterstützen wir die Familie nach besten Möglichkeiten.<br />

Abb. 4: Links normale Trinkplatte, rechts Platte mit Fortsatz für einen Säugling mit Pierre-Robin-<br />

Sequenz, © copyright: K. Schwenzer-Zimmerer<br />

Abb. 5: Fütterung durch „Fingerfeeding“ bei Säugling mit Pierre-Robin-Sequenz,<br />

© copyright: K. Schwenzer-Zimmerer<br />

Welchen Stellenwert hat das Stillen bei LKG?<br />

Der möglichst natürliche Kontakt zwischen Mutter und Baby ist für die Entwicklung des Kindes<br />

sehr wichtig. Hierbei spielt das Stillen oder zumindest das Anlegen des Kindes an die<br />

mütterliche Brust und die körperliche Nähe sowohl für das Wohlbefinden des Neugeborenen <strong>als</strong><br />

auch der Mutter eine grosse Rolle. Wir legen besonderen Wert darauf, dass das natürliche<br />

„Bonding“ durch engen Kontakt postpartal zwischen Mutter und Neugeborenem ungestört<br />

ablaufen kann. Die Frauenklinik Basel hat im Bereich der Geburtshilfe unter Leitung von Frau<br />

Prof. Irene Hösli und unter dem besonderen Engagement von Frau Silvia Honigmann die<br />

Zertifizierung „Stillfreundliches Krankenhaus“ erhalten. Eine Verlegung auf die neonatologische<br />

Intensivstation oder die zusätzliche Sondierung des Babies erfolgt nur in sehr seltenen<br />

Ausnahmefällen. Eine Fixierung des Kindes ist eigentlich nie nötig. Für die Mutter-Kind-<br />

Beziehung, aber auch für die Stimulierung einer guten muskulären Entwicklung der perioralen<br />

und Zungen-Muskulatur ist das frühzeitige Stillen bzw. die orale Fütterung durch die Mutter<br />

selbst unter bzw. nach Anleitung durch die Stillberaterin wichtig. Fast immer kann, ausser bei


sehr schwachen Neu- oder Frühgeborenen, eine vollständige orale Ernährung mittels spezieller<br />

Techniken wie „Fingerfeeding“, Einsatz eines Habermannsaugers oder bei Lippen- bzw. Lippen-<br />

Kiefer-Spalten Brusternährung durchgeführt werden. Einige Kinder und Mütter erreichen auch<br />

trotz Gaumenspalte mit der Trinkplatte eine erfolgreiche vollständige Ernährung durch Stillen.<br />

Falls dies nicht an der Brust gelingt, empfehlen wir die Muttermilchernährung (abgepumpte<br />

Muttermilch) mindestens bis nach der Operation, um eine optimale immunologische Situation<br />

und Ernährung für den kleinen Patienten zu gewährleisten. Hier gehen wir natürlich immer auf<br />

die individuellen Wünsche und auf die psychische sowie die physische Situation der Mutter ein<br />

und respektieren selbstverständlich auch eine andere Entscheidung. Wichtig ist, dass kein<br />

Leistungsdruck entsteht und dass sowohl dem Wohle des Kindes <strong>als</strong> auch dem Wohle der<br />

Mama entsprechend Rechnung getragen wird. Es kann medizinische Gründe geben, aus denen<br />

die Brusternährung nicht durchgeführt werden kann. Auch die Ernährung mit<br />

Muttermilchersatzpäparaten gewährleistet eine gesunde Entwicklung.<br />

Wie lange dauert im Durchschnitt eine OP eines Kindes mit einer einzeitigen,<br />

durchgehenden Spalte und was müssen die Eltern prä- und postoperativ<br />

beachten?<br />

Der Verschluss einer durchgehenden Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte erfolgt mit Mikroskop- bzw.<br />

Lupenvergrösserung in mikrochirurgischer Technik (Fadenstärken 6/0 bis 8/0) und wird von<br />

hinten (Gaumenzäpfchen) nach vorne (Lippen-Nasen-Komplex) durchgeführt. Zunächst wird der<br />

Weichgaumen dreischichtig mit Neuposition der Muskulatur und Vereinigung des Muskelringes<br />

gebildet. Der Hartgaumen wird verschlossen, indem die beiden getrennten Nasengänge<br />

konstruiert werden und die mundseitige Schleimhaut verschlossen wird. Gegebenenfalls erfolgt<br />

zusätzlich die Korrektur der Nasenscheidewand. Anschliessend wird der Kieferverschluss, die<br />

sog. Gingivoperiostal-Plastik, meist nach Vorbehandlung mit der (aktiven oder passiven)<br />

Trinkplatte und Pflastern durchgeführt. Die Lippen- und Nasenplastik wird aufgrund zuvor<br />

erhobener 3D-Daten an die spezifische Anatomie des Kindes angepasst durchgeführt.<br />

Abschliessend werden eine präoperativ laborgefertigte, genau passende Verbandplatte und ggf.<br />

Naseneingangsformer eingenäht. Dies dauert insgesamt ca. 3 1/2 Stunden. Der Eingriff erfolgt<br />

unter antibiotischer Abdeckung. Zuvor wird die Dokumentation der Spalte (Foto, 3D-<br />

Vermessung) und die mikroskopische Untersuchung der Ohren ggf. mit Parazentese oder<br />

Einlage von Paukenröhrchen sowie der objektive Hörtest mit Hirnstromableitungen durch die<br />

Kollegen der HNO durchgeführt. Die eingenähte Verbandplatte sowie die haarfeinen Nähte<br />

werden in einer Kurznarkose nach einer Woche ambulant entfernt. Hierbei werden alle Wunden<br />

und ggf. die Ohren nochm<strong>als</strong> kontrolliert und dokumentiert.<br />

In manchen Fällen wird tagesstationär oder ambulant eine Lippenheftung, die ca. 20 min dauert,<br />

in einer Kurznarkose 4-6 Wochen vor dem eigentlichen Verschluss vorgenommen, um eine<br />

optimale Annäherung der Alveolarfortsätze für die nachfolgende Gingivoperiostal-Plastik zu<br />

ermöglichen.<br />

Vor der Operation sollten keine Aktiv-Impfungen erfolgen. Falls das Kind oder seine Umgebung<br />

an Kinderkrankheiten (Windpocken, Keuchhusten etc.) leidet oder eine Primäraffektion mit<br />

Herpes simplex (Mundfäule) oder eine schwere Erkältung vorliegen, wäre dies ein Grund, die<br />

Operation zur Sicherheit des kleinen Patienten auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.<br />

Nach der Operation kann das Baby auf dem Arm der Mutter sofort einen ersten Trinkversuch<br />

unternehmen. Manche Kinder trinken spontan, andere lassen sich noch etwas Zeit. (Wir<br />

empfehlen den Müttern, die gewohnten Utensilien (v.a. Sauger) und die gewohnte Nahrung<br />

mitzubringen, da die Babies durch Veränderungen bei der Fütterung zusätzlich gestört werden).<br />

Die Schmerzen sind in der postoperativen Phase durch eine spezielle, lang anhaltende


Lokalanästhesie vollständig ausgeschaltet. Eine Infusion ergänzt für die ersten beiden Tage eine<br />

optimale Schmerzbekämpfung. Wegen der besseren Betreuung durch das Pflegepersonal (pro<br />

Kind eine Schwester) kommt das Kind für die erste Nacht postoperativ auf die Wachstation. Die<br />

meisten Babies werden am nächsten Tag auf die Norm<strong>als</strong>tation verlegt und am dritten Tag nach<br />

Hause entlassen (sobald sie ausreichend trinken). Sollte dies einmal nicht der Fall sein, wäre<br />

auch ein längerer stationärer Verbleib – z.B. bis zur Nahtentfernung am siebten Tag - möglich.<br />

Nach der Nahtentfernung kann das Baby immer nach Hause entlassen werden. Instruktionen<br />

zur Narbenpflege werden den Eltern gegeben und eine postoperative funktionelle Stimulation<br />

altersentsprechend durchgeführt und den Eltern gezeigt. Bei ausgeprägter Spaltnase ist das<br />

Tragen von Naseneingangformern für 4 – 6 Monate erforderlich, um das operativ erzielte<br />

Ergebnis zu erhalten. Vorübergehend muss die Sonne zur Vermeidung verstärkter<br />

Pigmentierung gemieden werden (ggf. sun-blocker).<br />

Wann darf das Kind nach der OP gestillt werden und wie sind die Chancen,<br />

dass es danach ohne Hilfsmittel gestillt werden kann?<br />

Das Kind kann sofort nach dem Erwachen aus der Narkose gestillt bzw. angelegt werden. Für<br />

Babies, die die Brust gewohnt sind, ist das auch die beste Möglichkeit sie zu beruhigen. Kinder<br />

sind stark von Gewohnheiten abhängig, deshalb ist es schwieriger, kleine Patienten, die vor der<br />

Operation nur mit der Flasche ernährt worden sind, nach der Operation noch erfolgreich an die<br />

Brust-Ernährung zu gewöhnen. Die Brusternährung erfordert in der Regel einen stärkeren<br />

Muskeleinsatz (vgl. Pausbäckchen bei gestillten Säuglingen). Kinder, die Brust nicht <strong>als</strong><br />

Nahrungsquelle kennen, bevorzugen in der Regel den gewohnten Sauger. Daher ist es auch<br />

nicht sinnvoll, bei Flaschenernährung in dieser Phase sofort einen anderen Sauger oder eine<br />

andere Nahrung auszuprobieren. Wenn man eine Brusternährung sehr gerne erreichen möchte,<br />

sollte man das Kind schon vor der Operation kontinuierlich an die Brust nehmen, auch wenn so<br />

die Ernährung nicht gewährleistet ist, um diese Umgebung vertraut zu machen. In einigen Fällen<br />

gelingt es dann, die Kinder nach der Operation erfolgreich an das Stillen zu gewöhnen. Hier ist<br />

die Geduld aller Beteiligten gefragt und die Mama sollte sich nicht zu schnell entmutigen lassen.<br />

Alle zuständigen Fachpersonen unterstützen Mutter und Kind auf dem Wege, die für sie beste<br />

Ernährungsform zu finden.<br />

Wie sehen das weitere Procedere nach der Operation und die ersten Jahre danach aus?<br />

Die Kinder werden im ersten halben Jahr alle ein bis drei Monate kontrolliert, je nach Bedarf.<br />

Danach erfolgt eine halbjährliche Kontrolle in unserer interdisziplinären Sprechstunde, bei der<br />

immer ein Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurg, ein H<strong>als</strong>-Nasen-Ohrenarzt, ein<br />

Kieferorthopäde/Kinderzahnarzt, eine Logopädin und ggf. die Still- und Ernährungsberaterin<br />

anwesend sind. Bei Bedarf können darüber hinaus weitere <strong>Spezialisten</strong> hinzugezogen werden.<br />

Die Betreuung erfolgt in enger Kooperation mit den heimatnahen Fachkollegen der<br />

unterschiedlichen beteiligten Disziplinen, da viele Kinder aufgrund unseres Konzeptes auch von<br />

weiter her kommen. Kinder, die nahe gelegen wohnen, können auch in Basel direkt behandelt<br />

werden (Therapie, Kieferorthopädie, Ergotherapie etc.). Wir bemühen uns zusätzlich um eine<br />

adäquate Beratung bei sozialen, pädagogischen oder auch logistischen Problemen. Je nach<br />

Entwicklung finden dann jährlich Kontrollen statt. Bei Bedarf natürlich auch öfter.<br />

Nach dem primären Eingriff werden im Normalfall vor dem Durchbruch der bleibenden<br />

Frontzähne keine weiteren Eingriffe mehr durchgeführt. In Ausnahmefällen können kleine


Korrekturen vorgenommen werden, wenn für andere Eingriffe (z.B. Legen oder Entfernen von<br />

Paukenröhrchen oder eine Zahnsanierung) sowieso eine Narkose notwendig wird.<br />

Die meisten Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten benötigen eine kieferorthopädische<br />

Behandlung. Manche Kinder brauchen zur Einstellung des seitlichen Schneidezahnes oder des<br />

Eckzahnes eine sekundäre Osteoplastik (z.B. mit Beckenkamm-Knochen). Entsprechend der<br />

kieferorthopädischen Indikation wird dies in enger Abstimmung mit den Kollegen zu gegebener<br />

Zeit durchgeführt. Nach dem pubertären Wachstumsschub ist je nach Ausmass der Spalte und<br />

Form des individuellen Wachstums eine nochmalige kieferorthopädische Behandlung nötig. Dies<br />

kann u. U. durch eine operative Kieferumstellung oder Zahnimplantation ergänzt werden. Eine<br />

abschliessende Korrektur der Nase und eventuell der Lippennarbe wird nach dem pubertären<br />

Wachstumsschub empfohlen.<br />

Bei komplikationslosem Verlauf werden bei Patienten mit einer durchgehenden Lippen-Kiefer-<br />

Gaumen-Spalte insgesamt maximal drei Eingriffe notwendig: der Erstverschluss mit drei<br />

Monaten, die sekundäre Kieferspaltosteoplastik (falls aus kieferorthopädischer Indikation<br />

notwendig) mit ca. 8-11 Jahren und die ästhetische Schlusskorrektur nach Abschluss der<br />

Pubertät. Auf Wunsch der Patienten können ästhetische Korrekturen zu jedem Zeitpunkt<br />

durchgeführt werden.<br />

Insgesamt werden unsere Patienten bis zum 20. Lebensjahr und bei Bedarf auch länger<br />

kontrolliert. Sie können sich selbstverständlich auch nach Abschluss der Behandlung wieder<br />

vorstellen.<br />

Liebe Frau Privatdozentin Dr. Dr. Schwenzer-Zimmerer, vielen Dank für das interessante<br />

Interview!

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