Inhaltsverzeichnis Abhandlungen Tagungsbericht ... - Zeitschrift Arbeit
Inhaltsverzeichnis Abhandlungen Tagungsbericht ... - Zeitschrift Arbeit
Inhaltsverzeichnis Abhandlungen Tagungsbericht ... - Zeitschrift Arbeit
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Inhaltsverzeichnis</strong><br />
Editorial 3<br />
<strong>Abhandlungen</strong><br />
Daniel Lois<br />
Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung<br />
älterer Erwerbstätiger 5<br />
Carsten Wirth<br />
Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung:<br />
Eine Organisationsform der Zukunft? 23<br />
Sven Hauff<br />
Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion<br />
psychologischer Verträge aus Sicht der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen 36<br />
Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />
Learning for Production. E-Learning in der<br />
betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung 54<br />
Abstracts (English) 69<br />
<strong>Tagungsbericht</strong><br />
"interkulturell/ international: arbeiten, führen + kooperieren<br />
(Pascal Dey, St. Gallen)) 71<br />
Rezensionen<br />
Michael Mohe<br />
Klientenprofessionalisierung - Strategien und Perspektiven<br />
eines professionellen Umgangs mit Unternehmensberatung<br />
Michael Mohe (Hg.)<br />
Innovative Beratungskonzepte - Ansätze, Fallbeispiele,<br />
Refl exionen
Karin Martens-Schmid (Hg.)<br />
Coaching als Beratungssystem - Grundlagen, Konzepte,<br />
Methoden<br />
David Seidel, Martin Linder, Werner Kirsch (Hg.)<br />
Grenzen der Strategieberatung - Eine Gegenüberstellung<br />
der Perspektiven von Wissenschaft, Beratung und Klienten<br />
Jörg Sydow, Stephan Manning (Hg.)<br />
Netzwerke beraten<br />
(besprochen von Martin Birke, Dortmund) 73<br />
Jochen Dreher<br />
Interkulturelle <strong>Arbeit</strong>swelten. Produktion und<br />
Management bei Daimler Chrysler<br />
(besprochen von Markus Friederici und Anna Körs, Hamburg) 77<br />
Jürgen Howaldt<br />
Neue Formen sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion<br />
in der Wissensgesellschaft. Forschung und Beratung in<br />
betrieblichen Innovationsprozessen<br />
(besprochen von Angela Wroblewski, Wien) 78<br />
Heinz-Jürgen Dahme, Gertrud Kühnlein, Norbert Wohlfahrt<br />
Zwischen Wettbewerb und Subsidiarität - Wohlfahrtsverbände<br />
unterwegs in die Sozialwirtschaft<br />
(besprochen von Anna Stefaniak, Dortmund) 79<br />
Daniel Bieber, Heike Jacobsen, Stefan Naevecke, Christian Schick,<br />
Franz Speer<br />
Innovation der Kooperation - Auf dem Weg zu einem neuen<br />
Verständnis zwischen Industrie und Handel?<br />
(besprochen von Michael Jonas, Wien) 80<br />
Gertraude Krell, Richard Weiskopf<br />
Die Anordnung von Leidenschaften<br />
(besprochen von Daniela Rastetter, Hamburg) 81<br />
Heike Kahlert, Claudia Kajatin<br />
<strong>Arbeit</strong> und Vernetzung im Informationszeitalter. Wie neue<br />
Technologien die Geschlechterverhältnisse verändern<br />
(besprochen von Irene Dölling, Potsdam) 82<br />
Hinweise für Autorinnen und Autoren
Editorial<br />
Mit dem Beitrag von Daniel Lois setzen wir die Veröffentlichung von Beiträgen zum Thema<br />
fort, wie Beschäftigte und Unternehmen auf den demografi schen Wandel reagieren oder ihn<br />
gestalten. In den empirischen Untersuchungen wird die altersabhängige Beteiligung an beruflicher<br />
Weiterbildung bisher fast ausschließlich über die Angebots- und Nachfragestrukturen<br />
und den damit verbundenen Finanzierungsfragen untersucht. Lois setzt dagegen an dem<br />
Kontext an, wodurch Qualifi zierungsbedarf entsteht, und kann mit Daten des Berichtssystems<br />
Weiterbildung zeigen, dass ältere Erwerbstätige sehr wohl in „ihr Humankapital“ investieren<br />
– allerdings selektiv und unter spezifi schen Bedingungen.<br />
Während die arbeitsmarktpolitischen Strategien und Maßnahmen im Zusammenhang<br />
mit den „Hartz-Reformen“ große Aufmerksamkeit in der öffentlichen Diskussion fi nden,<br />
wird dagegen weniger nachgefragt, ob die intendierten politischen Zielsetzungen mit den<br />
organisatorischen Veränderungen in der Bundesagentur umgesetzt werden können. Die<br />
zunehmende Fremdvergabe von Aufgaben der <strong>Arbeit</strong>svermittlung hat Auswirkungen auf<br />
Position und Aufgabenzuschnitt der Bundesagentur. Carsten Wirth fragt in seinem Beitrag,<br />
ob die Koordination der damit verbundenen Beziehungen und Interaktionen in Form von<br />
Projektnetzwerken eine Erfolg versprechende Option für die Bundesagentur sein könnte.<br />
Sven Hauff geht der Frage nach, wie sich das Verhältnis zwischen <strong>Arbeit</strong>geberInnen und<br />
<strong>Arbeit</strong>nehmerInnen im Kontext der zunehmenden Flexibilisierung der Beschäftigung verändert.<br />
In der Diskussion wird meist von einer Erosion des alten Modells des impliziten bzw.<br />
psychologischen Vertrages von Loyalität und Sicherheit auf Seiten der Beschäftigten ausgegangen.<br />
Hingegen kann Hauff anhand repräsentativer Daten zeigen, dass <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen<br />
starke Gerechtigkeitsansprüche an Beschäftigungsbeziehungen stellen und in hohem Maße<br />
an der Sicherheit ihres <strong>Arbeit</strong>splatzes interessiert sind. Mehrheitlich scheinen sie nach wie<br />
vor an den Prinzipien des „alten“ psychologischen Vertrages festzuhalten.<br />
Im vierten Beitrag geht es um computergestütztes Lernen. Nach anfänglicher Euphorie<br />
in den neunziger Jahren ist es um dieses Thema etwas still geworden. Christina Schachtner,<br />
Gabriele Frankl und Angelika Höber sehen einen wesentlichen Grund darin, dass in diesem<br />
Bereich – wie so häufi g – zu sehr auf die Technik gesetzt worden ist. Sie plädieren für eine<br />
Neuorientierung des E-Learning und zeigen an einem betrieblichen Beispiel, wie der Wissenserwerb<br />
in der Produktion in adäquate Lernangebote übersetzt werden kann.<br />
In diesem Heft veröffentlichen wir anstelle der Kurzbeiträge eine außerordentlich<br />
umfangreiche Sammelrezension von Martin Birke. Anhand von fünf ausgewählten Publikationen<br />
aus den letzten drei Jahren gibt er einen Ein- und Überblick in die vielschichtige<br />
Umbruchsituation der Beratungsbranche und über Perspektiven der Unternehmensberatung<br />
aus sozialwissenschaftlicher Sicht. Darüber hinaus stellen wir in diesem Heft noch sechs<br />
weitere Rezensionen zu Einzelpublikationen unseren LeserInnen zur Verfügung.<br />
Aufgrund eines Krankheitsfalls in der Redaktion wird dieses Heft leider erst viel später<br />
erscheinen, als Sie als LeserIn es von uns gewohnt sind. Wir bitten Sie um Verständnis.<br />
Wir werden uns bemühen, wieder schrittweise zum üblichen Erscheinungsrhythmus aufzuschließen.<br />
Die Herausgeber/innen und die Redaktion der ARBEIT
<strong>Abhandlungen</strong><br />
Daniel Lois<br />
Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer<br />
Erwerbstätiger 1<br />
Abstract<br />
Der Beitrag zeigt mit Daten des Berichtssystems Weiterbildung 2000, dass die altersspezifi sche Beteiligung<br />
an formeller berufl icher Weiterbildung on-the-job je nach Anlass der Teilnahme variiert: Die<br />
Partizipation an Einarbeitungs- und vor allem Aufstiegsqualifi zierungen erweist sich als negativ altersabhängig,<br />
während die Beteiligung an Anpassungsfortbildungen in keinem signifi kanten Zusammenhang<br />
mit dem Alter steht. Auch ältere Erwerbstätige investieren folglich in ihr Humankapital – allerdings<br />
selektiv und unter spezifi schen Bedingungen: Mit steigendem Alter gewinnen positive Einstellungen<br />
gegenüber der eigenen Lernfähigkeit als Teilnahmevoraussetzungen an Bedeutung. Zudem gibt die<br />
Qualität technologischer Innovationen den Ausschlag darüber, ob eine formelle Weiterbildung überhaupt<br />
erforderlich wird. Sind neue <strong>Arbeit</strong>saufgaben z.B. mit der vorangehenden Tätigkeit verwandt, kann<br />
die Umstellung von älteren Erwerbstätigen teilweise durch einen Transfer ihres Erfahrungswissens<br />
bewältigt werden.<br />
1 Problemstellung<br />
Die berufl iche Weiterbildung wird auch in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen. Für diese<br />
These spricht vor allem die zunehmende Geschwindigkeit des Wandels der Anforderungen in<br />
der <strong>Arbeit</strong>swelt: Die Globalisierung der Märkte, die sich beschleunigende Innovationsdynamik<br />
und die Implementation neuer <strong>Arbeit</strong>s- und Organisationsformen führen dazu, dass einmal<br />
erworbene Qualifi kationen immer schneller veralten und die Tätigkeitsanforderungen der<br />
<strong>Arbeit</strong>splätze weiter steigen (vgl. Willke 1998, 32ff; Weidig/Hofer/Wolff 1999; Schiersmann<br />
2000, 284f).<br />
Die steigenden Qualifi kationsanforderungen werden in Zukunft von älter werdenden<br />
Belegschaften bewältigt werden müssen. In der fachwissenschaftlichen und politischen Diskussion<br />
gilt eine längere Beschäftigung künftiger Kohorten älterer <strong>Arbeit</strong>nehmer als wichtige<br />
Option, um den zu erwartenden Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials auszugleichen.<br />
Folgt man den Prognosen, werden spätestens im Jahr 2010 50% der Erwerbstätigen über 40<br />
1 Der Autor dankt Oliver Arránz-Becker, Frank Kleemann, Johannes Kopp und Christina Kunz für Anregungen<br />
und Hinweise.<br />
<strong>Arbeit</strong>, Heft 1, Jg. 16 (2007), S.5-22
6 Daniel Lois<br />
Jahre alt sein (Deutscher Bundestag 2002, 26ff) 2 . Die Anpassung an die Veränderungen im<br />
Beschäftigungssystem kann folglich nicht allein durch die berufl iche Erstausbildung bewältigt<br />
werden. Es müssen zunehmend Berufstätige im mittleren und höheren Alter weitergebildet<br />
werden, damit die Innovationsfähigkeit der Betriebe erhalten bleibt (vgl. Koller/Plath 2000,<br />
116ff).<br />
In der einschlägigen Literatur ist bereits mehrfach auf den Widerspruch zwischen den<br />
Qualifi kationsrisiken älterer Erwerbstätiger und ihrer mangelnden Beteiligung an berufl ichen<br />
Weiterbildungsmaßnahmen hingewiesen worden (z.B. Barkholdt/Frerichs/Naegele 1995; Koller/Plath<br />
2000; Schiersmann 2000). So bestehen nach wie vor intergenerative Diskrepanzen<br />
im Niveau der schulischen und berufl ichen Erstausbildung, das bei jüngeren Erwerbstätigen<br />
tendenziell höher liegt. Darüber hinaus unterliegen die Qualifi kationen älterer Personen einer<br />
erhöhten Entwertungsgefahr, wenn im Zuge arbeitsorganisatorischer oder technologischer<br />
Innovationen Anforderungen an sie gestellt werden, die nicht Bestandteil ihrer berufl ichen<br />
Erstausbildung waren. Fachwissen kann darüber hinaus durch eine dauerhafte berufl iche<br />
Unterforderung oder infolge einer langfristigen betriebsspezifi schen Einengung der Tätigkeit<br />
obsolet werden. Schließlich ist auch der altersspezifi sche Leistungswandel den Qualifi kationsrisiken<br />
zuzurechnen (vgl. Naegele 1992, 23ff).<br />
Eine altersübergreifende berufl iche Weiterbildung gilt in diesem Zusammenhang allgemein<br />
als „Königsweg“ (Clemens 2001, 102), um auf steigende und sich schnell verändernde<br />
Qualifi kationsanforderungen zu reagieren und die Beschäftigungsfähigkeit („employability“)<br />
älterer Erwerbstätiger sicherzustellen (vgl. Deutscher Bundestag 2002, 85ff).<br />
In den vorliegenden empirischen Studien wird jedoch regelmäßig festgestellt, dass sich<br />
die Beteiligung an berufl ichen Fortbildungsmaßnahmen mit steigendem Alter verringert<br />
(Hofbauer 1982; Bolder et al. 1994; Scherer 1996, 163ff; Behringer 1999, 120f; 2002; Bellmann<br />
2003, 70ff; Büchel/Pannenberg 2004, 90f; BMBW 2005, 90ff). Vor dem Hintergrund<br />
dieser Ergebnisse werden u.a. öffentliche Förderprogramme angeregt bzw. Appelle an die<br />
<strong>Arbeit</strong>geber gerichtet, ältere <strong>Arbeit</strong>nehmer durch eine altersübergreifende Qualifi zierung<br />
besser betrieblich zu integrieren (Barkholdt/Frerichs/Naegele 1995, 433f).<br />
Die meisten bisherigen empirischen Analysen werden jedoch dem speziellen Kontext einer<br />
Qualifi zierung im fortgeschrittenen Erwachsenenalter nicht gerecht, da die Defi nition von<br />
berufl icher Weiterbildung fast ausschließlich nur über die Angebots- bzw. Nachfragestrukturen<br />
erfolgt. Unterschieden wird zwischen dem off-the-job-training (AFG-geförderte berufl iche<br />
Weiterbildung, Nachfrage der Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong>) und dem on-the-job-training. Zu<br />
letzterem zählen die betriebliche Weiterbildung, in der Betriebe Anbieter und/oder Nachfrager<br />
sind, sowie die individuelle Weiterbildung, defi niert als die selbst bestimmte Nachfrage<br />
von Einzelpersonen. Die vorliegenden Ergebnisse zur Altersabhängigkeit der Teilnahme,<br />
die auf Basis dieser Operationalisierungen gewonnen wurden, sind wenig aussagekräftig:<br />
In der Regel werden z.B. sowohl für AFG-geförderte, als auch für die betriebliche und die<br />
individuelle Weiterbildung negative Alterseffekte nachgewiesen (z.B. Scherer 1996, 158ff;<br />
Behringer 1999, 120f).<br />
Die Defi nition der Weiterbildung über Angebots- und Nachfragestrukturen unterstellt,<br />
dass die mehr oder weniger stark ausgeprägte Weiterbildungsbeteiligung Älterer primär ein<br />
2 „Ältere Erwerbstätige“ sind im Folgenden als über 50jährige Personen defi niert, die entweder abhängig<br />
beschäftigt oder selbstständig sind. Unter „berufl icher Weiterbildung“ wird die Teilnahme an betriebsintern<br />
oder betriebsextern durchgeführten, formellen Bildungsmaßnahmen wie Seminaren, Kursen oder Lehrgängen<br />
verstanden, die nach Abschluss einer unterschiedlich ausgedehnten ersten Bildungsphase absolviert werden<br />
und inhaltlich im Kontext eines Beschäftigungsverhältnisses stehen (BMBW 1990, 10ff). Die Begriffe Weiterbildungs-,<br />
Fortbildungs- und Qualifi zierungsmaßnahme werden synonym gebraucht.
Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger<br />
Problem der Finanzierung ist: trägt die betroffene Person selbst, der Betrieb oder der Staat<br />
die Kosten? Vor der Finanzierungsfrage ist jedoch zu klären, wodurch Qualifi zierungsbedarf<br />
überhaupt hervorgerufen wird. In fortgeschrittenen Phasen der Erwerbsbiografi e sind einerseits<br />
Mobilitäts- und Aufstiegsprozesse häufi g abgeschlossen, weshalb Einarbeitungs- oder<br />
Aufstiegsqualifi zierungen für ältere Erwerbstätige weniger relevant sein sollten. Andererseits<br />
steigt mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur berufl ichen Erstausbildung das Risiko der<br />
Entwertung berufl icher Qualifi kationen, woraus ein erhöhter Bedarf nach Anpassungsqualifi<br />
zierungen folgt.<br />
Der vorliegende Beitrag behandelt daher die Frage, inwiefern die Beteiligung an beruflicher<br />
Weiterbildung on-the-job altersabhängig ist, wenn die Maßnahmen über den Zweck<br />
bzw. den Anlass der Teilnahme defi niert werden (z.B. als Einarbeitungs-, Aufstiegs- und<br />
Anpassungsqualifi zierungen). Zunächst werden einige theoretische Überlegungen dazu angestellt,<br />
welche Funktionen eine Weiterbildung in den verschiedenen Phasen einer Erwerbsbiografi<br />
e erfüllt und unter welchen Bedingungen sich insbesondere ältere Erwerbstätige an<br />
Qualifi zierungsmaßnahmen beteiligen (Abschnitt 2). Anschließend werden die formulierten<br />
Hypothesen mit Daten des Berichtssystems Weiterbildung (BSW) 2000 empirisch getestet<br />
(Abschnitt 3).<br />
2 Weiterbildung im erwerbsbiografi schen Kontext<br />
Die im Laufe einer Erwerbsbiografi e zu absolvierenden Lernprozesse erfüllen unterschiedliche<br />
Funktionen: Einarbeitungsqualifi zierungen spielen schwerpunktmäßig an der Schnittstelle<br />
zwischen der berufl ichen Erstausbildung und dem Übergang in das Erwerbsleben eine<br />
Rolle. Die Einarbeitungsqualifi zierung erfolgt in der Regel unmittelbar nach Abschluss der<br />
Berufsausbildung in den ersten Berufsjahren. Sie kann sich durch institutionalisierte Weiterbildung<br />
(Lehrgänge/Kurse) oder eher informell (z.B. durch das Anlernen durch Kollegen<br />
und Vorgesetzte) vollziehen. Für Kloas (1991) ist die berufl iche Erstausbildung sozusagen<br />
der „Führerschein“ für das Erwerbsleben, die Einarbeitungsqualifi zierung entspricht der<br />
„Fahrpraxis“. Diese kann die Erstausbildung zwar in der Regel nicht ersetzen, trägt aber zur<br />
weiteren Vertiefung der Fach-, Sozial- und Methodenkompetenz bei.<br />
Auch bei den Aufstiegsfortbildungen handelt es sich um weiterführende Qualifi zierungswege<br />
im Anschluss an die berufl iche Erstausbildung. Ziel derartiger Maßnahmen ist es, durch<br />
den Erwerb zertifi zierter Qualifi kationen (z.B. Meister, Techniker, Ingenieure der Fachschule,<br />
Betriebs- oder Fachwirte) Erwerbstätigen die notwendigen Kompetenzen für eine Tätigkeit im<br />
mittleren Funktionsbereich – z.B. für Spezialistentätigkeiten und/oder Tätigkeiten im mittleren<br />
Management – zu vermitteln (BMBF 2001, 20). Eine Aufstiegsfortbildung bietet damit eine<br />
alternative Qualifi zierungsmöglichkeit für Personen, welche ihren ersten berufsbildenden<br />
Abschluss im dualen System erlangt haben. 3 Zur Altersabhängigkeit der Aufstiegsqualifi zierungen<br />
liegen bereits empirische Ergebnisse vor: Krewerth (2004) weist im Rahmen einer<br />
Kohortenanalyse auf Basis der BIBB/IAB-Erhebung 1998/99 nach, dass Aufstiegsfortbildungen<br />
– mit leichten Variationen bei den einzelnen Fachrichtungen – durchschnittlich in<br />
einem Alter von 26 Jahren absolviert werden. In der Alterskohorte der 1999 über 60jährigen<br />
fanden z.B. 93,7% aller Aufstiegsfortbildungen bis zum 40. Lebensjahr statt.<br />
3 Eine ähnliche Funktion erfüllen auch Maßnahmen, die dem nachträglichen Erwerb von Studienberechtigungen<br />
dienen.<br />
7
8 Daniel Lois<br />
Nach den in frühen Phasen der Erwerbsbiografi e getätigten Humankapitalinvestitionen<br />
entfällt mit steigendem (Tätigkeits-)Alter dann die Notwendigkeit einer Weiterbildung, wenn<br />
eine Kontinuität der berufl ichen Anforderungen existiert. In diesem Fall wären Humankapitalinvestitionen<br />
lebenslang verwertbar. Eine Weiterbildung in fortgeschrittenen Phasen der<br />
Erwerbsbiografi e wird nötig, wenn das berufs- oder betriebsspezifi sche Fachwissen ganz<br />
oder teilweise entwertet wird.<br />
Ursache einer solchen Dequalifi zierung kann z.B. eine (freiwillige oder erzwungene) betriebliche<br />
bzw. berufl iche Mobilität sein. In diesem Fall werden Weiterbildungen notwendig,<br />
um sich z.B. auf den neuen Beruf umzuschulen bzw. in die neue Tätigkeit einzuarbeiten.<br />
Die Ergebnisse empirischer Studien sprechen jedoch nach wie vor dafür, dass Mobilitätsprozesse<br />
mit zunehmendem Alter abnehmen. Zum Beispiel kommen Velling & Bender (1994)<br />
sowie Seifert (2005) zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit eines <strong>Arbeit</strong>splatz- bzw.<br />
Berufswechsels mit steigendem Alter deutlich abnimmt. Folglich ist damit zu rechnen, dass<br />
eine Weiterbildung zum Zweck der Einarbeitung in eine neue Tätigkeit in fortgeschrittenen<br />
Phasen der Erwerbsbiografi e tendenziell an Relevanz verliert.<br />
Hypothese 1: Zwischen dem Alter und der Beteiligung an Einarbeitungs- und<br />
Aufstiegsqualifi zierungen besteht ein negativer Zusammenhang.<br />
Darüber hinaus sind es vor allem Prozess- und/oder Technologieinnovationen, die vorhandene<br />
Qualifi kationen obsolet werden lassen können und eine Anpassung an geänderte Anforderungen<br />
notwendig machen. Technologische Innovationen bringen als exogener Faktor<br />
Unsicherheit in das Investitionskalkül der Akteure (d.h. sowohl von <strong>Arbeit</strong>nehmern als auch<br />
von <strong>Arbeit</strong>gebern), da sie unter Umständen Anpassungen der früheren Entscheidungen über<br />
Zeitpunkt und Umfang von Weiterbildungsaktivitäten erforderlich machen (vgl. Behringer<br />
1999, 40f).<br />
Der Zusammenhang zwischen dem Alter und der Beteiligung an Anpassungsmaßnahmen<br />
ist komplex und lässt sich nicht auf eine einzelne Hypothese reduzieren. Ältere Erwerbstätige<br />
sollten einerseits aufgrund ihrer Qualifi kationsrisiken in erhöhtem Maße „aufgefordert“ sein,<br />
sich an neue Aufgaben anzupassen. Folgt man den vorliegenden Qualifi kationsprognosen,<br />
wird allein durch die Alterung des Erwerbspersonenpotentials die Anpassungslast durch den<br />
technisch-arbeitsorganisatorischen Wandel in starkem Maße von den mittleren und älteren<br />
Jahrgängen getragen werden müssen (Tessaring 1996; Weidig/Hofer/Wolff 1999).<br />
Bei der Anpassung älterer Mitarbeiter an <strong>Arbeit</strong>splatzveränderungen handelt es sich<br />
andererseits nicht um einen Automatismus. Yeatts/Folts/Knapp (2000) haben theoretisch<br />
herausgearbeitet, dass verschiedene individuelle Merkmale und Kontextfaktoren determinieren,<br />
inwiefern neue Anforderungen des Jobs auf der einen Seite und die Fähigkeiten des<br />
<strong>Arbeit</strong>nehmers auf der anderen Seite nach einer Innovation wieder in ein Gleichgewicht<br />
gebracht werden können. Drei für ältere Erwerbstätige in dieser Hinsicht zentrale Aspekte<br />
werden im Folgenden kurz erläutert: die Frage, inwiefern neue Anforderungen durch einen<br />
Erfahrungstransfer bewältigt werden können (Abschnitt 2.1.1), die Bedeutung des subjektiven<br />
Glaubens an die eigene Lernfähigkeit als Voraussetzung für eine Weiterbildung (2.1.2) und das<br />
Argument der mangelnden Rentabilität von Humankapitalinvestitionen in fortgeschrittenen<br />
Phasen der Erwerbsbiografi e (2.1.3).
Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger<br />
2.1 Determinanten der Beteiligung älterer Erwerbstätiger an<br />
Anpassungsqualifi zierungen<br />
2.1.1 Transfer von Erfahrungswissen<br />
Eine Weiterbildungsbeteiligung mit dem Ziel der Anpassung an neue Aufgaben im Beruf<br />
ist zunächst nur dann notwendig, wenn die vorhandene Qualifi kation nicht auf die neuen<br />
Anforderungen transferiert werden kann. Zur Befähigung älterer Erwerbstätiger gehört nicht<br />
zuletzt ihr Erfahrungswissen, das als eine Form des spezifi schen Humankapitals verstanden<br />
werden kann. Es umfasst explizit praktisches Wissen, explizit theoretisches Wissen (z.B.<br />
technologisches oder Prozesswissen) und implizites, nicht verbalisierbares Wissen (z.B. über<br />
Wirkungszusammenhänge und funktionale Abhängigkeiten) (Koller/Plath 2000). Erfahrungswissen<br />
kann „das Erfahren oder Erfassen gegenwärtigen Geschehens“ sowie das „vollzugs-,<br />
ergebnis- sowie beanspruchungsgünstige Bewältigen ggf. resultierender Anforderungen“<br />
ermöglichen (Koller/Plath 2000, 121). Erfahrene Mitarbeiter sollten also nicht nur in der Lage<br />
sein, bekannte, immer wieder auftretende Anforderungen zu bewältigen. Das Erfahrungswissen<br />
sollte zusätzlich hilfreich sein, sich an veränderte und neue Anforderungssituationen durch<br />
die „Abdifferenzierung, Aussonderung, Aneignung, Reorganisation, Umstrukturierung“ (ebd.:<br />
122) von Wissensinhalten anzupassen (vgl. auch Jasper/Fitzner 2000, 165).<br />
Ein Transfer des Erfahrungswissens sollte vor allem dann gelingen, wenn die neuen<br />
<strong>Arbeit</strong>saufgaben mit denen der vorangehenden Tätigkeit verwandt sind (Koller/Plath 2000,<br />
122; Schiersmann 2000, 286). Im BSW 2000 wurden spezifi sche Veränderungen der <strong>Arbeit</strong>ssituation<br />
erhoben, die den Test derartiger Hypothesen zur Funktion des Erfahrungswissens<br />
erlauben. Erwerbstätige wurden u.a. befragt, ob an ihrem <strong>Arbeit</strong>splatz innerhalb der letzten<br />
12 Monate neue computergesteuerte Maschinen (CNC), nicht computergesteuerte Maschinen<br />
(NC) oder neue EDV-Programme (z.B. SAP, Java, SQL) eingeführt wurden. In allen<br />
drei Fällen handelt es sich um technologische Innovationen, jedoch von unterschiedlicher<br />
Qualität. Die NC-Technologie ist industriegeschichtlich am ältesten. Sie gewann in Europa<br />
Ende der neunzehnhundertfünfziger Jahre an Bedeutung (Spur 2002). Aus ihr ging die CNC-<br />
Technologie hervor, deren Zeitalter ungefähr Mitte der siebziger Jahre einsetzte. Daraus<br />
folgt, dass die für den Umgang mit CNC-Maschinen erforderlichen Qualifi kationen für den<br />
Großteil der im Jahr 2000 über 50jährigen wahrscheinlich nicht Bestandteil der berufl ichen<br />
Erstausbildung gewesen sind und hier entsprechend verstärkt ein Anpassungsbedarf besteht.<br />
Diese Vermutung wird durch die Ergebnisse einiger qualitativer Betriebsfallstudien (z.B.<br />
Frerichs 1998; Frerichs/Georg 1999, 130ff) untermauert, die darauf hinweisen, dass ältere<br />
Mitarbeiter in der Industrie sehr viel stärker auf praktische Lernmöglichkeiten bei manuellen<br />
Tätigkeiten konzentriert sind als jüngere und beim Umgang mit programmgesteuerten<br />
Maschinen Qualifi kationsdefi zite bzw. auch Berührungsängste festzustellen sind. Es kann<br />
daher zum einen vermutet werden, dass die Einführung von NC-Maschinen von älteren<br />
Erwerbstätigen verstärkt durch einen Erfahrungstransfer bewältigt werden kann (vgl. Frerichs/Georg<br />
1999, 138f).<br />
Hypothese 2a: Erfahrungswissen hat einen negativen Effekt auf die Beteiligung an Anpassungsqualifi<br />
zierungen bei der Einführung von NC-Maschinen.<br />
Zum anderen werden neue CNC-Maschinen von älteren Mitarbeitern vermutlich eher als<br />
Paradigmenwechsel erlebt. Dazu trägt z.B. bei, dass die Umstellung in der Regel auch eine<br />
theoretische Neuerlernung der Programmierung erfordert. Auch bei der Einführung neuer<br />
9
10 Daniel Lois<br />
elektronischer Datenverarbeitungssysteme besteht wahrscheinlich eine erhöhte Dequalifi -<br />
zierungsgefahr. Aufgrund der relativ kurzen Lebenszyklen von Softwareprodukten und den<br />
daraus folgenden häufi gen Wissenssprüngen ist auch hier ein Erfahrungstransfer unwahrscheinlicher,<br />
weshalb von einem erhöhten Anpassungsbedarf auszugehen ist (Frerichs 1998,<br />
160ff; Frerichs/Georg 1999, 135ff).<br />
Hypothese 2b: Erfahrungswissen hat keinen Effekt auf die Beteiligung an Anpassungsqualifi<br />
zierungen bei der Einführung von CNC-Maschinen bzw. von neuen EDV-Programmen<br />
Ergänzend sei angemerkt, dass die Qualifi zierung der Belegschaft nur eine von mehreren<br />
Optionen ist, die den Betrieben im Falle von Innovationen zur Verfügung stehen. Nach<br />
älteren Befunden des sog. „Spätphase-Projektes“ (BMA 1983, 132; Naegele 1992, 95f)<br />
reagieren die Betriebe auf größere technisch-organisatorische Veränderungen vor allem mit<br />
einer Externalisierungsstrategie, d.h. mit der Frühverrentung ihrer Mitarbeiter. Auch innerbetriebliche<br />
Umsetzungen (z.B. auf sog. „Schonarbeitsplätze“) spielen eine Rolle. Letztere<br />
sind allerdings offenbar eher auf gesundheitliche und weniger auf betrieblich-organisatorische<br />
bzw. qualifi katorische Gründe zurückzuführen.<br />
Ob Technologieinnovationen zu Qualifi zierungs- oder Dequalifi zierungsprozessen<br />
führen, hängt ferner wesentlich vom jeweiligen Produktionsregime ab. In unstrukturierten<br />
<strong>Arbeit</strong>smarktsegmenten mit tayloristischer, stark arbeitsteiliger <strong>Arbeit</strong>sorganisation hat die<br />
Einführung neuer Maschinen für die Mehrzahl der Beschäftigten z.B. in der Regel Dequalifi<br />
zierungsprozesse zur Folge. Dies kann sich z.B. darin äußern, dass bei der Automatisierung<br />
der Produktion höherwertige Tätigkeiten von wenigen höher qualifi zierten Fachkräften übernommen<br />
werden und für niedrig qualifi zierte Beschäftige nur einfache Tätigkeiten verbleiben<br />
(vgl. z.B. Frerichs 1998). Es ist daher zu erwarten, dass der Qualifi zierungsbedarf mit dem<br />
Qualifi kationsniveau sowie der Position in der Betriebshierarchie steigt.<br />
2.1.2 Selbstkonzept der eigenen Leistungs- bzw. Lernfähigkeit<br />
Mit wachsendem zeitlichem Abstand zur berufl ichen Erstausbildung steigt nicht nur das<br />
Risiko, dass die Qualifi kation des Erwerbstätigen obsolet wird. Auch die persönlichen<br />
Voraussetzungen zur Auffrischung oder Erneuerung des berufl ichen Wissens unterliegen<br />
einer Entwertungsgefahr. Bestehen zum Beispiel Zweifel an der eigenen Leistungs- und<br />
Lernfähigkeit bzw. Selbstwirksamkeit (Bandura 1977), können Anstrengungen zum Erhalt<br />
bestehender und zum Aufbau neuer Fähigkeiten (z.B. durch Qualifi zierung) aus subjektiver<br />
Perspektive aussichtslos erscheinen.<br />
Die Ausprägung dieser Selbsteinschätzung wird nach Erkenntnissen aus der Gerontologie<br />
und der <strong>Arbeit</strong>spsychologie wesentlich durch den Verlauf der Erwerbsbiografi e determiniert.<br />
Objektive und subjektive Leistungsprobleme sind diesen Forschungsergebnissen zufolge<br />
eben nicht das Resultat eines biologischen Determinismus (vgl. das sog. Defi zit-Modell des<br />
Alterns), sondern vielfach eine Folge von Mängeln in der <strong>Arbeit</strong>s- und Organisationsgestaltung<br />
(sog. „Disuse-Effekt“). Durch die Nichtnutzung personeller Leistungsvoraussetzungen<br />
oder das dauerhafte Fehlen arbeitsbezogener Lernanforderungen kann – über das Verlernen<br />
bereits erworbener Fähigkeiten hinaus – langfristig sogar „das Lernen verlernt“ werden (z.B.<br />
Bergmann/Wilczek 2000; Koller/Plath 2000; im Überblick: Lehr 2000).<br />
Das im Verlauf der Erwerbsbiografi e in bestimmter Weise geprägte Selbstkonzept,<br />
speziell der Glaube an die eigene Lernfähigkeit (im Folgenden „Lerndisposition“ genannt),
Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger<br />
sollte folglich mit determinieren, inwiefern ältere Erwerbstätige überhaupt zu einer erneuten<br />
Teilnahme an einer formalisierten Bildungsmaßnahme bereit sind.<br />
Hypothese 3: Der subjektive Glaube an die eigene Lernfähigkeit (Lerndisposition) gewinnt<br />
mit zunehmendem Alter der Erwerbstätigen als Teilnahmevoraussetzung an Bedeutung.<br />
2.1.3 Das Rentabilitätsargument<br />
Gegen eine Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger spricht schließlich das Postulat<br />
der Humankapitaltheorie, dass Bildungsinvestitionen mit steigendem Alter zunehmend weniger<br />
rentabel sind (z.B. Becker 1964). Es wird angenommen, dass Humankapitalinvestitionen<br />
seitens der <strong>Arbeit</strong>geber und <strong>Arbeit</strong>nehmer nur dann erfolgen, wenn der Wert der erwarteten<br />
Erträge größer ist als die entstehenden gegenwärtigen Kosten einschließlich Opportunitätskosten.<br />
Findet die Weiterbildungsmaßnahme während der <strong>Arbeit</strong>szeit statt, werden für<br />
ältere Erwerbstätige deswegen Kostennachteile unterstellt, da die bezahlte Freistellung von<br />
der <strong>Arbeit</strong> aufgrund des im Allgemeinen höheren Lohnniveaus älterer Mitarbeiter teurer ist.<br />
Auch wird von höheren Opportunitätskosten ausgegangen, da ältere Erwerbstätige häufi g<br />
zentrale Positionen im betrieblichen Ablauf innehaben, wodurch ihre Freistellung eher zu<br />
Produktivitätsverlusten führen kann. Vor allem wird aber darauf verwiesen, dass die Auszahlungsperiode<br />
einer Humankapitalinvestition in späten Phasen der Erwerbsbiografi e durch<br />
das Ende der berufl ichen Tätigkeit begrenzt wird.<br />
Es ist allerdings umstritten, welches Gewicht diese Kostenargumente haben. Simpson/<br />
Greller/Stroh (2001, 111) halten den Verweis auf die kürzer werdende Auszahlungsperiode<br />
für „arbitrary and unrealistic“. Sie begründen dies damit, dass nur wenige Investitionen über<br />
die gesamte Spanne einer Karriere gewinnbringend seien. Da in der Weiterbildungsplanung<br />
in der Regel eine Zeitspanne von 3-5 Jahren als Rückzahlungsperiode angesetzt werde, könne<br />
z.B. bei einem 25jährigen und 55jährigen Erwerbstätigen von den gleichen Voraussetzungen<br />
ausgegangen werden. Behringer (1999, 49ff) weist ferner darauf hin, dass die Relevanz<br />
des Auszahlungsperioden-Arguments stark von der Obsoleszenzrate der zu vermittelnden<br />
Qualifi kation abhängig ist. Wenn ein Fortbildungsinhalt relativ schnell veraltet, z.B. die<br />
Neuerungen in einem Jahressteuergesetz, ist die Auszahlungsperiode ohnehin kurz, wodurch<br />
eine Humankapitalinvestition bis kurz vor den Eintritt in den Ruhestand rentabel bleiben<br />
kann. Mit dem schnellen Veralten vieler Qualifi kationen könnte auch zusammenhängen, dass<br />
mit der betrieblichen Weiterbildung – vor allem in Kleinbetrieben – häufi g bereits eingetretene<br />
Qualifi kationsengpässe kurzfristig überwunden werden sollen, ohne dass langfristigen<br />
Überlegungen im Rahmen einer Weiterbildungsplanung dabei viel Raum gegeben wird<br />
(vgl. zusammenfassend BMBW 1990). Es gibt also insgesamt keinen Anlass dazu, aus dem<br />
Rentabilitätsargument vorschnell einen Determinismus in dem Sinne abzuleiten, dass in das<br />
Humankapital älterer Erwerbstätiger per se nicht mehr investiert wird.<br />
3 Empirische Ergebnisse<br />
3.1 Datengrundlage, Operationalisierung und Vorgehensweise<br />
Die Datengrundlage der folgenden Analyse ist das sog. Berichtssystem Weiterbildung (BSW)<br />
2000. Das BSW wurde 1979 von Infratest Sozialforschung, im Auftrag des Bundesminis-<br />
11
12 Daniel Lois<br />
teriums für Bildung und Wissenschaft, entwickelt. Seit dem fi nden im Drei-Jahres-Turnus<br />
Repräsentativbefragungen der 19-64jährigen deutschen Bevölkerung in Privathaushalten<br />
mit dem Ziel statt, Trendentwicklungen im gesamten Weiterbildungsbereich beobachten<br />
zu können. Die Trendindikatoren und einige Ergebnisse des inhaltlichen Schwerpunktes<br />
der jeweiligen BSW-Erhebung werden in Form von deskriptiven Auswertungen in einem<br />
integrierten Gesamtbericht veröffentlicht (zuletzt BMBW 2005).<br />
Zur Überprüfung der oben formulierten Hypothesen wurde die folgende Vorgehensweise<br />
gewählt:<br />
Nach einigen deskriptiven Auswertungen werden multivariate logistische Regressionsmodelle<br />
berechnet, um den Effekt des Alters auf die Teilnahme an verschiedenen Weiterbildungstypen<br />
zu untersuchen. Abhängige Variable ist die Teilnahme/Nicht-Teilnahme an<br />
mindestens einer formellen Weiterbildungsmaßnahme des angegebenen Typs (Lehrgänge/<br />
Kurse) im Jahr 2000.<br />
Jedes Modell enthält neben dem Alter eine Reihe von Kontrollvariablen. Dazu zählen:<br />
Geschlecht, persönliches Nettoeinkommen im letzten Monat vor der Befragung (9 Einkommensklassen),<br />
Ost-/Westdeutschland, höchster Ausbildungsabschluss (Referenzkategorie:<br />
anderer Abschluss), Stellung im Beruf (Referenzkategorie: Selbstständige) sowie die Frage<br />
nach dem Vorliegen einer <strong>Arbeit</strong>slosigkeit in den letzten 3 Jahren (Ja/Nein).<br />
Anschließend werden die Bedingungen einer Beteiligung an Anpassungsqualifi zierungen in<br />
logistischen Regressionsmodellen, differenziert für drei Altersgruppen, untersucht. Abhängige<br />
Variable ist die Teilnahme/Nicht-Teilnahme an mindestens einer Anpassungsmaßnahme im<br />
Jahr 2000. Die unabhängigen Variablen werden schrittweise eingeführt, um ihren „Brutto-<br />
Effekt“ abschätzen zu können:<br />
• In Modell 1 ist neben den Kontrollvariablen das Konstrukt „Lerndisposition“ enthalten.<br />
Es wird mit Hilfe einer aus acht Items bestehenden Skala gemessen. Enthalten sind<br />
Aussagen zur subjektiven Lernneigung (z.B. „Lernen ist für mich eine mühsame Angelegenheit“),<br />
eher auf die eigene Lernfähigkeit bezogene Items wie z.B. „Wenn ich schnell<br />
etwas lernen soll, fühle ich mich manchmal überfordert“ bzw. zur Selbstwirksamkeit<br />
beim Lernen („Wenn ich Erfolg habe, denke ich, dass das Zufall war“). Cronbach’s<br />
Alpha, ein zwischen 0 und 1 (1=hoch) normiertes Maß für die interne Konsistenz bzw.<br />
Zuverlässigkeit einer Skala, beträgt .85.<br />
• Modell 2 enthält zusätzlich drei konkrete Veränderungen der <strong>Arbeit</strong>ssituation innerhalb<br />
der letzten 12 Monate vor dem Befragungszeitpunkt, die mutmaßlich einen Qualifi zierungsbedarf<br />
auslösen: die Einführung nicht computergesteuerter bzw. computergesteuerter<br />
Maschinen/Anlagen (NC/CNC) sowie die Einführung neuer Datenverarbeitungsprogramme<br />
(z.B. Java, SAP, SQL).<br />
•<br />
In Modell 3 werden verschiedene Faktoren eingeführt, die nach Auskunft der Erwerbstätigen<br />
„der wichtigste Punkt zur Bewältigung der neuen Anforderungen in der<br />
Umstellungszeit“ waren. Neben der „Erfahrung von früheren <strong>Arbeit</strong>splätzen“ sind dabei<br />
auch die weicheren Lernformen „Anlernen durch Kollegen und/oder Vorgesetzte“<br />
sowie „Selbstlernen durch Beobachten und Ausprobieren am derzeitigen <strong>Arbeit</strong>splatz<br />
und/oder durch Lernen für die <strong>Arbeit</strong> in der Freizeit“ als Alternativen zu einer formellen<br />
Qualifi zierungsmaßnahme zu sehen. Außerdem wird das inner- und außerbetriebliche<br />
Angebot an Weiterbildungsmaßnahmen kontrolliert.
Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger<br />
• Um die Erfahrungstransfer-Hypothesen zu testen, wird in Modell 4 schließlich der<br />
Interaktionseffekt zwischen den Veränderungen der <strong>Arbeit</strong>ssituation und der Bewältigungsstrategie<br />
„Erfahrung von früheren <strong>Arbeit</strong>splätzen“ berechnet.<br />
Alle Auswertungen beziehen sich auf zum Befragungszeitpunkt Erwerbstätige. Es wird<br />
weiterhin nicht zwischen einer Beteiligung „aus Eigeninitiative“ und „nach Vorschlag durch<br />
den Vorgesetzten“ unterschieden. Friebel (1996) hält diese im BSW praktizierte Art der<br />
Erfassung der Teilnahmeveranlassung u.a. deshalb für ein Artefakt, da sie ausschließe, dass<br />
aus subjektiver Sicht beides – betriebliche Veranlassung und eigene Initiative – gemeinsam<br />
zur Teilnahme führen.<br />
Zur Analyse der Daten wird das Verfahren der logistischen Regression angewendet. Die<br />
binäre logistische Regression berechnet die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens eines Ereignisses<br />
(hier: Beteiligung an Weiterbildung) in Abhängigkeit von den Werten der unabhängigen<br />
Variablen. Aufgrund ihrer einfachen Interpretierbarkeit werden in den Tabellen die exponierten<br />
Regressionskoeffi zienten Exp(B), die auch als „Odds-Ratio“ (Chancenverhältnis) bezeichnet<br />
werden, aufgeführt. Diese sind ähnlich wie Wettquoten defi niert als Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
dividiert durch die Gegenwahrscheinlichkeit. Ein positiver Zusammenhang zwischen<br />
abhängiger und unabhängiger Variabler drückt sich in einem Exp(B) > 1 aus, ein negativer<br />
Zusammenhang bedeutet Exp(B) < 1. Der angegebene Wert bezieht sich auf die Veränderung<br />
der Chance, dass das Ereignis „Weiterbildungsteilnahme“ – bei Änderung der unabhängigen<br />
Variablen um eine Einheit – eintritt. Das zusätzlich angegebene Pseudo-R² nach Nagelkerke<br />
ist ein zwischen 0 und 1 (1=hoch) normiertes Maß für die Güte bzw. Erklärungsleistung des<br />
Regressionsmodells. Werte ab .20 deuten auf eine hohe Erklärungskraft hin.<br />
Für Variablen mit nur zwei Ausprägungen (z.B. Geschlecht) wurden in allen Regressionsmodellen<br />
einfache Kontraste verwendet. Für die kategorialen Variablen mit mehr als<br />
zwei Ausprägungen (Stellung im Beruf, Ausbildungsabschluss) sind Abweichungskontraste<br />
berechnet worden. Das heißt, dass jede Kategorie der Einfl ussvariablen außer der Referenzkategorie<br />
mit dem Gesamteffekt verglichen wird.<br />
3.2 Deskriptive Auswertungen<br />
Tab. 1: Typ der besuchten Weiterbildungsmaßnahmen nach<br />
Altersgruppen<br />
Altersgruppe<br />
Typ der besuchten Weiterbildungsmaßnahmen1) 19-34 35-49 50-64<br />
Prozent<br />
Umschulung in einen anderen Beruf 3,6 2,8 1,7<br />
Einarbeitung in eine neue <strong>Arbeit</strong> 23,5 18,6 12,1<br />
Berufl icher Aufstieg (z.B. Meister, Techniker) 14,1 9,5 3,6<br />
Anpassung an neue Aufgaben im Beruf 28,0 39,2 48,3<br />
Sonstige Lehrgänge/ Kurse 30,6 29,8 35,2<br />
N= 2.457 (Teilnahmefälle)<br />
1) bezogen auf maximal vier im Jahr 2000 besuchte Weiterbildungsmaßnahmen<br />
Quelle: BSW 2000 (eigene Berechnungen, personenbezogen Ost/ West-gewichtet)<br />
13
14 Daniel Lois<br />
Die deskriptiven Ergebnisse bestätigen die Vermutung, dass sich bei einer Differenzierung<br />
des Weiterbildungsbereichs nach dem Kriterium des Anlasses bzw. Zwecks der Maßnahme<br />
unterschiedliche Alterseffekte beobachten lassen: Der Anteil der Einarbeitungs- und vor<br />
allem der Aufstiegsqualifi zierungen an den Teilnahmefällen nimmt mit steigendem Alter<br />
der Erwerbstätigen deutlich ab. Die Anpassungsfortbildungen haben dagegen bei den über<br />
50jährigen Erwerbstätigen mit 48,3% den größten Anteil an den Teilnahmefällen dieser<br />
Altersgruppe (Tabelle 1).<br />
Auch die subjektive Einschätzung der Befragten, wie sich durch die jeweilige Qualifi -<br />
zierungsmaßnahme ihre berufl iche Situation verändert hat (Tabelle 2), weist auf die unterschiedlichen<br />
erwerbsbiografi schen Funktionen einer Weiterbildung hin. Ältere Erwerbstätige<br />
berichten in verringertem Maße, dass die Qualifi zierung für sie dazu geführt habe, berufl ich<br />
bessere Chancen zu haben, aufzusteigen bzw. in eine höhere Gehaltsgruppe eingestuft worden<br />
zu sein. Der Nutzen für Ältere lag auch weniger darin, mehr Wissen über betriebliche<br />
Zusammenhänge erworben zu haben. Der Besuch einer Fortbildung hat jedoch für jüngere<br />
und ältere Beschäftigte in vergleichbarem Maße zu Erleichterungen im <strong>Arbeit</strong>salltag geführt<br />
(„<strong>Arbeit</strong> besser als zuvor zu erledigen“, „im Alltag besser zurecht kommen“) und zum Erhalt<br />
des <strong>Arbeit</strong>splatzes beigetragen. Insgesamt verlieren damit die proaktiven Funktionen<br />
der Weiterbildung (berufl icher Aufstieg, Einkommenszuwächse) in späteren Phasen der<br />
Erwerbsbiografi e tendenziell an Bedeutung, während mit der Anpassungsweiterbildung eine<br />
reaktive Qualifi zierungsstrategie zumindest nicht an Relevanz verliert.<br />
Tab. 2: Änderung der berufl ichen Situation durch Weiterbildung nach Alter<br />
Altersgruppe<br />
Änderung der berufl ichen Situation durch Weiterbildung1)<br />
19-34 35-49 50-64<br />
Prozent<br />
Durch Weiterbildung eine neue Stelle bekommen 12,0 10,5 7,2<br />
Hätte ohne diese Weiterbildung Stelle verloren 13,5 10,4 13,9<br />
Berufl ichen Chancen haben sich verbessert 72,7 61,6 49,2<br />
Wurde in höhere Lohn-/ Gehaltsgruppe eingestuft 25,9 20,0 12,0<br />
Ich kann meine <strong>Arbeit</strong> besser als zuvor erledigen 76,2 75,1 75,2<br />
Weiß jetzt mehr über Zusammenhänge im Betrieb 46,2 37,6 33,0<br />
Ich bin berufl ich aufgestiegen 23,8 16,2 11,5<br />
Kurs halt im Alltag besser zurechtzukommen 41,9 42,6 37,8<br />
Für mich hat sich nichts Wesentliches geändert 40,1 43,1 48,6<br />
N= 1.896<br />
1) " Hat sich durch die Teilnahme an Weiterbildung Ihre berufl iche Situation verändert?<br />
Bitte beurteilen Sie dies für jeden der folgenden Punkte"<br />
Quelle: BSW 2000 (eigenen Berechnungen, personenbezogen Ost/ West-gewichtet)
Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger<br />
3.3 Multivariate Auswertungen<br />
3.3.1 Maßnahmentypenspezifi sche Alterseffekte<br />
Im ersten Modell in Tabelle 3 wird der Effekt des Alters auf die Teilnahme an Weiterbildung<br />
insgesamt gemessen. Das Alter übt – auch nach der Einbeziehung von Kontrollvariablen<br />
– einen moderaten, negativen Einfl uss auf die Weiterbildungsbeteiligung aus. Die<br />
Chance, im Jahr 2000 mindestens eine Fortbildung (gleich welcher Art) besucht zu haben,<br />
verringert sich pro Lebensjahr um den Faktor 0,015.<br />
Tab. 3: Logistische Regressionen der Teilnahme 19-64jähriger<br />
Erwerbstätiger an berufl icher Weiterbildung on-the-job im Jahr<br />
2000, differenziert nach Typ der besuchten Maßnahmen<br />
Modell 1:<br />
Gesamt<br />
Modell 2:<br />
Einarbeitung<br />
1)<br />
Modell 3:<br />
Aufstieg 2)<br />
Modell 4:<br />
Anpassung<br />
3)<br />
Modell 5:<br />
Sonstige<br />
Kurse<br />
Alter<br />
Kontrollvariable<br />
.985** .976**<br />
Exp(B)<br />
.947** 1.006 .992+<br />
Geschlecht (Mann) 1.299** 1.209 2.114** 1.431** .979<br />
Nettoeinkommen 1.082** 1.029 1.200** 1.047** 1.033<br />
Ost/West (Ost)<br />
Ausbildungsabschluss<br />
1.187* 1.049 .950 1.091 1.281*<br />
Kein Berufsabschluss .445** .572* .446* .436** .518**<br />
Lehre, Berufsfachschule 1.035 1.233* .968 1.123 1.053<br />
Meister, Techniker etc. 1.525** 1.307+ 2.095** 1.735** 1.176<br />
(Fach)Hochschule<br />
Stellung im Beruf<br />
1.285* .987 1.019 1.375** 1.441**<br />
<strong>Arbeit</strong>er .484** .770* .640* .589** .324**<br />
Angestellter 1.240** 1.151 1.718** 1.235* 1.179*<br />
Beamter 1.896** 1.616** .936 1.264* 2.131**<br />
<strong>Arbeit</strong>slosigkeit letzte 3 J. (Ja) 1.223+ 1.098 .852 1.061 .996<br />
Pseudo-R² (Nagelkerke) .115 .028 .113 .062 .084<br />
N = 4.167; + p≤ .10; * p≤ .05; ** p≤ .01<br />
1) „Ich habe im Betrieb an besonderen Lehrgängen/Kursen zur Einarbeitung in eine neue<br />
<strong>Arbeit</strong> teil genommen“<br />
2) „Ich habe an Lehrgängen/ Kursen für den berufl ichen Aufstieg teilgenommen (z.B. zum<br />
Meister, Techniker, Betriebswirt)“<br />
3) „Ich habe an Lehrgängen/ Kursen zur Anpassung an neue Aufgaben in meinem Beruf<br />
teilgenommen“<br />
Quelle: BSW 2000 (eigene Berechnungen)<br />
15
16 Daniel Lois<br />
Die Teilnahmechance eines 50jährigen Erwerbstätigen läge danach z.B. um 38% (ln. 0,985*25)<br />
niedriger als die eines 25jährigen. Im Unterschied zu der in den meisten bisherigen Studien<br />
gewählten Vorgehensweise wird das on-the-job-training 4 in den Modellen 2-5 nach<br />
Anlass bzw. Zweck der Teilnahme differenziert. Nur Aufstiegsqualifi zierungen (Modell 3:<br />
Odds-Ratio von .947, p< .01) sowie – mit Abstrichen – Maßnahmen, die der Einarbeitung<br />
in eine neue Tätigkeit dienen (Modell 2: Odds-Ratio von .976, p< .01), erweisen sich als<br />
deutlich negativ altersabhängig. Die Teilnahmechance eines 50jährigen Erwerbstätigen<br />
liegt, bezogen auf Aufstiegsfortbildungen, z.B. um 136% unter der eines 25jährigen. Hypothese<br />
1 wird damit bestätigt.<br />
Im Falle der Anpassungsqualifi zierung ist dagegen kein Alterseffekt zu beobachten. Der<br />
Koeffi zient ist zwar positiv, wird jedoch nicht signifi kant (p=0,144). Auch die Beteiligung<br />
an den nicht näher bezeichneten „sonstigen Maßnahmen“ – hierzu könnte z.B. eine routinemäßige<br />
Weiterbildung ohne besonderen Anlass gehören – hängt nur schwach-negativ mit<br />
dem Lebensalter zusammen. Insgesamt wird somit deutlich, dass sich der auf der Aggregatebene<br />
festzustellende negative Alterseffekt aus verschieden ausgeprägten Einzeleffekten<br />
zusammensetzt.<br />
3.3.2 Determinanten der altersspezifi schen Beteiligung an<br />
Anpassungsqualifi zierungen<br />
Ein Blick auf die Kontrollvariablen in den Tabellen 3 und 4 zeigt, dass die Beteiligung an<br />
Anpassungsqualifi zierungen erwartungsgemäß mit dem Qualifi kationsniveau und der Stellung<br />
im Beruf – zwei klassischen Segmentationsmerkmalen in der Weiterbildungsforschung<br />
– variiert. Auffällig sind die überdurchschnittlichen Teilnahmechancen der Personengruppe<br />
mit Meister-, Techniker- oder vergleichbarem Abschluss, die wahrscheinlich zum Teil auf<br />
eine höhere Betroffenheit von technologischen Innovationen zurückzuführen sind. Mit den<br />
BSW-Daten lässt sich z.B. nachweisen, dass Personen aus dieser Qualifi kationsgruppe – im<br />
Vergleich mit den niedrigeren Niveaus – deutlich häufi ger berichten, ihre <strong>Arbeit</strong>ssituation<br />
habe sich durch die Einführung neuer CNC-/NC-Maschinen und EDV-Programme verändert<br />
(Ergebnisse nicht dargestellt) (vgl. auch Troll 1993; Behringer 1999, 40f). Die pro Altersgruppe<br />
deutlich zunehmenden Teilnahmechancen weisen zudem darauf hin, dass offenbar verstärkt<br />
ein Anpassungsbedarf bei älteren Erwerbstätigen dieser Qualifi kationsgruppe besteht.<br />
Im Theorieteil war die Hypothese formuliert worden, dass die Lerndisposition einer Person<br />
ihre Teilnahmechancen mit steigendem Alter besser vorhersagen sollte (Hypothese 3). Modell<br />
1 in Tabelle 4 zeigt, dass die Chance, im Jahr 2000 mindestens eine Anpassungsqualifi zierung<br />
besucht zu haben, nur bei 35-49jährigen sowie 50-64jährigen Erwerbstätigen durch diese<br />
Variable vorhergesagt werden kann. Um die Effektunterschiede der Lerndisposition für die<br />
drei Altersgruppen auf Signifi kanz zu testen, wurde in einem Regressionsmodell für 19-<br />
64jährige Erwerbstätige zusätzlich der Interaktionseffekt Alter*Lerndisposition berechnet<br />
(Ergebnisse nicht dargestellt). Es ergibt sich ein positiver und signifi kanter Effektkoeffi zient<br />
von 1.017, p
Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger<br />
stärkten Weiterbildungsbeteiligung insbesondere älterer Erwerbstätiger einhergeht. Neue<br />
NC-Maschinen erhöhen die Chance einer Weiterbildungsteilnahme dagegen nur in der Gruppe<br />
der 19-34jährigen Erwerbstätigen. 5<br />
Zur Bewältigung dieser Veränderungen stehen den Erwerbstätigen verschiedene Strategien<br />
zur Verfügung, die in Modell 3 eingeführt wurden. Eine soziale Unterstützung am <strong>Arbeit</strong>splatz<br />
in Form von Einweisungen durch Kollegen und Vorgesetzte ist diesen Ergebnissen zufolge<br />
eher keine Alternative zu formellen Anpassungsfortbildungen. Die weichere Lernform des<br />
Selbstlernens scheint tendenziell eher für jüngere Erwerbstätige relevant zu sein.<br />
Das Erfahrungswissen ist dagegen erwartungsgemäß eine spezifi sche Bewältigungskompetenz<br />
älterer Mitarbeiter. Zum Beispiel haben über 50jährige, die angeben, für die Bewältigung<br />
der neuen Anforderungen in der Umstellungszeit sei ihre Erfahrung der wichtigste<br />
Punkt gewesen, eine um 42% niedrigere Chance, im Jahr 2000 eine Anpassungsweiterbildung<br />
besucht zu haben (Exp(B) von .579, p
18 Daniel Lois<br />
Tab. 4: Schrittweise logistische Regression der Teilnahme an Anpassungs-<br />
Modell 1 Modell 2<br />
19-34 35-49 50-64 19-34<br />
Exp(B)<br />
35-49 50-64<br />
Geschlecht (Mann) 2.072** 1.338* 1.020 1.881** 1.302* .908<br />
Nettoeinkommen .981 1.036 1.127* .955 1.020 1.090+<br />
Ost/West (Ost)<br />
Ausbildungsabschluss<br />
1.252 1.075 .908 1.311 1.096 .914<br />
Kein Berufsabschluss .596 .338** .451 .620 .353** .485<br />
Lehre, Berufsfachschulabschluss<br />
.952 1.248 1.466+ .982 1.286+ 1.437<br />
Meister, Techniker oder<br />
vergleichbar<br />
.923 1.846** 3.492** .826 1.810** 2.962**<br />
(Fach)Hochschulabschluss<br />
Stellung im Beruf<br />
1.555* 1.268 1.345 1.579* 1.209 1.284<br />
<strong>Arbeit</strong>er .593** .721* .442** .561** .734 .415**<br />
Angestellter 1.621** 1.240* .980 1.577** 1.153 .868<br />
Beamter .665 1.157 2.090** .635 1.186 2.164**<br />
<strong>Arbeit</strong>slosigkeit letzte 3 J. (Ja) 1.111 .838 1.834* 1.106 .860 2.096*<br />
Lerndisposition<br />
Veränderungen der <strong>Arbeit</strong>ssituation<br />
1.002 1.275* 1.323* .982 1.223+ 1.358+<br />
Neue EDV-Programme - - - 1.237 1.760** 1.810**<br />
Neue Maschinen (nicht CNC) - - - 2.367** .814 1.160<br />
Neue Maschinen (CNC)<br />
Wichtigster Punkt in der<br />
Umstellungszeit<br />
- - - 1.850** 1.421* 2.865**<br />
Erfahrung von früheren<br />
<strong>Arbeit</strong>splätzen<br />
- - - - - -<br />
Einweisen durch Vorgesetzte/<br />
Kollegen<br />
- - - - - -<br />
Vom Betrieb veranstaltete<br />
Kurse<br />
- - - - - -<br />
Von anderen Trägern<br />
veranstaltete Kurse<br />
- - - - - -<br />
Selbstlernen<br />
Veränderung x Erfahrung<br />
- - - - - -<br />
Neue EDV-Programme x<br />
Erfahrung<br />
- - - - - -<br />
Maschinen (nicht CNC) x<br />
Erfahrung<br />
- - - - - -<br />
Maschinen (CNC) x Erfahrung - - - - - -<br />
Pseudo-R² (Nagelkerke) .079 .054 .136 .121 .073 .181<br />
+ p≤ .10; * p≤ .05; ** p≤ .01; N = 1.187 (19-34 Jahre); N = 1.984 (35-49 Jahre); N = 919 (50-64 Jahre)<br />
Quelle: BSW 2000 (eigene Berechnungen)
Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger<br />
qualifi zierungen im Jahr 2000, differenziert nach Altersgruppen<br />
Modell 3 Modell 4<br />
19-34 35-49 50-64 19-34 35-49 50-64<br />
1.869** 1.261 .935<br />
Exp(B)<br />
1.863** 1.273+ .983<br />
.959 1.021 1.078 .959 1.021 1.069<br />
1.438+ 1.086 .919 1.441+ 1.086 .931<br />
.666 .373* .499 .658 .372** .479<br />
.990 1.279 1.462 .992 1.291+ 1.483+<br />
.689 1.768** 2.868** .689 1.766** 3.280**<br />
1.699* 1.218 1.289 1.715** 1.213 1.303<br />
.553** .681* .428** .551** .668** .418**<br />
1.510** 1.123 .830 1.514** 1.125 .855<br />
.676 1.186 2.223** .674 1.199 2.282**<br />
1.110 .881 2.129* 1.101 .873 2.165*<br />
.968 1.178 1.372+ .972 1.161 1.361+<br />
.720 1.064 2.302** .703 1.161 1.978+<br />
1.731* .648* 1.467 1.906+ .874 2.367*<br />
1.464 1.057 3.344** 1.521 .764 3.857**<br />
1.257 .613* .579+ 1.264 .595* .600<br />
.875 .864 .774 .867 .865 .797<br />
.839 3.077** 1.642+ .831 3.127** 1.628+<br />
4.662** 1.570+ 1.514 4.680** 1.559+ 1.487<br />
.552* .718+ .667 .549* .724+ .643<br />
- - - 1.073 .844 1.263<br />
- - - .782 .457+ .185**<br />
- - - .896 2.323 .613<br />
.152 .106 .193 .152 .109 .215<br />
19
20 Daniel Lois<br />
Die weiterführenden Analysen zeigen, dass die Anpassung älterer Erwerbstätiger an<br />
<strong>Arbeit</strong>splatzveränderungen kein Automatismus ist, sondern von spezifi schen Bedingungen<br />
abhängt: Positive Einstellungen gegenüber dem Lernen und der eigenen Lernfähigkeit geben<br />
offenbar gerade bei älteren Personen darüber den Ausschlag, inwieweit die Beteiligung an<br />
einer formalisierten Bildungsmaßnahme, die „Rückkehr auf die Schulbank“, überhaupt als<br />
Handlungsalternative wahrgenommen wird. Wenig einschneidende Veränderungen der <strong>Arbeit</strong>ssituation<br />
(Beispiel: NC-Maschinen) können zudem verstärkt durch einen Transfer des<br />
Erfahrungswissens bewältigt werden. Dies gelingt bei der Einführung neuer EDV-Programme<br />
bzw. CNC-Maschinen wahrscheinlich deswegen nicht, da die benötigten Qualifi kationen<br />
nicht in der berufl ichen Erstausbildung erworben wurden bzw. geringere Halbwertszeiten<br />
aufweisen. Ältere Mitarbeiter, die von derartigen Innovationen betroffenen sind, bilden sich<br />
verstärkt weiter.<br />
Die Ergebnisse verdeutlichen damit, dass ältere Erwerbstätige keineswegs systematisch<br />
von Qualifi zierungsprozessen ausgeschlossen sind. Unter bestimmten Bedingungen wird<br />
auch in fortgeschrittenen Phasen der Erwerbsbiografi e punktuell und zielgerichtet in das<br />
Humankapital investiert, wenn dies für die Bewahrung der Berufschancen notwendig wird. Zu<br />
ähnlichen Ergebnissen kommen für den US-amerikanischen Bereich Simpson/Greller/Stroh<br />
2002. Die mehr oder weniger starke Einbeziehung älterer Erwerbstätiger in die berufl iche<br />
Weiterbildung on-the-job scheint damit nicht primär eine Frage der Kosten bzw. der Finanzierung<br />
zu sein, sondern vor allem vom „Aufforderungscharakter der Situation“ abzuhängen.<br />
Entscheidend ist, wodurch ein Qualifi zierungsbedarf konkret hervorgerufen wird und unter<br />
welchen Bedingungen er gerade von älteren Mitarbeitern bewältigt werden kann.<br />
Hier besteht noch zu einer Vielzahl von Aspekten Forschungsbedarf: Welche Bedeutung<br />
haben gegenwärtig alternative Reaktionsformen der Betriebe bei Innovationen (z.B. die<br />
Externalisierung durch Frühverrentung oder die Umsetzung auf „Schonarbeitsplätze“)?<br />
Inwiefern konkurriert eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Ruhestandsorientierung als<br />
motivationale Teilnahmevoraussetzung mit der Anpassungsbereitschaft älterer Erwerbstätiger?<br />
Welchen Effekt hat es, wenn ältere Mitarbeiter in den Veränderungsprozess mit einbezogen<br />
werden, indem Innovationen z.B. von der Unternehmensseite im Vorfeld angekündigt und mit<br />
der Belegschaft diskutiert werden (Yeatts/Folts/Knapp 2000)? Die Untersuchung derartiger<br />
Fragestellungen dient nicht „nur“ dem reinen wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse. Die<br />
Qualifi zierung älterer Erwerbstätiger ist ein drängendes Problem unserer Zeit, das angesichts<br />
der demografi schen Entwicklung weiter an Bedeutung gewinnen wird<br />
Literatur<br />
Bandura, Albert (1977): Self effi cacy: Toward a unifi ying theory of behaivoral change; in: Psychological<br />
Review, 84, 191-215<br />
Barkholdt, Corinna, Frerich Frerichs, Gerhard Naegele (1995): Altersübergreifende Qualifi zierung<br />
– eine Strategie zur betrieblichen Integration älterer <strong>Arbeit</strong>nehmer; in: Mitteilungen aus der <strong>Arbeit</strong>smarkt-<br />
und Berufsforschung, 3, 425-436<br />
Becker, Gary S. (1964): Human capital: A theoretical and empirical analysis, with special reference<br />
to education. Chicago<br />
Behringer, Frederike (1999): Beteiligung an berufl icher Weiterbildung. Humankapitaltheoretische und<br />
handlungstheoretische Erklärung und empirische Evidenz. Opladen
Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger<br />
Behringer, Frederike (2002): Weiterbildungsbeteiligung älterer <strong>Arbeit</strong>nehmer; in: Behrend, Christoph<br />
(Hg.): Chancen für die Erwerbsarbeit im Alter. Betriebliche Personalpolitik und ältere Erwerbstätige.<br />
Opladen, 89-107<br />
Bellmann, Lutz (2003): Datenlage und Interpretation der Weiterbildung in Deutschland. Herausgegeben<br />
von der Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens. Bielefeld<br />
Bergmann, Bärbel, Susan Wilczek (2000): Zusammenhänge zwischen Alter und dem Selbstkonzept der<br />
berufl ichen Kompetenz bei Facharbeitern; in: <strong>Zeitschrift</strong> für <strong>Arbeit</strong>swissenschaft, 54, 191-198<br />
Bolder, Axel, Wolfgang Hendrich, Daniela Nowak, Andrea Reimer (1994): Weiterbildungsabstinenz.<br />
Teil 1: Makrostrukturen und Bedingungen von Weiterbildungsteilnahme und -abstinenz in<br />
Deutschland 1993. Bonn<br />
Büchel, Felix, Markus Pannenberg (2004): Berufl iche Weiterbildung in West- und Ostdeutschland.<br />
Teilnehmer, Struktur und individueller Ertrag; in: <strong>Zeitschrift</strong> für <strong>Arbeit</strong>smarktforschung, 37 (2),<br />
73-126<br />
Bundesministerium für <strong>Arbeit</strong> und Sozialordnung (BMA) (1983): <strong>Arbeit</strong>nehmer in der Spätphase ihrer<br />
Erwerbsarbeit. Integrierter Schlussbericht des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik<br />
auf der Grundlage der Teilberichte der Institute des Projektverbunds. Bearbeitet von Gerhard<br />
Naegele. Köln<br />
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hg.) (2001): Berichtssystem Weiterbildung<br />
2000 (VIII). Erste Ergebnisse der Repräsentativbefragung zur Weiterbildungssituation in<br />
Deutschland. Bonn<br />
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hg.) (2003): Berichtssystem Weiterbildung<br />
2000 (VIII). Integrierter Gesamtbericht zur Weiterbildungssituation in Deutschland. Bonn<br />
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hg.) (2005): Berichtssystem Weiterbildung<br />
2004 (IX). Integrierter Gesamtbericht zur Weiterbildungssituation in Deutschland. Bonn, Berlin<br />
Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBW) (1990): Betriebliche Weiterbildung.<br />
Forschungsstand und Forschungsperspektiven. Bad Honnef<br />
Clemens, Wolfgang (2001): Ältere <strong>Arbeit</strong>nehmer im sozialen Wandel. Von der geschmähten zur gefragten<br />
Humanressource? Opladen<br />
Deutscher Bundestag (2002): Schlussbericht der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel<br />
– Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“.<br />
Drucksache 14/8800. Berlin<br />
Frerichs, Frerich (1998): Älterwerden im Betrieb. Beschäftigungschancen und -risiken im demographischen<br />
Wandel. Opladen<br />
Frerichs, Frerich, Arno Georg (1999): Ältere <strong>Arbeit</strong>nehmer in NRW. Betriebliche Problemfelder und<br />
Handlungsansätze. Münster<br />
Friebel, Harry (1996): Hemmende und fördernde Bedingungen der Weiterbildungsteilnahmeentscheidung<br />
– über „gatekeeping“ und „support“; in: Bardeleben, Richard v., Axel Bolder, Helmut Heid<br />
(Hg.) (1996): Kosten und Nutzen berufl icher Weiterbildung. Stuttgart, 119-131<br />
Hofbauer, Hans (1982): Materialien zur Situation älterer Erwerbspersonen in der Bundesrepublik<br />
Deutschland; in: Mitteilungen aus der <strong>Arbeit</strong>smarkt- und Berufsforschung, 2, 99-110<br />
Lehr, Ursula (2000): Psychologie des Alterns. Wiebelsheim<br />
Jasper, Gerda, Sybille Fitzner (2000): Innovatives Verhalten Jüngerer und Älterer: Einfl uss von <strong>Arbeit</strong>sumfeld<br />
und Erfahrungswissen; in: Köchling, Annegret u.a. (Hg.): Innovation und Leistung<br />
mit älterwerdenden Belegschaften. München und Mering, 140-188<br />
Kloas, Peter-Werner (1991): Einarbeitung als Qualifi zierungsphase – Bindeglied zwischen Ausbildung<br />
und institutionalisierter Weiterbildung; in: Mitteilungen aus der <strong>Arbeit</strong>smarkt- und Berufsforschung,<br />
2, 333-344<br />
Koller, Barbara, Hans-Eberhard Plath (2000): Qualifi kation und Qualifi zierung älterer <strong>Arbeit</strong>nehmer;<br />
in: Mitteilungen aus der <strong>Arbeit</strong>smarkt- und Berufsforschung, 1, 112-125<br />
21
22 Daniel Lois<br />
Krewerth, Andreas (2004): Aspekte des lebenslangen Lernens: Absolvierung von Aufstiegsfortbildungen<br />
und nachträglicher Erwerb von Studienberechtigungen. Ein Vergleich von Bildungsverläufen in<br />
unterschiedlichen Alterskohorten. Wissenschaftliche Diskussionspapiere des Bundesinstituts für<br />
Berufsbildung, Heft 70. Bonn<br />
Naegele, Gerhard (1992): Zwischen <strong>Arbeit</strong> und Rente. Gesellschaftliche Chancen und Risiken älterer<br />
<strong>Arbeit</strong>nehmer. Augsburg<br />
Scherer, Dietmar (1996): Evaluation berufl icher Weiterbildung: Eine theoretisch-empirische Analyse<br />
auf der Datenbasis des SOEP. Frankfurt/M<br />
Schiersmann, Christiane (2000): Weiterbildung älterer <strong>Arbeit</strong>skräfte angesichts einer veränderten<br />
Weiterbildungsorganisation; in: <strong>Zeitschrift</strong> für Gerontologie und Geriatrie, 33, 284-288<br />
Seifert, Wolfgang (2005): <strong>Arbeit</strong>splatz- und Berufwechsels; in: Statistische Analysen und Studien<br />
Nordrhein-Westfalen, 19, 44-55<br />
Simpson, Patricia A., Martin M. Greller, Linda K. Stroh (2002): Variations in human capital investment<br />
activity by age; in: Journal of Vocational Behaivor, 61 (1), 109-138<br />
Spur, Gunter (2002): Anfänge der NC-Technik in Europa und Japan; in: <strong>Zeitschrift</strong> für wirtschaftlichen<br />
Fabrikbetrieb, 97 (6), 290-295<br />
Tessaring, Manfred (1996): Qualifi kationsentwicklung bis 2010. Welche Trends bestimmen die langfristige<br />
Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Aus- und Weiterbildung; in: Diepold, Peter<br />
(Hg.): Berufl iche Aus- und Weiterbildung. Konvergenzen/Divergenzen – neue Anforderungen/alte<br />
Strukturen. Beiträge zur <strong>Arbeit</strong>smarkt- und Berufsforschung 195<br />
Troll, Lothar (1993): <strong>Arbeit</strong>smittel und Technikeinsatz; in: Jansen, Rolf/Friedhelm Stooß (Hg.): Qualifi<br />
kation und Erwerbssituation im geeinten Deutschland. Ein Überblick über die Ergebnisse der<br />
BIBB/IAB-Erhebung 1991/1992. Bonn<br />
Velling, Johannes, Stefan Bender (1994): Berufl iche Mobilität zur Anpassung struktureller Diskrepanzen<br />
am <strong>Arbeit</strong>smarkt; in: Mitteilungen aus der <strong>Arbeit</strong>smarkt- und Berufsforschung, 3, 212-231<br />
Weidig, Inge, Peter Hofer, Heimfrid Wolff (1999): <strong>Arbeit</strong>slandschaft 2010 nach Tätigkeiten und Tätigkeitsniveau.<br />
Beiträge aus der <strong>Arbeit</strong>smarkt- und Berufsforschung Nr. 227. Nürnberg<br />
Yeatts, Dale E., Edward W. Folts, James Knapp (2000): Older Workers: Adaption to a changing workplace:<br />
Employement issues for the he 21st century; in: Educational Gerontology, 26, 565-582<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Daniel Lois, M.A.<br />
Technische Universität Chemnitz<br />
Institut für Soziologie<br />
D-09107 Chemnitz<br />
E-Mail: Daniel.Lois@phil.tu-chemnitz.de<br />
Schlagwörter: Ältere Erwerbstätige, Weiterbildung, Erfahrungswissen,<br />
technologische Innovationen
Carsten Wirth<br />
Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung:<br />
Eine Organisationsform mit Zukunft?<br />
Abstract<br />
Viele Wissenschaftler/innen und Politiker/innen fordern die Fremdvergabe und damit die Aufgabe der<br />
öffentlichen <strong>Arbeit</strong>svermittlung. In der <strong>Arbeit</strong>svermittlung könnten die Beziehungen und Interaktionen<br />
in Projektnetzwerken koordiniert werden. Ich frage deshalb, ob diese Koordinationsform derzeit auch<br />
in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung eine Organisationsform mit Zukunft ist. Ich beantworte diese Frage vor<br />
dem Hintergrund der Ergebnisse eines Forschungsprojekts über die Organisation und Steuerung der<br />
Fernsehproduktion, in der Projektnetzwerke die dominante Organisationsform sind, der Auswertung<br />
der relevanten Literatur zur (Reform der) <strong>Arbeit</strong>svermittlung und Beobachtungen im Rahmen von<br />
Praxisaufenthalten in zwei <strong>Arbeit</strong>sagenturen. Konzeptionell stütze ich mich auf eine strukturationstheoretisch<br />
informierte Perspektive auf organisationale Felder. Ich zeige, dass die Fremdvergabe der<br />
öffentlichen <strong>Arbeit</strong>svermittlung zurzeit keine Erfolg versprechende Option für die Bundesagentur<br />
für <strong>Arbeit</strong> bzw. für den Gesetzgeber ist, weil zentrale Erfolgsvoraussetzungen nicht erfüllt sind. Die<br />
Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> kann sich stattdessen weitaus stärker als bisher zum Netzwerkorganisator<br />
weiter entwickeln.<br />
1 Einleitung<br />
Unter dem Stichwort ‚Public Private Partnership (PPP)‘ wird trotz zwiespältiger Erfahrungen<br />
mit Kooperationen zwischen öffentlicher und privater Welt (dazu BMAS 2006) die<br />
Fremdvergabe – und damit die (partielle) Aufgabe – der öffentlichen <strong>Arbeit</strong>svermittlung,<br />
insbesondere der von Langzeitarbeitslosen, propagiert (z.B. Bruttel 2005). Bisherige Instrumente<br />
wie die Personal-Service-Agenturen (PSA), ein von gewerbsmäßigen Verleihern<br />
betriebener vermittlungsorientierter Verleih (zum Konzept Bertelsmann Stiftung/Bundesanstalt<br />
für <strong>Arbeit</strong>/Mc Kinsey & Company 2002), den Vermittlungsgutscheinen, mit denen die<br />
Geschäftstätigkeit privater Vermittler subventioniert wird, oder die Beauftragung Dritter mit<br />
(Teilaufgaben) der Vermittlung wirken nicht, führen zu Mitnahmeeffekten (BMAS 2006)<br />
oder bringen unerwünschte Selektionseffekte hervor (Grund 2006). Gleichwohl ist das<br />
contracting-out international weit verbreitet (Gülker/Kaps 2006) und auch eine Option für<br />
die Organisation der <strong>Arbeit</strong>svermittlung in Deutschland, die trotz der Liberalisierung des<br />
Marktes für <strong>Arbeit</strong>svermittlung noch immer dominant in der Organisation ‚Bundesagentur<br />
für <strong>Arbeit</strong>‘ angesiedelt ist. Sie wird in der Organisation, also hierarchisch, koordiniert. Dabei<br />
bemüht sich ein <strong>Arbeit</strong>geberservice um die Akquisition und Besetzung offener Stellen. 80%<br />
der Mitarbeiterkapazität werden der arbeitnehmerorientierten Vermittlung gewidmet. In<br />
dieser wird nach einem Profi ling versucht, eine <strong>Arbeit</strong>smarktintegration zu erreichen. Dazu<br />
<strong>Arbeit</strong>, Heft 1, Jg. 16 (2007), S.23-35
24 Carsten Wirth<br />
nutzen Vermittler Zielgruppen orientierte, aber standardisierte Handlungsprogramme für<br />
unterschiedliche Typen von <strong>Arbeit</strong>slosen.<br />
In anderen Feldern ist hingegen die Zusammenarbeit mit Dritten seit vielen Jahren die<br />
Regel (z.B. Sydow/Windeler 2004 für die Medien- und IT-Industrie). Die Beziehungen<br />
zwischen den Geschäftspartnern werden nicht immer marktlich, also dominant über Preise<br />
koordiniert, sondern häufi g netzwerkförmig koordiniert. So hat sich in der Content-Produktion<br />
für das Fernsehen eine besondere Form Netzwerk durchgesetzt, das „Projektnetzwerk“<br />
(Sydow/Windeler 1999). In diesen Projektnetzwerken koordinieren die Akteure zeitlich<br />
befristete Projekte, arbeiten zugleich projektübergreifend zusammen und orientieren sich<br />
dabei am unternehmungsübergreifenden Beziehungszusammenhang.<br />
In der <strong>Arbeit</strong>sförderung hat eine projektbezogene und zwischenbetrieblich organisierte<br />
Zusammenarbeit Tradition. <strong>Arbeit</strong>sagenturen beauftragen Träger mit der Durchführung von<br />
Maßnahmen zur Förderung der berufl ichen Weiterbildung oder kooperieren mit Rehabilitationseinrichtungen.<br />
Die Gesetze für moderne Dienstleistungen am <strong>Arbeit</strong>smarkt schaffen z.B.<br />
durch die Einführung des § 421 i SGB III zusätzliche Spielräume für eine projektbezogene<br />
und ggfs. wiederkehrende Zusammenarbeit mit Dritten.<br />
Angesichts des Interesses an PPP, dieser Parallelität zwischen der Koordination der<br />
Dienstleistungsproduktion in der Fernsehproduktion und der <strong>Arbeit</strong>sförderung und Vorbildern<br />
für die Durchsetzung dieser Organisationsform im Ausland, z.B. in Australien, stellt<br />
sich die Frage, ob die Koordination der Aktivitäten in Projektnetzwerken ein Modell für die<br />
<strong>Arbeit</strong>svermittlung sein kann, sie also in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung die Organisationsform der<br />
Zukunft ist. Diese Fragestellung zielt dabei weniger auf die Begründung einer ökonomischen<br />
Überlegenheit dieser Organisationsform ab. Vielmehr soll untersucht werden, ob eine Koordination<br />
der <strong>Arbeit</strong>svermittlung in Projektnetzwerken derzeit überhaupt möglich ist – die<br />
deutsche <strong>Arbeit</strong>sverwaltung also anderen bei der Vergabe von Vermittlungsdienstleistungen<br />
nachfolgen kann und gleichzeitig einen hochwertigen Service anbieten kann.<br />
Konzeptionell stützt sich der Beitrag auf eine strukturationstheoretisch erweiterte Perpektive<br />
auf organisationale Felder (dazu grundlegend Giddens 1984 und Powell/DiMaggio<br />
1991). Diese ermöglicht die Berücksichtigung kognitiver und normativer Strukturen auf<br />
unterschiedlichen Ebenen, z.B. in der Organisation, im Netzwerk und im organisationalen<br />
Feld, ohne dabei machtbezogene bzw. ökonomische Aspekte auszublenden. Damit überwindet<br />
dieser Ansatz wichtige Schwächen der neoinstitutionalistischen Organisationssoziologie<br />
und integriert ökonomische Aspekte, die nicht – wie in der Transaktionskostentheorie (dazu<br />
Williamson 1985) – auf die Optimierung der Transaktionskosten verkürzt werden. Zudem<br />
verweist die Strukturationstheorie auf die Notwendigkeit der (Re ) Produktion von Strukturen<br />
(duality of structure) und schärft unseren Blick für Konstitutionsprozesse.<br />
Die empirischen Ergebnisse zur Organisationsform und Steuerung in der Fernsehproduktion<br />
basieren vor allem auf 80 leitfadengestützten Interviews mit Vertretern/innen aus Fernsehproduktionsunternehmungen,<br />
sendern, Medienkonzernen, Gewerkschaften, Verbänden, Film und<br />
Wirtschaftsfördereinrichtungen sowie Branchenexperten/innen. Ergänzt werden diese Daten<br />
durch die Auswertung der einschlägigen Literatur zur (Reform der) <strong>Arbeit</strong>svermittlung und<br />
durch Ergebnisse der Beobachtung der Praktiken der <strong>Arbeit</strong>svermittlung in mehrwöchigen<br />
Praxisaufenthalten in zwei <strong>Arbeit</strong>sagenturen. 1<br />
1 Ich danke der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die fi nanzielle Unterstützung des Projekts Sy 32/2-1 und Sy 32/2-2 im<br />
Rahmen des DFG-Schwerpunkts “Regionalisierung und Globalisierung”. Das Projekt mit dem Titel “Vernetzte Content-Produktion<br />
für das digitale Fernsehen” wurde von Jörg Sydow und Arnold Windeler geleitet; Anja Lutz und Carsten Wirth waren
Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung: Eine Organisationsform mit Zunkunft?<br />
In diesem Beitrag zeige ich, dass die Koordination der <strong>Arbeit</strong>svermittlung in marktlichen<br />
Beziehungen oder in Projektnetzwerken zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Erfolg versprechende<br />
Option für die Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> (BA) bzw. für den Gesetzgeber ist, weil das<br />
Feld der <strong>Arbeit</strong>sförderung zahlreiche Voraussetzungen nicht erfüllt. Alternativ dazu kann die<br />
BA weitaus stärker als bisher zum „Netzwerkorganisator“ (Sydow u.a. 1995) weiterentwickelt<br />
werden, um einen höheren gesellschaftlichen Nutzen zu stiften.<br />
Mein Argument entwickele ich wie folgt: Im zweiten Kapitel stelle ich grundlegende<br />
organisatorische Alternativen für die Koordination einer zwischenbetrieblichen Zusammenarbeit<br />
vor und diskutiere die Komplexität der <strong>Arbeit</strong>svermittlung. Das dritte Kapitel ist<br />
der Organisation von Projektnetzwerken und ihrer Steuerung in der Content-Produktion für<br />
das Fernsehen gewidmet. Daran anknüpfend skizziere ich im vierten Kapitel, warum die<br />
Option ‚Projektnetzwerk‘ für die BA und den Gesetzgeber trotz vielfältiger Anreize wenig<br />
Erfolg versprechend ist. Im abschließenden fünften Kapitel erläutere ich eine Alternative<br />
zur Vergabe von Vermittlungsdienstleistungen, die die Marktposition der BA festigt und der<br />
Gesellschaft einen größeren Nutzen stiftet.<br />
2 Interorganisationale Beziehungen in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung:<br />
Märkte oder Netzwerke?<br />
Die Abgrenzung von netzwerk- und marktförmiger Koordination in Beziehungen zwischen<br />
Organisationen, also in interorganisationalen Zusammenhängen, basiert auf der Dominanz<br />
einer Koordinationsform (Windeler 2001, 235). Auf Märkten ist der Preis für die Koordination<br />
ökonomischer Aktivitäten zentral, wenngleich – sieht man vom Extrempunkt des diskreten<br />
Tauschs ab – soziale Beziehungen auch auf Märkten bedeutsam sind (Zukin/DiMaggio<br />
1990). In Netzwerken sind die Beziehungen zwischen Akteuren, hier Organisationen, für<br />
ihre Bestimmung zentral und dominant. Dementsprechend defi niert Windeler (2001, 231ff.<br />
am Beispiel von Unternehmungsnetzwerken) interorganisationale Netzwerke über den relativ<br />
dauerhaften Beziehungszusammenhang zwischen rechtlich selbstständigen Organisationen,<br />
die keiner einheitlichen Leitung unterworfen sind.<br />
Eine marktliche Koordination ist – aus transaktionskostentheoretischer Sicht – angeraten,<br />
wenn z.B. Unsicherheit und Komplexität gering sind (Hoffmann 1999, 36). Die herrschende<br />
Sichtweise auf <strong>Arbeit</strong>svermittlung geht von einer solchen geringen Komplexität der Aufgabe<br />
aus: Anforderungs und Qualifi kationsprofi l sind miteinander abzugleichen, ggfs. bestehende<br />
Differenzen durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zu beseitigen und dann Beschäftiger<br />
und <strong>Arbeit</strong>suchender zusammen zu führen (so z.B. Scheller 2005).<br />
Im Unterschied zum Mainstream betrachte ich <strong>Arbeit</strong>svermittlung hingegen als eine<br />
ausgesprochen komplexe Dienstleistung. Die Ermittlung des Qualifi kationsprofi ls sollte<br />
– anders als in der üblichen Praxis – alle Lernorte in der Ausbildung, im Berufsleben und<br />
in der Freizeit systematisch in die Erhebung einbeziehen. Professionelle <strong>Arbeit</strong>svermittler<br />
eruieren und bewerten die Spezifi tät der jeweiligen Qualifi kationen bzw. Kompetenzen,<br />
erheben nicht nur formelle Qualifi kationen, sondern z.B. auch die Kompatibilität von<br />
Sichtweisen und Normen einschließlich professioneller Standards, denken in Berufs bzw.<br />
Jobfamilien und organisationalen Feldern, um zusätzliche berufl iche Optionen zu generieren.<br />
in ihm als Projektmitarbeiter tätig. Wichtige Hinweise, die das Manuskript verbesserten, erhielt ich von Michael Franck, Jörg<br />
Sydow und den Herausgeber/innen dieser <strong>Zeitschrift</strong>.<br />
25
26 Carsten Wirth<br />
Sie berücksichtigen dabei z.B. auch gesundheitliche und lebensweltliche Aspekte. Folglich<br />
benötigen <strong>Arbeit</strong>svermittler/innen hohe Qualifi kationen und Kompetenzen in (berufl icher)<br />
Beratung, Eignungsdiagnostik, Berufskunde, Personalmanagement sowie ausgeprägte<br />
Branchenkenntnisse. Dies setzt ein relativ hohes Maß an Stabilität der Organisationsform<br />
und der <strong>Arbeit</strong>sverhältnisse voraus, da sonst entsprechende Kompetenzen nicht erworben<br />
oder aufgebaut werden können bzw. die Organisationen Wissen nicht akquirieren können<br />
und/oder wieder verlieren. Insofern können die in der Wirkungsforschung konstatierten<br />
Qualitätsmängel bei fremdvergebenen Vermittlungsdienstleistungen (BMAS 2006) auch<br />
als Bestätigung einer falschen Einschätzung hinsichtlich der Komplexität der Dienstleistung<br />
<strong>Arbeit</strong>svermittlung reinterpretiert werden.<br />
Im Matching-Prozess gleichen <strong>Arbeit</strong>svermittler/innen das Kompetenzprofi l mit dem<br />
Anforderungsprofi l des <strong>Arbeit</strong>splatzes ab. Dadurch wird die Erhebung der Anforderungen<br />
strategisch bedeutsam. Will man sich nicht – wie in der Praxis üblich – auf relativ pauschale<br />
Einschätzungen der <strong>Arbeit</strong>splatzanbieter verlassen, so ist entweder die Anwendung sehr aufwändiger<br />
Fragebögen erforderlich (die Beispiele in Schuler 2004) oder es sind mit eigenen<br />
praxisorientierten Fragebögen die unterschiedlichen Anforderungsarten zu erheben. Dies<br />
wiederum erfordert kompetente Mitarbeiter/innen, die die Frage(böge)n situationsadäquat<br />
modifi zieren können, den Branchenbezug herstellen können und eine Vorstellung davon<br />
haben, welche Anforderungen in den Betrieben konkret gestellt werden. Um diese Herausforderungen<br />
bewältigen zu können, bedarf es nicht nur kompetenter Mitarbeiter/innen,<br />
sondern auch beziehungsspezifi scher Investitionen, z.B. durch Betriebsbesuche, die sich nur<br />
in langfristigeren Beziehungen amortisieren können.<br />
Das Zusammenführen von <strong>Arbeit</strong>suchendem und Beschäftiger geht über die Aushändigung<br />
von Vermittlungsvorschlägen hinaus. Es ist ein komplexer Aushandlungsprozess, in dem<br />
z.B. zeitliche, räumliche, fi nanzielle und inhaltliche Vorstellungen von <strong>Arbeit</strong>sanbieter und<br />
nachfrager in Einklang gebracht werden. Dies setzt wiederum implizites Wissen über die<br />
Beschäftigungsbedingungen und Fähigkeiten zur berufl ichen sowie betrieblichen Beratung<br />
voraus, damit Integrationsprozesse unterstützt werden können und die Bewerber/innen sich in<br />
ihren Aktivitäten refl exiv auf die Rekrutierungsstrategien von Unternehmungen beziehen.<br />
<strong>Arbeit</strong>svermittlung ist in umfassendere Kontexte eingebettet. Die „Struktur und Funktionsweise<br />
von <strong>Arbeit</strong>smärkten“ (Sengenberger 1987) ist genauso aufzunehmen wie Ideosynkrasien<br />
verschiedener organisationaler Felder bzw. Branchen. Schon die grundsätzliche<br />
„soziale Einbettung“ (Granovetter 1985) ökonomischen Handelns erfordert ein hohes Maß<br />
an implizitem Wissen, das nur durch eine stabile Organisation und langfristig beschäftigte<br />
<strong>Arbeit</strong>skräfte entsteht, und – damit dieses Wissen akquirierbar wird – eine branchenbezogene<br />
Organisation der <strong>Arbeit</strong>svermittlung.<br />
Diese Ausführungen zeigen exemplarisch, dass die Produktion der Dienstleistung ‚<strong>Arbeit</strong>svermittlung‘<br />
ein hohes Maß an (implizitem) Wissen und stabile Beziehungen erfordert.<br />
Insofern scheidet eine marktliche Koordination von Beziehungen zu Dienstleistern aus, denn<br />
komplexe(re) Dienstleistungen erfordern eine stärkere „Kundenintegration“ (Kleinaltenkamp<br />
1998). Der Markt versagt, wenn es um langfristige Investitionen in Beziehungen und<br />
Wissen geht. Hingegen können selbst wenig kompetente Organisationen „wissensintensiv<br />
durch Netzwerkorganisation“ (Sydow/van Well 1996) werden. Eine netzwerkförmige, am<br />
relativ dauerhaften Beziehungszusammenhang ausgerichtete Koordination verspricht zumindest<br />
ansatzweise die Anforderungen an Stabilität und Verlässlichkeit zu erfüllen. Ich führe
Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung: Eine Organisationsform mit Zunkunft?<br />
deshalb im nächsten Kapitel aus, wie die Stabilität in der Fernsehproduktion in der fl uiden<br />
Koordinationsform ‚Projektnetzwerk’ organisiert wird<br />
3 Projektnetzwerke in der TV Content-Produktion<br />
3.1 Organisationsformen in der TV Content-Produktion: Von der<br />
Hierarchie über den Markt zum Netzwerk<br />
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland produzierte früher Inhalte in Projekten<br />
in sendereigenen Studiobetrieben (hierarchische Koordination). Nur wenige Freiberufl er,<br />
z.B. Drehbuchautoren, werden in die Projekte einbezogen. Dies ändert sich drastisch mit<br />
der Zulassung privater Fernsehsender im Jahr 1984. Diese kaufen Content auf dem Markt,<br />
vornehmlich in den USA (ausführlich Windeler/Sydow 2001). Dieses Geschäftsmodell<br />
gerät jedoch bald in die Krise, weil z.B. Fernsehzuschauer heimische Handlungsorte und<br />
bestimmte Stoffe präferieren. In dieser Situation optieren die privaten Sender nicht für die<br />
Eigenproduktion nach öffentlich-rechtlichem Vorbild, sondern für die Produktion von Inhalten<br />
in Projektnetzwerken, die heute die – im Übrigen weltweit – dominante Organisationsform<br />
ökonomischer Aktivitäten in der Fernsehproduktion sind. In ihnen wickeln die beteiligten<br />
(oft Ein-Personen ) Unternehmungen ihre Projekte ab. Sie knüpfen dabei an Erfahrungen aus<br />
früheren Projekten an. Zugleich koordinieren sie die Zusammenarbeit mit Blick auf zukünftige<br />
Projekte. Indem die beteiligten Unternehmungen wiederkehrend zusammenarbeiten, z.T.<br />
über Jahre hinweg, entsteht eine relative Stabilität in der Zusammenarbeit. Verstärkt wird<br />
die Stabilität der Organisationsform durch ein „Beziehungsmanagement“ (Diller/Kusterer<br />
1988) im Zeitraum zwischen Projekten, indem Projektbeteiligte Beziehungen, z.B. auf Messen,<br />
Festivals und anderen Branchentreffen, auch in Zeiten ohne gemeinsame Produktion<br />
pfl egen. Wechselseitiges Wissen, gemeinsame Ansichten über Fragen der Ästhetik sowie<br />
über <strong>Arbeit</strong>sabläufe und praktiken zwischen den als wichtig angesehenen Projektbeteiligten<br />
versetzen die Produktionsfi rmen erst in die Lage, Kundenanforderungen zu erfüllen. Dazu<br />
selektieren die strategischen Führer in den Projektnetzwerken, der Fernsehproduzent und<br />
insbesondere der Fernsehsender, aus einem Pool von Unternehmungen und/oder Beschäftigten<br />
ihre Projektpartner.<br />
Hierarchische Koordinationsformen bleiben trotz der verbreiteten Content-Produktion<br />
in Projektnetzwerken in der Medienindustrie von Bedeutung. Insbesondere fi nanziell lukrative<br />
Produkte (z.B. Soaps) werden, wenn möglich, im Konzern produziert. Deshalb sind<br />
Netzwerke in der Fernsehproduktion nicht selten „konzerngesteuerte Projektnetzwerke“<br />
(Wirth/Sydow 2004). Selbst wenn Medienkonzerne Produktionsfi rmen aufkaufen, um über die<br />
Alteigentümer das kreative Potential dieser Unternehmungen zu binden, scheint die Zukunft<br />
der überwiegenden Produktion von Content in Projektnetzwerken gesichert.<br />
Damit Projektnetzwerk und Beziehungsmanagement funktionieren können, werden<br />
bestimmte Funktionen, die üblicherweise in Unternehmungen internalisiert sind, an das<br />
organisationale Feld der Fernsehproduktion partiell ausgelagert. Dazu gehören die Aus- und<br />
Weiterbildung sowie Finanzierung, die in vernetzten regionalisierten organisationalen Feldern,<br />
eben in „Medienregionen“ (Lutz/Sydow 2002), nicht zuletzt in Folge aktiver Wirtschaftspolitik,<br />
konzentriert sind. Zudem sind die Akteurskonstellationen, Regulationen und Praktiken<br />
27
28 Carsten Wirth<br />
in organisationalen Feldern Gegenstand von Prozessen „strategischer Institutionalisierung“<br />
(Zimmer 2001) von Medienkonzernen, die das Feld in ihrem Interesse beeinfl ussen. So<br />
sorgen sie z.B. im Zuge von PPPs dafür, dass die jeweiligen Bundesländer die Knappheit an<br />
Kreativen durch die Gründung von Aus- und Weiterbildungseinrichtungen überwinden helfen<br />
und bremsen damit den Anstieg der Entgelte für Kreative (Windeler/Wirth 2004).<br />
3.2 Steuerung von Projektnetzwerken in der Fernsehproduktion<br />
Steuerung verlangt aus strukturationstheoretischer Sicht die Bindung und Orientierung sozialer<br />
Praktiken. Dies geschieht auf den nur analytisch trennbaren Dimensionen der Signifi kation,<br />
der Legitimation und der Domination auf mehreren Ebenen. Das bedeutet, dass die die<br />
sozialen (Steuerungs-) Praktiken kennzeichnenden Sicht-, Handlungs- und Legitimationsweisen<br />
rekursiv in der Interaktion, in der Organisation bzw. Konzern, dem Netzwerk bis hin<br />
zu gesellschaftsweiten Institutionen (re)produziert werden müssen und darauf die Akteure<br />
refl exiv, aber unterschiedlich machtvoll Einfl uss nehmen (dialectic of control) (Giddens<br />
1984; Windeler 2001).<br />
Die Steuerung von Fernsehsender, -produzent und Dienstleister in Projektnetzwerken<br />
orientiert sich vor allem an bestimmten Selektionskriterien, z.B. der Attraktivität der vorgeschlagenen<br />
Inhalte, und an den unterschiedlichen Gewichtungen der Steuerungsgrößen<br />
Inhalt, Budget und Einschaltquote in den Geschäftsprofi len der Netzwerkunternehmungen.<br />
So kooperiert RTL II bevorzugt mit Unternehmungen wie Endemol und Fremantle, die<br />
Sendungen wie Big Brother produzieren, weil sie die Zielgruppen des Senders zu einem<br />
günstigen Preis mit spezifi schen Inhalten erreichen. Der WDR hingegen arbeitet bevorzugt<br />
mit „Qualitätsproduzenten“ zusammen, die Inhalte zu einem höheren Minutenpreis und hohen<br />
Einschaltquoten in einer anderen Zielgruppe erstellen (ausführlich Windeler/Lutz/Wirth<br />
2000). Indem sich Fernsehsender, -produzent und Dienstleister rekursiv auf die jeweiligen<br />
Selektionskriterien und Geschäftsprofi le beziehen, konstituieren sie Fernsehsender-, -produzenten<br />
und Dienstleisterprofi le. Abbildung 1 veranschaulicht dies am Beispiel der Beziehung<br />
zwischen Fernsehsender und -produzent:<br />
Durch die fortwährende Reselektion werden Selektionskriterien und Geschäftsprofi le<br />
häufi g über viele Jahre in machtasymmetrischen Prozessen im Netzwerk fortgeschrieben,<br />
angepasst und modifi ziert. Dabei entsteht durch die wiederkehrende Selektion die für Projektnetzwerke<br />
typische „Flexibilität durch Stabilität“ (Sydow 2001).<br />
Im Zuge der Interaktionen in Projektnetzwerken können sich die Akteure aufeinander<br />
einstellen, aneinander anpassen und wechselseitig Veränderungen in Angriff nehmen. Die<br />
Voraussetzungen dafür stellt u.a. das dominant netzwerkförmig koordinierte organisationale<br />
Feld der Fernsehproduktion bereit. So werden Veränderungen in den Geschäftsprofi len<br />
auch auf den zahlreichen Branchentreffen, Messen und Tagungen der Branchenverbände<br />
verbreitet. Aus- und Weiterbildungseinrichtungen, die typischerweise Vertreter/innen der<br />
Unternehmungen als Dozenten/innen kooptieren, tragen dazu bei, dass entsprechende Sicht<br />
und Handlungsweisen entwickelt werden. Wirtschafts und Filmfördereinrichtungen, z.B. die<br />
Filmstiftung Nordrhein-Westfalen, entwickeln sich zu brokern in Medienregionen, die die<br />
Akteure aus der Finanzwelt, Politik, Wirtschaft, Aus- und Weiterbildung zusammenführen<br />
und somit zur Abstimmung der (Steuerungs- und Selektions-) Praktiken beitragen.<br />
Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass die Funktionsfähigkeit der fl exibel-stabilen<br />
Organisationsform ‚Projektnetzwerk’ von einer doppelten Vernetzung, derjenigen im<br />
Projektnetzwerk und im organisationalen Feld, und sich rekursiv stabilisierender Prozesse
Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung: Eine Organisationsform mit Zunkunft?<br />
der Vernetzung auf diesen Ebenen abhängt. Lässt sich diese Organisationsform auf die <strong>Arbeit</strong>svermittlung<br />
in Deutschland übertragen?<br />
Abb. 1: Das rekursive Zusammenspiel von Sender- und<br />
Produzentenprofi len<br />
Selektionskriterien der Sender Selektionskriterien der Produzenten<br />
• Attraktivität vorgeschlagener<br />
Inhalte<br />
• Ausreichende Kapitalausstattung<br />
• Fähigkeit Projektnetzwerke<br />
kompetent zu koordinieren<br />
• Positive Erfahrungen<br />
• Bevorzugung konzerneigener<br />
Produzenten<br />
Quelle: Windeler/ Lutz/ Wirth 2000, 196<br />
• Auf dem nationalen Fernsehmarkt<br />
aktive Sender<br />
• Programmanbieter von Serien/ ...<br />
• Sender vertrauter Produktionswelten<br />
• Qualität und Historie der Beziehungen<br />
zur Redaktion/ Sender, ...<br />
• Positive Erfahrungen<br />
Budget Budget<br />
SENDER<br />
PRODUZENTEN<br />
Inhalt Einschaltquote Inhalt Einschaltquote<br />
Senderprofi le Produzentenprofi le<br />
4 Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung: Anreize,<br />
Voraussetzungen und Chancen<br />
Die Koordination der Aktivitäten der <strong>Arbeit</strong>svermittlung in Projektnetzwerken hat Charme.<br />
Sie ermöglicht einen drastischen Personalabbau in der BA. Die Auslagerung der <strong>Arbeit</strong>svermittlung<br />
in derartige Projektnetzwerke ermöglicht zudem eine radikal ergebnisbezogene<br />
Steuerung über Kontrakte, verringert somit das Transformationsproblem mit der Ware<br />
<strong>Arbeit</strong>skraft, homogenisiert die Belegschaft und macht Expertise in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung<br />
weitgehend überfl üssig. Die mit der Bundesregierung vereinbarten Kontrakte wären dazu<br />
nur noch in Subkontrakte mit Dritten herunter zu brechen. Eine Konzentration auf die (neue)<br />
29
30 Carsten Wirth<br />
Kernkompetenz der BA, die Gestaltung der Marktordnung, wäre möglich. Projektnetzwerke<br />
sind legitim, weil arbeitsmarktpolitisch erfolgreiche (re) Staaten diese Koordinationsform<br />
nutzen (Stichwort: Benchmarking). Die Umstellung auf das Kontraktmanagement Dritter<br />
in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung schafft lukrative Positionen für Mitarbeiter/innen mit einem betriebswirtschaftlichen<br />
Hintergrund (und macht andere überfl üssig).<br />
Mit der Fremdvergabe der <strong>Arbeit</strong>svermittlung wechselt die Beschäftigung vom öffentlichen<br />
Dienst und Beamtenrecht in das <strong>Arbeit</strong>srecht. Der Auftraggeber kann so die unterschiedliche<br />
Regulierungsdichte zwischen öffentlichem und privatem Sektor sowie die unterschiedlichen<br />
<strong>Arbeit</strong>sbedingungen, nicht zuletzt die sich verschlechternden <strong>Arbeit</strong>sbedingungen bei Trägern,<br />
(Produktions- und Transaktions-) Kosten senkend nutzen. Die Aufzählung der Anreize<br />
zeigt, dass der häufi g in diesem Zusammenhang rezipierte Transaktionskostenansatz (so z.B.<br />
von Gülker/Kaps 2006) nicht alle relevanten Überlegungen thematisieren kann und eine<br />
strukturationstheoretische Analyse zusätzliche Einsichten generiert.<br />
Für eine netzwerkförmige Koordination von Dienstleistern in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung müssen<br />
zahlreiche Voraussetzungen erfüllt sein. Eine Garantie von <strong>Arbeit</strong>svermittlung setzt nicht<br />
nur eine staatliche Organisation oder Beziehungen zu qualitativ hochwertigen Dienstleistern<br />
voraus, sondern auch Netzwerkbeziehungen zwischen weiteren Akteuren, z.B. Qualitätssicherungsstellen,<br />
Aus- und Weiterbildungsinstitutionen sowie Trägern der <strong>Arbeit</strong>sförderung. Sie<br />
ermöglichen die Anschlussfähigkeit der Praktiken, Informationsaustausch und Lernen. Die<br />
Erfahrungen mit PSAs und in der Zusammenarbeit mit privaten Vermittlern zeigen jedoch,<br />
dass gerade die Organisationen fehlen, die Professionalität sowie Aus- und Weiterbildung<br />
sicherstellen. Die Akteure der privaten <strong>Arbeit</strong>svermittlung als auch freie Träger sind stark<br />
eigeninteressiert, 2 so dass eine effektive und effi ziente Kooperation nur schwer zu sichern<br />
ist. Ein Teil der Betreiber von PSAs, z.B. Maatwerk, wurde von seinem Management mit<br />
riskanten Konzepten in die Insolvenz geführt oder auch wegen Betrugs angeklagt. Zudem<br />
hat die vermarktlichte Auftragsvergabe der BA die Zahl der Träger dezimiert. Wichtige<br />
Kompetenzen sind dadurch im organisationalen Feld verloren gegangen, weil im Zuge<br />
eines „extremen Preisdumpings“ (BMAS 2006, 82) vor allem Billiganbieter mit geringen<br />
qualitativen Ansprüchen überlebt haben (dazu auch Schütz 2005). 3 Die BA kann heute weniger<br />
denn je, nicht zuletzt wegen ihrer eigenen Vergabepraxis, auf ein Set von etablierten<br />
Organisationen zurückgreifen, die Erfahrungen in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung besitzen und über<br />
entsprechende Beziehungen verfügen. 4 Wegen dieses geringen Grades an Koordination und<br />
wegen des Fehlens zentraler Organisationen, z.B. von brokern, ist das organisationale Feld<br />
der <strong>Arbeit</strong>sförderung gegenwärtig mit Blick auf eine Netzwerkorganisation noch unreif.<br />
Die Akteurskonstellation im Feld der <strong>Arbeit</strong>sförderung befi ndet sich allerdings im Wan-<br />
2 PSA-Betreiber minimierten z.B. verleihfreie Zeiten, in dem sie Vermittlungsvorschläge der <strong>Arbeit</strong>sagenturen<br />
solange zurückwiesen, bis sie einen Auftrag hatten.<br />
3 Mittlerweile versucht die BA die Beziehungen zu stabilisieren, indem im Vergabeverfahren auch die Erfahrungen<br />
in der Zusammenarbeit berücksichtigt werden. Diese Praxis der BA kritisiert aber der Bundesrechnungshof.<br />
Dies zeigt, wie wenig im organisationalen Feld der <strong>Arbeit</strong>sförderung in Netzwerken gedacht und gehandelt wird<br />
bzw. wie wenig dies möglich ist. Um die Qualität in der Ausschreibung von <strong>Arbeit</strong>smarktdienstleistungen zu<br />
sichern, werden mittlerweile auch Praktiker/innen aus operativen Bereichen einbezogen. Ob diese Maßnahmen<br />
die Qualität und Wirtschaftlichkeit sichern, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht beurteilt werden.<br />
4 Diese Aussage belegen auch Evaluationsstudien, die der Beauftragung von Trägern mit Eingliederungsmaßnahmen<br />
nach § 421 i SGB III mit einer dezentralen Form der Auftragsvergabe im Vergleich mit der zentralisierten<br />
Vergabe von Vermittlungsdienstleistungen nach § 37 SGB III bessere, aber nicht besonders gute<br />
Ergebnisse attestieren (Gülker/Kaps 2006). Allerdings ist zu beachten, dass die <strong>Arbeit</strong>sagenturen zuweilen<br />
keine Träger für Maßnahmen nach § 421 i SGB III für so genannte Betreuungskunden fi nden, weil diese unter<br />
den Bedingungen einer vermarktlichten Auftragsvergabe keine Angebote abgeben oder Träger sich ganz aus<br />
diesen Geschäftsfeldern zurückziehen.
Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung: Eine Organisationsform mit Zunkunft?<br />
del. Ausländische Anbieter, z.B. die australische Ingeus, treten in das Feld ein und nutzen<br />
Beziehungen zu anderen Akteuren, z.B. zu einer privaten Fachhochschule mit Kontakten in<br />
die BA-Zentrale. Sie experimentieren mit einem „Markteintritt als Netzwerkeintritt“ (Sydow/<br />
Windeler/Wirth 2003). Oder sie gründen, so z.B. Randstad, unternehmenseigene Stiftungen,<br />
die beispielsweise Tagungen co-fi nanzieren und den interessierten Akteuren Gelegenheit<br />
geben, mit Entscheidungsträgern aus Ministerien und BA zu interagieren. Die Aktivitäten<br />
dieser Akteure sind zurzeit noch recht unkoordiniert, nicht zuletzt wegen konfl igierender<br />
Interessen. Von einer refl exiven Feldentwicklung kann noch nicht die Rede sein. Insofern ist<br />
abzuwarten, wie sich das Feld der <strong>Arbeit</strong>sförderung entwickelt.<br />
Zentrales Element organisationaler Felder sind ihre Regulationen (Leblebici u.a. 1991),<br />
die eine Vernetzung ermöglichen müssen. Dies ist aber aufgrund des Vergaberechts im<br />
öffentlichen Dienst zumeist nicht möglich, weil sich dieses an marktlichen Beziehungen<br />
orientiert. Diese Regulationen müssten auch auf europäischer Ebene beeinfl usst oder sogar<br />
neu gestaltet werden, damit eine netzwerkförmige Zusammenarbeit möglich ist. Die BA und<br />
andere Organisationen aus dem Feld der <strong>Arbeit</strong>sförderung haben aber bislang nur wenig<br />
Erfahrung in Lobbyarbeit und sind an den relevanten Stellen kaum präsent. 5 Ferner ist die<br />
Koordination zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, insb. zwischen Politik<br />
und Wirtschaft, aufgrund fehlender und z.T. konfl igierender Beziehungen problematisch.<br />
Für eine Netzwerksteuerung fehlen in der BA das Know-how und auch Instrumente. Die<br />
eindeutig marktlich (denn netzwerkförmig) gestaltete Beschaffung organisieren regionale<br />
Einkaufszentren, die die kaufmännische und rechtlich korrekte Abwicklung beherrschen. Diese<br />
Zentren generieren projektbezogene Beziehungen von geringer, eher markttypischer Stabilität.<br />
Eine systematische Refl exion auf die Beziehungszusammenhänge der Auftragnehmer fi ndet<br />
in der Regel nicht statt (so auch Schütz 2005). Dies hat Konsequenzen für die Personalpolitik<br />
der Träger, die wegen der Instabilität marktlicher Beziehungen die Stellen vorwiegend mit<br />
Freiberufl ern/innen sowie befristet Beschäftigten besetzen. Sie formieren – anders als in der<br />
Fernsehproduktion – keine „semi-permanent work groups“ (Blair 2001), sondern greifen auf<br />
„secondary labor markets“ (Doeringer/Piore 1971) zu. Die Erwerbstätigen wiederum suchen<br />
wegen dieser Instabilität nach Alternativen und fi nden diese z.T. auch im Zuge der Umsetzung<br />
von Hartz IV in <strong>Arbeit</strong>sgemeinschaften und optierenden Kommunen. Insofern verstärken<br />
sich hier kurzfristige Orientierungen rekursiv und erschweren die Professionalisierung, den<br />
Aufbau stabiler Beziehungen zu <strong>Arbeit</strong>gebern sowie den Erwerb impliziten Wissens über<br />
(die Funktionsweise von) <strong>Arbeit</strong>smärkte(n) und Branchen.<br />
„Refl exive Vernetzung“ (Windeler 2001) hingegen erfordert den Aufbau, die Pfl ege und ggf.<br />
auch die Restrukturierung von Pools innerhalb der Netzwerkorganisation. Sie ist anhand von<br />
Selektions- und Evaluationskriterien als auch -verfahren zu regulieren. Refl exive Vernetzung<br />
setzte voraus, dass die BA Wissen über die Netzwerkorganisationen, ihre Kompetenzen sowie<br />
Stärken und Beziehungen erlangt. Dies erfordert ein entsprechendes Beziehungsmanagement<br />
mit Trägern der <strong>Arbeit</strong>sförderung, über das Einblicke in die Netzwerkorganisationen<br />
gewonnen, Veränderungen kommuniziert und umgekehrt Veränderungen in den Netzwerkorganisationen<br />
aufgenommen werden können. Aufgrund der vermarktlichten Auftragsvergabe<br />
fehlt dieses (Netzwerk ) Wissen in der BA. Im Unterschied zur Fernsehindustrie verfügt die<br />
5 So hat das Brüsseler Büro der BA nur wenige Mitarbeiter/innen, die zudem überwiegend andere Aufgaben<br />
übernehmen.<br />
31
32 Carsten Wirth<br />
BA auch nicht über einen ausdifferenzierten Steuerungsapparat und Tochterunternehmen, 6<br />
über die dieses Wissen beschafft werden kann. Nach einer (vollständigen) Fremdvergabe<br />
der <strong>Arbeit</strong>svermittlung würde die BA den Zugang zu diesem Wissen endgültig einbüßen,<br />
Kosten könnten explodieren und die Aktivitäten der Anbieter könnten nicht mehr gesteuert<br />
werden – nicht zuletzt, weil Spezialisten/innen für Fremdvergabe und Vernetzung im Feld<br />
der <strong>Arbeit</strong>sförderung am <strong>Arbeit</strong>smarkt nicht verfügbar sind.<br />
Die Fremdvergabe der <strong>Arbeit</strong>svermittlung in marktlichen wie auch in netzwerkförmigen<br />
Beziehungen gefährdet die Existenz der BA insgesamt, denn sie führt letztlich zu einem<br />
„hollowing out“ (Bettis/Bradley/Hamel 1992): Die Gemeinkostensteigerungen werden<br />
in Folge weiterer Funktionsauslagerungen in Markt oder Netzwerk auf einen geringeren<br />
Leistungsumfang verteilt, führen so zu steigenden „Stückkosten“ und lösen weitere Auslagerungstendenzen<br />
aus. Im Ergebnis wird die BA als self-fullfi lling prophecy immer unwirtschaftlicher<br />
und muss aufgelöst oder ihre Aktivitäten auf die Auszahlung von <strong>Arbeit</strong>slosengeld<br />
I beschränkt werden.<br />
Die Koordination der Aktivitäten der <strong>Arbeit</strong>svermittlung in Projektnetzwerken stellt<br />
auf den Ebenen des organisationalen Felds, des interorganisationalen Netzwerks und der<br />
Organisation jeweils spezifi sche Herausforderungen, für deren Bewältigung weder die BA<br />
noch andere Organisationen zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausreichend vorbereitet sind. Die<br />
Gründe hierfür sind zum einen das unreife organisationale Feld, das keine professionelle<br />
<strong>Arbeit</strong>svermittlungspraktiken hervorbringt, zum anderen die vermarktlichten Beziehungen,<br />
die u.a. durch den regulativen Kontext gefördert werden, und das damit verknüpfte Steuerungs<br />
und Stabilitätsdefi zit. Zudem sind die Akteure im Feld stark eigeninteressiert, was die<br />
Transaktionskosten erhöht. Projektnetzwerke stellen deshalb (noch) keine Organisationsform<br />
der Zukunft in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung dar. Es ist allenfalls denkbar, dass ergänzend Dritte<br />
aus numerischen Gründen oder in besonderen Fällen, z.B. um <strong>Arbeit</strong>smarktintegrationen in<br />
ethnische Ökonomien zu erreichen, wegen Kompetenzvorsprüngen zum Einsatz kommen.<br />
Auch für eine schrittweise Fremdvergabe der öffentlichen <strong>Arbeit</strong>svermittlung fehlen gegenwärtig<br />
noch die Akteure, Regulationen und entsprechende Praktiken im organisationalen<br />
Feld der <strong>Arbeit</strong>sförderung. Erst nach einer refl exiven Feldentwicklung und einer Vernetzung,<br />
die anschlussfähige Praktiken hervorbringt, – also nach einem Reifungsprozess im Feld<br />
der <strong>Arbeit</strong>sförderung – könnte ernsthaft an eine <strong>Arbeit</strong>svermittlung in Projektnetzwerken<br />
gedacht werden. Bislang gibt es aber noch keinen Akteur, der sich der Feldentwicklung<br />
(erfolgreich) (ge)widmet (hat). Dieser Befund – organisations- und netzwerktheoretisch<br />
fundiert – wirft zugleich ein kritisches Licht auf das in der öffentlichen Verwaltung immer<br />
häufi ger praktizierte und von Unternehmungsberatungen propagierte Benchmarking, das die<br />
Komplexität der Realität nicht adäquat würdigt und dem überkommenen Leitbild möglicher<br />
Best Practices anhängt. Denn lernen von anderen ist schwieriger als vielfach wahrgenommen<br />
– nicht zuletzt, weil auf mehreren Ebenen anschlussfähige Praktiken und – damit verknüpft<br />
– Sicht- Handlungs- und Legitimationsweisen entwickelt werden müssen.<br />
Wenn vermarktlichte Beziehungen und auch Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung<br />
keine Erfolg versprechende Option sind, wie könnte dann die Wirksamkeit der öffentlichen<br />
<strong>Arbeit</strong>svermittlung erhöht werden?<br />
6 So hat der Fernsehsender RTL Mehrheitsbeteiligungen an 36 Fernsehproduktionsunternehmen (Wirth/ Sydow<br />
2004).
Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung: Eine Organisationsform mit Zunkunft?<br />
5 Eine Alternative: Die BA als Netzwerkorganisator<br />
Die BA kann zum Netzwerkorganisator werden, indem sie arbeitsmarktpolitische Instrumente<br />
in Kombination mit Beziehungen zu Dritten refl exiv für die <strong>Arbeit</strong>smarktintegration <strong>Arbeit</strong>sloser<br />
nutzt. Beispielsweise kooperierte ein Logistikdienstleister eng mit der <strong>Arbeit</strong>sagentur<br />
bei der Einstellung (Langzeit-) <strong>Arbeit</strong>sloser. Voraussetzung für die Einstellung war, dass<br />
im Rahmen einer Trainingsmaßnahme bei einem dem Logistikdienstleister bekannten (!)<br />
Träger die (Langzeit-) <strong>Arbeit</strong>slosen probeweise für den Logistikdienstleister arbeiten. Der<br />
Logistikdienstleister nutzt den Träger insoweit als „kontrollierten externen <strong>Arbeit</strong>smarkt“<br />
(Sengenberger 1987, 273), um Selektionsrisiken zu reduzieren. Indem <strong>Arbeit</strong>samt, Träger<br />
und Logistikdienstleister ihre Beziehungen refl exiv koordinieren, Wissen um die Anforderungen<br />
der Netzwerkorganisationen austauschen, können sie die Abläufe und Ergebnisse<br />
ihrer Aktivitäten optimieren. Die vollständig vermarktlichte Fremdvergabe dieser Trainingsmaßnahmen<br />
an einen unbekannten Anbieter führte jedoch zum Ende dieser Kooperation<br />
– ein Aspekt, der – so meine Beobachtung – in Folge der Vermarktlichung der Beziehungen<br />
zum Zusammenbruch existierender Netzwerke beigetragen und das organisationale Feld der<br />
<strong>Arbeit</strong>sförderung ein Stück weit transformiert hat, d.h. noch stärker vermarktlicht hat. Im<br />
Ergebnis ist dadurch eine Vernetzung (gerade auch mit <strong>Arbeit</strong>gebern), die Produktion einer<br />
qualitativ hochwertigen Dienstleistung in der <strong>Arbeit</strong>sförderung schwieriger geworden.<br />
Interorganisationale Netzwerke ermöglichen eine refl exivere Zusammenarbeit mit Verleihern.<br />
Verleiher haben – ähnlich wie Fernsehproduktionsunternehmungen – bestimmte<br />
Geschäftsprofi le und kooperieren z.T. relativ dauerhaft mit bestimmten Kunden in abgegrenzten<br />
Teilarbeitsmärkten, z.B. für Büroberufe oder Helfertätigkeiten, mit jeweils spezifi schen<br />
Anforderungen. Wenn die <strong>Arbeit</strong>sagenturen dieses Wissen in Außendiensten akquirieren,<br />
können sie die Beratung <strong>Arbeit</strong>sloser auf die Beziehungen zwischen den Unternehmungen<br />
ausweiten, eher geeignete Bewerber/innen den Verleihern vorschlagen, ggfs. sogar das<br />
„structural hole“ (Burt 1992) Verleiher, also die machtvolle Position des Verleihers in diesem<br />
Beziehungsgefl echt, durch direkte Beziehungen zu <strong>Arbeit</strong>gebern umgehen. Ganz ähnlich<br />
müsste auf die Beziehungszusammenhänge von Trägern von Maßnahmen der berufl ichen<br />
Weiterbildung, insbesondere auf die Beziehungen zu <strong>Arbeit</strong>gebern, refl ektiert werden, damit<br />
Integrationen in <strong>Arbeit</strong> forciert werden können.<br />
Die Beispiele zeigen, dass (Projekt-) Netzwerke sehr wohl eine Perspektive für die öffentliche<br />
<strong>Arbeit</strong>svermittlung sind. In der Zukunft wird es darauf ankommen, diese und andere<br />
Möglichkeiten der refl exiven Vernetzung zu erkunden und auszuprobieren, wissensintensiv<br />
durch Netzwerkorganisation zu werden, die auf diese Weise gewonnenen Erfahrungen auszuwerten<br />
und intelligent mit der Binnenmodernisierung der öffentlichen <strong>Arbeit</strong>sverwaltung<br />
zu verknüpfen, um die (geringen) Möglichkeiten eines verbesserten <strong>Arbeit</strong>smarktausgleichs<br />
für die Reduzierung der <strong>Arbeit</strong>slosenzahlen zu nutzen.<br />
Literatur<br />
Bertelsmann Stiftung, Bundesanstalt für <strong>Arbeit</strong>, McKinsey & Company (2002): Die Personal-Service-Agentur<br />
(PSA). Konzeption und Diskussion eines neuen arbeitsmarktpolitischen Instruments.<br />
Gütersloh<br />
33
34 Carsten Wirth<br />
Bettis, Richard A., Stephen P. Bradley, Gary Hamel (1992): Outsourcing and industrial decline; in:<br />
Academy of Management Executive 6, 1, 7-22<br />
Blair, Helen (2001): ‚You’re only as good as your last job‘: the labour process and the labour market<br />
in the British fi lm industry; in: Work, Employment & Society 15, 1, 149-169<br />
BMAS (2006): Bericht 2005 der Bundesregierung zur Wirkung der Umsetzung der Vorschläge der<br />
Kommission Moderne Dienstleistungen am <strong>Arbeit</strong>smarkt. Berlin<br />
Bruttel, Oliver (2005): Die Privatisierung der öffentlichen <strong>Arbeit</strong>svermittlung: Australien, Niederlande und<br />
Großbritannien. Ein Vergleich aus neo-institutionenökonomischer Perspektive. Baden-Baden<br />
Burt, Robert S. (1992): Structural holes. The social structure of competition. Cambridge, Mass.<br />
Diller, Hermann, Marion Kusterer (1988): Beziehungsmanagement; in: Marketing-ZFP 10, 3, 211-<br />
220<br />
Doeringer, Peter, Michael J. Piore (1971): Internal labor markets and manpower analysis. Lexington,<br />
Mass.<br />
Giddens, Anthony (1984): The constitution of society. Cambridge<br />
Granovetter, Mark (1985): Economic action and social structure: The problem of embeddedness; in:<br />
American Journal of Sociology 91, 3, 481-510<br />
Grund, Christian (2006): Selektionseffekte und Vermittlungserfolge privater <strong>Arbeit</strong>svermittlung; in:<br />
<strong>Zeitschrift</strong> für betriebswirtschaftliche Forschung 58, 3, 212-234<br />
Gülker, Silke, Petra Kaps (2006): Effi zienzsteigerung der <strong>Arbeit</strong>svermittlung durch Contracting-Out?<br />
Eine Prozessanalyse zur öffentlich-privaten Kooperation bei vermittlungsnahen Dienstleistungen;<br />
in: <strong>Zeitschrift</strong> für Sozialreform 52, 1, 29-52<br />
Hoffmann, Werner H. (1999): Ökonomie von Unternehmungsnetzwerken: Theoretische Einsichten und<br />
empirische Befunde; in: Jörg Sydow, Carsten Wirth (Hg.): <strong>Arbeit</strong>, Personal und Mitbestimmung<br />
in Unternehmungsnetzwerken. München/Mering, 31-62<br />
Kleinaltenkamp, Michael (1998): Begriffsabgrenzungen und Erscheinungsformen von Dienstleistungen;<br />
in: Manfred Bruhn, Heribert Meffert (Hg.): Handbuch Dienstleistungsmanagement. Wiesbaden,<br />
29-52<br />
Leblebici, Hüseyin u.a. (1991): Institutional change and the transformation of interorganizational<br />
fi elds: An organizational history of the U.S. radio broadcasting industry; in: Administrative Science<br />
Quarterly 36, 2, 333-363<br />
Lutz, Anja, Jörg Sydow (2002): Content-Produktion in der Region – Zur Notwendigkeit und Schwierigkeit<br />
der politischen Förderung einer projektbasierten Dienstleistungsindustrie; in: Joachim<br />
Fischer, Sabine Gensior (Hg.): Sprungbrett Region? Analysen vernetzter Geschäftsbeziehungen.<br />
Berlin, 71-104<br />
Powell, Walter W., Paul J. DiMaggio (Hg.) (1991): The new institutionalism in organizational analysis.<br />
Chicago und London<br />
Scheller, Christian (2005): <strong>Arbeit</strong>svermittlung, Profi ling und Matching, in: Franz Egle, Michael Nagy<br />
(Hg.): <strong>Arbeit</strong>smarktintegration. Profi ling – <strong>Arbeit</strong>svermittlung – Fallmanagement. Wiesbaden,<br />
245-308<br />
Schütz, Holger (2005): Vom <strong>Arbeit</strong>amt zum Kundenzentrum – Reformveränderungen der deutschen<br />
<strong>Arbeit</strong>svermittlung; in: Holger Schütz, Hugh Mosley (Hg.): <strong>Arbeit</strong>sagenturen auf dem Prüfstand.<br />
Leistungsvergleich und Reformpraxis der <strong>Arbeit</strong>svermittlung. Berlin, 135-178<br />
Schuler, Heinz (Hg.) (2004): Lehrbuch Organisationspsychologie. Bern. 3. Aufl age<br />
Sengenberger, Werner (1987): Struktur und Funktionsweise von <strong>Arbeit</strong>smärkten. Die Bundesrepublik<br />
im internationalen Vergleich. Frankfurt/Main/New York<br />
Sydow, Jörg (2001): Virtuelle Unternehmung Flexibilität durch Stabilität; in: Jochen Barthel, Gerhard<br />
Fuchs, Sandra Wassermann, Hans-Georg Wolf (Hg.): Virtuelle Organisationen in regionalen<br />
Wirtschaftssystemen. <strong>Arbeit</strong>spapier Nr. 113 der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-<br />
Württemberg. Stuttgart, 39-43<br />
Sydow, Jörg, Bennet van Well (1996): Wissensintensiv durch Netzwerkorganisation – Strukturationstheoretische<br />
Analyse eines wissensintensiven Netzwerkes; in: Georg Schreyögg, Peter Conrad<br />
(Hg.): Managementforschung 6. Berlin/New York, 191-234
Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung: Eine Organisationsform mit Zunkunft?<br />
Sydow, Jörg, Arnold Windeler (1999): Projektnetzwerke: Management von (mehr als) temporären<br />
Systemen; in: Johann Engelhard, Elmar J. Sinz (Hg.): Kooperation im Wettbewerb. Neue Formen<br />
und Gestaltungskonzepte im Zeichen von Globalisierung und Informationstechnologie. Wiesbaden,<br />
211-235<br />
Sydow, Jörg, Arnold Windeler (Hg.) (2004): Organisation der Content-Produktion. Opladen<br />
Sydow, Jörg u.a. (1995): Organisation von Netzwerken. Opladen<br />
Sydow, Jörg, Arnold Windeler, Carsten Wirth (2003): Markteintritt als Netzwerkeintritt? – Internationalisierung<br />
von Unternehmungsaktivitäten aus relationaler Perspektive; in: Die Unternehmung<br />
57, 3, 237-261<br />
Williamson, Oliver E. (1985): The economic institutions of capitalism. New York<br />
Windeler, Arnold (2001): Unternehmungsnetzwerke. Konstitution und Strukturation. Opladen<br />
Windeler, Arnold, Anja Lutz, Carsten Wirth (2000): Netzwerksteuerung durch Selektion – Die Produktion<br />
von Fernsehserien in Projektnetzwerken; in: Jörg Sydow, Arnold Windeler (Hg.): Steuerung<br />
von Netzwerken. Opladen und Wiesbaden, 178-205<br />
Windeler, Arnold, Jörg Sydow (2001): Project networks and changing industry practices – Collaborative<br />
content-production in the German television industry; in: Organisation Science 22, 6, 1035-1061<br />
Windeler, Arnold, Carsten Wirth (2004): <strong>Arbeit</strong>sregulation in Projektnetzwerken: Eine strukturationstheoretische<br />
Analyse; in: Industrielle Beziehungen 11, 4, 295-319<br />
Wirth, Carsten, Jörg Sydow (2004): Hierarchische Heterarchien – heterarchische Hierarchien. Zur<br />
Differenz von Konzern und Netzwerksteuerung in der Fernsehproduktion; in: Jörg Sydow, Arnold<br />
Windeler (Hg.): Organisation der Content-Produktion. Opladen, 125-147<br />
Zimmer, Marco (2001): Wege rekursiver Regulation; in: Günther Ortmann, Jörg Sydow (Hg.): Strategie<br />
und Strukturation. Wiesbaden, 377-418<br />
Zukin, Sharon, Paul J. DiMaggio (1990): Introduction; in: Sharon Zukin, Paul J. DiMaggio (Hg.):<br />
Social organization of the economy. Cambridge, 1-36<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Dr. Carsten Wirth<br />
Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung<br />
Fachbereich <strong>Arbeit</strong>sverwaltung<br />
Seckenheimer Landstr. 16<br />
D-68163 Mannheim<br />
E-Mail:Carsten.Wirth@arbeitsagentur.de<br />
Schlagwörter: <strong>Arbeit</strong>smarkt, Dienstleistung/ Verwaltung, national,<br />
Soziologie, Ökonomie<br />
35
Sven Hauff<br />
Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion<br />
psychologischer Verträge aus Sicht der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen *<br />
Abstract<br />
Im Kontext der zunehmenden Flexibilisierung der Beschäftigung wird schon seit längerem diskutiert,<br />
inwieweit sich das Verhältnis zwischen <strong>Arbeit</strong>geberInnen und <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen grundlegend wandelt.<br />
Eine zentrale These hierbei ist die Abkehr vom alten Modell des impliziten bzw. psychologischen<br />
Vertrages von Loyalität und Sicherheit hin zu einem neuen Vertrag mit marktlichen Prinzipien auf der<br />
Basis von Employability. Da die Flexibilisierung von Beschäftigungsbeziehungen auch Risiken für<br />
Beschäftigte und Unternehmen in sich trägt, wird der vielfach propagierte Wandel psychologischer<br />
Verträge anhand aktueller Daten und Forschungsergebnisse kritisch betrachtet, wobei die Perspektive<br />
der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen im Vordergrund steht. Wie die Ergebnisse zeigen, scheint die Mehrheit der Beschäftigten<br />
an den Prinzipien des alten Vertrages festzuhalten und ist in hohem Maße an der Sicherheit<br />
ihres <strong>Arbeit</strong>splatzes interessiert. Mit Bezug auf diese Ergebnisse wird abschließend diskutiert, welche<br />
Implikationen sich daraus für die Unternehmenspraxis erschließen.<br />
1 Einleitung<br />
Vor dem Hintergrund der Zunahme fl exibler Formen der Beschäftigung (z.B. Struck 2006a)<br />
wird schon seit einiger Zeit diskutiert, inwieweit sich das Verhältnis zwischen <strong>Arbeit</strong>geberInnen<br />
und <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen grundlegend wandelt. Als eine mögliche Auswirkung wird dabei<br />
die Abkehr vom alten Modell des impliziten bzw. psychologischen Vertrages von Loyalität<br />
und Sicherheit hin zu einem neuen Vertrag mit marktlichen Prinzipien auf der Basis von<br />
Employability gesehen (z.B. Anderson/Schalk 1998). <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen würden demnach<br />
ihre Einstellung zum Unternehmen dahingehend ändern, dass nicht mehr die Loyalität zum<br />
Unternehmen, sondern die stetige Steigerung der eigenen Beschäftigungsfähigkeit im Vordergrund<br />
steht. Einige AutorInnen vertreten sogar die Ansicht, dass die Aufl ösung der alten<br />
sozialen Kontrakte schon abgeschlossen ist (Scholz/Stein 2002).<br />
Die überwiegende Mehrheit der zu diesem Thema vorliegenden Beiträge konstatiert einen<br />
Wandel psychologischer Verträge ohne zugrunde liegende Datenbasis (Hiltrop 1996; Klimecki/Litz<br />
2002; Marr/Fliaster 2003; Tsui/Wu 2005) oder bezieht sich lediglich auf qualitative<br />
Fallstudien (z.B. Wilkens 2004). Repräsentative Erhebungen zur faktischen Reichweite dieser<br />
Entwicklung liegen bisher nicht vor. Da ein möglicher Bedeutungsverlust der „alten“ impliziten<br />
Arrangements weit reichende Folgen für Beschäftigte, Unternehmen sowie die Beziehung<br />
zwischen <strong>Arbeit</strong>geberInnen und <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen haben kann, wird hier die Frage nach<br />
* Ich danke Dorothea Alewell und Olaf Struck sowie den HerausgeberInnen für die konstruktiven Hinweise und<br />
Verbesserungsvorschläge.<br />
<strong>Arbeit</strong>, Heft 1, Jg. 16 (2007), S.36-53
Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />
der quantitativen Ausprägung verschiedener impliziter Erwartungen gestellt, um aktuelle und<br />
künftig denkbare Erosionserscheinungen abschätzen zu können. Hierfür werden zunächst das<br />
Konzept des psychologischen Vertrages sowie die Debatten um dessen mögliche Veränderungen<br />
kurz vorgestellt. Basierend auf aktuellen Daten und Forschungsergebnissen erfolgt<br />
anschließend eine kritische Betrachtung des vielfach propagierten Wandels. Im Vordergrund<br />
stehen dabei die arbeitnehmerseitige Akzeptanz von Entlassungen und Lohnkürzungen sowie<br />
die Sicherheits- und Qualifi zierungsinteressen der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen.<br />
Wie die Ergebnisse zeigen, stellen <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen starke Gerechtigkeitsansprüche an<br />
Beschäftigungsbeziehungen und sind in hohem Maße an der Sicherheit ihres <strong>Arbeit</strong>splatzes<br />
interessiert. Hieraus lässt sich schlussfolgern, dass <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen nach wie vor mehrheitlich<br />
an den Prinzipien des alten Vertrages festzuhalten scheinen. Die aktuellen Diskussionen<br />
über die Veränderung des psychologischen Vertrags überschätzen die derzeitige Reichweite<br />
möglicher Wandlungserscheinungen somit z.T. erheblich.<br />
2 Psychologische Verträge und deren Erosion<br />
Das Konzept des psychologischen Vertrages geht insbesondere auf die <strong>Arbeit</strong>en Rousseaus<br />
zurück und bezeichnet die implizite und auf Reziprozität basierende Erwartungshaltung<br />
zwischen <strong>Arbeit</strong>geberInnen und <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen (insbesondere Rousseau 1995; u.a. auch<br />
Rousseau/Anton 1988, Rousseau/Schalk 2000). 1 Rousseau argumentiert dabei, dass <strong>Arbeit</strong>sbeziehungen<br />
in hohem Maße komplex und somit von Unwissenheit und Unsicherheit geprägt<br />
sind. Zur Reduktion dieser Komplexität gehen <strong>Arbeit</strong>geberInnen und <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen<br />
daher eine wechselseitige Vertrauensbeziehung ein, aufgrund derer einerseits ein Gefühl der<br />
Verpfl ichtung dem Anderen gegenüber entsteht und andererseits das Verhalten des Gegenüber<br />
hinreichend vorhersagbar wird.<br />
Im Wesentlichen werden hierbei zwei Formen psychologischer Verträge unterschieden,<br />
die als Pole in einem Kontinuum zu verstehen sind (Rousseau 1995, 91). Relationale Verträge<br />
mit ihrem spezifi schen Vertrauensverhältnis stellen die „klassische“ und in der Vergangenheit<br />
dominante Beziehung zwischen Unternehmen und ihren Beschäftigten dar. 2 <strong>Arbeit</strong>sverhältnisse<br />
sind in dieser Form psychologischer Verträge auf Dauer ausgelegt und erscheinen als<br />
zeitlich unbegrenzte Beziehungen, die allerdings beiden Parteien weit reichende Investitionen<br />
und Leistungen abverlangen. Zentrale Elemente sind der Austausch von security und loyality<br />
3 , wobei Loyalität, Leistungsbereitschaft und Engagement als Leistung der Beschäftigten<br />
gegen das Einräumen von Mitbestimmungsmöglichkeiten, Beschäftigungssicherheit und Karrierechancen<br />
seitens der Unternehmen stehen. Im Kontrast dazu beschreiben transaktionale<br />
Verträge eher kurzfristige Beschäftigungsbeziehungen nach ökonomischen Prinzipien (ebd.,<br />
91 f.). Hauptmerkmale dieser Verträge sind die von vornherein beschränkte <strong>Arbeit</strong>sdauer<br />
von zwei bis maximal drei Jahren sowie die geringe emotionale Involvierung der <strong>Arbeit</strong>neh-<br />
1 Das Konzept des psychologischen Vertrages geht zurück auf Argyris (1960), hat aber erst durch die <strong>Arbeit</strong>en<br />
Rousseaus umfassende Anerkennung gefunden. Für eine ausführlichere Darstellung der Entwicklung des<br />
Konzepts vgl. beispielsweise Anderson/Schalk (1998).<br />
2 Für Deutschland vertreten diese Ansicht beispielsweise Kern (1997, 273) oder Seifert/Pawlowsky (1998, 603).<br />
3 Relationale Beziehungen lassen sich auch über den Begriff des „Commitments“ charakterisieren. „Das soziale<br />
Phänomen des organisationalen Commitments wird gewöhnlich verstanden als ein Band oder eine Verbindung<br />
eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin zur Organisation oder als eine innere Verpfl ichtung gegenüber der<br />
Organisation mit dem Bestreben, der Organisation lange verbunden zu bleiben und sich für sie zu engagieren“<br />
(Rupf Schreiber 2006, 45).<br />
37
38 Sven Hauff<br />
merInnen, welche sich meist in einer niedrigen Verbundenheit gegenüber dem Unternehmen<br />
niederschlägt. Aufgrund der Kürze der Beziehung müssen sich Unternehmen größtenteils<br />
auf die bei <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen vorhandenen Erfahrungen und Qualifi kationen verlassen<br />
und können deren Leistungen nur eine angemessene Entlohnung und eventuelle zusätzliche<br />
Qualifi zierungen entgegenbringen. Die Sicherung und der Ausbau arbeitnehmerseitiger<br />
employability stehen damit im Vordergrund der Austauschbeziehung.<br />
Seit einiger Zeit wird nun diskutiert, inwieweit eine Abkehr vom alten Modell des<br />
psychologischen Vertrages zwischen <strong>Arbeit</strong>geberInnen und <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen stattfi ndet<br />
(Anderson/Schalk 1998; Hiltrop 1996; Klimecki/Litz 2002; Marr/Fliaster 2003; Tsui/Wu<br />
2005). Die alte Synthese zwischen security und loyality wird nach Meinung einer zunehmenden<br />
Zahl von AutorInnen durch eine neue Verbindung auf der Basis von exchange und<br />
employability ersetzt. 4<br />
Als Ursachen dieser Entwicklung werden vor allem erhöhte Flexibilisierungs- und Rationalisierungsanforderungen<br />
der Unternehmen und der damit einhergehenden Ausweitung<br />
befristeter <strong>Arbeit</strong>sverträge genannt (Hiltrop 1996, 36). Zunehmende Internationalisierung und<br />
wachsender Konkurrenz- und Kostendruck mindern vielfach die Attraktivität stabiler Beschäftigungsverhältnisse<br />
(Klimecki/Litz 2002, 22), zudem schwinden die Langfristperspektiven<br />
der Beschäftigten auch durch die in Folge von Restrukturierungsmaßnahmen durchgeführte<br />
Beschneidung traditioneller Karrieremöglichkeiten (Deutschmann 2002, 152). 5 Basierend<br />
auf diesen Entwicklungen setzen sich – so die These – zunehmend marktförmige Prinzipien<br />
in den Beschäftigungsbeziehungen durch, die zu einer Erosion relationaler Verträge führen,<br />
wodurch im Gegenzug transaktionale Verträge beständig an Bedeutung gewinnen.<br />
In der Konsequenz würden sich auch die Erwartungen und Verpfl ichtungen beider<br />
Vertragsparteien grundlegend wandeln, so dass in den primär auf ökonomischen Austausch<br />
orientierten Verträgen die vormals dominante Rolle der <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit und Karrierechancen<br />
als <strong>Arbeit</strong>geberleistung zusehends an Bedeutung verliert und durch die mögliche<br />
Unterstützung bei der Etablierung und Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit abgelöst wird<br />
(Hiltrop 1996, 42; Klimecki/Litz 2002, 24; Tsui/Wu 2005, 115 f.). Beschäftigte würden sich<br />
dabei zu MitarbeiterInnen ihrer eigenen „Ich AG“ (Marr/Fliaster 2003) oder zu so genannten<br />
„<strong>Arbeit</strong>skraftunternehmern“ (Voß/Pongratz 1998) entwickeln, für die nicht mehr die<br />
Loyalität und Verbundenheit zum Unternehmen, sondern die stetige Steigerung der eigenen<br />
Employability im Vordergrund steht.<br />
Die diesbezüglich weitest reichende These vertreten Scholz/Stein (2002). Ihrer Ansicht<br />
nach ist der „alte soziale Kontrakt zwischen Unternehmen und Mitarbeitern – Loyalität und<br />
lebenslange Beschäftigung nach dem Muster der klassischen Industriebetriebe – […] von<br />
beiden Seiten aufgekündigt“ (Scholz/Stein 2002, 298). Ohne eine tatsächliche empirische<br />
Fundierung wird ein „Ist-Zustand“ des „Darwiportunismus“ (ebd., 299) konstatiert, welcher<br />
eine Gleichzeitigkeit von gestiegenem Darwinismus der Unternehmen und verbreitetem<br />
Opportunismus der Beschäftigten beschreibt. Demnach sind Unternehmen einerseits durch<br />
Kostensenkungs- und Flexibilisierungsdruck zum darwinistischen Prinzip des „survival of<br />
the fi ttest“ gezwungen, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Andererseits forciert<br />
4 Die hier vorgestellten Argumentationen sollen lediglich einen Eindruck über das mögliche Spektrum der geführten<br />
Debatten vermitteln, wobei kein Anspruch auf Vollständigkeit der Diskussionsbeiträge erhoben wird.<br />
5 Als Alternative für diese verhinderten Aufstiegswege in Unternehmen sehen Klimecki/Litz (2002) eine neue<br />
Entwicklung hin zur „grenzenlosen Karriere“ (ebd., 24), in der Karrierewege gerade über häufi ge Betriebswechsel<br />
neu gefasst werden.
Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />
die Verkürzung des Zeithorizontes der Beschäftigungsbeziehung die Wahrscheinlichkeit zu<br />
opportunistischem Verhalten der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen.<br />
Entgegen der von Scholz/Stein (2002) vertretenen Position einer einvernehmlichen<br />
Kündigung bestehender Arrangements konnten Raeder/Grote (2004a, 2005a; 2005b) in<br />
mehreren empirischen Untersuchungen in Schweizer Unternehmen durchaus Diskrepanzen<br />
in den Erwartungen von Beschäftigten und Unternehmen nachweisen. 6 Laut ihren Ergebnissen<br />
divergieren die Erwartungen von MitarbeiterInnen und Management insbesondere<br />
in denjenigen Unternehmen, deren Personalpolitik sich überwiegend durch Personalabbaumaßnahmen<br />
und numerische Flexibilität (z.B. durch Outsourcing von Aufgabenteilen oder<br />
Einsatz befristeter Beschäftigung) charakterisieren lassen. Demzufolge schätzen Mitarbeitende<br />
in hoch fl exibilisierten Unternehmen <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit und Loyalität, neben den<br />
Interessen an einer interessanten <strong>Arbeit</strong> und der Möglichkeit zum eigenverantwortlichen<br />
<strong>Arbeit</strong>en, als sehr hoch ein. Unterstützungsleistungen zur Steigerung der individuellen Employability<br />
werden demgegenüber vergleichsweise wenig erwartet (Raeder/Grote 2004a,<br />
161). Zusammenfassend halten sie fest: „In den stark fl exibilisierten Unternehmen weichen<br />
die Unternehmens- und die Mitarbeitendensicht voneinander ab. Die Mitarbeitenden in den<br />
Unternehmen […] stehen der traditionellen Vertragsform näher, als dies vom Unternehmen<br />
gewünscht ist“ (ebd., 166).<br />
3 Erosion psychologischer Verträge aus Sicht der<br />
<strong>Arbeit</strong>nehmerInnen<br />
3.1 Daten und Methode<br />
Vor dem Hintergrund des vielfach konstatierten Wandels psychologischer Verträge soll im<br />
Folgenden der Frage nach der derzeitigen quantitativen Ausprägung impliziter Erwartungen<br />
nachgegangen werden. Das hierzu verwendete Datenmaterial wurde im Rahmen des Forschungsprojekts<br />
„<strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit“ der Universitäten Jena und Hannover erhoben<br />
(Köhler/Stephan/Struck 2005; Struck et al. 2006). In einer im Jahr 2004 durch das Forschungs-<br />
und Befragungsinstitut „aproxima“ in Weimar durchgeführten deutschlandweiten<br />
Telefonumfrage wurden insgesamt 3.039 Personen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren zu<br />
ihren Wert- und Gerechtigkeitsorientierungen in Bezug auf Lohn- und Beschäftigungsanpassungen<br />
befragt. Tabelle 1 liefert einen Überblick über die Zusammensetzung des Samples.<br />
In einem ersten Teil des Fragebogens wurden die Gerechtigkeitsurteile der Befragten mittels<br />
hypothetischer Szenarien erfasst. Diese in Anlehnung an Charness/Levine (2000, 2002)<br />
erarbeiteten und an deutsche Verhältnisse angepassten Szenarien beschrieben hypothetische<br />
Kündigungs- oder Lohnsenkungssituationen, worin u.a. die Ursachen, die Auswahl der betroffenen<br />
<strong>Arbeit</strong>nehmerInnen, die Durchführung der Maßnahmen seitens der Unternehmen,<br />
die Betroffenheit der Entscheidungsträger sowie die Reaktion der weiterbeschäftigten <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen<br />
variiert wurden. 7 Aufgrund der Länge der Szenarien und um Verzerrungen im<br />
6 Im Kontext der möglichen Veränderungen psychologischer Verträge untersuchen Raeder/Grote auch die Einfl<br />
üsse sich wandelnder Beschäftigungsbedingungen auf die persönliche Identität der Beschäftigten. Vgl. hierzu<br />
insbesondere Raeder/Grote (2001; 2004b; 2005c; 2006).<br />
7 Zur Einschätzung der Szenarien standen den Befragten die vier Antwortkategorien „sehr gerecht“, „mehr oder<br />
weniger gerecht“, „mehr oder weniger ungerecht“ und „sehr ungerecht“ sowie die Möglichkeiten der Angaben-<br />
39
40 Sven Hauff<br />
Tab.1: Stichprobenzusammensetzung in Prozent 1<br />
<strong>Arbeit</strong>nehmerInnen Selbstständige<br />
aus anderen<br />
Gründen<br />
nicht erwerbstätig<br />
Gesamt<br />
Erwerbstätige <strong>Arbeit</strong>slose o.<br />
in Umschulung<br />
Männer 62,2 12,2 11,9 13,7 100<br />
Frauen 57,0 15,2 6,4 21,3 100<br />
alte Bundesländer<br />
neue Bundesländer<br />
60,7 7,1 9,3 22,9 100<br />
57,6 20,3 7,9 14,2 100<br />
Deutschland 59,0 14,0 8,6 18,3 100<br />
1 Anmerkungen: In der Kategorie „Erwerbstätige“ wurden alle <strong>Arbeit</strong>erInnen, Angestellte, MeisterInnen, WerksmeisterInnen,<br />
Poliere und Beamte zusammengefasst. Die Kategorie „aus anderen Gründen nicht erwerbstätig“<br />
umfasst Personen in einer schulischen oder berufl ichen Ausbildung, Studenten, RentnerInnen, Pensionäre, VorruheständlerInnen,<br />
Hausfrauen/-männer, im Erziehungsjahr bzw. Mutterjahr Befi ndliche sowie alle Erwerbsunfähigen.<br />
Eventuelle Abweichungen in der Summe zu 100 % basieren auf Rundungen.<br />
Quelle: Projekt <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit, eigene Berechnungen.<br />
Antwortverhalten zu vermeiden, wurden die einzelnen Szenarien mittels eines „Between-<br />
Subjekt-Approach“ 8 erfragt.<br />
Im zweiten Teil des Fragebogens wurden zunächst für alle Befragten sozialstrukturelle<br />
Variablen wie Geschlecht, Alter, Herkunft, berufl icher Ausbildungsabschluss oder Haushaltskontext<br />
ermittelt. Bei erwerbstätigen <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen wurden zusätzlich beschäftigungsrelevante<br />
Information wie beispielsweise Beruf oder eingeschätzte <strong>Arbeit</strong>smarktchancen erfasst.<br />
Anschließend wurden bei Vorliegen von konkreten Erfahrungen mit Entlassungen oder Lohnsenkungen<br />
deren individuelle Bewertung sowie konkrete Umstände und Folgewirkungen der<br />
Maßnahmen ermittelt. Weiterhin sollten die Interviewten u.a. ihre Erwartungen hinsichtlich<br />
verschiedener <strong>Arbeit</strong>geberleistungen wie <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit, hohe Entlohnung, Möglichkeiten<br />
für zusätzliche Qualifi zierung, Aufstiegschancen, interessante und abwechslungsreiche<br />
Tätigkeit und Freiheit bei der <strong>Arbeit</strong>szeitgestaltung angeben. 9<br />
Im Folgenden werden zu Beginn eines jeden Kapitels Leitthesen im Sinne der Erosionsbehauptungen<br />
entwickelt und mit den empirischen Daten konfrontiert. Da die zentralen<br />
Ergebnisse des Projekts „<strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit“ bezüglich der Gerechtigkeitseinschätzung<br />
von Entlassungen und Lohnsenkungen schon an anderen Stellen umfassend dokumentiert<br />
sind (insbesondere Struck et al. 2006; auch Gerlach et al. 2006; Stephan 2006), werden die<br />
verweigerung zur Auswahl. Zur detaillierten Beschreibung der Szenarien vgl. Struck et al. (2006, 145 ff.).<br />
8 Mit Hilfe des Between-Subject-Designs soll vermieden werden, dass Befragte eventuelle Kontraste zwischen<br />
den einzelnen Szenarien als Basis ihrer Bewertung verwenden (Charness/Levine 2002, 384). Jede(r) Befragte<br />
erhielt maximal drei Szenarien.<br />
9 Mögliche Antwortkategorien waren hier „sehr wichtig“, „eher wichtig“, „weniger wichtig“ sowie „überhaupt<br />
nicht wichtig“.
Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />
vorliegenden Ergebnisse hier z.T. im Sinne einer Sekundäranalyse unter dem speziellen<br />
Fokus des psychologischen Vertrages betrachtet. Zudem erfolgt eine eigene Auswertung<br />
der von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen erwarteten <strong>Arbeit</strong>geberleistungen, wobei den Erwartungen von<br />
<strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit und zusätzlichen Qualifi kationen gesonderte Aufmerksamkeit gewidmet<br />
wird, da sie die zentralen Merkmale des „alten“ und des „neuen“ psychologischen Vertrages<br />
darstellen. Neben der deskriptiven Analyse wird jeweils ein logistisches Regressionsmodell<br />
(Andreß/Hagenaars/Kühnel 1997) geschätzt, um interindividuelle Differenzen bei der Bewertung<br />
von <strong>Arbeit</strong>geberleistungen abschätzen zu können.<br />
3.2 Gerechtigkeitsvorstellungen im Sinne des alten psychologischen<br />
Vertrages<br />
Die Transformation des psychologischen Vertrages gilt dann als gelungen, wenn die Inhalte<br />
des neuen Vertrages von beiden Seiten als fair wahrgenommen und akzeptiert werden (Raeder/Grote<br />
2000, 23). Wenn der neue Vertrag weitestgehend anerkannt ist, sollten <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen<br />
auch die in ihm verankerten Prinzipien der Vermarktlichung von Beschäftigungsbeziehungen<br />
akzeptieren (Levine et al. 2002, 3 f.). So müssten betriebsbedingte Kündigungen<br />
von den Beschäftigten durchaus als gerecht angesehen werden, da sie entsprechend dem<br />
neuen Vertrag von vornherein keinen Anspruch auf Beschäftigungssicherheit haben und<br />
diese daher auch nicht erwarten dürften. Ebenso sollten Lohnanpassungen weitestgehende<br />
Akzeptanz fi nden.<br />
Wie die Analysen aus dem Projekt „<strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit“ allerdings zeigen, bestehen<br />
bei den Beschäftigten nach wie vor starke Gerechtigkeitsansprüche an die Beschäftigungsbeziehung<br />
im Sinne des alten psychologischen Vertrages, so dass sowohl betriebliche Entlassungen<br />
als auch Lohnkürzungen mehrheitlich als ungerecht bewertet werden (Krause/Pfeifer/Sohr<br />
2006, 59 ff.). Von denjenigen befragten <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen, die in einem Zeitraum von<br />
fünf Jahren vor der Befragung in ihrem <strong>Arbeit</strong>sumfeld betriebsbedingte Entlassungen erlebt<br />
hatten, empfanden 27,7 % diese als „sehr ungerecht“ und 36,2 % als „eher ungerecht“. Noch<br />
kritischer wurden direkt oder indirekt erfahrene Lohnkürzungen eingeschätzt, wobei 29,0<br />
% der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen die erfahrenen Kürzungen als „sehr ungerecht“ und 41,7 % als<br />
„eher ungerecht“ bewerteten. 10<br />
Wie dezidierte Analysen ergaben, wird die allgemeine Akzeptanz von Entlassungen<br />
und Lohnsenkungen durch eine Vielzahl von Einfl ussfaktoren wie beispielsweise deren<br />
Ursache bzw. Auslöser, der Art von Betroffenen und vor allem vom Verhalten der Unternehmen<br />
beeinfl usst (ebd., 50 ff.; Stephan 2006, 3 ff.). Liegen Entlassungen außerhalb<br />
des direkten Verantwortungsbereichs der Unternehmensleitung, d.h. werden sie aufgrund<br />
externer Absatzeinbrüche durchgeführt, so fi nden sie eine deutlich höhere Legitimation<br />
als Kündigungen, die aus internen Rationalisierungsmaßnahmen wie der Einführung einer<br />
neuen Technologie resultieren. Bezüglich der Auswahl der zu Entlassenden hat sich gezeigt,<br />
dass Entlassungen von Beschäftigten mit allgemeinen Fachkenntnissen gerechter bewertet<br />
werden als Kündigungen von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen mit betriebsspezifi schen Kenntnissen und<br />
Fähigkeiten. Weiterhin fi nden Entlassungen von erst kurzfristig Beschäftigten eine deut-<br />
10 Im Unterschied zu Krause/Pfeifer/Sohr (2006) wurden hier nur <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen in die Analyse einbezogen.<br />
Von den 2214 <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen hatten in den letzten fünf Jahren vor dem Befragungszeitpunkt 941<br />
mindestens eine betriebsbedingte Entlassung und 583 mindestens eine Lohnkürzung erlebt. Dabei empfanden<br />
nur 7,5 % aller Befragten die erfahrenen Entlassungen als „sehr gerecht“ und 28,5 % als „eher gerecht“. Einkommenskürzungen<br />
wurden bei 2,6 % der Befragten als „sehr gerecht“ und bei 26,7 % als „eher gerecht“<br />
eingeschätzt (nach eigenen Berechnungen).<br />
41
42 Sven Hauff<br />
lich höhere Akzeptanz als Kündigungen von langfristig beschäftigten <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen.<br />
Entsprechend den traditionellen Vertragsstandards werden Entlassungen somit eher dann<br />
akzeptiert, wenn <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen eine geringere Leistung, d.h. geringere Investitionen<br />
in betriebsspezifi sche Kenntnisse sowie eine kürzere Beschäftigungsdauer, erbracht haben.<br />
Reziprok steigen mit Zunahme der Leistungen die Ansprüche und Erwartungshaltungen der<br />
Beschäftigten und entsprechend sinkt die Akzeptanz eines durch Freisetzungen initiierten<br />
Bruchs der impliziten Vereinbarungen.<br />
Der mehrheitliche Bestand von traditionellen Erwartungshaltungen zeigt sich auch hinsichtlich<br />
der Prozessgestaltung von Kündigungen. Hierbei ergab sich, dass Kündigungen<br />
dann als deutlich fairer bewertet werden, wenn die zu entlassenden Beschäftigten kompensatorische<br />
Angebote wie Abfi ndungen oder Unterstützung bei der Stellensuche erhalten oder<br />
wenn sich Unternehmen frühzeitig für den möglichen Erhalt der <strong>Arbeit</strong>splätze engagieren.<br />
Eine moderierende Wirkung zur erhöhten Akzeptanz von Personalabbaumaßnahmen hat<br />
zudem die Beteiligung und frühzeitige Information von MitarbeiterInnen oder deren Interessenvertretungen.<br />
Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch hinsichtlich der Bewertung von Lohnsenkungen<br />
Krause/Pfeifer/Sohr 2006, 55 ff.). So werden diese eher akzeptiert, wenn es die Unternehmenslage<br />
erfordert und nicht, wenn eine Anpassung der Löhne an den Marktlohn erfolgt.<br />
Zudem fi nden Einkommenskürzungen eher dann Akzeptanz, wenn die Entscheidungsprozesse<br />
unter Einbezug der Belegschaft stattfi nden oder die Unternehmensleitung Engagement und<br />
Initiative zur Verhinderung bzw. Einschränkung der Kürzungen signalisiert.<br />
3.3 <strong>Arbeit</strong>nehmerhandeln als Reaktion auf wahrgenommene<br />
Vertragsbrüche<br />
Haben sich die Inhalte des neuen psychologischen Vertrages bei <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen durchgesetzt,<br />
dann dürften Entlassungen oder Lohnkürzungen so gut wie keinen Einfl uss auf<br />
das Verhalten der Beschäftigten haben, da sie als legitime Flexibilisierungsmechanismen<br />
anerkannt sein müssten. Umgekehrt könnten die Beschäftigten eines Unternehmens bei<br />
einer wahrgenommenen Diskrepanz zwischen ihren Erwartungen und den tatsächlichen<br />
Leistungen der <strong>Arbeit</strong>geber geneigt sein, ihr Verhalten entsprechend anzupassen, um ein<br />
neues Tauschgleichgewicht zu erreichen (Richter 2003, 57 f.). 11 Die daraus entstehenden<br />
negativen Reaktionen der Beschäftigten können dazu führen, dass die durch Entlassungen<br />
und Lohnkürzungen erhofften ökonomischen Wirkungen ausbleiben (Weiss/Udris 2006). 12<br />
Konkret kann sich dies in einer Verringerung von <strong>Arbeit</strong>sleistung und Engagement, Verlust<br />
von Loyalität bis hin zum Verlassen des Unternehmens äußern.<br />
Tatsächlich zeigen die Ergebnisse des Forschungsprojekts „<strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit“,<br />
dass insbesondere als ungerecht empfundene Personalabbau-Aktionen und als ungerecht<br />
11 Demgegenüber könnten <strong>Arbeit</strong>nehmer auch die Einhaltung des psychologischen Vertrages beim <strong>Arbeit</strong>geber<br />
einfordern, was sich allerdings zumeist als schwierig gestalten dürfte, da es sich beim psychologischen Vertrag<br />
um einen impliziten, d.h. formell nicht festgelegten Vertrag handelt, so dass die Einhaltung der Vertragsbestandteile<br />
nicht eingeklagt werden kann (Richter 2003, 58).<br />
12 Hinsichtlich der Folgewirkungen bei den nach Personalabbaumaßnahmen verbleibenden Mitarbeitern unterscheiden<br />
Weiß/Udris (2006, 131 ff.) die vier Reaktionsmuster Emotion, Einstellungen, Verhalten und Gesundheit.<br />
Zur theoretischen Diskussion und empirischen Analyse vgl. auch Weis (2004; 2005) sowie Weis/Udris<br />
(2001). Analysen zu individuellen und kollektiven psychosozialen Konsequenzen von Erwerbslosigkeit und<br />
<strong>Arbeit</strong>splatzunsicherheit fi nden sich darüber hinaus bei Mohr (1997). Dem speziellen Thema der gesundheitlichen<br />
Folgen von <strong>Arbeit</strong>splatzunsicherheit und Personalabbau widmet sich zudem der Sammelband von<br />
Badura/Schnellschmidt/Vetter (2006).
Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />
empfundene Senkung von Löhnen negative Beschäftigtenreaktionen hervorrufen (Struck<br />
2006b, 91 ff.). 13 Wie Abbildung 1 verdeutlicht, führen als ungerecht empfundene Entlassungen<br />
häufi g zu einer Verschlechterung der Zusammenarbeit der MitarbeiterInnen mit ihren Vorgesetzten,<br />
der MitarbeiterInnen untereinander sowie zu einer Verringerung des Engagements<br />
der MitarbeiterInnen für die Firma. Bei immerhin über 30 % der MitarbeiterInnen steigt die<br />
Bereitschaft, das Unternehmen zu verlassen. Fast ein Viertel der Befragten nimmt zudem<br />
eine höhere Bereitschaft zur Vertretung der <strong>Arbeit</strong>nehmerinteressen wahr.<br />
Abb.1: Folgewirkungen von als ungerecht empfundenen Entlassungen 2<br />
2 Anmerkungen: Die Angaben beziehen sich auf Survivor von Entlassungen, d.h. diejenigen Personen, die in<br />
den letzten fünf Jahren in ihrem direkten Umfeld betriebsbedingte Kündigungen erlebt haben, davon selbst aber<br />
nicht betroffen waren und daher als im Unternehmen Verbliebene die Folgewirkungen einschätzen konnten. Die<br />
Angaben „gestiegen“ bzw. „gesunken“ beziehen sich dabei auf die Bereitschaft der Mitarbeiter, für gemeinsame<br />
Interessen einzutreten, auf die Bereitschaft, das Unternehmen zu verlassen sowie auf das Ausmaß an Krankmeldungen.<br />
Entsprechend stehen die Angaben „verschlechtert“ bzw. „verbessert“ für die Veränderungen hinsichtlich<br />
der Zusammenarbeit der Mitarbeiter mit den Vorgesetzen, der Zusammenarbeit der Mitarbeiter untereinander<br />
sowie für das Engagement für die Firma.<br />
Quelle: Projekt <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit, eigene Berechnungen.<br />
Ähnliche Ergebnisse zeigen sich bei als ungerecht empfundenen Lohnsenkungen, wobei<br />
die Anteile der Negativreaktionen z.T. höher als bei Entlassungen sind (Abbildung 2). So<br />
führen Lohnkürzungen bei fast 50% der Beschäftigten zu einem verringerten Engagement<br />
und zu einer schlechteren Zusammenarbeit der MitarbeiterInnen mit deren Vorgesetzten. Bei<br />
mehr als 35% der Befragten steigt zudem die Bereitschaft, das Unternehmen zu verlassen.<br />
Wieder gut ein Viertel nimmt eine höhere Bereitschaft zum Eintreten für gemeinsame Interessen<br />
wahr und bei 20% der Befragten steigt das Ausmaß an Krankmeldungen.<br />
In einer Reihe von multivariaten Analysen wurden regionale Unterschiede, der Einfl uss<br />
der Betriebsgröße, die Anzahl der Betroffenen sowie prozedurale Einfl üsse – wie beispielsweise<br />
die Beteiligung der Belegschaft oder das Engagement der <strong>Arbeit</strong>geber – zur Erklärung<br />
unterschiedlicher Verhaltensmuster untersucht (ebd, 93 ff.). Dabei zeigt sich, dass es vielen<br />
Unternehmen gelingt, die Negativreaktionen zu vermeiden, wenn sie im Sinne der Verpfl ichtungen<br />
des alten psychologischen Vertrages handeln. Relevant hierbei ist insbesondere das<br />
frühzeitige Engagement der Unternehmen zur Vermeidung von Entlassungen oder Lohnsenkungen,<br />
wodurch sich negative Reaktionen verringern oder verhindern lassen.<br />
13 Im Gegensatz zu Struck (2006b) beziehen sich die hier präsentierten Ergebnisse lediglich auf Folgewirkungen<br />
von als ungerecht empfundenen Entlassungen bzw. Lohnsenkungen.<br />
43
44 Sven Hauff<br />
Darüber hinaus zeigen sich in den neuen Bundesländern deutlich weniger Negativreaktionen<br />
als in den alten Ländern. Zudem ist die Akzeptanz von Entlassungen und Lohnsenkungen in<br />
Kleinbetrieben (< 50 Beschäftigte) aufgrund der sozialen Nähe deutlich höher als in größeren<br />
Unternehmen. Gerade in Ostdeutschland sowie in Kleinbetrieben zeigt sich somit eine höhere<br />
Einsicht in die vielleicht unumgängliche wirtschaftliche Notwendigkeit von Entlassungen<br />
und Lohnkürzungen, so dass die Erwartungen der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen hier vergleichsweise<br />
geringer ausgeprägt zu sein scheinen.<br />
Abb.2: Folgewirkungen von als ungerecht empfundenen Lohnsenkungen<br />
Quelle: Projekt <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit, eigene Berechnungen.<br />
3.4 Dominanz von <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit<br />
Eine übergreifende Erosion des alten psychologischen Vertrages würde vorrangig bedeuten,<br />
dass der Faktor <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit in der Wertvorstellung der Beschäftigten zunehmend an<br />
Bedeutung verliert und demgegenüber zusätzliche Qualifi kationen verstärkt in den Vorgrund<br />
der Interessen rücken. Die Daten des Forschungsprojekts „<strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit“ zeigen<br />
allerdings, dass <strong>Arbeit</strong>platzsicherheit im Vergleich zu anderen <strong>Arbeit</strong>sinteressen die wichtigste<br />
Abb. 3: Beschäftigungsinteressen von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen<br />
Quelle: Projekt <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit, eigene Berechnungen.
Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />
und von Beschäftigten primär geforderte <strong>Arbeit</strong>geberleistung darstellt (Abbildung 3). 14 Erst<br />
mit deutlichem Abstand folgen die Interessen an weiterer Qualifi kationen und Bildung sowie<br />
an einer interessanten und abwechslungsreichen <strong>Arbeit</strong>.<br />
Weitere Analysen lassen allerdings Unterschiede in der Bewertung der jeweiligen Erwartungen<br />
erkennen. Wie aus den Ergebnissen in Abbildung 4 ersichtlich wird, verringert sich<br />
das Interesse an einer stabilen Beschäftigung mit zunehmender Qualifi kation und Stellung<br />
im Beruf. Demgegenüber steigen die Erwartungen an zusätzliche Weiterbildungs- und Qualifi<br />
zierungmaßnahmen mit dem Qualifi kationsniveau. Trotz dieser diametralen Verläufe der<br />
Erwartungshaltungen wird allerdings auch deutlich, dass die Sicherheitsinteressen bei allen<br />
befragten <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen – gleich welcher berufl ichen Stellung – sehr hoch ausgeprägt<br />
sind und stets über den Interessen an zusätzlichen Qualifi kations- und Weiterbildungsmöglichkeiten<br />
liegen. Die Beschäftigten sind somit von der Tendenz eher an stabilen Formen<br />
der Beschäftigung interessiert, was den Erwartungen im alten Muster des psychologischen<br />
Vertrages entspricht.<br />
Abb. 4: Qualifi kations- und Sicherheitsinteressen von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen<br />
und Angestellten nach berufl icher Stellung (Angaben " sehr wichtig",<br />
in Prozent)<br />
Quelle: Projekt <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit, eigene Berechnungen<br />
3.5 Einfl ußfaktoren auf die erwarteten <strong>Arbeit</strong>geberleistungen<br />
In den bisherigen Diskussionen um die Erosion des psychologischen Vertrages wird ein Bedeutungsverlust<br />
des alten Vertrages unterstellt, ohne dass dabei auf interindividuelle Unterschiede<br />
zwischen verschiedenen <strong>Arbeit</strong>nehmergruppen eingegangen wird. Plausibler erscheint<br />
allerdings, dass einzelne Gruppen von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen im Kontext ihres je spezifi schen<br />
<strong>Arbeit</strong>sumfeldes sowie aufgrund verschiedener Beschäftigungschancen bzw. -risiken ganz<br />
14 Dieser Befund fi ndet sich auch im IG Metall Zukunftsreport wieder (IG Metall 2001, 35 ff.). Insbesondere auch<br />
für hoch qualifi zierte Beschäftigte, die am ehesten den Typ des <strong>Arbeit</strong>skraftunternehmers verkörpern sollten,<br />
zeigen Pongratz/Voß (2003, 157 f.), dass diese neben einem hohen Interesse an eigenverantwortlichen und<br />
fl exiblen <strong>Arbeit</strong>en nach wie vor an der Sicherheit ihrer berufl ichen Stellung orientiert sind.<br />
45
46 Sven Hauff<br />
Tab.2: Einfl ußfaktoren der Sicherheits- und Qualifi kationsinteressen 3<br />
<strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit<br />
Exp(B)<br />
Qualifi kationen<br />
Exp(B)<br />
Ost-West-Split (1=West) 0,830 0,945<br />
Alter (Ref.: 18 bis 35 Jahre)<br />
36 bis 50 Jahre<br />
51 bis 60 Jahre<br />
0,962<br />
1,130<br />
0,723*<br />
0,653*<br />
Geschlecht (1=männlich) 0,655* 0,793<br />
berufl iche Stellung (Ref.: un- o. angelernt <strong>Arbeit</strong>er)<br />
Facharbeiter<br />
Facharbeiter mit Führungsaufgaben<br />
un- o. angelernte Angestellte<br />
Fachangestellte<br />
hoch qualifi zierte Angestellte<br />
hoch qual. Angestellte mit Führungsaufgaben<br />
Betriebsgröße (Ref.: bis 50 Beschäftigte)<br />
50 bis 200 Beschäftigte<br />
mehr als 200 Beschäftigte<br />
Berufsbereiche (Ref. Produktionsberufe)<br />
primäre Dienstleistungsberufe<br />
sekundäre Dienstleistungsberufe<br />
0,413<br />
0,519<br />
0,228**<br />
0,209**<br />
0,121***<br />
0,145***<br />
1,081<br />
1,281<br />
1,643<br />
1,717<br />
1,448<br />
1,704<br />
1,644<br />
2,049**<br />
2,393***<br />
2,797***<br />
0,946<br />
1,444**<br />
0,924<br />
1,200<br />
Häufi gkeit der <strong>Arbeit</strong>geberwechsel<br />
(1=häufi g, 0=selten)<br />
Wahrscheinlichkeit baldiger <strong>Arbeit</strong>slosigkeit<br />
0,657* 0,909<br />
(1=wahrscheinlich, 0=unwahrscheinlich) 0,812 1,441**<br />
Finden einer neuen Stelle ( 1=leicht, 0=schwer) 0,384*** 1,211<br />
Qualifi kationsinteresse (1=sehr wichtig) 1,537** -<br />
Sicherheitsinteresse (1=sehr wichtig) - 1,527**<br />
N<br />
Nagelkerkes R-square<br />
Chi-square value<br />
Initial log-likelihood value<br />
Maximum log-likelihood value<br />
Signifi kanzniveaus: ***(0,1%); **(1%); *(5%)<br />
1355<br />
0,120<br />
98,643<br />
1185,518<br />
1086,875<br />
1355<br />
0,065<br />
67,396<br />
1878,216<br />
1810,819<br />
3 Anmerkungen: Die Erwartungen an <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit bzw. zusätzlichen Qualifi kationen wurden mit 1<br />
codiert, wenn die Befragten diese <strong>Arbeit</strong>geberleistungen als "sehr wichtig" einschätzten.<br />
Quelle: Projekt <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit, eigene Berechnungen.<br />
unterschiedliche Erwartungen an ihre Erwerbsarbeit stellen können, weshalb sie sich auch<br />
hinsichtlich ihrer erwarteten <strong>Arbeit</strong>geberleistungen unterscheiden können.<br />
Da die bisherigen Debatten um eine mögliche Erosion des psychologischen Vertrages<br />
diesbezüglich keine Stellung nehmen, werden im Folgenden anhand eines logistischen Regressionsmodells<br />
explorativ verschiedenste Einfl ussfaktoren auf die von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen
Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />
erwarteten <strong>Arbeit</strong>geberleistungen untersucht. Die Ergebnisse zu den einzelnen Einfl ussfaktoren<br />
(vgl. Tabelle 2) werden analog zum bisherigen Vorgehen zusammen mit möglichen<br />
Annahmen im Sinne der Erosionsthese präsentiert. Im Vordergrund stehen die Erwartungen<br />
von <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit und zusätzlichen Qualifi kationen, da sie im Kern die Inhalte des<br />
alten und neuen psychologischen Vertrages repräsentieren.<br />
Region: Vor dem Hintergrund der Erfahrungen während des Transformationsprozesses<br />
sowie der anhaltend schwierigen <strong>Arbeit</strong>smarktlage in den neuen Bundesländern ließe sich<br />
im Sinne der Erosionsthese vermuten, dass Beschäftigte in den neuen Bundesländern<br />
vergleichsweise geringere Erwartungen hinsichtlich der <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit haben und<br />
demgegenüber stärker an zusätzlichen Qualifi kationen interessiert sind. Analytisch können<br />
jedoch keine signifi kanten Unterschiede zwischen den Regionen festgestellt werden.<br />
Alter: Da jüngere Erwerbstätige eine deutlich höhere <strong>Arbeit</strong>smarktmobilität aufweisen<br />
(Struck 2006a, 47), müsste angenommen werden, dass deren Sicherheitsinteresse geringer<br />
und demgegenüber das Qualifi kationsinteresse höher als bei älteren <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen ist.<br />
Zudem lassen auch die Erkenntnisse der Werte- und Einstellungsforschung (insbesondere<br />
Klages 1984; Baethge 1991) vermuten, dass hauptsächlich jüngere <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen die<br />
veränderten Einstellungen am ehesten vertreten sollten. Wie die Ergebnisse im Einzelnen<br />
zeigen, stellt sich mit zunehmendem Alter der Befragten ein deutlich geringeres Interesse<br />
an zusätzlichen Qualifi kationen ein. Dies verdeutlicht den hohen Stellenwert von Aus- und<br />
Weiterbildung gerade zu Beginn der Erwerbsphase, da die Etablierung einer <strong>Arbeit</strong>smarktfähigkeit,<br />
insbesondere für junge <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen, einen entscheidenden Faktor darstellt.<br />
Demgegenüber zeigt sich allerdings kein Effekt bei der erwarteten <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit.<br />
Geschlecht: Im Vergleich der Erwerbssituationen zwischen Männern und Frauen zeigen<br />
sich nach wie vor deutliche Unterschiede. So liegen zwischen den Geschlechtern zum einen<br />
klare Lohnunterschiede vor (Hinz/Gartner 2005), zum anderen weisen Frauen höhere<br />
<strong>Arbeit</strong>slosenquoten sowie ein höheres Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit auf (IAB 2006a).<br />
Im Rahmen des Wandels psychologischer Verträge ließe sich demzufolge argumentieren,<br />
dass Frauen dem Faktor <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit weniger Gewicht beimessen und dafür in<br />
höherem Maße an der Sicherung ihrer Employability interessiert sind. Entgegen dieser<br />
These lassen die empirischen Ergebnisse bei Frauen ein höheres Sicherheitsinteresse als bei<br />
Männern erkennen.<br />
Berufl iche Stellung: Hinsichtlich der berufl ichen Stellung und des Qualifi kationsniveaus<br />
lässt sich annehmen, dass höher Qualifi zierte ein geringeres Sicherheitsinteresse haben, da<br />
das Risiko der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit bei Personen ohne berufl ichen Abschluss deutlich höher als<br />
bei AkademikerInnen ist (Reinberg/Hummel 2005). Umgekehrt sollten höher Qualifi zierte<br />
ein größeres Interesse an zusätzlichen Weiterbildungen und Qualifi kationen haben, da die<br />
Risiken einer Dequalifi zierung und des berufl ichen Abstiegs mit zunehmender Qualifi kation<br />
und berufl icher Stellung höher gewichtet sind. Wie die Resultate verdeutlichen, verringert<br />
sich das Interesse an einem sicheren <strong>Arbeit</strong>splatz mit zunehmender berufl icher Stellung und<br />
umgekehrt steigen die Erwartungen bezüglich der Weiterbildungsangebote.<br />
Betriebsgröße: Wie dezidierte Analysen zur Mobilität am deutschen <strong>Arbeit</strong>smarkt gezeigt<br />
haben, nimmt die Beständigkeit von Beschäftigungsverhältnissen mit steigender Betriebsgröße<br />
zu (Erlinghagen/Knuth 2003, 506). Vor diesem Hintergrund könnte vermutet werden,<br />
dass Beschäftigte in kleineren Betrieben die vergleichsweise höhere Fluktuation antizipieren<br />
und von daher geringere Sicherheitsansprüche stellen. Demgegenüber sollten sie ein höheres<br />
Interesse an zusätzlichen Qualifi zierungsmaßnahmen haben, um ihre überbetriebliche Be-<br />
47
48 Sven Hauff<br />
schäftigungsfähigkeit zu sichern. Analytisch zeigen sich hinsichtlich der Erwartungen an<br />
die <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit jedoch keine signifi kanten Unterschiede zwischen den einzelnen<br />
Betriebsgrößenklassen. Entgegen den Vermutungen hat die Betriebsgröße sogar einen positiven<br />
Effekt auf die erwarteten Qualifi zierungsmaßnahmen, so dass die diesbezüglichen<br />
Erwartungen mit der Betriebsgröße steigen. Damit zeigt sich insbesondere in Großbetrieben<br />
eine Gleichzeitigkeit von hohen Sicherheits- und Qualifi kationsinteressen.<br />
Berufsbereiche: Aufgrund der vergangenen Entwicklungen in den einzelnen Berufsbereichen<br />
ließe sich wieder im Sinne der Erosionsthese psychologischer Verträge vermuten, dass<br />
das Interesse an <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit in schwindenden Berufsbereichen wie den produktionsorientierten<br />
und primären Dienstleistungsberufen geringer ist als in Berufen mit einer<br />
positiven Beschäftigungsentwicklung wie den sekundären Dienstleistungen. 15 Umgekehrte<br />
Effekte wären für die Erwartungen hinsichtlich zusätzlicher Qualifi kationen zu vermuten.<br />
Hinsichtlich dieser Annahmen konnten analytisch keine signifi kanten Unterschiede festgestellt<br />
werden.<br />
Beschäftigungschancen bzw. -risiken: In den bisherigen Diskussionen über den Wandel<br />
psychologischen Vertrages wird ein allgemeiner und übergreifender Bedeutungsverlust von<br />
„alten“ zu „neuen“ vertraglichen Arrangements unterstellt, in dem die individuelle <strong>Arbeit</strong>smarktssituation<br />
offenbar keinen Einfl uss hat. Wie die hier vorliegenden Analysen allerdings<br />
zeigen, schlagen sich die subjektiv empfundenen Beschäftigungschancen bzw. -risiken in<br />
den Erwartungen der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen nieder. Schätzen Befragte die Wahrscheinlichkeit<br />
der baldigen <strong>Arbeit</strong>slosigkeit als hoch ein, so erhoffen sie zusätzliche Bildungsmaßnahmen.<br />
Demgegenüber ist bei denjenigen Befragten, die ihre <strong>Arbeit</strong>smarktchancen positiv einschätzen,<br />
das Interesse an der Sicherheit ihres <strong>Arbeit</strong>splatzes deutlich geringer als bei Befragten,<br />
für die sich das Finden einer neuen Stelle schwierig gestalten könnte. Gleiches trifft für jene<br />
Befragte zu, bei denen <strong>Arbeit</strong>splatzwechsel vergleichsweise häufi g auftreten.<br />
Sicherheits- vs. Qualifi kationsinteressen: Die Erosionsthese psychologischer Verträge<br />
impliziert in ihrem Kern eine Verschiebung individueller Interessen von der Sicherheit des<br />
<strong>Arbeit</strong>splatzes hin zu Qualifi kationsinteressen. Wie die hier vorliegenden Ergebnisse allerdings<br />
zeigen, ist ein höheres Sicherheitsinteresse mit einem hohen Interesse an zusätzlichen<br />
Qualifi kationen verbunden und vice versa. Die hieraus abzuleitende These wäre nicht der<br />
allgemeine Bedeutungsverlust von „alten“ zugunsten „neuer“ Verträge, sondern die Etablierung<br />
eines neuen Mischungsverhältnisses, in dem <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen nach wie vor ein hohes<br />
Sicherheitsinteresse haben und gleichzeitig die höhere Fluktuation am <strong>Arbeit</strong>markt und die<br />
damit gestiegenen Beschäftigungsrisiken über die Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit<br />
zu kompensieren versuchen.<br />
4 Diskussion und praktische Implikationen<br />
Trotz der in den vorangegangenen Analysen festgestellten Divergenz in die Interessenlagen<br />
und Erwartungen zwischen <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen, sprechen die in dieser <strong>Arbeit</strong> vorgestellten<br />
Ergebnisse grundlegend für eine weitere Gültigkeit der Prinzipien und Inhalte des traditionellen<br />
Vertrages. Auf dieser Basis lässt sich nun fragen, inwieweit sich die Entwicklung<br />
15 Zur Abgrenzung der einzelnen Bereiche sowie zu deren Entwicklung vgl. Biersack/Parmentier/Schreyer (2000)<br />
sowie IAB (2006b).
Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />
psychologischer Verträge in Zukunft gestalten wird und welche Implikationen sich daraus<br />
für die unternehmerische Praxis erschließen.<br />
Auf der einen Seite kann davon ausgegangen werden, dass der umfassenden Etablierung<br />
transaktionaler Verträge nach wie vor deutliche Grenzen gesetzt sind. In ihrer Reinform<br />
beschreiben sie ein egalitäres Verhältnis zwischen <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen und <strong>Arbeit</strong>geberInnen,<br />
in dem der marktförmige Austausch durch Vollbeschäftigung und ein hohes Maß<br />
an Beschäftigungsfähigkeit gesichert wird. Da allerdings auch in absehbarer Zeit nicht mit<br />
einer Trendwende am <strong>Arbeit</strong>smarkt hin zur einstmaligen Vollbeschäftigungsgesellschaft zu<br />
rechnen ist (Bosch u.a 2004, 73 f.), bleibt anzunehmen, dass die Sicherheitsinteressen der<br />
Beschäftigten aufgrund der fortbestehenden <strong>Arbeit</strong>smarktrisiken dominieren werden. Zur<br />
Minimierung dieses Risikos werden Beschäftigte auch weiterhin an zusätzlichen Qualifi<br />
kationen interessiert sein. Da die Bereitstellung und Sicherung von Weiterbildungs- und<br />
Qualifi zierungsmaßnahmen meist im Ermessen und Entgegenkommen der Unternehmen<br />
liegt, bietet sich diesen hierbei eine Möglichkeit, negativen Konsequenzen eines von den<br />
Beschäftigten wahrgenommen Vertragsbruchs z.T. entgegenzuwirken. Falls Unternehmen<br />
aufgrund externer und interner Flexibilisierungsanforderungen nicht in der Lage sind, den<br />
Sicherheitsinteressen der Beschäftigten gerecht zu werden, so sollte dies in Zukunft aktiv<br />
kommuniziert und durch mögliche andere Angebote, wie die Unterstützung zur Sicherung<br />
der Employability, kompensiert werden (Raeder/Grote 2000, 23 f.).<br />
Auf der anderen Seite führt der sich durch den demographischen Wandel abzeichnende<br />
Fach- und Führungskräftemangel (Fuchs/Dörfl er 2005) möglicherweise zur Egalisierung der<br />
Marktpositionen einzelner Gruppen von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen. Eine sich zukünftig verschärfende<br />
Mismatchsituation in einzelnen Regionen und Berufsbereichen sowie für Hochqualifi zierte<br />
oder Spezialisten (Bosch u.a 2004, 81) würde dabei die Wahlmöglichkeiten der betroffenen<br />
Beschäftigten erhöhen, was eine verstärkte Etablierung transaktionaler Verträge in diesen<br />
Bereichen zur Konsequenz haben könnte. Entgegen dieser Entwicklung befürchten allerdings<br />
schon jetzt viele Unternehmen erhöhte Wechsel, da qualifi zierte MitarbeiterInnen stets auch<br />
als Träger von Wissen und Kompetenzen gelten (Staudt/Kottmann 2003, 38). Zudem sind<br />
unerwünschte Personalabgänge immer mit weiteren direkten und indirekten Kosten, wie<br />
beispielsweise hohen Personalwiederanschaffungskosten oder dem Verlust von getätigten<br />
Weiterbildungsinvestitionen, verbunden (Bröckermann 2004, 17; Stührenberg 2004, 39).<br />
Basierend auf den Grundgedanken des psychologischen Vertrages kann hierbei die These<br />
vertreten werden, dass sich Loyalität und Engagement gegenüber Unternehmen durch den<br />
Bezug auf die Prinzipien des alten psychologischen Vertrages herstellen lassen. Insbesondere<br />
Coyle-Shapiro/Kessler (2002) konnten nachweisen, dass die zukünftigen Erwartungen und<br />
Verpfl ichtungen zwischen <strong>Arbeit</strong>geberInnen und <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen reziprozitätabhängig und<br />
somit in deren aktuellem Handeln begründet sind. Dementsprechend müssten von Seiten der<br />
Unternehmen entsprechende Vorleistungen erbracht und diese auch langfristig eingehalten<br />
werden, so dass ein positives Ungleichgewicht zugunsten der Unternehmen entsteht, wodurch<br />
sich <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen ihrem <strong>Arbeit</strong>geber verpfl ichtet fühlen (ebd., 83).<br />
5 Fazit<br />
Die Intention der vorliegenden <strong>Arbeit</strong> lag darin, einen empirisch gestützten Beitrag zur<br />
Debatte um die Erosion psychologischer Verträge zu leisten, wobei die Inhalte des psycho-<br />
49
50 Sven Hauff<br />
logischen Vertrages aus Sicht der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen im Vordergrund standen. Hierzu wurde<br />
zunächst grundlegend das Konzept des psychologischen Vertrages und die Diskussion um<br />
den möglichen Bedeutungsverlust von relationalen Verträgen zugunsten transaktionaler<br />
Verträge vorgestellt. Anhand der empirischen Ergebnisse wurde deutlich, dass die aktuellen<br />
Diskussionen über den neuen und alten <strong>Arbeit</strong>svertrag den derzeitigen Stand möglicher<br />
Wandlungserscheinungen z.T. erheblich überschätzen. Für die überwiegende Mehrheit der<br />
<strong>Arbeit</strong>nehmerInnen zählt Beschäftigungssicherheit als die am häufi gsten erwartete <strong>Arbeit</strong>geberleistung.<br />
Eventuelle Erwartungen im Sinne des neuen psychologischen Vertrages zeigen<br />
sich eher bei hoch qualifi zierten Beschäftigten, welche von vornherein über günstigere<br />
<strong>Arbeit</strong>smarktchancen verfügen.<br />
Inwieweit sich implizite Arrangements nach dem Muster des neuen psychologischen<br />
Vertrages in Zukunft ausdehnen werden, lässt sich heute schwer abschätzen. Gegen eine<br />
rigide Verbreitung und Akzeptanz seitens der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen sprechen die nach wie vor<br />
existenten und anhaltenden Beschäftigungsrisiken, die auch weiterhin auf eine Dominanz der<br />
Sicherheitsinteressen schließen lassen. Eventuelle Potenziale zur Etablierung transaktionaler<br />
Verträge liegen im demographisch bedingten Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials,<br />
durch den sich die Marktposition einzelner Gruppen von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen egalisieren<br />
könnte. Um die tatsächliche Entwicklung psychologischer Verträge festzustellen, bedarf es<br />
daher langfristig angelegter empirischer Untersuchen, die auch über die hier vorgestellten<br />
Analysen hinausgehen und die Sichtweisen von Beschäftigten und Unternehmen integrieren,<br />
um der Pluralität möglicher Beschäftigungsbeziehungen gerecht zu werden.<br />
6 Literatur<br />
Anderson, Neil, René Schalk (1998): The psychological contract in retrospect and prospect; in: Journal<br />
of Organizational Behavior, 19, 637-647<br />
Andreß, Hans-Jürgen, Jacques A. Hagenaars, Steffen Kühnel (1997): Analyse von Tabellen und kategorialen<br />
Daten. Log-lineare Modelle, latente Klassenanalyse, logistische Regression und GSK-<br />
Ansatz, Berlin. Heidelberg<br />
Argyris, Chris (1960): Understanding Organizational Behaviour. London<br />
Badura, Bernhard, Henner Schellschmidt, Christian Vetter (Hrsg.) (2006): Fehlzeiten-Report 2005.<br />
<strong>Arbeit</strong>splatzunsicherheit und Gesundheit. Berlin, 125-146<br />
Baethge, Martin (1991): <strong>Arbeit</strong>, Vergesellschaftung, Identität – Zur zunehmenden normativen Subjektivierung<br />
der <strong>Arbeit</strong>; in: Soziale Welt 43, 6-19<br />
Biersack, Wolfgang, Klaus Parmentier, Franziska Schreyer (2000): Berufe im Spiegel der Statistik.<br />
Beschäftigung und <strong>Arbeit</strong>slosigkeit 1993-1999, BeitrAB Nr. 60, Nürnberg<br />
Bosch, Gerhard, Paula Heinecker, Ernst Kistler, Alexandra Wagner (2003): Aktueller und künftiger<br />
Fachkräftemangel und Fachkräftebedarf: eine Analyse für die Bundesrepublik Deutschland und<br />
das Land Berlin, <strong>Arbeit</strong>smarktpolitische Schriftenreihe der Senatsverwaltung für Wirtschaft, <strong>Arbeit</strong><br />
und Frauen, Bd. 57 – <strong>Arbeit</strong>smarktpolitik, Berlin<br />
Bröckermann, Reiner (2004): Fesselnde Unternehmen – Gefesselte Beschäftigte; in: Reiner Bröckermann,<br />
Gisela Bausch-Weis (Hrsg.): Personalbindung – Wettbewerbsvorteile durch strategisches<br />
Human Resource Management, Berlin, 15-31<br />
Charness, Gary, David I. Levine (2000): When are Layoffs acceptable?; in: Industrial and Labor Relations<br />
Review 53, 381-400<br />
Charness, Gary, David I. Levine (2002): Changes in the Employment Contract? Evidence from a Quasi-<br />
Experiment; in: Journal of Economic Behavior & Organization 47, 391-405
Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />
Coyle-Shapiro, Jacqueline, Ian Kessler (2002): Exploring reciprocity through the lens of the psychological<br />
contract: Employee and employer perspectives; in: European Journal of Work and Organizational<br />
Psychology, 11, 69-86<br />
Deutschmann, Christoph (2002): Postindustrielle Industriesoziologie – Theoretische Grundlagen,<br />
<strong>Arbeit</strong>sverhältnisse und soziale Identitäten. Weinheim, München<br />
Erlinghagen, Marcel, Matthias Knuth (2003): <strong>Arbeit</strong>smarktdynamik zwischen öffentlicher Wahrnehmung<br />
und empirischer Realität; in: WSI-Mitteilungen, H. 8, 502-509<br />
Fuchs, Johann, Katrin Dörfl er (2005): Projektion des <strong>Arbeit</strong>sangebots bis 2050: Demographische<br />
Effekte sind nicht mehr zu bremsen, IAB-Kurzbericht, Nr. 11, 2005<br />
Gerlach, Knut, David Levine, Gesine Stephan, Olaf Struck (2006): The Acceptability of Layoffs and<br />
Pay Cuts: Comparing North America with Germany; in: IAB Discussion Paper, No. 1/2006<br />
Hiltrop, Jean M. (1996): Managing the changing psychological contract; in: Employee Relations, 18,<br />
36-49<br />
Hinz, Thomas, Hermann Gartner (2005): Geschlechtsspezifi sche Lohnunterschiede in Branchen,<br />
Berufen und Betrieben; in: <strong>Zeitschrift</strong> für Soziologie, Jg. 34, H. 1, 22-39<br />
IAB (2006a): IAB-Zahlenfi bel, http://iab.de/asp/fi bel/default.asp<br />
IAB (2006b): Berufe im Spiegel der Statistik, http://www.pallas.iab.de/bisds/berufe.htm<br />
IG Metall (2001): IG Metall – Zukunftsreport, Frankfurt a.M.<br />
Kern, Horst (1997): Vertrauensverlust und blindes Vertrauen: Integrationsprobleme im ökonomischen<br />
Handeln; in: Stefan Hradil (Hrsg.): Differenz und Integration. Verhandlungen des 28. Kongresses<br />
der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Frankfurt a.M., New York, 271-282<br />
Klages, Helmut (1984): Wertorientierungen im Wandel: Rückblick, Gegenwartsanalysen, Prognosen.<br />
Frankfurt a.M.<br />
Klimecki, Rüdiger G., Stefan A. Litz (2002): Impliziter <strong>Arbeit</strong>svertrag und „grenzenlose“ Karriere;<br />
in: Personal, H. 10, 22-25<br />
Köhler, Christoph, Gesine Stephan, Olaf Struck (2005): <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit. Die Akzeptanz<br />
von Lohn- und Beschäftigungsanpassungen in Deutschland (Friedrich-Schiller-Universität Jena,<br />
Institut für Soziologie und Universität Hannover, Institut für Quantitative Wirtschaftsforschung,<br />
Ergebnisbericht), Jena<br />
Krause, Alexandra, Christian Pfeifer, Tatjana Sohr (2006): Was beeinfl usst die Akzeptanz von Entlassungen<br />
und Lohnkürzungen?; in: Olaf Struck u.a (Hrsg.) (2006): <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit.<br />
Entlassungen und Lohnkürzungen im Gerechtigkeitsurteil der Bevölkerung. Wiesbaden, 33-70<br />
Levine, David I. et al. (2002): How new is the “new employment contract”? Evidence from North<br />
American Pay Practice, Michigan<br />
Marr, Rainer, Alexander Fliaster (2003): Jenseits der „Ich-AG“ – Der neue Psychologische Vertrag der<br />
Führungskräfte in deutschen Unternehmen. München und Mering<br />
Mohr, Gisela (1997): Erwerbslosigkeit, <strong>Arbeit</strong>splatzunsicherheit und psychische Befi ndlichkeit.<br />
Frankfurt a.M.<br />
Pongratz, Hans J., G. Günter Voß (2003): <strong>Arbeit</strong>skraftunternehmer – Erwerbsorientierungen in entgrenzten<br />
<strong>Arbeit</strong>sformen. Berlin<br />
Raeder, Sabine, Gundula Grote (2000): Flexibilisierung von <strong>Arbeit</strong>sverhältnissen und psychologischer<br />
Kontrakt – Neue Formen persönlicher Identität und betrieblicher Identifi kation. (Projektbericht)<br />
Zürich: Institut für <strong>Arbeit</strong>spsychologie der ETH, http://e-collection.ethbib.ethz.ch/ecol-pool/bericht/bericht_83.pdf<br />
Raeder, Sabine, Gundula Grote (2001): Flexibilität ersetzt Kontinuität. Veränderte psychologische<br />
Kontrakte und neue Formen persönlicher Identität; in: <strong>Arbeit</strong> - <strong>Zeitschrift</strong> für <strong>Arbeit</strong>sforschung,<br />
<strong>Arbeit</strong>sgestaltung und <strong>Arbeit</strong>spolitik, H. 4, Jg. 10, 352-364<br />
Raeder, Sabine, Gundula Grote (2004a): Fairness als Voraussetzung für die Tragfähigkeit psychologischer<br />
Verträge; in: Georg Schreyögg (Hrsg.): Managementforschung Band 14. Gerechtigkeit und<br />
Management, Wiesbaden, 139-174<br />
51
52 Sven Hauff<br />
Raeder, Sabine, Gundula Grote (2004b): Flexible und kontinuitätsbetonte Identitätstypen in fl exibilisierten<br />
<strong>Arbeit</strong>sverhältnissen; in: Hans J. Pongratz, G. Günter Voß (Hrsg.): Typisch <strong>Arbeit</strong>skraftunternehmer?<br />
Befunde der empirischen <strong>Arbeit</strong>sforschung. Berlin, 57-72<br />
Raeder, Sabine, Gundula Grote (2005a): Psychologische Verträge; in: Dieter Frey, Lutz von Rosenstiel,<br />
Carl Graf Hoyos (Hrsg.): Handbuch für Angewandte Psychologie, Band II, Wirtschaftspsychologie.<br />
Weinheim, 304-309<br />
Raeder, Sabine, Gundula Grote (2005b): Eigenverantwortung als Element eines neuen psychologischen<br />
Vertrages. Gruppendynamik und Organisationsberatung; in: <strong>Zeitschrift</strong> für angewandte Sozialpsychologie,<br />
36, 207-219<br />
Raeder, Sabine, Gundula Grote (2005c): Berufl iche Identität; in: Felix Rauner (Hrsg.): Handbuch der<br />
Berufsbildungsforschung. Bielefeld, 337-342<br />
Raeder, Sabine, Gundula Grote (2006): Career changes and identity continuities – a contradiction?; in:<br />
Alan Brown, Simone Kirpal, Felix Rauner (Eds.): Identities at work. Dordrecht<br />
Reinberg, Alexander, Markus Hummel (2005): Vertrauter Befund. Höhere Bildung schützt auch in der<br />
Krise vor <strong>Arbeit</strong>slosigkeit; IAB-Kurzbericht, Nr. 9/2005<br />
Richter, Gregor (2003): Innere Kündigung. Über Verträge, die brechen können, ohne dass sie je zustande<br />
gekommen sind; in: Personal, H. 9, 56-59<br />
Rousseau, Denise M. (1995): Psychological contracts in organizations: understanding written and<br />
unwritten agreements. Thoussand Oaks, London, New Dehli<br />
Rousseau, Denise M., Ronald J. Anton (1988): Fairness and Implied Contract Obligations in Job<br />
Terminations: The Role of Remedies, Social Accounts and Procedural Justice; in: Human Performance,<br />
1(4), 273-289<br />
Rousseau, Denise M., René Schalk (2000): Psychological contracts in employment: Cross national<br />
perspectives. Thousand Oaks, London, New Dehli<br />
Rupf Schreiber, Marianne (2006): Identifi kation und Vertrauen in Organisationen. Eine empirische<br />
Untersuchung in der Bankenbranche, Dissertation Uni Freiburg (Schweiz), http://ethesis.unifr.ch/theses<br />
/indexD.php<br />
Scholz, Christian, Volker Stein (2002): Dawiportunismus und Wissensgesellschaft: Eine fatale<br />
Kombination; in: Knut Bleicher, Jürgen Berthel (Hrsg): Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft<br />
– Veränderte Strategien, Strukturen und Kulturen. Frankfurt a.M., 298-307<br />
Seifert, Matthias, Peter Pawlowsky (1998): Innerbetriebliches Vertrauen als Verbreitungsgrenze atypischer<br />
Beschäftigungsformen; in: Mitteilungen der <strong>Arbeit</strong>smarkt- und Berufsforschung, 31, 599-611<br />
Staudt, Erich, Marcus Kottmann (2003): Personalentwicklung auf neuen Wegen II; in: Personal, H.<br />
1, 38-42<br />
Stephan, Gesine (2006): Fair geht vor. Was die Leute von Entlassungen halten; in: IAB-Kurzbericht,<br />
Nr. 1/2006<br />
Struck, Olaf (2006a): Flexibilität und Sicherheit. Empirische Befunde, theoretische Konzepte und<br />
institutionelle Gestaltung von Beschäftigungsstabilität. Wiesbaden<br />
Struck, Olaf (2006b): <strong>Arbeit</strong>smotivation, Fluktuation, Krankenstand – wie wirken sich Entlassungen<br />
aus?; in: Olaf Struck u.a (Hrsg.) (2006): <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit. Entlassungen und Lohnkürzungen<br />
im Gerechtigkeitsurteil der Bevölkerung. Wiesbaden, 87-104<br />
Struck, Olaf u.a (Hrsg.) (2006): <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit. Entlassungen und Lohnkürzungen im Gerechtigkeitsurteil<br />
der Bevölkerung. Wiesbaden<br />
Stührenberg, Lutz (2004): Ökonomische Bedeutung des Personalbindungsmanagements für Unternehmen;<br />
in: Rainer Bröckermann, Gisela Bausch-Weis (Hrsg.): Personalbindung – Wettbewerbsvorteile<br />
durch strategisches Human Resource Management. Berlin<br />
Tsui, Anne S., Joshua B. Wu (2005): The new employment relationship versus the mutual investment<br />
approach: implications for human resource management; in: Human Resource Management, 44,<br />
115-121<br />
Voß, G. Günter, Hans J. Pongratz (1998): Der <strong>Arbeit</strong>skraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware<br />
<strong>Arbeit</strong>skraft?; in: Kölner <strong>Zeitschrift</strong> für Soziologie und Sozialpsychologie, 50, 131-158
Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />
Weiss, Vera (2004): Personalabbau in Unternehmen und die Situation der Verbleibenden, Beiträge zur<br />
Wirtschaftspsychologie, Bd. 7. Lengerich<br />
Weiss, Vera (2005): Zufriedenheit und Wohlbefi nden verbleibender Mitarbeitenden nach Personalabbau;<br />
in: Wirtschaftspsychologie, H. 1, 81-92<br />
Weiss, Vera, Ivars Udris (2001): Downsizing und Survivors. Stand der Forschung zum Leben und Überleben<br />
in schlanken und fusionierten Organisationen; in: <strong>Arbeit</strong> - <strong>Zeitschrift</strong> für <strong>Arbeit</strong>sforschung,<br />
<strong>Arbeit</strong>sgestaltung und <strong>Arbeit</strong>spolitik, H. 2, Jg. 10, 103-121<br />
Weiss, Vera, Ivars Udris (2006): Downsizing in Organisationen: Und was ist mit den Verbleibenden<br />
nach Personalabbau?; in: Bernhard Badura, Henner Schellschmidt, Christian Vetter (Hrsg.): Fehlzeiten-Report<br />
2005. <strong>Arbeit</strong>splatzunsicherheit und Gesundheit. Berlin, 125-146<br />
Wilkens, Uta (2004): Häufi ge Unternehmenswechsel hochqualifi zierter <strong>Arbeit</strong>skräfte. Bindungsorientierungen<br />
von <strong>Arbeit</strong>skraftunternehmern; in: Hans J. Pongratz, G. Günter Voß (Hrsg.): Typisch<br />
<strong>Arbeit</strong>skraftunternehmer? Befunde der empirischen <strong>Arbeit</strong>sforschung. Berlin, 33-56<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Sven Hauff, M.A.<br />
Friedrich-Schiller-Universität Jena<br />
Lehrstuhl für Personalwirtschaft und Organisation<br />
Carl-Zeiss-Straße 3<br />
D-07743 Jena<br />
E-Mail: sven.hauff@wiwi.uni-jena.de<br />
Schlagwörter: Psychologische Verträge, <strong>Arbeit</strong>nehmererwartungen,<br />
Gerechtigkeitswahrnehmung am <strong>Arbeit</strong>splatz, <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit<br />
53
Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />
Learning for Production.<br />
E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der<br />
Papierherstellung<br />
Abstract<br />
Der anfänglichen Euphorie, die computergestütztes Lernen in den neunziger Jahren auslöste, folgte<br />
Desillusionierung. Einen wesentlichen Grund hierfür sehen wir darin, dass bei der Entwicklung<br />
computergestützter Lernprogramme zu sehr auf die Technik gesetzt wurde und zu wenig auf die<br />
pädagogischen, arbeits- und organisationspsychologischen Dimensionen des Lernens. Erforderlich<br />
ist eine Neuorientierung des E-Learning, bei der die Frage gestellt wird, was Wissen ist, welches<br />
Wissen in spezifi schen Anwendungsfeldern gebraucht wird, wie Wissen bisher erworben wurde und<br />
wie die Antworten auf diese Fragen in Lernangebote übersetzt werden können. Die Chancen des E-<br />
Learning liegen nicht darin, tradierte Vorstellungen des Lernens medial zu reproduzieren, sondern die<br />
Möglichkeiten des Mediums für ein Lernen zu nutzen, in dem das Konstruieren, Experimentieren,<br />
Explorieren und Kommunizieren im Mittelpunkt stehen. Anhand eines Fallbeispieles soll gezeigt<br />
werden, wie eine solche Lösung aussehen kann.<br />
1 Einführung<br />
Mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien stehen seit den neunziger<br />
Jahren für das Lernen im Betrieb neue Methoden und Instrumente des Lernens zur Verfügung,<br />
die unter dem Begriff E-Learning bekannt geworden sind. Nach einer ersten Periode<br />
des Einsatzes computergestützter und webbasierter Lernprogramme darf Bilanz gezogen<br />
werden. Mit welchen Ansprüchen sind diese Lernprogramme versehen und wie werden<br />
diese Ansprüche in virtuelle Lernumgebungen übersetzt? Inwieweit wird den aktuellen<br />
Erkenntnissen über das Verhältnis von Theorie und Praxis, über Wissensgenerierung und<br />
Wissensmanagement Rechnung getragen?<br />
In diesem Beitrag sollen zunächst der Stand des E-Learning sowie der gegenwärtige<br />
wissenschaftliche Diskurs über handlungsorientierte(s) Erkenntnisgewinnung und Lernen<br />
dargestellt und im Hinblick auf betriebliches Lernen diskutiert werden. Vor diesem Hintergrund<br />
wird ein von den Autorinnen entwickeltes computergestütztes Konzept betrieblichen<br />
Lernens vorgestellt. Die Gestaltung des Lernkonzepts beruht auf der Kooperation<br />
mit der Unternehmensleitung und mit ausgewählten Mitgliedern der Belegschaft 1 einer<br />
1 Bei der Auswahl der Mitarbeiter für die Kooperation wurde darauf geachtet, dass Vertreter verschiedener<br />
<strong>Arbeit</strong>sbereiche und verschiedener Generationen einbezogen wurden. Laufzeit des Projekts: 1.11.2004<br />
– 31.7.2005.<br />
<strong>Arbeit</strong>, Heft 1, Jg. 16 (2007), S. 54-68
Learning for Produktion: E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung<br />
internationalen Papierfabrik mit rund 500 MitarbeiterInnen fast ausschließlich männlichen<br />
Geschlechts. Es wurde ein praxisverankerter, partizipativer Forschungsansatz gewählt, der<br />
den an der Konzeptentwicklung Beteiligten Gelegenheit bot, ihre Erfahrungen, Wünsche,<br />
Ideen, Einwände zu thematisieren. Die erkenntnisleitende Fragestellung lautete: Wie kann<br />
ein computergestütztes Lernkonzept entwickelt werden, das an den bisherigen Formen des<br />
Lernens im Betrieb einschließlich informeller Lernformen anknüpft, die bereits vorhandenen<br />
Lerngelegenheiten durch Nutzung der medialen Möglichkeiten erweitert und dazu anregt,<br />
Lernen offl ine und online miteinander zu kombinieren? Das auf dieser Basis entstandene<br />
Konzept sieht informative, kommunikative und experimentielle Anwendungen vor; in<br />
Computersoftware wurden bislang im Auftrag der Betriebsleitung nur die informativen<br />
Anwendungen umgesetzt. 2 Wir stellen im Rahmen dieses Beitrags jedoch das ursprüngliche<br />
Konzept vor, weil es zum einen die vielfältigen Lernmöglichkeiten des Mediums und damit<br />
auch den aktuellen Stand der Diskussion zum E-Learning berücksichtigt und zum anderen,<br />
weil das Konzept so allgemein formuliert ist, dass dessen Übertragbarkeit in andere Bereiche<br />
der Produktion erkennbar wird. Es kann in diesem Beitrag nicht gezeigt werden, wie sich<br />
computergestützte Lernprozesse gestalten, da die Nutzung des Lernprogramms derzeit erst<br />
beginnt; vorgestellt werden jedoch die empirisch und theoretisch begründeten Gelegenheitsstrukturen,<br />
die ein konstruktivistisches, erfahrungsorientiertes Lernen ermöglichen<br />
2 Zum aktuellen Stand der Diskurse über praxisorientierte<br />
Erkenntnisgewinnung und E-Learning<br />
Die beiden im Titel dieses Abschnitts genannten Diskurse zur Erkenntnisgewinnung und<br />
zum E-Learning beschäftigen sich mit ähnlichen Fragen, werden bislang aber weitgehend<br />
getrennt voneinander geführt. In diesem Abschnitt werden diese Diskurse vorgestellt, um<br />
sie anschließend am Beispiel des von uns entwickelten computergestützten Lernkonzepts<br />
miteinander zu verknüpfen.<br />
2.1 Lern- und erkenntnistheoretische Grundlagen des Lernens in der<br />
betrieblichen Bildung<br />
Für die betriebliche Bildung sind derzeit zwei lern- und erkenntnistheoretische Diskussionsstränge<br />
von besonderem Interesse, die zwar unterschiedlichen Theorietraditionen und<br />
Disziplinen entstammen, aber nicht unvereinbar sind: der konstruktivistische Ansatz und der<br />
erfahrungs- und subjektivitätsorientierte Ansatz, wie wir letzteren in Anlehnung an die von<br />
den Autoren (Böhle/Bolte 2002; Böhle 2004) verwendete Terminologie nennen.<br />
Mitte der achtziger Jahre wesentlich von den Biologen Humberto Maturana und Francisco<br />
Varela (1985, 1987a, 1987b) als Erkenntnistheorie formuliert, spielt der Konstruktivismus<br />
mittlerweile auch in der pädagogischen Theoriebildung eine viel beachtete Rolle. Konstruktivistische<br />
Annahmen über das Lernen desillusionieren eine normative Pädagogik, die den<br />
Anspruch hat, dass gelernt wird, was gelehrt wird. Lernen ist Horst Siebert, einem Vertreter<br />
2 Die Umsetzung erfolgt in Kooperation mit dem eBusiness Institut (biztec) der Universität Klagenfurt, Leitung<br />
Univ. Prof. DDr. Heinrich Mayr, Projektmanagement Dr. Claudia Steinberger, DI Marko Anzelak.<br />
55
56 Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />
des konstruktivistischen Paradigmas, zufolge, vielmehr eine selbstgesteuerte, konstruktive,<br />
biographisch geprägte, viable, kognitive und emotionale Tätigkeit (Siebert 2003, 13). Diese<br />
These wird durch Ergebnisse der Neurowissenschaften unterstützt, die besagen, dass unser<br />
Gehirn selbstorganisiert operiert. Visuelle Wahrnehmungen sind dem Neurowissenschaftler<br />
Wolf Singer zufolge nicht lediglich rezeptive Eindrücke, sondern aktive Suchprozesse, in<br />
deren Verlauf selektiert, verknüpft, interpretiert wird (Singer zit. n. Siebert 2003, 14).<br />
Lernen ist aus konstruktivistischer Perspektive ein selektiver Prozess des Konstruierens,<br />
Rekonstruierens, Dekonstruierens. Das Konstruieren bezieht sich auf das interpretative Erzeugen<br />
neuer Wirklichkeiten, Dekonstruieren bezeichnet den Abbau alter, nicht mehr viabler<br />
Deutungsmuster und Rekonstruieren meint die Transformation vorhandenen Wissens in das<br />
eigene kognitive System (Siebert 2003, 20).<br />
Obschon Lernen ein individueller selbstgesteuerter Prozess ist, ist es in soziale Kontexte<br />
eingebettet, auf die wir als soziale Wesen angewiesen sind. In der Kommunikation mit anderen<br />
bringen wir unsere symbolische Lebenswelt hervor und wir haben nur diese eine Lebenswelt,<br />
die wir mit anderen zusammen herstellen (Maturana/Varela 1987a, 267). Kommunikation<br />
vermittelt Differenzerfahrung und fördert den Perspektivenwechsel, wodurch Deutungs- und<br />
Konstruktionsprozesse in Gang gesetzt werden.<br />
Der zentrale Stellenwert, der der Interpretation und Bedeutungszuschreibung in der hier<br />
vorgestellten konstruktivistischen Lerntheorie eingeräumt wird, verweist auf eine Parallele<br />
zum Deutungsmusteransatz, den Hartmut Neuendorff und Christian Sabel in der zweiten<br />
Hälfte der siebziger Jahre bezogen auf die <strong>Arbeit</strong>swelt formuliert haben (Neuendorff/Sabel<br />
1978). Deutungsmuster sind Neuendorff/Sabel zufolge subjektive Versuche, objektiv vorgegebene<br />
Handlungsprobleme zu erkennen und zu verstehen, die aber erst in die Begriffe der<br />
Deutungsmuster übersetzt, zu einer wahrgenommenen Wirklichkeit werden. Der Deutung<br />
wird eine gewisse, allerdings eine geringere Autonomie als in der konstruktivistischen Lerntheorie<br />
zugeschrieben. Dies erklärt sich dadurch, dass dem Deutungsmusteransatz zufolge<br />
der objektiven Wirklichkeit eine prägende Kraft zukommt, die den deutenden Spielraum<br />
des Subjekts beschränkt, im Konstruktivismus aber die Konstruktionen die entscheidende<br />
Wirklichkeit darstellen. Deutungen haben - auch hier zeigen sich Ähnlichkeiten zwischen<br />
dem Deutungsmusteransatz und dem Konstruktivismus - handlungsleitende Funktionen.<br />
Der Deutungsmusteransatz rückt aber, so scheint uns, das leibgebundene Handeln stärker<br />
in den Mittelpunkt, während der Konstruktivismus primär das Denken und Sprechen als<br />
konstruktive Handlungsakte im Blick hat.<br />
Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sind für die Umsetzung<br />
konstruktivistischer Annahmen über das Lernen geeignete Lernmedien, weil sie als interaktive<br />
Medien, explorative, gestaltende Akte herausfordern (Schachtner 2002b, 111ff.). So<br />
kann es nicht überraschen, wenn im Diskurs über konstruktivistisches Lernen Überlegungen<br />
angestellt wurden, wie virtuelle Lernumgebungen im Sinne dieses Paradigmas gestaltet<br />
werden können, wobei insb. auf die Möglichkeiten der Selbststeuerung, der Exploration und<br />
Gestaltung verwiesen wird. (Walber 2003; Siebert 2003.<br />
Der erfahrungs- und subjektivitätsorientierte Ansatz wurde wesentlich von Fritz Böhle<br />
(Böhle 2004; Böhle/Schulze 1987) in einem arbeitssoziologischen Kontext auf der Basis<br />
von Studien an CNC-gesteuerten Werkzeugmaschinen formuliert. Dieser Ansatz ist nicht<br />
als Lerntheorie gedacht, sondern als Theorie über erforderliches Wissen für erfolgreiches<br />
<strong>Arbeit</strong>shandeln, enthält aber auch Annahmen darüber, wie dieses Wissen erworben wird.<br />
Die Studien an CNC-gesteuerten Werkzeugmaschinen bestätigen nach Böhle u.a. die allge-
Learning for Produktion: E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung<br />
meine Prognose, dass in der Produktion heutzutage höhere Anforderungen an theoretisches<br />
Fachwissen und abstraktes Denken gestellt werden; sie zeigen darüber hinaus, dass das<br />
Erfahrungswissen qualifi zierter Facharbeiter einen unersetzbaren Wert für die Unternehmen<br />
hat (Böhle 2004, 13). Letzteres wurde auch für andere Tätigkeits- und Aktivitätsfelder wie<br />
Projektmanagement (Porschen/Böhle 2005, 55), Krankenpfl ege (Benner 1994), ärztliche<br />
Praxis (Schachtner 1999, 25ff.), Autofahren (Dreyfus/Dreyfus 1994) und für die Papierherstellung<br />
(Krenn 2000; Schachtner/Frankl/Höber/Romé 2005; Schachtner 2005b, 71 ff.)<br />
bestätigt, was darauf hindeutet, dass Erfahrung von genereller Relevanz für erfolgreiches<br />
<strong>Arbeit</strong>shandeln ist. Erfahrungswissen drückt sich Böhle zufolge darin aus, dass die <strong>Arbeit</strong>erInnen<br />
ein Gefühl für Materialien und Maschinen haben, dass sie hören, ob die Maschine<br />
richtig funktioniert, dass sie die „Mucken“ der Maschine kennen, dass sie Störungen erahnen<br />
und dass sie in kritischen Situationen, z. B. bei Stillstand der Maschine, das Richtige ohne<br />
analytisches Nachdenken tun (Böhle 2004, 13). Dieser Ansatz fokussiert auf die Deutung<br />
der sinnlichen Signale der physikalischen und sozialen Welt, die im sinnlich-praktischen<br />
Handeln erworben werden. Das in der praktischen Auseinandersetzung erworbene Wissen<br />
ist meist implizites Wissen, das ein Pendant zum expliziten Wissen bildet und in spezifi schen<br />
Situationen intuitiv aktualisiert wird.<br />
Der erfahrungs- und subjektivitätsorientierte Ansatz schließt an die Argumentation von<br />
John Dewey an, der das Erfahrungswissen bereits in den vierziger Jahren dem theoretischen<br />
Wissen als gleichberechtigte Wissensform gegenüberstellte (Dewey 1949). Genauso wie für<br />
Böhle, ist für Dewey Erfahrungswissen ein körper- und sinnengebundenes Wissen, das sich<br />
in der handelnden Auseinandersetzung mit der Welt bildet. Dewey bemerkt: „Welche Dinge<br />
weich und welche hart sind, das lernen wir, indem wir handelnd probieren, was man mit<br />
ihnen tun kann“ (Dewey 1949, 355). Die beiden Autoren betonen den dialogisch-interaktiven<br />
Umgang mit den Dingen und mit den physikalischen Gegebenheiten als Bedingung für die<br />
Erfahrungsbildung. Dewey verweist zudem auf das Spiel als spezifi sche Form interaktiven<br />
Handelns, die eine erste Stufe des Erkennens markiert (Dewey 1949, 258).<br />
Deuten, Handeln, Interaktion markieren die verbindenden Momente zwischen dem erfahrungs-<br />
und subjektivitätsorientierten Ansatz und der konstruktivistischen Lerntheorie, wobei<br />
die konstruierende Dimension im Konstruktivismus einen ungleich höheren Stellenwert hat<br />
als im erfahrungsorientierten Ansatz. Dagegen ist es ein Verdienst des erfahrungsorientierten<br />
Ansatzes, die Bedeutung von Sinnlichkeit und Körperlichkeit für die Erkenntnisgewinnung<br />
herausgearbeitet zu haben. Dies darf im Hinblick auf die Entwicklung computergestützter<br />
Lernprogramme für die betriebliche Bildung aus zwei Gründen nicht ignoriert werden:<br />
Zum einen, weil die Bedeutung von Erfahrung bislang sowohl in der arbeitsoziologischen<br />
und –psychologischen Diskussion als auch in der Konzeption der betrieblichen Bildung zu<br />
wenig berücksichtigt wurde und zum anderen, weil computergestützte, primär textbasierte<br />
Lernprogramme hinsichtlich der Integration der erkenntnisbildenden Funktion von Körper<br />
und Sinnlichkeit vor besonderen Schwierigkeiten stehen, die uns aber nicht unüberwindbar<br />
scheinen (Schachtner 2002a, 225).<br />
2.2 Zum aktuellen Stand des E-Learning<br />
E-Learning positionierte sich von Beginn an in der Grauzone zwischen Bildung und Technik.<br />
Während PädagogInnen noch über Sinn und Unsinn von computergestütztem Lernen<br />
57
58 Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />
debattierten, begannen Manager großer IT-Firmen wie Oracle (mit Saba) oder IBM Lotus<br />
(mit Centra) damit, eigene E-Learning-Firmen zu gründen (Wang 2004, 3) und Lösungen für<br />
verschiedenste Problemstellungen des Lernens zu entwerfen und zu implementieren. Mit dem<br />
Aufkommen von E-Learning ist ein neuer Markt entstanden, der gesättigt werden wollte.<br />
Einen großen Teil dieses Marktes stellt die betriebliche Bildung dar. Im Jahr 2003 wurde<br />
diesem Bereich des E-Learning das größte Wachstum prognostiziert. Zu diesem Zeitpunkt<br />
hatte die betriebliche Bildung bereits den zweitgrößten Anteil am „E-Learning-Kuchen“. Die<br />
Prognose sah eine Erholung von der anfänglichen Desillusionierung vor, die eine Vielzahl<br />
an Opfern in Form gescheiterter Unternehmen gefordert hatte und prognostizierte einen<br />
Aufschwung unter wachsendem Einsatz von zielgerechten Anwendungen und hochwertigem<br />
Content (Hasebrook/Herrmann/Rudolph 2003, 37). Doch selbst nach 2003 war die Zeit der<br />
Enttäuschungen noch nicht überwunden und Geschäftsaufgaben bzw. Konkurse von Unternehmen<br />
wie Skillsoft Germany (Jan. 05) oder IVG Data (Dez. 05) lassen weiterhin an der<br />
Trendwende zweifeln.<br />
Während die Vielfalt der entstandenen E-Learning-Lösungen und Umsetzungsmöglichkeiten<br />
und die damit einhergehenden Probleme bezüglich Kompatibilität und Erweiterbarkeit/<br />
Wiederverwendbarkeit Diskussionen um Standardisierung und ‚Learning Objects’ auslösten<br />
(Höber 2005, 96ff.), blieb die Frage nach der pädagogischen Qualität von E-Learning auf<br />
der Stecke. Somit ist es nicht zuletzt der vorrangig technischen Orientierung zuzuschreiben,<br />
dass das große Potenzial, welches E-Learning mit sich bringt, bislang ungenutzt blieb. Diese<br />
Annahme wird von einem Bericht des European Centre for the Development of Vocational<br />
Training (Cedefop) gestützt: E-Learning mag - so die Autoren Hasebrook/Hermann/Rudolph<br />
(2003, 103ff.) - zwar eine Vielzahl an Möglichkeiten bieten, diese müssen jedoch erst lernfördernd<br />
eingesetzt werden. Der eigentliche Nutzen, den neue Medien für den Lernprozess<br />
haben, sei kein so unmittelbarer. Hasebrook u.a. sehen die Stärken des elektronisch gestützten<br />
Lernens, die es durch geeignete didaktische Settings zu mobilisieren gilt, vielmehr in einem<br />
erhöhten Maß an Interaktivität, Kommunikation und Individualisierung. Diese Potenziale<br />
belegen einmal mehr die hervorragende Eignung von E-Learning-Settings für konstruktivistisch<br />
geprägte Lernszenarien. Umso frustrierender ist es, dass es noch immer behavioristisch<br />
orientierte und somit standardisierte, qualitativ minderwertige Lösungen sind, mit denen sich<br />
Lernende konfrontiert sehen.<br />
Es ist nicht zufällig, wenn in diesem Abschnitt technische Entwicklungen und wissenschaftliche<br />
Diskurse zueinander in Beziehung gesetzt werden. E-Learning ist ein Bildungsprojekt,<br />
das verschiedene disziplinäre Perspektiven auf den Plan ruft und nur im Kontext<br />
einer transdisziplinären Analyse und Kooperation gelingen kann.<br />
3 Prinzipien für das computergestützte Lernen im Betrieb<br />
Mit dem eingangs benannten erkenntnisleitenden Interesse, ein Lernkonzept zu entwickeln,<br />
das an bisherigen Lernformen anknüpft und zugleich den bisherigen Lernraum medial erweitert,<br />
wurden im Sinne eines partizipativen Forschungsansatzes thematisch strukturierte<br />
Interviews mit sechs Papierfacharbeitern geführt; darüber hinaus wurde ein eintägiger Workshop<br />
angeboten, an dem sich zehn Papierfacharbeiter beteiligten. Folgende Fragen, die als<br />
Unterfragen des erkenntnisleitenden Interesses zu verstehen sind, leiteten die partizipativ<br />
und praxisorientiert angelegte Anforderungsanalyse:
Learning for Produktion: E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung<br />
1. Welche Arten von Wissen werden für die verschiedenen Tätigkeiten und Situationen im<br />
Kontext der spezifi schen Produktionspalette benötigt?<br />
2. Wie wird dieses Wissen bislang erworben?<br />
3. Welche Rolle spielt die Kommunikation zwischen den Beschäftigten für den Wissenstransfer?<br />
4. Welche Bedeutung wird der betrieblichen Bildung aus Sicht der Beschäftigten zugemessen?<br />
5. Wie müsste ein E-Learning-System inhaltlich, strukturell, ästhetisch aufgebaut<br />
sein, damit es ein effi zientes Lernen aus der Sicht der Beschäftigten ermöglicht?<br />
6. Wie stehen die Beschäftigten dem Einsatz eines E-Learning-Systems gegenüber?<br />
7.<br />
Welche Rahmenbedingungen (Lernzeiten, Lernorte) sind aus Sicht der Beschäftigten<br />
erforderlich, um ein effi zientes Lernen sicherzustellen?<br />
Die an den Interviews und am Workshop beteiligten Papierfacharbeiter zeigten sich sehr<br />
motiviert. Es stellte für die erfahrenen Facharbeiter wie Maschinenführer und Meister kein<br />
Problem dar, wie von den Forscherinnen in Erwägung gezogen, ihr Fachwissen zu veröffentlichen,<br />
was für die Entwicklung von Lernprogrammen unverzichtbar ist. Sie meinten<br />
vielmehr, dass es ihre <strong>Arbeit</strong> erleichtere, wenn sie ihr Wissen weitergeben können und der<br />
Mann neben ihnen über ein hohes Qualifi kationsniveau verfüge. Sie konnten sich vorstellen,<br />
zumindest einen Teil des für den <strong>Arbeit</strong>sprozess nötigen Wissens computergestützt zu erwerben,<br />
bemerkten aber auch, wie wichtig das direkte Gespräch mit erfahrenen Kollegen sei, um an<br />
deren Erfahrungswissen zu partizipieren. Dieses Gespräch sollte ihrer Meinung nach nicht<br />
durch die Technik verdrängt werden. Nichtsdestoweniger betrachteten sie übereinstimmend<br />
mit der Unternehmensleitung den Einsatz computergestützter Qualifi zierungsmethoden als<br />
eine Selbstverständlichkeit.<br />
Die medienorientierte Ausrichtung dieses Unternehmens scheint kein Einzelfall zu sein.<br />
Eine Befragung von elf weiteren Unternehmen (Klein- und Mittelunternehmen) in dieser<br />
Region ergab, dass auch diese Unternehmen die Zukunft betrieblichen Lernens in Verbindung<br />
mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sehen und dass sie die<br />
entsprechende Motivation und Fähigkeit, computergestützte Lernstrumente zu benutzen, der<br />
jüngeren Generation zuschreiben und deshalb Medienkompetenz als ein wichtiges Einstellungskriterium<br />
benennen.<br />
3.1 Selbstgesteuertes und geführtes Lernen<br />
Entsprechend der Annahme, dass Lernen ein selektiver Prozess des Konstruierens ist, sollten<br />
computergestützte Lernprogramme eine Struktur aufweisen, die den Lernenden erlaubt, sich<br />
frei – also selbstgesteuert – zu bewegen. Es existiert kein verpfl ichtender Weg durch die<br />
Lerninhalte, da es den einen richtigen Weg nicht gibt. Vielmehr bestehen unterschiedlichste<br />
Lernangebote zu praxisnahen Themen, die individuellen Lernbedarfen entgegenkommen und<br />
den Lernenden die Freiheit gewähren, selbst zu entscheiden, wo sie ihren Ausgangs- bzw.<br />
Einstiegspunkt setzen. Auf diese Weise kann ein vertrauter Punkt gewählt werden und von<br />
diesem aus können zusammenhängende Lerninhalte aufgesucht werden. Dabei werden die<br />
MitarbeiterInnen unterstützt, auf bestehendes Wissen aufzubauen und neues Wissen in vor-<br />
59
60 Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />
handenes Wissen zu integrieren. Dies fordert ein hohes Maß an Selbstständigkeit, welches<br />
nicht vorausgesetzt werden kann. Idealerweise bietet ein computergestütztes Lernprogramm<br />
auch Führung durch die Lerninhalte an und lässt den Lernenden die Wahl, ob sie selbstgesteuert<br />
lernen oder Unterstützung in Anspruch nehmen wollen.<br />
3.2 Spielerisches Lernen<br />
‚Spiel’ und ‚<strong>Arbeit</strong>’ bzw. ‚Lernen’ werden meist zu Unrecht als diametral entgegengesetzte<br />
Begriffe aufgefasst. Das Spiel defi niert sich keinesfalls durch Leistungsfreiheit, sondern<br />
vielmehr durch Freude an der Leistungserbringung. Spezifi sche Erfolgserlebnisse bewirken<br />
Anerkennung durch andere (vgl. Huizinga 1938/1997, 19ff. und 61) und motivieren. Der<br />
Spielende lernt im Spiel und spielerisch (vgl. Frankl 2005). In den thematisch strukturierten<br />
Interviews zeigte sich, dass das arbeitsplatznahe Lernen in einem Produktionsbetrieb mit einer<br />
Reihe von Lernhindernissen konfrontiert ist wie Zeitknappheit, Unvorhersehbarkeit einer<br />
Produktionsstörung, mangelnde Ruhe im Betrieb. Lerninhalte müssen einfach aufbereitet sein,<br />
die Konzentration auf sich lenken und zum ‚Weiterspielen’ motivieren. Komplexe Zusammenhänge<br />
sowie abstraktes Problemlösungswissen können spielerisch - beispielsweise durch<br />
Simulationen - dargestellt werden. Somit kann wertvolles Wissen über die Auswirkungen<br />
bestimmten Handelns auf nachgelagerte Prozesse veranschaulicht werden, ohne schwerwiegende<br />
oder kostspielige reale Folgen in Kauf nehmen zu müssen. Simulationen bieten<br />
neben vernetztem Wissen in komprimierter Form auch eine motivierende Lernumgebung<br />
und ermöglichen selbstständiges Lernen. Wichtig bei der Gestaltung von Simulationen ist,<br />
dass das Gelernte situativ im <strong>Arbeit</strong>salltag tatsächlich umgesetzt werden kann (vgl. Frankl<br />
2005). Dieses Ziel zu erreichen bedeutet nach Härta (2002, 67) eine „Gratwanderung zwischen<br />
Reduzierung von Komplexität und der Abbildung von Komplexität“.<br />
3.3 Erfahrungsorientiertes Lernen<br />
Wie die Befragung der Facharbeiter gezeigt hat, reichen theoretische Kenntnisse nicht aus,<br />
um den <strong>Arbeit</strong>salltag zu bewältigen, vielmehr wird – im Sinne des erfahrungs- und subjektivitätsorientierten<br />
Ansatzes - umfangreiches Erfahrungswissen sowie darauf basierend<br />
Problemlösungswissen benötigt. Nach Böhle und Bolte (2002, 204) äußert sich das Erfahrungswissen<br />
u. a. in folgenden Phänomenen: „blitzschnelle Entscheidungen in kritischen<br />
Situationen; die intuitiv richtige Suche nach Ursachen von Störungen bei einer Vielzahl von<br />
Optionen; die Bewältigung komplexer und risikoreicher Situationen durch Improvisationsgeschick;<br />
der nicht nur gedankliche, sondern auch körperliche und emotionale Nachvollzug<br />
technischer Abläufe“. Diese Phänomene wurden auch in den Interviews deutlich, wenn z. B.<br />
davon die Rede war, dass man „langsam in die Maschine hineinwachsen“ muss (Facharbeiter,<br />
Schachtner u.a. 2005).<br />
Da das Erfahrungswissen im praktischen Handeln erworben, erzeugt und angewendet<br />
wird, stellt sich die Frage nach der Abbildungsmöglichkeit von Erfahrung im E-Learning-<br />
System, um den Anforderungen der NutzerInnen entgegenzukommen: denn „in einer Dokumentation<br />
steht zwar Punkt 1, Punkt 2, Punkt 3 […], aber die persönlichen Erlebnisse stehen<br />
nicht dort oder die Fehler von mir, die ich einmal gemacht habe, die stehen auch nicht dort“<br />
(Facharbeiter, Schachtner u.a. 2005). Das E-Learning-System soll daher Möglichkeiten für<br />
die Protokollierung von Erfahrungswissen – und damit dessen Einbettung in Lerninhalte<br />
– sowie für den Austausch von Erfahrungen anbieten. Erfahrungswissen kann in Weblogs
Learning for Produktion: E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung<br />
protokolliert und diese Einträge können mit Lerneinheiten verknüpft werden. Ein Austausch<br />
von Erfahrung bzw. der gezielte Erwerb von fremdem Erfahrungswissen kann über Diskussionsforen,<br />
Chats oder FAQs (Frequently Asked Questions) realisiert werden. Die Möglichkeit<br />
zum Erfahrungsaustausch online unterstützt generationenübergreifendes Lernen; ältere<br />
MitarbeiterInnen können ihr Wissen an die nachfolgende Generation weitergeben.<br />
3.4 Dialogisches Lernen<br />
Aus- und Weiterbildung im untersuchten Betrieb erfolgen bislang hauptsächlich über das<br />
‚Anlernen’ neuer MitarbeiterInnen, meist durch die Kombination aus Erzählen und Zeigen.<br />
Bei diesem Austausch profi tieren nicht nur die Lernenden, sondern auch diejenigen, die ihr<br />
Wissen weitergeben. „[Es] würde […] dem Individuum ohne Gedankenaustausch und Zusammenarbeit<br />
mit anderen nicht gelingen, seine Operationen zu einem einheitlichen Ganzen zu<br />
gruppieren“ (Piaget 1972, 183). Im gegenseitigen Austausch ist man gezwungen, sein eigenes<br />
Denken zu ‚überdenken’ und Dinge aus neuen Perspektiven zu sehen. Dabei erweitert man<br />
seinen Horizont und betrachtet Gegenstände in einem größeren Zusammenhang. Austausch<br />
fi ndet aber nicht nur verbal statt. MitarbeiterInnen lernen auch dann voneinander, wenn sie<br />
zusammenarbeiten, einander einfach nur zusehen oder gemeinsam Probleme lösen.<br />
Informelle Gespräche, beispielsweise über die tägliche <strong>Arbeit</strong>, sind dabei ebenso wichtig<br />
wie arrangierte Kommunikationsprozesse zur Wissensweitergabe. Die Kommunikation am<br />
<strong>Arbeit</strong>splatz wurde von den Papierfacharbeitern, die an den Interviews und am Workshop<br />
teilnahmen, übereinstimmend als eines der wichtigsten Medien der Wissensvermittlung<br />
genannt.<br />
4 Struktur und Design des Lernprogramms und der<br />
Benutzeroberfl äche<br />
Content, Struktur und Design des computergestützten Lernkonzepts, das hier am Beispiel<br />
des Anwendungsfeldes Papierherstellung erörtert wird, orientieren sich an den beschriebenen<br />
Lernprinzipien, die sich wiederum auf die empirischen Ergebnisse sowie auf die eingangs<br />
dargelegten lerntheoretischen Annahmen stützen.<br />
4.1 Struktur und Content des computergestützten Lernprogramms<br />
Das Lernprogramm umfasst Informations- und Kommunikationsbereiche. Die Kategorien<br />
‚Grundlagen’, ‚<strong>Arbeit</strong>sablauf’, ‚Organisation/Kommunikation’ und ‚Sicherheit’ eröffnen den<br />
Zugang zum Informationsbereich. Die Kategorien ‚Lehrlinge fragen’, ‚Gesehen und gehört’,<br />
‚Maschinengespräche’ führen in den Kommunikationsbereich. Der Informationsbereich bietet<br />
etabliertes Fachwissen und schließt somit an bekannten Lernformen an; allerdings können<br />
die Lernwege im Sinne konstruktivistischen Lernens selbst gewählt werden. Der Kommunikationsbereich<br />
stellt darauf ab, Dialog und Erfahrungsaustausch im Sinne dialogischer und<br />
erfahrungsorientierter Lernprinzipien zu stimulieren.<br />
Grundlagen<br />
Über die Kategorie Grundlagen können sich Lernende Zugang zu Wissen über grundlegende<br />
Bestandteile der Papierproduktion erschließen. Die Unterkategorien lauten: ‚Grundlagen<br />
61
62 Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />
Papier’, ‚Grundlagen Maschine’, ‚Grundlagen Papierherstellung’. Es handelt sich um<br />
allgemeines Wissen, das über grundsätzliche Zusammenhänge informiert, wie es den Beschäftigten<br />
in jedem Unternehmen verfügbar sein muss.<br />
<strong>Arbeit</strong>sablauf<br />
Die Kategorie ‚<strong>Arbeit</strong>sablauf’ eröffnet den Zugang zu einem Prozesswissen, das sich auf<br />
abgrenzbare Prozesse wie Filterwechsel oder Papierprüfung im Betrieb bezieht. Es wird<br />
innerhalb der Kategorie zwischen Normalarbeitsablauf, kritischen Situationen und regelmäßig<br />
anfallenden Wartungsarbeiten unterschieden.<br />
Organisation/ Kommunikation<br />
Das soziale Setting, in das <strong>Arbeit</strong>s- und Produktionsabläufe eingelagert sind, ist Inhalt der<br />
Kategorie ‚Organisation/Kommunikation’. Sie umfasst potenziell Wissen über Geschichte,<br />
Aufbau, Leitbild des Unternehmens, über Entscheidungsstrukturen, über Führungs- und Kommunikationskompetenzen,<br />
über Möglichkeiten, ein befriedigendes <strong>Arbeit</strong>sklima herzustellen.<br />
Hier fi ndet sich Wissen über sog. soft skills, die in der neueren betriebspsychologischen<br />
Fachliteratur (vgl. Senge 1999, 16 ff.) als wichtige Bedingungen effi zienter <strong>Arbeit</strong>s- und<br />
Produktionsprozesse beschrieben werden<br />
Lehrlinge fragen<br />
Diese Kategorie bezeichnet eine kommunikative Anwendung des Lernprogramms, die der<br />
Verbesserung der Lehrlingsausbildung dient. Sie sieht vor, dass Lehrlinge in einem Diskussionsforum<br />
Fragen stellen und erfahrene Facharbeiter zeitversetzt antworten. Es soll ein<br />
Generationendialog initiiert werden, durch den das Erfahrungswissen von einer <strong>Arbeit</strong>ergeneration<br />
an die nächste weitergegeben wird. Lehrlinge fühlen sich durch ein extra für sie<br />
eingerichtetes Forum direkt angesprochen. Das Forum könnte z.B. von einem Ausbildungsleiter<br />
oder einem erfahrenen Mitarbeiter moderiert werden. Das sogenannte E-moderating hat sich<br />
als erfolgreiche Strategie erwiesen (vgl. Schachtner, 2005a, 79 ff.), lebendige Diskussionen<br />
zu erreichen. Nicht die Experten, sondern die Lernenden bestimmen in diesem Forum, was<br />
zum Thema gemacht wird. Die Fragen der Lernenden steuern die Lernprozesse, die zur<br />
Konstruktion, Dekonstruktion oder Rekonstruktion von Wissen genutzt werden können.<br />
Gesehen und gehört<br />
Diese Anwendung richtet sich ebenfalls an Auszubildende sowie an Quereinsteiger in der<br />
Anlernphase und soll das Erfahrungslernen forcieren. Ziel ist ein Erfahrungsjournal in Form<br />
eines Weblogs, das wie folgt entsteht: Auszubildende und Facharbeiter in der Anlernphase<br />
zeichnen fortlaufend in einem von allen genutzten Weblog ihre Wahrnehmungen auf, die sie<br />
beim Abgehen der Maschinenanlage, in kritischen Situationen (z.B. Papierriss), bei Reparaturen<br />
und Umbauarbeiten machen. Aus den Einträgen der Einzelnen entsteht ein fortlaufendes<br />
Journal, das von Allen eingesehen werden kann. Die Aufzeichnung der Wahrnehmungen trägt<br />
dazu bei, die Wahrnehmungskompetenz offl ine zu schärfen, sich das Gesehene und Gehörte<br />
durch die Verschriftlichung bewusster zu machen sowie von den Wahrnehmungen anderer<br />
zu profi tieren. Im Sinne konstruktivistischen Lernens konstruieren sie das Wissen, das auf<br />
dem Bildschirm erscheint, selbst, genauso wie diejenigen, die die Protokolle lesen, selbst<br />
entscheiden, welche Fragen und Probleme sie auswählen.
Learning for Produktion: E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung<br />
Maschinengespräche<br />
Das Reden über die <strong>Arbeit</strong> und über Maschinen ist ein informeller, aber zentraler Bestandteil<br />
erfahrungsgeleiteter Kooperation (vgl. Porschen/Böhle 2005). Es fi ndet in den <strong>Arbeit</strong>spausen<br />
statt und beginnt oft schon beim Frühstück. Dem sog. story telling könnte in einem computergestützten<br />
Lernprogramm in Form eines chats Raum gegeben werden. In Betrieben, in denen<br />
Nachtschichten gefahren werden, könnte ein sog. Mitternachtstalk eingerichtet werden.<br />
Die auf Information abstellenden Kategorien ‚Grundlagen’, ‚<strong>Arbeit</strong>sablauf’, ‚Organisation<br />
/Kommunikation’ vermitteln systematisiertes, standardisiertes, explizites Wissen,<br />
d.h. Theoriewissen; die auf Kommunikation und Beobachtung abstellenden Kategorien<br />
‚Lehrlinge fragen’, ‚Gesehen und gehört’, ‚Maschinengespräche’ eröffnen Räume für die<br />
Akquisition und Thematisierung von Erfahrungswissen. Das Erfahrungsjournal ‚Gesehen<br />
und gehört’ orientiert sich darüber hinaus an den Möglichkeiten des Blended Learning, das<br />
eine Kombination von Online- und Offl ine-Lernen vorsieht.<br />
Neuerungen<br />
Angesichts dynamischer <strong>Arbeit</strong>s- und Produktionsprozesse, die zur Folge haben, dass sich<br />
das im <strong>Arbeit</strong>sprozess erforderliche Wissen rasch erneuert, ist die Kategorie ‚Neuerungen’<br />
unverzichtbar. Die permanente Aktualisierung von Wissen ist eine besondere Stärke computergestützter<br />
Lernprogramme, worin sie dem gedruckten Fachbuch überlegen sind.<br />
Abb. 1: Individuell gestaltete Lernpfade<br />
(Bearbeitetes Bildschirmfoto)<br />
63
64 Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />
4.2 Design und Didaktik der virtuellen Lernumgebung<br />
Sollen virtuelle Lernumgebungen ein konstruktivistisches, erfahrungs- und subjektivitätsorientiertes<br />
Lernen unterstützen, so müssen sie den Implikationen der Ermöglichungsdidaktik<br />
folgen, die die stofforientierte Vermittlungsdidaktik ablöst (Walber 2003, 210).<br />
Wir lernen umso erfolgreicher, je mehr wir uns mit Themen beschäftigen können, die<br />
subjektive Relevanz für uns besitzen. Dies wird, wie erwähnt, unterstützt, wenn die Lernenden<br />
Wahlmöglichkeiten haben, wie in dem hier vorgestellten Fallbeispiel (vgl. Abb. 1),<br />
in dem es den Lernenden offen steht, ihren individuellen Lernpfad zu gestalten oder einem<br />
vorgegebenen Lernpfad (durchgezogene Linie) zu folgen.<br />
Diese Wahlmöglichkeiten setzen sich auf den darunter liegenden Ebenen insofern fort, als die<br />
Lernenden auf jeder Ebene entscheiden können, ob sie ihr Wissen zu Teilbereichen vertiefen<br />
wollen oder nicht. Die Möglichkeit der Vertiefung ist durch das Symbol der Glühbirne angezeigt;<br />
auch die Kategorie Keywords in der oberen Menüliste erlaubt eine Wissensvertiefung<br />
(vgl. Abb.2).<br />
Abb. 2: Möglichkeit, mehr Informationen zu einem Stichwort zu erhalten<br />
(Bearbeitetes Bildschirmfoto)<br />
Lernende werden nicht automatisch mit allen verfügbaren Informationen konfrontiert, sondern<br />
selektieren, wodurch sie als autonome und aktive Subjekte angesprochen sind. Dies<br />
schließt nicht aus, dass Lerninhalte angeboten werden, aber die Art und Weise möglicher<br />
Auseinandersetzung mit diesen Inhalten sollte Freiheitsgrade aufweisen, die ein exploratives<br />
Lernen ermöglichen, in dessen Verlauf neue Erfahrungen gewonnen werden.
Learning for Produktion: E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung<br />
Zentrales Element einer Ermöglichungsdidaktik (Schachtner 2006) ist die Einsicht in<br />
Zusammenhänge. Der Gewinn von Zusammenhangswissen wurde von den Papierfacharbeitern<br />
in den Interviews und im Workshop als eine Schlüsselqualifi kation beschrieben.<br />
Zusammenhangswissen bezeichnet ein Wissen über die Struktur eines technischen oder sozialen<br />
Prozesses. Es bezieht sich auf vorgelagerte und nachgelagerte Vorgänge, aber auch auf<br />
zeitgleiche Abläufe im <strong>Arbeit</strong>sgeschehen. In komplexen <strong>Arbeit</strong>ssituationen komme es darauf<br />
an, so formuliert der Psychologe Dieter Dörner, in Zeitabläufen zu denken und zu wissen,<br />
dass bestimmte Ereignisse nicht nur unmittelbar sichtbare Effekte, sondern Fernwirkungen<br />
haben (Dörner 1994, 305). Der Bedeutung des Zusammenhangsdenkens wurde in dem hier<br />
diskutierten Fallbeispiel computergestützten Lernens durch das Feld ‚Themen in Zusammenhang’<br />
Rechnung getragen, das erlaubt, zu jeder aktuell bearbeiteten Lerneinheit jene anderen<br />
Lerneinheiten einzublenden, die in Verbindung mit der ersten Lerneinheit stehen.<br />
5 Rahmenbedingungen des betrieblichen Lernens in virtuellen<br />
Lernumgebungen<br />
Die Befragung der Papierfacharbeiter weist daraufhin, dass das beste Lernsystem erfolglos<br />
bleibt, wenn Einführung, Schulung und Betrieb nicht unter klar festgelegten Rahmenbedingungen<br />
stattfi nden. Diese Bedingungen umfassen verbindliche Abkommen mit der<br />
Führungsetage und in weiterer Folge klärende Gespräche mit den Mitarbeitern, um Zweck,<br />
Ziele und Bedingungen zu kommunizieren sowie eine förderliche, offene und vertrauensvolle<br />
Lernkultur zu etablieren und sicherzustellen. Diese Aspekte sind sowohl im Hinblick auf das<br />
Erlangen zufriedenstellender Lernergebnisse ausschlaggebend, als auch für die Sicherung<br />
der Motivation unter den Mitarbeitern, denn Letztere ist die wichtigste Voraussetzung für<br />
das Gelingen von Weiterbildungsstrategien.<br />
5.1 Lernort<br />
In der betrieblichen Bildung gibt es drei potenzielle Lernorte: Betrieb, (Berufs-)Schule und<br />
zuhause. Abbildung 3 zeigt, wie diese drei Orte mit dem Lernsystem verknüpft werden<br />
können. Die Wissensvermittlung in der Schule wird in der weiteren Beschreibung ausgeklammert,<br />
da sie – selbst wenn sie in die Berufsausbildung eingebunden ist – meist nicht<br />
allen Mitarbeitern zugänglich ist.<br />
Einer der Vorteile, den die Weiterbildung am <strong>Arbeit</strong>splatz mit sich bringt, ist, dass das am<br />
PC erworbenen Wissen direkt in die <strong>Arbeit</strong> einfl ießen kann. Die Papierfacharbeiter betonten<br />
diesen Vorteil in den Interviews: „Also mir wäre lieber in der Warte [zu lernen, d.V.], wo ich<br />
dann meine Ruhe habe, wo der Lärmpegel gering ist. Wo ich mich einfach konzentrieren<br />
kann, dazusetzen kann, mir gewisse Sachen erarbeiten kann, herausgehen kann und mir das<br />
anschauen kann, was habe ich jetzt gelernt“ (Papierfacharbeiter, Schachtner u.a. 2005).<br />
Weiterbildung zuhause – außerhalb der <strong>Arbeit</strong>szeiten – kann nur auf freiwilliger Basis<br />
erfolgen. Es sei denn, das Unternehmen bietet Ersatzleistungen für die aufgewandte Zeit.<br />
Lernunterlagen können für zuhause zur Verfügung gestellt werden z.B durch einen externen<br />
Zugang in das Lernsystem, durch eine WBT (Web Based Training) – Lösung per Internetzugang<br />
oder durch das Erstellen von CBTs (Computer Based Training) wie beispielsweise<br />
Lern-CDs.<br />
65
66 Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />
Abb.3: Verknüpfung von Lernorten<br />
SCHULE<br />
ZU HAUSE<br />
Wenn Lernen in der Freizeit<br />
stattfi ndet, sollte dies<br />
entschädigt werden<br />
5.2 Lernzeit<br />
Zeit wird nicht zuletzt aufgrund der Limitierung des Personalstandes zur schwindenden Ressource.<br />
Während es früher möglich war, neue MitarbeiterInnen vor Ort anzulernen, ist dies<br />
heute nur schwer realisierbar, da die <strong>Arbeit</strong>skräfte eng bemessen sind. Ein E-Learning-System<br />
kann dieses Problem nicht lösen. Auch E-Learning als Form der betrieblichen Bildung erfordert<br />
Lernzeit. Soll Lernen als innovativer Faktor gefördert werden, muss den Lernbemühungen<br />
der MitarbeiterInnen Zeit eingeräumt und Wertschätzung entgegengebracht werden.<br />
6 Schlussbemerkung<br />
Übungen für Inhalte des<br />
Schulunterrichts anbieten<br />
Inhalte für zuhause<br />
bereitstellen<br />
BETRIEB<br />
Euphorisch wurden die Möglichkeiten computergestützten Lernens einst in den neunziger<br />
Jahren begrüßt. Eine neue Ära des Lernens und der Bildung schien angebrochen. Der anfänglichen<br />
Euphorie folgten Ernüchterung und Enttäuschung. Einen wesentlichen Grund<br />
hierfür sehen wir darin, dass zu sehr auf die Technik gesetzt wurde und zu wenig auf die<br />
pädagogischen, arbeits- und organisationspsychologischen Dimensionen des Lernens. Erforderlich<br />
ist eine Neuorientierung des E-Learning, bei der die Frage gestellt wird, was Wissen<br />
ist, welches Wissen in spezifi schen Anwendungsfeldern gebraucht wird, wie Wissen bisher<br />
erworben wurde und ob bzw. wie die Antworten auf diese Fragen in situationsspezifi sche<br />
computer- und webbasierte Lernangebote umgesetzt werden können.
Learning for Produktion: E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung<br />
Betriebliches Lernen mit Hilfe der Lernmedien Computer und Internet ist kein Ersatz für<br />
das Lernen face to face. Es ist vielmehr als Ergänzung des Lernens offl ine zu betrachten, das<br />
aufgrund der besonderen Struktur digitaler Lernmedien neue Lernmöglichkeiten offeriert.<br />
So unterstützt die Netzstruktur als nicht-lineare Struktur einen reziproken, nie endenden<br />
Austausch von Information und Wissen zwischen den Lernenden. Die Netzstruktur unterstützt<br />
darüber hinaus als eine „Struktur ohne General“ (Deleuze 1977, 28) ein individuelles<br />
selbstgesteuertes Lernen, das sich sowohl an den betriebsspezifi schen Erfordernissen als<br />
auch an den biographisch geprägten Fragen und Themen der Lernenden orientieren kann.<br />
Die Chancen des E-Learning liegen nicht darin, tradierte Vorstellungen des Lernens, wonach<br />
dieses als linearer, passiver, rein kognitiver Prozess zu denken ist, medial zu reproduzieren,<br />
sondern die Möglichkeiten des Mediums für ein Lernen zu nutzen, in dem das Konstruieren,<br />
Experimentieren, Explorieren und Kommunizieren im Mittelpunkt stehen.<br />
Literatur<br />
Benner Patricia (1994): Stufen zur Pfl egekompetenz. From Novice to Expert. Bern<br />
Böhle, Fritz (2004): Erfahrungsgeleitetes <strong>Arbeit</strong>en und Lernen als Leitidee der Neuordnung der Metallberufe;<br />
in: Matthias Becker, Ulrich Schwenger, Georg Spöttl, Thomas Vollmer (Hrsg.): Metallberufe<br />
zwischen Tradition und Zukunft. Bremen, 10–27<br />
Böhle, Fritz, Annegret Bolte (2002): Die Entdeckung des Informellen. Der schwierige Umgang mit<br />
Kooperation im <strong>Arbeit</strong>salltag. Frankfurt/New York<br />
Böhle, Fritz, Hartmut Schulze (1997): Subjektivierendes <strong>Arbeit</strong>shandeln. Zur Überwindung einer<br />
gespaltenen Subjektivität; in: Christina Schachtner (Hrsg.): Technik und Subjektivität. Frankfurt/<br />
Main, 26–46<br />
Deleuze, Gilles, Felix Guattari (1977): Rhizom. Berlin<br />
Dewey, John (1949): Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik.<br />
Braunschweig/Berlin/Hamburg<br />
Dörner, Dieter (1994): Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen.<br />
Reinbek<br />
Dreyfus, Hubert, Stuart Dreyfus (1994): The Relationship of Theory and Practice in the Acquisition<br />
of Skills; in: Patrizia Benner, Christine Tanner, Chaterine Chesla (Hrsg.): Expertise in Nursing<br />
Practice, Clinical Judgement and Ethics, Manuskript, 1-4<br />
Frankl, Gabriele (2005): Designing Parts of a Puzzle; in: Theo Hug, Martin Lindner, Peter A. Bruck<br />
(Hrsg.) (2006): Microlearning: Emerging Concepts, Practices and Technologies. Proceedings of<br />
Microlearning 2005: Learning and Working in New Media Environments. Innsbruck: University<br />
Press, 195-204<br />
Härta, René (2002): Didaktisches Design multimedialer Lern- und <strong>Arbeit</strong>sumgebungen. Förderung des<br />
systemischen Denkens im Kontext arbeitsplatznahen Lernens. Hamburg<br />
Hasebrook, Joachim, Werner Herrmann, Dirk Rudolph (2003): Perspectives for European e-learning<br />
businesses. Markets, technologies and strategies. Luxemburg<br />
Höber, Angelika (2005): Individuenorientierte e-Learning-Umgebungen. Selbstgesteuertes computergestütztes<br />
Lernen im Kontext betrieblicher Weiterbildung. Universität Klagenfurt, Diplomarbeit<br />
Huizinga, Johan (1938/1997): Homo ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg,<br />
Neuaufl age<br />
Krenn, Manfred, Jörg Flecker (2000): Erfahrungsgeleitetes Lernen in der automatisierten Produktion.<br />
Neue Anforderungen an die Personalpolitik, Ausbildung und <strong>Arbeit</strong>sgestaltung, FORBA-Forschungsbericht<br />
3, Wien<br />
Maturana, Humberto, Francisco Varela (1987): Der Baum der Erkenntnis. Bern/München/Wien<br />
67
68 Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />
Neuendorff, Hartmut, Charles Sabel (1978): Zur relativen Autonomie der Deutungsmuster; in: Karl M.<br />
Bolte (Hrsg.): Verhandlungen des 18. Dt. Soziologentages. Darmstadt/Neuwied, 842–863<br />
Piaget, Jean (1972): Psychologie der Intelligenz. Olten, 5. Aufl .<br />
Porschen, Stephanie, Fritz Böhle (2005): Geschichten-Erzählen im <strong>Arbeit</strong>salltag: Story Telling und<br />
erfahrungsgeleitete Kooperation; in: Gabi Reinmann (Hrsg.): Erfahrungswissen erzählbar machen.<br />
Narrative Ansätze für Wirtschaft und Schule. Lengerich, 52–67<br />
Schachtner, Christina (2006): Virtual Spaces for Playing and Learning. Gender-Sensitive Refl ections,<br />
Examples and Consequences; in: Karin Siebenhandl, Michael Wagner, Sabine Zauchner (Hrsg.):<br />
Gender in E-Learning and Educational Games. A Reader. Innsbruck/Wien/Bozen, 11–23<br />
Schachtner, Christina (Hrsg.) (2005a): Erfolgreich im Cyberspace. Handbuch virtuelle Frauen- und<br />
Mädchennetze. Opladen<br />
Schachtner, Christina (2005b): Precise and succinct yet interlinked. Requirements for E-Learning in<br />
the Workplace; in: Theo Hug, Martin Lindner, Peter A. Bruck (Hrsg.): Microlearning: Emerging<br />
Concepts, Practices and Technologies. Proceedings of Microlearning 2005: Learning and Working<br />
in New Media Environments. Innsbruck, 71-78<br />
Schachtner, Christina, Gabriele Frankl, Angelika Höber, Ewald Romé (2005): Learning for Production.<br />
Skizzierung eines E-Learning-Konzepts zur betrieblichen Aus- und Weiterbildung in der<br />
Papierherstellung, Forschungsbericht, Klagenfurt<br />
Schachtner, Christina (2002a): Netfeeling. Das Emotionale in der computergestützten Kommunikation;<br />
in: Mike Sandbothe, Winfried Marotzki (Hrsg.): Subjektivität und Öffentlichkeit. Köln, 216-235<br />
Schachtner, Christina (2002b): Entdecken und Erfi nden. Lernmedium Computer. Opladen<br />
Schachtner, Christina (1999): Ärztliche Praxis. Die gestaltende Kraft der Metapher. Frankfurt/Main<br />
Schiersmann, Christiane, Heinz-Ulrich Tiel (2000): Projektmanagement als organisationales Lernen.<br />
Opladen<br />
Senge, Peter M. (1999): Die Fünfte Disziplin. Stuttgart<br />
Siebert, Horst (2003): Lernen ist immer selbstgesteuert – eine konstruktivistische Grundlegung; in:<br />
Udo Witthaus, Wolfgang Wittwer, Clemens Espe (Hrsg.): Selbstgesteuertes Lernen. Theoretische<br />
und praktische Zugänge. Bielefeld, 13–26<br />
Wang, Edgar (2004): Die mühselige Landnahme der Pioniere: Entstehung und Entwicklung der<br />
E-Learning-Branche in den USA und in Deutschland; in: Hohenstein/Wilbers (2004): Andreas<br />
Hohenstein, Karl Wilbers (Hrsg.): Handbuch E-Learning. Expertenwissen aus Wissenschaft und<br />
Praxis. Strategien, Instrumente, Fallstudien. Köln, Kap. 2-6 (7. Erg.-Lfg. Jan. 2004), 1-24<br />
Walber, Markus (2003): Lernen in virtuellen webbasierten Lernumgebungen; in: Udo Witthaus,<br />
Wolfgang Wittwer, Clemens Espe (Hrsg.): Selbstgesteuertes Lernen. Theoretische und praktische<br />
Zugänge. Bielefeld, 209–222<br />
Anschrift der Verfasserinnen:<br />
Univ. Prof. Dr. Christina Schachtner<br />
Universität Klagenfurt<br />
Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft<br />
<strong>Arbeit</strong>sbereich Neue Medien - Technik - Kultur<br />
Universitätsstraße 65-67<br />
A-9020 Klagenfurt<br />
E-Mail:Christina.Schachtner@uni-klu.ac.at<br />
Schlagwörter: Zukunft der <strong>Arbeit</strong>, Wissen/ Wissensgesellschaft, Neue<br />
Medien/ Informationstechnologie, Qualifi kation/ Aus- und Weiterbildung
Abstracts (English)<br />
Daniel Lois<br />
Determinants of participation in professional advancement<br />
regarding elder employees<br />
An analysis of the German “report-system further training” (BSW 2000) shows, that age-specifi c participation<br />
ratios in formal on-the-job training activities depend on the aim of the respective courses:<br />
Participation in introductory courses and in activities for professional advancement is negatively<br />
correlated with age. Participation in adaption activities, however, is not signifi cantly related to age.<br />
Thus, older employees also invest in their human capital, but they do so selectively and under specifi c<br />
conditions only: Positive attitudes towards one’s capability of learning as a prerequisite for participation<br />
become more important with increasing age. Moreover, the quality of technological innovations is a<br />
key determinant of whether a formal training is considered necessary. For instance, older employees<br />
transfer experience-based knowledge in order to cope with new ability requirements that are in accordance<br />
with previous job tasks.<br />
Keywords: Late career, training, technological innovations, experience,<br />
employability<br />
Carsten Wirth<br />
Project networks in job placement: An organisational form<br />
with future?<br />
Many researchers and politicians demand the contracting-out and the end of the public job placement.<br />
In job placement the interactions and relationships can be organised in project networks. For this reason<br />
I ask if this governance form is currently as well the organisational form of the future in job placement.<br />
I answer to this question on the basis of a research project on the organisation and control of television<br />
content production in which project networks are the dominant organisational form, the analysis of<br />
the relevant literature on (the reform of the) job placement and on observations during stays in two<br />
job agencies. Conceptually I draw on a structurationist informed perspective on organisational fi elds.<br />
I show that contracting-out is currently no promising option for the Federal Employment Agency and<br />
for government because central prerequisites for success are not fulfi lled. Alternatively, the Federal<br />
Employment Agency can be developed much more into a network organizer.<br />
Keywords: Labour market, services/administration, national, sociology,<br />
economics
70 Abstracts (English)<br />
Sven Hauff<br />
Transition to fl exible employment and the erosion of psychological<br />
contracts from the employee’s point-of-view<br />
Against the background of increasing employment fl exibility, it has already been discussed for a long<br />
time to what extent the relationship between employers and employees itself changes fundamentally. A<br />
central thesis thereby is the shift from the old model of the implicit or psychological contract of loyalty<br />
and security to a new contract based on the principles of exchange and employability. The transition<br />
to fl exible employment comprises risks for employees as well as for enterprises. Thus, the often publicised<br />
change of psychological contracts is to be critically investigated on the basis of current data<br />
and research results. In the course of this article, the focus lies on the employee’s point-of-view. As<br />
the results will show, the majority of employees seem to hold on to the principles of the old contract<br />
and are still largely interested in job security. Referring to these results, it is fi nally discussed which<br />
implications for entrepreneurial practice are to be deduced.<br />
Keywords: Psychological Contracts, employees’ expectations, perceived<br />
workplace justice, employment security<br />
Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />
Learning for production. E-Learning for on-the-job<br />
training. A case study on paper production<br />
The initial euphoria caused by computer-aided learning in the nineties was followed by a time of disillusion.<br />
We see one main reason for these occurrences in the mere focus on technical aspects while<br />
disregarding the pedagogic and (industrial and organisational) psychological dimensions of learning. It<br />
is time for a reorientation of e-learning beginning with questions like: What is knowledge? What kind<br />
of knowledge is needed in specifi c areas? How is knowledge gained so far? And how can the answers<br />
to these questions be transferred to learning environments which respond to specifi c situations? The<br />
chances of e-learning will not be found in the reproduction of imparted ideas of learning using media<br />
but in using media and its new possibilities for a kind of learning which focuses on construction, experimentation,<br />
exploration and communication. Using a case study we will show what such a solution<br />
can look like.<br />
Keywords: Future of Employment, knowledge/ knowledge society, new<br />
media/ information technology, qualifi cation/ (further) education
<strong>Tagungsbericht</strong><br />
"interkulturell/ international:<br />
arbeiten, führen + kooperieren<br />
Die 14. Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für<br />
<strong>Arbeit</strong>s- und Organisationspsychologie (SGAOP),<br />
durchgeführt am 6. Oktober 2006 in Zürich, widmete<br />
sich einer im Hinblick auf die zunehmend globalisierte<br />
Wirtschaftwelt höchst aktuellen Thematik: Die<br />
Zusammenarbeit im interkulturellen Kontext. Angekündigt<br />
unter dem Titel "interkulturell / international:<br />
arbeiten, führen + kooperieren" fokussierte die vom<br />
Präsidenten der SGAOP Prof. Dr. Ivars Udris (ETH<br />
Zürich) moderierte Tagung auf die Auseinandersetzung<br />
mit allgegenwärtigen, gleichzeitig aber schwer<br />
fassbaren Konzepten wie "Diversity", "Inter-" oder<br />
"Multikulturalität". Die Beiträge der sieben ReferentInnen<br />
refl ektierten dabei sowohl die theoretischkonzeptionelle<br />
Komplexität des Tagungsthemas wie<br />
auch die empirischen Schwierigkeiten, die sich bei<br />
der Untersuchung von erfolgsrelevanten Faktoren in<br />
der interkulturellen Kooperation ergeben. Die Tagung<br />
offenbarte dabei einen Konsens dahingehend, dass es<br />
trotz der unbestrittenen und zunehmenden Bedeutung<br />
der interkulturellen Handlungskompetenz in international<br />
tätigen Organisationen noch vergleichsweise<br />
wenig direkt für die betriebliche Praxis verwertbares<br />
Wissen gäbe.<br />
Wer demnach auf einfache Lösungen gehofft<br />
hatte, sah sich mit der Nachricht konfrontiert, dass<br />
der heutige Wissensstand in Praxis und Forschung<br />
den Schluss nahe legt, dass – wie Prof. Dr. Alexander<br />
Thomas (Universität Regensburg) in seinem Beitrag<br />
erwähnte – noch etliche Fragen ungeklärt seien<br />
und damit viel <strong>Arbeit</strong> bevor stünde. In Anbetracht<br />
der Tatsache, dass beispielsweise über 50% der<br />
Expatriates – das heißt Manager, die im Rahmen<br />
ihrer berufl ichen Tätigkeit im Ausland tätig sind<br />
– ihre Auslandsengagements frühzeitig abbrechen<br />
würden oder zumindest mit erheblichen privaten<br />
wie berufl ichen Problemen konfrontiert seien, war<br />
der Fokus der Tagung darauf gerichtet, die mit der<br />
interkulturellen Kooperation verbundenen Problemfelder<br />
aufzudecken. So illustrierte beispielsweise<br />
Thomas anhand eigener Forschungsergebnisse, dass<br />
das Nicht-Erkennen der Determinanten des eigenen<br />
wie auch des fremden Denkens unweigerlich zu<br />
Un- und Missverständnissen und somit letztlich zu<br />
betrieblichen Leistungseinbussen führen würden.<br />
Während Thomas verdeutlichte, dass die interkulturelle<br />
Handlungskompetenz in der Gesellschaft wie<br />
auch in den Betrieben als unzureichend zu bewerten<br />
sei, deutete der Erfahrungsbericht von Dr. Ariane<br />
Bentner (Darmstadt) aus ihrer Beratungstätigkeit<br />
in der deutschen Verwaltung darauf hin, dass es<br />
auch im öffentlichen Dienst noch kaum angemessene<br />
Personalentwicklungsmethoden gäbe, um die<br />
Mitarbeitenden entsprechend auf ihr (zunehmend)<br />
ausländisches "Klientel" vorzubereiten. Enid Kopper<br />
(Zürich) kam auf dem Hintergrund ihrer in schweizerisch-amerikanischen<br />
Firmen durchgeführten<br />
Workshops ebenfalls darauf zu sprechen, dass national<br />
geprägte Verhaltensmuster und Stereotypen<br />
die interkulturelle Zusammenarbeit immer und oft<br />
signifi kant erschweren würden. Bezüglich der Frage,<br />
wie kulturell bedingte Konfl ikte zu lösen seien, war<br />
über verschiedene Beiträge hinweg zu erfahren, dass<br />
das Verstehen des "Anderen" oder des "Fremden"<br />
eine essenzielle Ingredienz erfolgreicher interkultureller<br />
Zusammenarbeit sei. Die Etablierung eines<br />
gangbaren Modus Vivendi setze also voraus, dass<br />
die Mitarbeitenden ein Gefühl für Andersartigkeit<br />
entwickelten. PD Dr. Christel Kumbruck (Universität<br />
Kassel) wies diesbezüglich auf die Wichtigkeit von<br />
Empathie hin, wobei deutlich gemacht wurde, dass<br />
der Umgang mit Unterschiedlichkeit in erster Linie<br />
die Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive des<br />
Anderen beinhalte.<br />
Die mit interkultureller Kompetenz verbundenen<br />
empirischen Probleme wurden in erster Linie<br />
im Rahmen der Präsentation von Prof. Dr. Jürgen<br />
Deller (Universität Lüneburg) deutlich, der anhand<br />
seiner international angelegten „Lüneburg-Studie“<br />
die individuellen Erfolgsfaktoren internationaler<br />
Zusammenarbeit zu extrahieren versuchte. Wie die<br />
Resultate Dellers "work in progress" zeigten, waren<br />
weder Persönlichkeitseigenschaften wie Intelligenz<br />
noch biographische Informationen oder kognititve<br />
Fähigkeiten der untersuchten Expatriates geeignet,<br />
um die Anpassungsleistung und Job-Performance der<br />
im Ausland tätigen Manager vorherzusagen. Dieses<br />
Ergebnis erstaunte jedoch nur bedingt, sofern in
72 <strong>Tagungsbericht</strong><br />
Betracht gezogen wurde, dass erfolgreiche interkulturelle<br />
Zusammenarbeit oder Kommunikation stets<br />
Interaktion impliziert. Erfolg im interkulturellen<br />
Kontext, so Kumbruck, mache unabdinglich, dass<br />
sich alle Interaktionspartner aktiv mit der Perspektive<br />
des Gegenüber auseinandersetzen, was gleichzeitig<br />
bedeute, dass die Qualität der jeweiligen Beziehung<br />
und nicht individuelle Fähigkeiten über Erfolg oder<br />
Scheitern entscheiden würden.<br />
Während die Tagung deutlich werden ließ, dass<br />
noch kaum Einigung besteht hinsichtlich der Semantik<br />
von Begriffen wie Diversity oder Multikulturalität,<br />
machte insbesondere Prof. PhD Chris Steyaert (Universität<br />
St. Gallen) darauf aufmerksam, dass man<br />
nicht in der Lage sei, über betriebliche Anwendungen<br />
zu sprechen, bevor man sich nicht Klarheit darüber<br />
verschafft habe, was überhaupt unter Multikulturalität<br />
verstanden würde und wie sich dieses Verständnis auf<br />
die organisationale Handhabung von Unterschiedlichkeit<br />
auswirke. Steyaert monierte dabei, dass Organisationen<br />
heute oft versuchten, Unterschiedlichkeit<br />
zu managen und damit auch zu kontrollieren, anstatt<br />
diese zu ermöglichen. Sofern jedoch Differenz und<br />
Unterschiedlichkeit lediglich als potentielle Problemfelder<br />
oder Störvariablen behandelt würden,<br />
gäbe es laut Steyaert kaum Hoffnung, dass auch die<br />
genuin positiven Aspekte des Phänomens erkannt und<br />
genutzt würden. Auch Prof. Samuel van den Bergh<br />
(Zürcher Hochschule Winterthur) wies darauf hin,<br />
dass Diversity als zentrales Moment zur Förderung<br />
des betrieblichen Humankapitals zu betrachten sei<br />
und dass sich Organisationen, die auf Homogenität<br />
setzten – und demnach Diversity unterbänden – sich<br />
unweigerlich einen relevanten Wettbewerbsnachteil<br />
einhandeln würden.<br />
Gerade aufgrund der Tatsache, dass die Referate<br />
mehr Fragen als Antworten zu Tage förderten, war die<br />
Tagung eine gute Gelegenheit, sich vertieft mit den<br />
Paradoxien und Ungereimtheiten der interkulturellen<br />
Kommunikation und Zusammenarbeit zu befassen.<br />
Der Dialog zwischen ReferentInnen und den etwa 60<br />
Tagungsteilnehmenden aus der betrieblichen Praxis<br />
wurde dabei durch intermittierende Workshops aktiv<br />
gefördert.<br />
Der Dokumentationsband (180 Seiten) ist zum<br />
Preis von CHF 30 (ca. € 20) erhältlich bei info@<br />
sgaop.ch.<br />
Pascal Dey (St. Gallen)
Rezensionen<br />
Michael Mohe: „Klientenprofessionalisierung<br />
- Strategien und Perspektiven eines professionellen<br />
Umgangs mit Unternehmensberatung“.<br />
Marburg: Metropolis-Verlag, 2003. 420 Seiten,<br />
ISBN 3-89518-434-9, 36,80 €<br />
Michael Mohe (Hg.): „Innovative Beratungskonzepte<br />
– Ansätze, Fallbeispiele, Refl exionen“.<br />
Leonberg: Rosenberg Fachverlag, 2005. 319<br />
Seiten, ISBN 3-931085-51-1, 39,80 €<br />
Karin Martens-Schmid (Hg): „Coaching als<br />
Beratungssystem – Grundlagen, Konzepte,<br />
Methoden“. Heidelberg: Economia Verlag,<br />
2003. 305 Seiten, ISBN 3-87081-288-5,<br />
44,50 €<br />
David Seidl, Martin Linder, Werner Kirsch<br />
(Hg): „Grenzen der Strategieberatung – Eine<br />
Gegenüberstellung der Perspektiven von<br />
Wissenschaft, Beratung und Klienten“. Bern,<br />
Stuttgart, Wien: Haupt Verlag, 2005. 471<br />
Seiten, ISBN 3258069204, 45,00 €<br />
Jörg Sydow, Stephan Manning (Hg): “Netzwerke<br />
beraten”. Wiesbaden: Gabler Verlag,<br />
2006. 317 Seiten, ISBN 3-8349-0018-4,<br />
44,90 €<br />
Wie kaum eine andere Branche hat Unternehmensberatung<br />
in den letzten Jahrzehnten die Entwicklung<br />
in Wirtschaft und Gesellschaft beeinfl ussen und<br />
sich zu einem zentralen Akteur der industriellen<br />
Beziehungen in Deutschland institutionalisieren<br />
können. Zu ihrer eigenen Überraschung ist sie<br />
inzwischen - wie bekannt, prognostiziert und von<br />
einigen Kritikern erhofft - in einen teils strukturellen,<br />
teils selbstverursachten Umbruch geraten,<br />
der national wie international gekennzeichnet ist<br />
durch die zunehmende Bedeutung von spezialisierten<br />
Geschäftsmodellen, die Abnutzung standardisierter<br />
Praktiken, die Entstehung neuer Wissensformen und<br />
Beratungsarrangements und insbesondere durch<br />
Autoritätsverlust und Legitimitätserosion infolge<br />
anhaltender Beraterskandale und auch juristisch<br />
ausgetragener Qualitätsklagen. Zur Zeit versuchen<br />
Unternehmensberatungen ihrer Entmystifi zierung zu<br />
begegnen mit einer eher unspektakulären Geschäftspolitik<br />
des „Besser und billiger“, was kurzfristig zwar<br />
zu mehr Umsatz, aber kaum zu neuer Beraterautorität<br />
und innovativen Beratungsmodellen führt. Beides<br />
wird – wie eine aktuelle Umfrage im beratungserprobten<br />
Management von DAX- und mittelständischen<br />
Unternehmen zeigt - dringend eingefordert und nur<br />
den Beratern zugetraut, die Spezialwissen mit Umsetzungskompetenz<br />
paaren und glaubhaft nachweisen<br />
können. 1 Dass damit weder der Innovationsbedarf<br />
noch das Innovationspotenzial der Beratungsbranche<br />
abgedeckt ist, belegen die nachfolgend rezensierten<br />
Studien und Tagungsdokumentationen, die in<br />
Themenspektrum wie Leseertrag einen fundierten<br />
Einblick in die vielschichtige Umbruchssituation der<br />
Beratungsbranche und ihre sozialwissenschaftliche<br />
Refl exion bieten: Die <strong>Arbeit</strong>en von Michael Mohe<br />
klären darüber auf, wie die wachsende Beratungskompetenz<br />
der Beratungskunden den Strukturwandel im<br />
Beratungsgeschäft induzieren und perpetuieren und<br />
wie facettenreich das Beratungsspektrum inzwischen<br />
ist. In dem Sammelband von Karin Martens-Schmid<br />
wird eine dieser nicht unumstrittenen Neuentwicklungen<br />
- das zunehmend nachgefragte Coaching<br />
- von Praktikern selbstevaluativ auf seine spezifi sche<br />
Leistungsqualität hinterfragt. Dass die aktuellen<br />
Veränderungen im Beratungsgeschäft durchaus<br />
paradigmatischen Charakter haben, vermittelt zum<br />
einen die Tagungsdokumentation von Seidl, Kirsch,<br />
Linder zu den Grenzen der Strategieberatung, der<br />
sogenannten „Königsdisziplin“ der Unternehmensberatung,<br />
und zum anderen der Sammelband von Sydow<br />
und Manning zur Netzwerkberatung, die lange schon<br />
ihren Außenseiterstatus verloren, an praktischer wie<br />
wissenschaftlicher Herausforderung jedoch nichts<br />
eingebüsst hat.<br />
Die Doppelbotschaft der „Klientenprofessionalisierung“<br />
In seiner inzwischen als Klassiker der Beratungsforschung<br />
gehandelten Dissertation untersucht Michael<br />
Mohe, warum und wie die Beratungsbranche als<br />
erfolgsverwöhntes Kind der Moderne erstmalig mit<br />
Kehrseiten und Rückwirkungen ihrer Praxis konfrontiert<br />
wird. Ihre selber unter hohem Kosten- und Inno-<br />
1 manager-magazin 8/2006 S. 26 ff, Christof Lechner<br />
u.a. 2005
74<br />
vationsdruck stehenden Kunden stellen zunehmend<br />
höhere Ansprüche an die Problemlösungskompetenz<br />
und Leistungsqualität von Beratung und entwickeln<br />
eine „Klientenprofessionalisierung“ im Umgang<br />
mit Beratern, die jedoch paradoxerweise nicht nur<br />
diesen, sondern auch ihnen selber zukünftig mehr<br />
als nur inkrementelle Innovationen abverlangen<br />
werden. Der Nachweis, dass dieses für die refl exive<br />
Modernisierung so exemplarische Phänomen an<br />
Bedeutung gewinnt und jenseits von Berater- und<br />
Managementmoden die Beratungspraxis wie die neu<br />
entstehende Beratungsforschung beeinfl ussen wird,<br />
gelingt Mohe nicht zuletzt deshalb so überzeugend,<br />
weil er – was in der Forschungslandschaft eher<br />
selten ist - eigene Inhouse-Consulting-Erfahrung,<br />
Forschungsempirie, betriebswirtschaftliche und sozialwissenschaftliche<br />
Theoriefundierung miteinander<br />
zu kombinieren versteht.<br />
Aufbauend auf einer sorgfältigen Begriffs- und<br />
Entwicklungsanalyse der Beratungspraxis und<br />
ihrer zeitverzögerten Erforschung vergleicht und<br />
systematisiert Mohe zuerst die dominierenden betriebswirtschaftlichen<br />
Beratungskonzepte und ihre<br />
in der Beratungspraxis bislang minoritär gebliebenen<br />
sozialwissenschaftlich-systemischen Pendants, deren<br />
wechselseitige Ignoranz in der Beratungsdiskussion<br />
allmählich als Problem erkannt wird. Warum und<br />
wie diese „traditionellen und neuen Konzepte der<br />
Beratung“ das empirisch unbestreitbare Phänomen<br />
der „Klienten(un)zufriedenheit“ unterschiedlich<br />
erklären und handhaben, wird anschließend in<br />
kritisch methodologischer Sichtung einer Vielzahl<br />
von Beraterstudien untersucht. Anders als in dem<br />
seit der Publikation seiner <strong>Arbeit</strong> einsetzendem<br />
Management- und Beraterdiskurs dargestellt und<br />
verstanden eröffnet „Klientenprofessionalisierung“<br />
keine neuen Effi zienzversprechungen oder optimistischen<br />
Innovationsperspektiven, sondern ist für Mohe<br />
vor allem eine Frage nach dem Modus von Beratung,<br />
ihrem Interventions- und Organisationsverständnis<br />
auf Kunden- wie auf Beraterseite. Sorgfältig und<br />
kenntnisreich werden deshalb Möglichkeiten und<br />
Grenzen von „Mainstreaming“-Beratungskonzepten<br />
und ihren systemisch-refl exiven Gegenmodellen<br />
geprüft, ihre Stärken und Schwächen im jeweiligen<br />
Anwendungskontext ausgelotet, um dann - ein<br />
besonderer Bonus der <strong>Arbeit</strong> - Perspektiven ihrer<br />
wechselseitigen Ergänzung und arbeitsteiligen<br />
Kombination entwickeln zu können. Dabei bleibt<br />
zwangsläufi g offen, wie dieser neue Beratungsmodus<br />
realitätstüchtig, die dafür nötige Fach- und Prozessberatung<br />
verknüpft werden kann und wie Berater<br />
und Kunden in die Lage zu versetzen sind, die damit<br />
verbundene „Extrameile zu gehen“.<br />
Rezensionen<br />
Wie innovativ sind Alternativberatungen?<br />
Dass der Umbruch im Beratungsmarkt auch aus einer<br />
anderen Perspektive ertragreich zu analysieren ist,<br />
zeigt der von Mohe herausgegebene Sammelband „Innovative<br />
Beratungskonzepte“, der sich der Selbstinstitutionalisierung<br />
von alternativen Beratungskonzepten<br />
„in the neighbourhood of Management Consulting“<br />
(3) widmet. Coaching, Supervision, Mediation, Meta-<br />
Beratung, integrierte Fach- und Prozessberatung,<br />
Organisationsaufstellung und Unternehmenstheater<br />
sind solche Neuentwicklungen, die sich - in manchmal<br />
exotischen Nischen entstanden – teilweise sehr<br />
erfolgreich etabliert haben und deshalb mittlerweile<br />
auf ihre ökonomische Relevanz, ihr Problemlösungspotenzial<br />
und ihre Anwendungsgrenzen hinterfragt<br />
werden können.<br />
Dies den Protagonisten der neuen Beratungsformen<br />
zu überantworten, ist aufgrund der<br />
Selbstdarstellungsnöte nicht ohne Risiko, aber im<br />
Unterschied zur gängigen Beraterliteratur geglückt:<br />
Bereitwillig und manchmal sehr detailliert werden<br />
authentische Einblicke in die Konzepte, Methoden<br />
und Instrumente gewährt, die Rückschlüsse auf die<br />
Wirklichkeitskonstruktion und Wissenslandkarte, das<br />
Organisations- und Interventionsverständnis des jeweiligen<br />
Beratungsansatzes erlauben. Man bekommt<br />
einen Eindruck, warum der Einsatz von Kunst und<br />
Theater, die Verknüpfung von Beratung und Spiritualität,<br />
die tendenziell zur neuen Beratungsmode<br />
gewordene Methode der Organisationsaufstellung<br />
oder der Transfer von Verfahren aus der Sozialarbeit<br />
und Familientherapie - wie z.B. Supervision und<br />
Mediation - sinnvoll sein kann und nachgefragt wird.<br />
In erfreulicher Differenz zur üblichen Beraterrhetorik<br />
werden Spezifi tät, Grenzen und Anwendungsbedingungen<br />
dieser neuen Beratungsformen refl ektiert.<br />
Warum sie als Geschäftsmodell – selbst in Ergänzung<br />
zu klassischen Beratungsformen - nur bedingt<br />
tauglich, ihre Innovationsimpulse für abgenutzte<br />
Beratungspraktiken deshalb begrenzt sind, wird dabei<br />
nicht verschwiegen. Bei drei Neuentwicklungen<br />
- der Integration von Fach- und Prozessberatung, der<br />
„Meta-Beratung“ als meist intermediär institutionalisierte<br />
„Beratung der Beratung“ und dem an Bedeutung<br />
gewinnenden Coaching - stellt sich das anders dar.<br />
Sie stellen grundlegendste Innovationsanforderungen<br />
an das klassische Beratungsmodell, verlieren in<br />
der Beratungspraxis ihren Außenseiterstatus, sind<br />
von der wissenschaftlichen Beratungsdiskussion<br />
aber keineswegs hinlänglich erprobt und erforscht.<br />
Erfreulicherweise werden in den Darstellungen<br />
gerade dieser Beratungsneuerungen die in den<br />
„konzeptionellen Vorüberlegungen“ von Reinhard<br />
Pfriem eingeforderten „gesellschaftspolitischen<br />
Beratungsfunktionen“ (36 ff.) und die von Manfred
Rezensionen<br />
Moldaschl explizierten „Prinzipen refl exiver Beratung“<br />
(53 ff.) aufgegriffen.<br />
Coaching in den Fallstricken professioneller<br />
Selbstbeschreibung<br />
Einen Einblick in die Nöte der Selbstinstitutionalisierung<br />
einer dieser neuen Beratungsformen bietet<br />
ein vor drei Jahren von Karin Martens-Schmid<br />
herausgegebener Sammelband mit dem viel versprechenden<br />
Titel „Coaching als Beratungssystem“, der<br />
die aktuelle Debatte 2 um Professionalisierung und<br />
Wirkung des „boomenden“ Coaching-Geschäfts<br />
vorweggenommen hat. Empirisch gestützt auf<br />
eine selbstevaluative qualitative Befragung von 31<br />
Führungskräften aus dem Dienstleistungs- und Non-<br />
Profi t-Sektor wird Coaching als „methodisch strukturierter,<br />
zielorientierter und gemeinsamer Prozess“<br />
beschrieben, der „personenbezogen, ressourcen- und<br />
lösungsorientiert“ (100) im Erfolgsfall „zu einem<br />
höheren Maß und Potenzial an Selbstrefl exion und<br />
Selbstveränderung“ (178) führt. Maßstab für die jeweils<br />
konsensual zu konkretisierenden individuellen<br />
Ziele und die „maßgeschneiderte Verfahrensweise“<br />
(50) des Coachings ist die„Professionalisierung der<br />
Persönlichkeit“ (55), ihre dabei wie auch immer<br />
gelingende Aktualisierung macht die Kompetenz<br />
des Coaches aus.<br />
Dass Coaching dementsprechend eher als Kunst<br />
der „Passung“ von Coachee und Coache denn als<br />
berufl iche Profession verstanden wird, illustrieren<br />
vier, teils aus Berater- und Klientenperspektive<br />
geschilderte Coaching-Fälle mit Einzelvorständen,<br />
Vorstandsteams, Orchestern und Spitzensportlern.<br />
Sie demonstrieren, wie sehr die Coaching-Praxis<br />
methodisch von der Familien- und Psychotherapie,<br />
der (Entwicklungs-)Psychologie, Pädagogik und<br />
insbesondere den Supervisionstechniken der Sozialarbeit<br />
geprägt ist; deutlich wird aber auch, dass<br />
Coaching beginnt, sich als originäre Beratungsform<br />
disziplinär neu zu positionieren - wenn auch nur<br />
zögerlich und in dem Maß, wie sich ihre Nachfrage<br />
branchen- und hierarchieübergreifend ausweitet,<br />
ihre Anwendung sich spezialisiert und differenziert.<br />
Neue Anwendungsfelder wie Gruppen-Coaching zur<br />
Strategieentwicklung, Coaching für Firmengründer,<br />
Gesundheits- und IT-Coaching setzen nicht nur mehr<br />
und andere fachliche Expertise voraus. Insbesondere<br />
in großen mittelständischen und DAX-Unternehmen<br />
wird Coaching in das Instrumentarium der Personalentwicklung<br />
integriert, werden Coaching-Pools<br />
eingerichtet, fi ndet „Coaching unter den Augen der<br />
fi rmeninternen Öffentlichkeit“ 3 statt. Professionelle<br />
2 wirtschaft+weiterbildung 01/2006 und 03/2006,<br />
Stefan Kühl 2005, Harald Geißler 2006<br />
3 Uwe Böning, Christopher Rauen 2006<br />
75<br />
Mindeststandards, Qualitätsnormen und Evaluationsverfahren,<br />
die das Coaching-Angebot, die Coaching-<br />
Praxis und ihren Erfolg formalisieren, transparenter<br />
und verlässlicher machen, werden unverzichtbar.<br />
Dass diese professionellen Herausforderungen<br />
unter Coaching-Experten zwar schon länger als<br />
neuralgisch anerkannt, aber in ihrer bisherigen<br />
disziplinären Fixierung auf den Wissenskanon der<br />
Psychologie kaum hinreichend zu beantworten sind,<br />
wird in dem Sammelband dank seiner materialreichen<br />
Selbstbeschreibung der Coaching-Praxis verdienstvoll<br />
dokumentiert. Zumindest teilweise bestätigt wird<br />
dabei allerdings auch, dass die aktuell heftig umstrittene<br />
soziologisch-systemtheoretische De-Konstruktion<br />
von Coaching-Selbstbildern problemangemessen ist<br />
und ihr Verweis auf strukturelle Paradoxien personaler<br />
und organisationaler Veränderungen vor allzu<br />
emphatischen Wirkungsannahmen schützt. 4<br />
Sind Kommunikationssperren zwischen<br />
Beratern, Managern und Wissenschaftlern<br />
ewünscht, anachronistisch oder unvermeidbar?<br />
Grenzen, die einen früher oder später nötigen Richtungswechsel<br />
signalisieren, waren auch das Thema<br />
einer in ihrer Art seltenen Tagung, auf der Manager,<br />
Berater und Wissenschaftler drei Tage lang - in<br />
wechselseitiger Analyse und (Co-)Kommentierung<br />
ihrer Erfahrungen und deshalb ziemlich kontrovers<br />
- „Grenzen der Strategieberatung“ ausgelotet haben.<br />
Für dieses Experiment haben die Autoren Seidl/<br />
Kirsch/ Lindner Vertreter aus fast allen führenden<br />
Beratungsunternehmen, deren Kundenunternehmen,<br />
sowie der betriebswirtschaftlichen und organisationssoziologischen<br />
Beratungsforschung gewinnen<br />
können. Die sorgfältige Dokumentation dieses<br />
lehrreichen wie sperrigen Dialogs informiert in Handbuchqualität<br />
nicht nur über die „Königsdisziplin“ der<br />
Beratung, sondern vor allem über Status Quo und<br />
Perspektiven der Managementberatung generell. Thematisch<br />
vollständig wird der aktuelle Umbruch in der<br />
Beratungsbranche in all seinen Problemfacetten und<br />
Innovationsoptionen inspiziert: Differenzierung und<br />
Spezialisierung des Geschäftsmodells der klassischen<br />
Managementberatung; Anspruch, Wirklichkeit und<br />
Evaluation der Beratungsleistung; die Ambivalenzen<br />
von Klientenprofessionalisierung, Inhouse-Consulting<br />
und erfolgsabhängiger Bezahlung; das infolge<br />
von Beratergovernance, neuer Erwartungen an<br />
Personalentwicklung und Wissensmanagement sich<br />
ändernde Anspruchsprofi l des internen Beratungsmanagements.<br />
In soziologischer Perspektive besonders<br />
informativ ist die Diskussion der Grenzen traditioneller<br />
Beratungsansätze, weil dort im Wechselspiel<br />
4 Stefan Kühl 2005
76<br />
von Beitrag und Kommentar, Selbst- und Fremdbild<br />
auch neue Beratungsformen und Beratungskonzepte<br />
auf „die Poesie der Reform und die Realität<br />
der Evolution“ (Luhmann) geprüft werden – und<br />
zwar jenseits des Klischees vom innovationsmüden<br />
Praktiker, innovationsversprechenden Berater und<br />
innovationsskeptischen Wissenschaftler.<br />
In der Gesamtschau dieses Experiments verblüfft<br />
die im Verlauf (oder wegen?) des Dialogs versandende<br />
Refl exions- und Lernbereitschaft aller Beteiligten: ein<br />
Nebeneffekt, der sich in den schriftlichen Beiträgen<br />
deutlicher manifestiert als auf der Tagung selber. Die<br />
Herausgeber erklären ihn mit „Sprachbarrieren“ und<br />
„Übersetzungsproblemen“ zwischen wissenschaftlicher<br />
Beratungsforschung, anwendungsorientierten<br />
Beraterkonzepten, konkreten Beratungsprojekten und<br />
„gewachsenen“ Sprachformen der Klienten (15ff).<br />
Dabei mit zu berücksichtigen sind jedoch auch die übrigen<br />
Trennungslinien, die gemeinsames Refl ektieren<br />
und Lernen „auf Augenhöhe“ erschweren: die disziplinären<br />
zwischen Betriebswirtschaftslehre, Ingenieur-<br />
und Sozialwissenschaften; die kulturellen zwischen<br />
IT- und Strategieberatungen, „Hidden Champions“,<br />
Nischen- und Organisationsberatungen und ihren<br />
jeweiligen Denkschulen; und nicht zuletzt die machtpolitischen<br />
zwischen großen, mittelständischen und<br />
„Bettkantenberatern“ mit jeweils unterschiedlichen<br />
Ressourcen und Netzwerken. Zu prüfen, ob diese<br />
Kommunikationssperren unvermeidbar, erwünscht<br />
oder doch anachronistisch sind, wäre durchaus eine<br />
Nachfolgetagung wert und bedürfte sicherlich einer<br />
besonderen Metaberatung.<br />
Von Netzwerken lernen! Wie Netzwerke beraten<br />
und beraten werden<br />
Pionierarbeit leisten auch Jörg Sydow und Stephan<br />
Manning als Initiatoren des „Netzwerk-Forums“ am<br />
Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Freien<br />
Universität Berlin, das ein Sommersemester dem<br />
relativ neuen Phänomen gewidmet hat, dass inzwischen<br />
neben Individuen und Organisationen auch<br />
Netzwerke beraten werden und selber beraten. Die<br />
Ergebnisse dieser Veranstaltung werden unter dem<br />
bewusst doppelsinnigen Titel „Netzwerke beraten“<br />
in einem Sammelband präsentieren, der dank der<br />
ausgewiesenen wie renommierten Experten aus<br />
Beratungspraxis und Beratungsforschung in zehn<br />
Beiträgen teils intensive Einblicke in die Praxis der<br />
Netzwerkberatung und Beratungsnetzwerke bietet<br />
und in seinen sechs wissenschaftlichen Beiträgen<br />
Lehrbuchqualität hat.<br />
In allen Beiträgen wird deutlich, dass Netzwerke<br />
brennspiegelartig Probleme wie Chancen von Management<br />
und Beratung bündeln und intensivieren.<br />
Jenseits der Frage, ob das Netzwerkthema empirisch<br />
Rezensionen<br />
über– oder unterbewertet wird, herrscht Einigkeit,<br />
dass Netzwerke das Beobachten und Analysieren<br />
von Problemen und Fallstricken erleichtern, die<br />
jegliches Managen und Beraten kennzeichnen: die<br />
Widersprüche zwischen Steuerung und Emergenz,<br />
Planung und Selbstorganisation, Kooperation und<br />
Konkurrenz, Selbst- und Fremdbestimmung, Vertrauen<br />
und Kontrolle, intra- und interorganisationalem<br />
Wandel, Nutzenkalkül und Moral, Fach- und Prozessberatung<br />
etc. Wie schwierig und ergebnisoffen die<br />
Balance zwischen diesen Spannungspolen ist, wird<br />
demonstriert in so unterschiedlichen Feldern wie den<br />
Zuliefernetzwerken von Global Playern, Verbundinitiativen<br />
von mittelständischen Unternehmen, der<br />
Reorganisation der IKEA-Wertschöpfungskette „in<br />
18 Stunden“, einer Beratungsallianz von Accenture<br />
und SAP, einem Innovationsnetzwerk zwischen<br />
regionaler Wirtschaft, Politik und Wissenschaft im<br />
Ruhrgebiet, einem kommunalpolitischen Modernisierungsprojekt<br />
„Wien, die ideale Stadt für Senioren“<br />
u.a.. Die Herausgeber rahmen diese Fallbeispiele<br />
ein mit Beiträgen zur konzeptionellen Sondierung<br />
und Heuristik der Instrumente und Funktionen<br />
von Netzwerkberatung und Beratungsnetzwerken;<br />
kritisch inspiziert werden sie aus Berater- und Wissenschaftlerperspektive<br />
durch Roswita Königswieser<br />
und Günther Ortmann. Lektürebelebend kommen<br />
dabei trotz gleicher strukturations- und systemtheoretischer<br />
Verortung interessante Differenzierungen<br />
in der Beurteilung der Managementrelevanz und<br />
Wirkmächtigkeit von und in Netzwerken zutage: Mal<br />
in nichtemphatischer Nähe, mal in konstruktiver Distanz<br />
zum Gegenstand werden Netzwerkberatung und<br />
Beratungsnetzwerke als Chance und Herausforderung<br />
für refl exives Organisieren, Managen und Beraten<br />
ausgelotet und operationalisiert, aber auch geprüft<br />
auf ihre oft unterstellte, mitgedachte „Gemeinsamkeit<br />
der gemeinsamen Sache“ (Ortmann, 294), die<br />
- wie am Beispiel der vielzitierten „communities of<br />
practise“ gezeigt wird - weder voraussetzungslos<br />
noch erfolgsichernd ist.<br />
Das Wechselspiel von praxiskundiger Theorie<br />
und theorieversierter Praxis, die darin möglich werdende<br />
empirische Dichte, Perspektivenerweiterung<br />
und Refl exivität empfi ehlt dieses Buch - wie die übrigen<br />
besprochenen Bücher auch – als Gegengift zur<br />
grassierenden Oberfl ächlichkeit und Klischeeversessenheit<br />
der „kritischen“, populärwissenschaftlichen<br />
Beraterliteratur.<br />
Martin Birke (Dortmund)
Rezensionen<br />
Zitierte Literatur<br />
Uwe Böning, Christopher Rauen (2006): Coaching<br />
- Die Entwicklung der Branche, profi le 11, 2006,<br />
S. 39-49<br />
Geißler, Harald (2006): Qualitätssicherung von Coaching<br />
im Unternehmen, profi le 11, 2006, S. 29-37<br />
Kühl, Stefan (2005): Das Scharlatanerieproblem<br />
– Coaching zwischen Qualitätsproblemen und<br />
Professionalisierungsbemühung. Köln<br />
Lechner, Christoph, Günter Müller-Stevens, Nicola<br />
Gesing, Markus Kreutzer, Sven Lang (2005):<br />
Herausforderungen an das Geschäftsmodell der<br />
Beratungsindustrie. St. Gallen<br />
manager-magazin Juli 2006<br />
wirtschaft+weiterbildung 01/2006 und 03/2006<br />
Jochen Dreher: Interkulturelle <strong>Arbeit</strong>swelten.<br />
Produktion und Management bei Daimler<br />
Chrysler. Europäische Bibliothek interkultureller<br />
Studien Bd.11. Frankfurt/New York:<br />
Campus Verlag, 2005. 219 Seiten, ISBN 3-<br />
593-37840-X, 24,90 €<br />
„Interkulturelle <strong>Arbeit</strong>swelten“ stellten bereits in<br />
der Bundesrepublik der fünfziger Jahre im Zuge der<br />
Anwerbung von ausländischen <strong>Arbeit</strong>skräften ein<br />
wichtiges Thema dar (16). Seine besondere Relevanz<br />
gewinnt der Titel jedoch angesichts aktueller und<br />
zukünftig vermehrt zu erwartender Internationalisierungsprozesse<br />
– nicht nur in der Automobilindustrie,<br />
auf die hier abgehoben wird, sondern auch in anderen<br />
Wirtschaftsbereichen. Die Frage der Interkulturalität<br />
von <strong>Arbeit</strong>szusammenhängen wird somit perspektivisch<br />
an Bedeutung gewinnen; Jochen Dreher hat<br />
hierzu einen kenntnisreichen Beitrag geleistet.<br />
In einer qualitativ-empirischen, wissenssoziologischen<br />
Analyse wird am Fallbeispiel von Daimler<br />
Chrysler untersucht, worin die Bedeutung des Faktors<br />
Interkulturalität für das Unternehmen besteht und wie<br />
interkulturelle Kommunikationsprozesse typischerweise<br />
verlaufen (20). Geleistet werden soll „eine<br />
Rekonstruktion der ‚Wirklichkeitskonstruktionen’ der<br />
Individuen im Sinne einer verstehenden Soziologie“<br />
(52). Zu diesem Zweck werden anhand von Interview-<br />
und Beobachtungsdaten und mittels der Grounded<br />
Theory zwei durch Interkulturalität geprägte, unterschiedliche<br />
soziale Welten vergleichend analysiert<br />
(209): zum einen über Jahrzehnte hinweg gewachsene<br />
interkulturelle Interaktionszusammenhänge im<br />
Werk in Sindelfi ngen (<strong>Arbeit</strong>swelt I), zum anderen<br />
die interkulturelle <strong>Arbeit</strong>swelt des internationalen<br />
Managements auf der Ebene des Gesamtkonzerns<br />
(<strong>Arbeit</strong>swelt II). Ausgehend von kurzen Ausführungen<br />
zum Stand der Forschung (20-23) und dem<br />
diagnostizierten Mangel an insbesondere qualitativ<br />
77<br />
orientierten sozialwissenschaftlichen Analysen sowohl<br />
für die <strong>Arbeit</strong>swelt I (Migrationsforschung) als<br />
auch die <strong>Arbeit</strong>swelt II (Managementlehre) wird das<br />
theoretische Begriffsgerüst zu Kultur, Interkulturalität<br />
und interkulturelle Kommunikation entwickelt.<br />
Die anschließende empirische Analyse fokussiert<br />
1. die gegenseitige, subjektive Wahrnehmung in<br />
den untersuchten <strong>Arbeit</strong>swelten, d.h. die kulturell<br />
geprägten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster,<br />
und 2. die Interaktionsmuster zwischen Individuen<br />
unterschiedlicher kultureller Herkunft, d.h. das<br />
konkrete Handeln (51). Aus der Analyse nach Gemeinsamkeiten<br />
und Unterschieden der <strong>Arbeit</strong>swelten<br />
resultiert schließlich eine materiale Theorie zu den<br />
Konstruktionsprinzipien von Interkulturalität.<br />
Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung ist,<br />
dass es „trotz über Jahrzehnte hinweg ‚gewachsener’<br />
Interkulturalität bei einem Nebeneinander der<br />
Kulturen bleibt“ und ein Verstehen der Mitarbeiter<br />
unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit sich<br />
nicht durch Vermischung der Kulturen, sondern in<br />
Annäherungsprozessen entwickelt (171). Der Autor<br />
weist nach, dass die interkulturellen Interaktionszusammenhänge<br />
im Betrieb „gerechter als draußen“<br />
empfunden werden – und somit die Wirtschaft über ein<br />
Potential zur Integration von Kulturen verfügt (172);<br />
eine Erkenntnis, die nicht zuletzt einen wichtigen Beitrag<br />
zur „Assimilations-Dissimilations“-Debatte in<br />
der Migrationsforschung darstellt. In der <strong>Arbeit</strong>swelt<br />
des internationalen Managements hingegen zeichnet<br />
sich ein Typus der interkulturellen Kommunikation<br />
ab, der durch Koexistenz und strategische Duldung<br />
der Perspektive des Anderen gekennzeichnet ist.<br />
Maßgeblich ist dabei die ökonomische Relevanz,<br />
ihrerseits kulturübergreifend bzw. kulturinvariant<br />
(174-176). Die Synthese der beiden <strong>Arbeit</strong>swelten<br />
im Hinblick auf die Frage, wie interkulturelle Kommunikation<br />
und Interkulturalität „funktionieren“,<br />
ergibt, dass weder Führungseliten noch <strong>Arbeit</strong>er eine<br />
symbolische Welt erschaffen konnten, die eine Identifi<br />
kation mit dem Gesamtkonzern ermöglicht. Die<br />
im Zuge der Unternehmensfusion propagierte Idee<br />
der „Vermischung der Kulturen“ stellt sich somit als<br />
unrealistisch heraus. Am Ende steht die Erkenntnis,<br />
dass individuelle Akteure als „Träger“ der Kultur<br />
betrachtet werden müssen (184).<br />
Die <strong>Arbeit</strong> bietet eine qualitativ hochwertige und<br />
wissenschaftlich exzellente Analyse des Datenmaterials.<br />
Sie ist dabei nicht nur gut lesbar; auch Vorgehensweise<br />
und Interpretation sind nachvollziehbar,<br />
wozu vor allem die ausführliche methodologischmethodische<br />
Dokumentation im Anhang beiträgt.<br />
Bei allem Lob hätte die <strong>Arbeit</strong> durch mehr Präzision<br />
insbesondere bei der Formulierung der Fragestellung
78<br />
und Zielsetzung (11, 16, 20 usw.) noch an Stringenz<br />
und Klarheit gewinnen können. Allerdings fällt<br />
die Rezeption vergleichbarer empirischer Studien<br />
und damit die eigene Verortung in die bestehende<br />
Forschungslandschaft recht schmal aus. Der Autor<br />
begründet dies mit der „Tatsache“, es gäbe keine<br />
vergleichbaren sozialwissenschaftlichen Analysen<br />
– womit er sicherlich Recht haben dürfte. Der Preis<br />
dafür könnte sein, dass auch diese Studie nur von<br />
einem spezialisierten Fachkreis rezipiert wird, dem<br />
breiter orientierten Fachpublikum jedoch wenig<br />
Anknüpfungspunkte bietet. Würde man statt dessen<br />
auch Studien zu Interkulturalitäten in komplexen<br />
Organisationen stärker sekundäranalytisch verwerten,<br />
würde diese hochinteressante Studie von<br />
<strong>Arbeit</strong>swelten in einem Automobilkonzern zudem<br />
einen Baustein zur Analyse komplexer Prozesse<br />
interkultureller Integration liefern können.<br />
Markus Friederici, Anna Körs (Hamburg)<br />
Howaldt, Jürgen : Neue Formen sozialwissenschaftlicher<br />
Wissensproduktion in der<br />
Wissensgesellschaft. Forschung und Beratung<br />
in betrieblichen und regionalen Innovationsprozessen,<br />
Dortmunder Beiträge zur Sozial-<br />
und Gesellschaftspolitik Band 52. Münster:<br />
LIT-Verlag, 2004, 272 Seiten, ISBN 3-8258-<br />
7744-2, 24,90 €<br />
Ausgangspunkt der Diskussion ist die Beobachtung,<br />
dass sich mit der Wissensgesellschaft eine „neue<br />
Wissensordnung“ herausbildet, die grundlegend<br />
andere Anforderungen an die Sozialwissenschaften<br />
stellt. Zentral dabei sind erhöhte Anforderungen an<br />
die Nützlichkeit und Verwertbarkeit des sozialwissenschaftlichen<br />
Wissens. Eine wesentliche Rolle in<br />
diesem Neuorientierungsprozess spielen neuere sozialwissenschaftlich<br />
orientierte Beratungskonzepte,<br />
die die entstandene Lücke zu schließen versuchen.<br />
Zentrale Botschaft des Buches ist, dass sich in der<br />
Wissensgesellschaft die Kernfunktion der Sozialwissenschaft<br />
im Kontext betrieblicher und regionaler<br />
Innovationsprozesse verändert, denn „Sozialwissenschafterinnen<br />
sind nicht mehr die allein legitimen<br />
Produzentinnen von Wissen. Vielmehr werden sie<br />
zu Experten für die Gestaltung dieser Produktionsprozesse.“<br />
(S. 46; Hervorhebung im Original) Dafür<br />
ist ein neues Verständnis von „Wissenstransfer“<br />
erforderlich, der als gemeinsamer Lernprozess von<br />
Wissenschaft und Praxis konzipiert werden soll,<br />
und in dem angemessene Beratungskonzepte eine<br />
wichtige Rolle spielen.<br />
Rezensionen<br />
In der Einführung des vorliegenden Bandes<br />
werden die neuen Herausforderungen, die mit dem<br />
Aufkommen der Wissensgesellschaft für die Sozialwissenschaften<br />
entstehen, theoretisch eingebettet<br />
und anhand eines praktischen Beispiels diskutiert.<br />
Damit wird der Rahmen für die folgenden Beiträge<br />
geschaffen und werden die zentralen Thesen hergeleitet.<br />
Die weitere Publikation gliedert sich in drei<br />
Teile, die insgesamt zehn Einzelbeiträge umfassen,<br />
wobei den „roten Faden“ durch die Einzelbeiträge der<br />
Begriff des „Lernens“ darstellt. Im ersten Teil liegt<br />
der Schwerpunkt auf veränderten Organisations- und<br />
Produktionskonzepten und der „lernenden Organisation“,<br />
im zweiten Teil stehen Netzwerke und Lernen<br />
im Netzwerk im Zentrum und im dritten Teil wird das<br />
Verhältnis von Beratung und Sozialwissenschaften<br />
als gemeinsamer Lernprozess thematisiert.<br />
Die erwähnten Einzelbeiträge sind alle an der<br />
Schnittstelle zwischen Sozialwissenschaft und Praxis<br />
angesiedelt und beziehen sich auf unterschiedliche<br />
Forschungsprojekte, die an der Schnittstelle zwischen<br />
Beratung und wissenschaftlicher Begleitforschung<br />
angesiedelt sind. Damit ergibt sich ein spannender<br />
Hintergrund, vor dem das Spannungsverhältnis<br />
zwischen beiden Bereichen sowie die Ansatzpunkte<br />
bzw. Voraussetzungen für eine Neugestaltung des<br />
Verhältnisses dieser beiden Bereiche thematisiert<br />
wird. Die einzelnen Beiträge sind zwischen 1993<br />
und 2002 entstanden und setzen sich aus unterschiedlichen<br />
Perspektiven mit betrieblichen und regionalen<br />
Innovationsprozessen auseinander. Die Beiträge<br />
wurden leider mehr oder weniger unverbunden in<br />
den Sammelband aufgenommen. Es wird also weder<br />
auf die Entwicklung eingegangen, die in diesem<br />
Zeitraum stattgefunden hat, noch auf den jeweiligen<br />
Kontext, in dem die Beiträge entstanden sind bzw.<br />
publiziert wurden.<br />
Hintergrundinformationen zu den einzelnen<br />
Beiträgen würden dem/r Leser/in die Orientierung<br />
erleichtern, da sich die Beiträge zum Teil an unterschiedliche<br />
Zielgruppen richten und damit einen je<br />
spezifi schen Charakter aufweisen. Die Palette reicht<br />
dabei von einer stärker wissenschaftlich orientierten<br />
Diskussion bis zu anwendungsorientierten „Leitfäden“<br />
für Praktiker/innen. So enthält z.B. der Beitrag<br />
„Lernende Organisation aus organisationstheoretischer<br />
Perspektive“ eine umfassende Darstellung der<br />
Diskussion zum Thema organisationales Lernen bzw.<br />
Lernende Organisation, die die Entwicklung während<br />
der 1980er Jahren bis zum Ende der 1990er Jahre<br />
berücksichtigt. Der Beitrag „Entwicklungsphasen von<br />
Netzwerken“ richtet sich dagegen eher an (potentielle)<br />
Initiator/innen von Netzwerken und enthält eine Reihe<br />
von praktischen Tipps. Durch diesen Aufbau ergeben
Rezensionen<br />
sich auch einige textliche Wiederholungen, die die<br />
Lesbarkeit erschweren.<br />
Diese unterschiedlichen Zugänge charakterisieren<br />
das Buch, wobei v.a. in der Einleitung eine<br />
Symbiose von Theorie und Praxis gelungen ist, durch<br />
die sowohl Sozialwissenschafter/innen als auch Praktiker/innen<br />
angesprochen werden. Leider werden die<br />
Einzelbeiträge danach nicht in einer ähnlichen Form<br />
zueinander in Beziehung gesetzt und im Hinblick<br />
auf die zugrunde liegende Fragestellung des Buches<br />
diskutiert. Diese Leistung wird von den Leser/innen<br />
selbst gefordert. Es werden in unterschiedlichen<br />
Bereichen sehr spannende Ansatzpunkte für eine<br />
Diskussion aufgezeigt, die allerdings zum Teil an<br />
der Oberfl äche bleiben und nicht zusammengeführt<br />
werden. Damit wird das Buch seinem in der Einleitung<br />
formulierten Anspruch, ein „Angebot zur<br />
Diskussion auf der Suche nach adäquaten Antworten<br />
bei der schwierigen <strong>Arbeit</strong> der Neubestimmung des<br />
Verhältnisses von Sozialwissenschaft und Praxis in<br />
der Wissensgesellschaft“ (S. 10) darzustellen, nur<br />
teilweise gerecht.<br />
Angela Wroblewski (Wien)<br />
Dahme, Heinz-Jürgen, Gertrud Kühnlein,<br />
Norbert Wohlfahrt, unter Mitarbeit von<br />
Monika Burmester: Zwischen Wettbewerb<br />
und Subsidiarität - Wohlfahrtsverbände unterwegs<br />
in die Sozialwirtschaft,(hrsgg.) 2005,<br />
Hans-Böckler-Stiftung. Berlin: edition sigma,<br />
269 Seiten, ISBN 3-89404-992-8, 15,90 €<br />
Mit dem Band „Zwischen Wettbewerb und Subsidiarität<br />
– Wohlfahrtsverbände unterwegs in die<br />
Sozialwirtschaft – legen die Autorinnen und Autoren<br />
Ergebnisse eines von der Hans-Böckler-Stiftung<br />
zwischen 2002 und 2004 geförderten, empirischen<br />
Forschungsprojektes vor. Die explorativ angelegten<br />
empirischen Untersuchungen umfassten mehrere<br />
– schwerpunktmäßig qualitativ angelegte – <strong>Arbeit</strong>sschritte,<br />
anhand derer überprüft und konkretisiert<br />
werden sollte, „wie sich die Organisationspolitik<br />
der Träger und Einrichtungen im sozialen Sektor<br />
durch den neuen organisierten Wettbewerb verändert<br />
(…) und welche Konsequenzen sich daraus für die<br />
<strong>Arbeit</strong>sbedingungen der Beschäftigten in den sozialen<br />
Diensten im weitesten Sinn ergeben.“ (18)<br />
Die Ausführungen und Schlussfolgerungen<br />
basieren:<br />
• auf einer qualitativen Expertenbefragungen aller<br />
Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspfl ege (au-<br />
79<br />
ßer der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden), in die<br />
sowohl Vertreterinnen und Vertreter der Verbandspitzen<br />
als auch der Verwaltungspraxis sowie der<br />
Interessenvertretungen der Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeiter einbezogen waren, um die zentralen<br />
Modernisierungsschritte und die mit ihnen verbundenen<br />
organisations- und personalpolitischen<br />
Veränderungsprozesse erfassen zu können.<br />
• Auf exemplarischen Fallstudien auf kommunaler<br />
Ebene in West- und in Ostdeutschland, die insbesondere<br />
den Stand und die (z.T. differierende)<br />
Praxis des Kontraktmanagements und der daraus<br />
resultierenden Veränderungen hinsichtlich der<br />
Anforderungen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
sowie an die Führungsverantwortlichen<br />
herausarbeiten.<br />
• Auf einer schriftlichen Befragung von 115 Sozialarbeiterinnen<br />
/ Sozialarbeitern sowie Sozialpädagoginnen<br />
/ Sozialpädagogen, die beispielhaft<br />
Wandlungen der Berufsbilder und der <strong>Arbeit</strong>svollzüge<br />
nachgezeichnet.<br />
Ergänzt werden die empirischen Befunde um<br />
eine knappe Einordnung der sozialwirtschaftlichen<br />
und arbeitsmarktpolitischen Bedeutung der Freien<br />
Wohlfahrtspfl ege in Deutschland.<br />
Das Buch ist aus mehreren Gründen nicht<br />
nur für Expertinnen und Experten, sondern gleichermaßen<br />
für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter<br />
sowie politisch interessierte Beschäftigte<br />
des sozialen Bereichs interessant, denn es gelingt<br />
den Autorinnen und Autoren den fortdauernden,<br />
grundlegenden Transformationsprozess in einem<br />
zentralen Bereich des deutschen Sozialsektors – der<br />
Freien Wohlfahrtspfl ege - in seinen vielfältigen und<br />
widersprüchlichen Facetten transparent zu machen<br />
und – mit der notwendigen Abgewogenheit – auch<br />
politisch zu deuten und zu bewerten. Dabei beleuchten<br />
sie sowohl die Veränderungen in den Kooperationsbeziehungen<br />
zwischen staatlichen, v.a. kommunalen<br />
Institutionen und Wohlfahrtsorganisationen<br />
(Stichwort: Kontraktmanagement) und die dadurch<br />
ausgelösten Organisationsentwicklungsprozesse in<br />
den Verbänden und ihren Einrichtungen (Stichwort:<br />
soziale Dienstleistungsunternehmen) als auch die<br />
durch sie induzierten Wandlungen im Selbst- und<br />
Werteverständnis der Träger Freier Wohlfahrtspfl ege<br />
(Stichwort: Lobbying und Verbetrieblichung) einschließlich<br />
der Auswirkungen auf die <strong>Arbeit</strong>s- und<br />
Bezahlungsbedingungen ihrer Beschäftigten (Stichwort.<br />
Aufl ösung tarifl icher Standards).<br />
Auch nicht mit den Strukturen des Wohlfahrtssektors<br />
im Detail vertraute Leserinnen und Leser<br />
erhalten einen anschaulichen Eindruck über Modernisierungsstrategien<br />
in einem Bereich, der bislang in
80<br />
der gesellschaftlichen Wahrnehmung wie auch im<br />
eigenen Selbstverständnis jenseits von Markt und<br />
Wettbewerb agieren konnte. Nach Auffassung der<br />
Autoren handelt es sich hierbei um einen politisch<br />
initiierten, weiteren Teil des Umbaues des Sozialstaates,<br />
der ganz wesentlich auf dem Rücken der<br />
Beschäftigten wie des bedürftigen Klientels erfolgt<br />
und der seit Jahren beobachtbaren Haushaltskonsolidierung<br />
geschuldet ist.<br />
Besonders spannend ist die Analyse des Spagats,<br />
den die Verbände zwischen ihrer Wertorientierung<br />
(Interessenvertretung für die Bedürftigen) und der,<br />
mit der (erzwungenen) Wirtschaftlichkeitsausrichtung<br />
verbundenen, Kostendeckelung vollziehen.<br />
Die Autoren beobachten eine „Strategie der Multifunktionalität“<br />
und die Gliederung der verbandlichen<br />
Bereiche in marktfähige und nicht-marktfähige<br />
Leistungen. Die Verselbständigung beider Bereiche<br />
gegeneinander und die zunehmende Dominanz der<br />
„geschäftsfähigen“ gegenüber den „subventionierten<br />
<strong>Arbeit</strong>sbereichen“ (103) führt, ihrer Meinung nach, in<br />
der Konsequenz zu einer „Aufl ösung des wohlfahrtsverbandlichen<br />
Modells der Organisation sozialer<br />
Dienste, ohne dass dies zugleich zur Aufl ösung der<br />
Wohlfahrtsverbände führt.“ (103)<br />
Ob die Verbände tatsächlich längerfristig diese Zerreißprobe<br />
überstehen, ist z.Zt. noch nicht absehbar<br />
und wäre eine Untersuchung wert.<br />
(Anna Stefaniak, Dortmund)<br />
Bieber, Daniel, Heike Jacobsen, Stefan Naevecke,<br />
Christian Schick, Franz Speer, (Hg.): Innovation<br />
der Kooperation - Auf dem Weg zu<br />
einem neuen Verständnis zwischen Industrie<br />
und Handel?. Berlin: edition sigma, 2004, 325<br />
Seiten, ISBN 3-89404-514-0, 19,90 €<br />
‚Innovation der Kooperation’ ist Ergebnis des<br />
Verbundprojektes ‚VertiKo’ (‚Vertikale Kooperation<br />
zwischen Industrie und Handel’) zwischen<br />
Forschungsinstitutionen und privatwirtschaftlichen<br />
Unternehmen, das in den Jahren 2000 bis 2003<br />
im Rahmenkonzept ‚Innovative <strong>Arbeit</strong>sgestaltung<br />
– Zukunft der <strong>Arbeit</strong>’ des Bundesministeriums für<br />
Bildung und Forschung (BMBF) durchgeführt wurde<br />
(vgl. www.vdivde-it.de/vertiko). Ausgangspunkte<br />
des Projektes waren die Fragestellungen, ob und wie<br />
sich durch eine Verbesserung der Zusammenarbeit<br />
im Absatzkanal zwischen Industrie und Handel<br />
Rationalisierungspotentiale und Möglichkeiten<br />
menschengerechter <strong>Arbeit</strong>sgestaltung erschließen<br />
lassen. Ihre Relevanz haben diese Fragestellungen<br />
Rezensionen<br />
insbesondere vor dem Hintergrund, das die Beziehungen<br />
zwischen Industrie und Handel traditionell<br />
durch ein Verhältnis antagonistischer Kooperation<br />
geprägt sind: Es bestehen unterschiedliche und<br />
auch widersprüchliche Ziele bei der Preisgestaltung,<br />
der Mengenplanung, der Regalsortierung und<br />
anderem, die in der unternehmensübergreifenden<br />
Kooperation nicht aufeinander abgestimmt werden<br />
(können), sondern in der Regel die Beziehungen<br />
belasten. Erfolgreiche Kooperation setzt demnach<br />
die Überwindung dieser Antagonismen voraus. Die<br />
Zielsetzungen des Verbundprojektes bestanden darin,<br />
den Möglichkeiten und Grenzen einer Kooperationsverbesserung<br />
nachzugehen und Lerneffekte in den<br />
beteiligten Industrie- und Handelsunternehmen aus<br />
dem Konsumgüterbereich anzustoßen.<br />
Mit ‚Innovation der Kooperation’ haben die<br />
Verbundpartner nunmehr ihre Ergebnisse vorgelegt.<br />
Die AutorInnen der Beiträge stammen aus dem akademischen<br />
oder aus dem privatwirtschaftlichen Bereich.<br />
Die zentralen Fragen, wie sich die gegensätzlichen<br />
Beziehungen zwischen Konsumgüterherstellern und<br />
dem Handel verändert haben und ob hier tatsächlich<br />
eine Innovation der Kooperation stattgefunden hat,<br />
werden deshalb sowohl aus praxisorientierter als<br />
auch aus akademischer Perspektive zu beantworten<br />
gesucht. Im Zentrum stehen so genannte ‚Effi cient<br />
Consumer Response’ (ECR)-Kooperationen, also<br />
vertikale Unternehmenskooperationen, in denen<br />
kein reines Schnittstellenmanagement, sondern<br />
weitreichende unternehmens- und wertschöpfungsstufend-übergreifende<br />
Problemlösungen ausgearbeitet<br />
und umgesetzt werden (sollen). Als vorrangiges<br />
Referenzbeispiel nehmen die AutorInnen Bezug auf<br />
die im Projekt untersuchte Kooperation zwischen<br />
Henkel und dm-Kette.<br />
Daniel Bieber und Beatrix Rumpel diskutieren die<br />
ökonomischen Rahmenbedingungen. Ihre Analyse<br />
spricht dafür, dass die Beziehung zwischen Industrie<br />
und Handel auch in Zukunft eher als antagonistische<br />
denn als vertrauensbasierte Kooperation gefasst<br />
werden kann, auch wenn sich die Machtverhältnisse<br />
durch Konzentrationsprozesse auf der Handelsseite<br />
verschoben haben. Gerd Möll arbeitet in seinem<br />
Essay Muster vertikaler Kooperation heraus. Auf der<br />
Basis empirischer Erhebungen geht es ihm um die<br />
Klärung betriebsspezifi scher Kontextbedingungen,<br />
„die die Ausprägung unternehmensübergreifender<br />
Kooperationsbeziehungen maßgeblich beeinfl ussen“<br />
(52). Die untersuchten ‚ECR’-Kooperationen zeigen,<br />
dass bei den Akteuren unterschiedliche Erwartungen<br />
und Orientierungen vorhanden sind. Maßgeblich<br />
sind hier unterschiedlicher Umgang mit Kooperationsrisiken<br />
einerseits sowie strukturbewahrende bzw.<br />
-verändernde Entwicklungsstrategien andererseits.
Rezensionen<br />
Bieber und Rumpel beleuchten anschließend das<br />
Wechselspiel zwischen intra- und interorganisationalen<br />
Faktoren und dessen Relevanz für den Erfolg<br />
vertikaler Kooperationen. Sie führen aus, dass der<br />
Erfolg auch davon abhängt, „inwieweit es gelingt,<br />
den Schritt von traditionellen zu neuen Kooperationsformen<br />
zu gehen“ (89). Regina Buhr nutzt einen<br />
organisationskulturellen Ansatz, um ein Bild über<br />
die Kooperationsbeziehung der beiden genannten<br />
Unternehmen zu geben. Es wird deutlich, dass kulturelle<br />
Nähe in Form ähnlicher Organisationskulturen<br />
vertrauensförderlich wirkt. Allerdings gefährden<br />
Verschlankungs- und Personalabbaustrategien<br />
den erzielten Kooperationserfolg. Möll und Heike<br />
Jacobsen thematisieren Wissensarbeit als Medium<br />
vertikaler Kooperation. Von Interesse ist, ob und<br />
wie unternehmensübergreifendes Warengruppenmanagement,<br />
das – von Industrieseite betrachtet<br />
– explizit Bezug auf das Kundenwissen des Handels<br />
nimmt, die Kooperation zwischen Industrie und<br />
Handel verändert. Es wird sehr anschaulich auf der<br />
Basis von Interviewpassagen gezeigt, dass sich trotz<br />
des gemeinsamen Bezugs auf Kundendaten keine<br />
neuartige vertrauensbasierte Kooperation entwickelt<br />
– ein Ergebnis, das konträr zu den Ausführungen<br />
von Christian Schick (247ff.) steht. Vielmehr treten<br />
neben die zuvor vorherrschende Austauschlogik über<br />
Preise und Konditionen wissensbasierte Formen der<br />
Handlungsabstimmung. Reinhard Herges beschreibt<br />
die Kooperation zwischen den beiden untersuchten<br />
Unternehmen als Beispiel eines erfolgreichen Change<br />
Managements. Als zentrale Erkenntnis und Herausforderung<br />
vernetzter Wertschöpfungspartnerschaften<br />
sieht er, „den bislang nur in die Kunden-Lieferanten-<br />
Beziehung eingeschriebenen Dienstleistungsgedanken<br />
auch auf die internen Prozesse zu übertragen“<br />
(226). Dafür bedarf es gar nicht unbedingt neuester<br />
Technik, sondern des Engagements der Unternehmen<br />
und deren MitarbeiterInnen, transparenter Prozesse,<br />
kundenorientierter Kooperationskulturen und nicht<br />
zuletzt unternehmensübergreifender Qualifi zierungsmaßnahmen<br />
für die beteiligten Akteure. (265). Stefan<br />
Naevecke thematisiert den Beitrag von Kompetenzentwicklung,<br />
Karriere- und Personalplanung für den<br />
Verlauf vertikaler Kooperation. So führt der Wechsel<br />
zu neuen Formen der <strong>Arbeit</strong>sorganisation in den<br />
beteiligten Betrieben sowohl beim Leitungspersonal<br />
als auch bei den Beschäftigten auf der operativen<br />
Ebene erst einmal zu Verunsicherung, da neue<br />
Formen unternehmensübergreifender Kooperation<br />
sowohl auf horizontaler wie auf vertikaler Ebene die<br />
Anforderungen an Kommunikation anwachsen lassen.<br />
Funktionsintegration und Aufgabenerweiterung<br />
beinhalten zudem „neben einer arbeitsinhaltlichen<br />
Anreicherung ... eben auch das, was die Begriffe<br />
81<br />
bereits anzeigen: ein mehr an Leistungsabforderung“<br />
(318). Auf der Seite der Beschäftigten kann dies zur<br />
Spaltung der Belegschaft in Innovationsgewinner<br />
und -verlierer führen.<br />
Alles in allem geben die meisten Beiträge einen<br />
sehr variationsreichen, theoretisch refl ektierten sowie<br />
empirisch illustrativen Einblick in die Problematik<br />
der Kooperationsinnovation. Auch die Zusammensetzung<br />
der AutorInnenschaft überzeugt: Die bunte<br />
Mischung unternehmensinterner wie -externer BeobachterInnen<br />
ermöglicht eine multiperspektivische<br />
Bearbeitung der Themenstellung. Und die verdeutlicht,<br />
dass noch ein langer Weg zu beschreiten ist,<br />
bevor die antagonistische Kooperation von Industrie<br />
und Handel in eine vertrauensbasierte Kooperation<br />
umgewandelt werden kann. SozialwissenschaftlerInnen<br />
oder Akteure aus Unternehmen, die diesen<br />
Weg analytisch verstehen oder praxisbezogene<br />
Anregungen bekommen möchten, kann dieser Band<br />
deshalb nachdrücklich empfohlen werden.<br />
Michael Jonas (Wien)<br />
Gertraude Krell, Richard Weiskopf: Die<br />
Anordnung von Leidenschaften.Wien: Passagen<br />
Verlag, 2006, 216 Seiten, ISBN-10:<br />
3-85165-586-9, ISBN-13: 978-3-85165-586-<br />
5, 24,90 €<br />
Die AutorInnen haben ein sehr schönes, lesenswertes<br />
und durch die bildhafte Sprache gut lesbares Buch<br />
geschrieben, das wohltuend kritisch mit den wuchernden<br />
Emotions- und Leidenschaftsdiskursen<br />
in den Führungs-, Organisations- und <strong>Arbeit</strong>swissenschaften<br />
umgeht, ohne ihnen einen weiteren<br />
hinzuzufügen.<br />
Der Titel „Die Anordnung von Leidenschaften“<br />
verbindet zwei höchst gegensätzliche Begriffe:<br />
„Anordnung“, doppeldeutig als Befehl und als Ordnungsmuster<br />
zu verstehen und rational konnotiert, und<br />
„Leidenschaften“, die üblicherweise als emotional,<br />
unkalkulierbar oder gar gefährlich gelten. Es soll also<br />
im Buch nicht um ein Ergründen der Leidenschaften<br />
gehen, sondern um die auf Leidenschaften gerichteten<br />
Prozesse, Verfahren, Diskurse und Praktiken. Nicht<br />
umsonst erinnert der Titel an Michel Foucaults poststrukturalistische<br />
Perspektive, die den AutorInnen als<br />
„Werkzeugkiste“ für ihre theoretischen Begriffl ichkeiten<br />
und das methodische Vorgehen dient.<br />
Nach einem einführenden Kapitel geht die „Reise“<br />
im nächsten Kapitel zur „Ordnung der Gefühle“:<br />
hier werden Theorien, Taxonomien und Defi nitionen<br />
von Emotion und Leidenschaft als Bemühungen um
82<br />
Ordnungen im Dschungel der Gefühle vorgestellt.<br />
Man fi ndet Beschreibungen von zum Teil kuriosen<br />
Versuchsanordnungen, mit deren Hilfe Emotionen<br />
und speziell Leidenschaften eingeteilt werden.<br />
Historisch folgte auf die Abwertung der Gefühle<br />
gegenüber der Vernunft die Gegenbewegung, die<br />
Aufwertung der Emotionen im Verbund mit einer<br />
Rationalitätskritik, die zu Konzepten wie dem charismatischen<br />
Führungsstil beitrug. Freilich ist diese<br />
Form der Leidenschaft bereits domestiziert, was<br />
im dritten großen Kapitel des Buches ausführlicher<br />
dargestellt wird. Zuvor werden Verbindungslinien<br />
mit dem Geschlechterdiskurs gezeichnet.<br />
Im dritten Kapitel des Buches werden die<br />
bereits angelegten Pfade ausgebaut, indem vier<br />
der Wasser-Symbolik entnommene Strategien der<br />
„Anordnungen“ von Leidenschaften identifi ziert<br />
werden: „Eindämmen und Trockenlegen“, „Kanalisieren“,<br />
„Reinigen und Richten“ sowie „Überfl uten<br />
und Mobilisieren“. Strategien der Eindämmung<br />
zielen darauf ab, negative Leidenschaften zu bändigen,<br />
damit sie nicht „überschwappen“, z.B. die<br />
Gewinnsucht des Kapitalisten oder die Fleischeslust<br />
der Lohnabhängigen, wofür die <strong>Arbeit</strong> ein probates<br />
Gegenmittel darstellt.<br />
Die Strategie der Kanalisierung, also der Lenkung<br />
von Leidenschaften in geregelte Bahnen, beginnt<br />
mit dem Gedanken, dass extrinsische Motivation auch<br />
ein Mittel zur Zügelung zu starker Emotionalität ist.<br />
Die Einführung von Anreiz- und Kontrollsystemen in<br />
den Wissenschaftsbetrieb wird von den AutorInnen<br />
kritisch als Verfahren zur Abtötung von leidenschaftlichem<br />
Forschen betrachtet, eine m.E. fragwürdige<br />
Ansicht. Denn Hochschulen mit modernen Evaluierungssystemen<br />
weisen nicht automatisch weniger<br />
kreative wissenschaftliche Leistungen vor als jene<br />
ohne diese Systeme.<br />
Die dritte Strategie, „Reinigen und Richten“, will<br />
schädliche Emotionen in nützliche verwandeln, was<br />
u.a. am bekannten Beispiel von Daniel Golemans<br />
„emotionaler Intelligenz“ gezeigt wird. Der Jesuitenorden<br />
dient als Mustervorlage für das Organisieren<br />
von Leidenschaften, denn er hat keineswegs seine<br />
Mitglieder unterdrückt, sondern zum freiwilligen<br />
Mitmachen gebracht, was auch das Ziel heutiger<br />
Organisationen ist.<br />
Die letzte Strategie, „Überfl uten und Mobilisieren“,<br />
nimmt sich die Werke von Tom Peters<br />
und KoautorInnen vor. Interessant ist im Lichte der<br />
vorherigen Kapitel, dass bei Peters und Co. offenbar<br />
keinerlei Angst mehr vor einer überbordenden<br />
und destruktiven Entfesselung der Leidenschaften<br />
von Führungskräften und Mitarbeitern besteht. Im<br />
Gegenteil, Leidenschaften, also das eigentlich Un-<br />
Rezensionen<br />
berechenbare - werden befohlen – eben angeordnet:<br />
ein Widerspruch in sich.<br />
Kleinlich könnte man zwar anmerken, dass die<br />
geschilderten Strategien nicht überschneidungsfrei<br />
sind, da im Grunde alle Ordnungsversuche „Kanalisierungen“<br />
darstellen, und dass Sigmund Freuds<br />
Gedankengut, beispielsweise zur Bedeutung einer<br />
„Gefühlsbindung“ der <strong>Arbeit</strong>enden und zur libidinösen<br />
Besetzung der <strong>Arbeit</strong>saufgabe, ein wenig<br />
vernachlässigt wird. Jedoch bietet dieses Buch<br />
durch seinen Rückgriff auf historische Wurzeln und<br />
durch das Zusammenführen verschiedener Ansätze<br />
und Systematiken aus mehreren Disziplinen eine<br />
spannende Analyse unseres wissenschaftlichen und<br />
praktischen Umgangs mit den Leidenschaften, deren<br />
vielfältige Zurichtungen uns zum Teil gar nicht mehr<br />
bewusst sind.<br />
Daniela Rastetter (Hamburg)<br />
Kahlert, Heike, Claudia Kajatin, (Hg): <strong>Arbeit</strong><br />
und Vernetzung im Informationszeitalter.<br />
Wie neue Technologien die Geschlechterverhältnisse<br />
verändern. (Reihe „Politik der<br />
Geschlechterverhältnisse“, Bd. 26). Franfurt/<br />
New York: Campus Verlag 2004. 319 Seiten,<br />
ISBN 3-593-37609-1, 34,90 €<br />
Es ist ein keineswegs auf die Frauen- und Geschlechterforschung<br />
beschränktes Phänomen im<br />
Wissenschaftsfeld, dass an Prozesse sozialen oder<br />
technisch/technologischen Wandels in modernen Gesellschaften<br />
mehr oder minder theoretisch begründete<br />
Hoffnungen oder Schlussfolgerungen auf (grundlegende)<br />
Veränderungen sozialer Verhältnisse generell<br />
und der Geschlechterverhältnisse im besonderen<br />
geknüpft werden. Auch der von Kahlert/Kajatin vorgelegte<br />
Band, in dem Beiträge einer 2003 gehaltenen<br />
Konferenz zum Thema „gender@future: Geschlechterverhältnisse<br />
im Informationszeitalter“ publiziert<br />
werden, reproduziert dieses Denkmuster. Während<br />
allerdings im Untertitel und im Einleitungsbeitrag der<br />
Herausgeberinnen (S. 11) mit der Formulierung: „wie<br />
neue Technologien die (!) Geschlechterverhältnisse<br />
verändern“, der Schluss nahe gelegt wird, dass sie<br />
dies tun, sind die einzelnen Autoren und Autorinnen<br />
zurückhaltender (oder auch vager) bzw. betonen die<br />
Ambivalenz des beobachteten und analysierten technisch<br />
induzierten Wandels. Zentrierender Fokus aller<br />
Beiträge ist die Frage, „in welchem Zusammenhang<br />
der in theoretisch-konzeptionellen und in empirischen<br />
Studien für das ausgehende 20. Jahrhundert belegte<br />
(weltweite) Wandel in den Geschlechterverhältnissen
Rezensionen<br />
mit dem vermeintlichen Wandel zur ‚postindustriellen<br />
Gesellschaft’ und zum ‚Informationszeitalter’ steht“<br />
(S. 10). Entsprechend gliedert sich der Band in drei<br />
große thematische Felder.<br />
Im ersten Teil „wird die Rede über den epochalen<br />
Wandel vom Industrie- zum Informationszeitalter aus<br />
gesellschaftstheoretischer bzw. techniksoziologischer<br />
Sicht einer kritischen Überprüfung unterzogen“<br />
(S. 11). Manuel Castells dreibändiges Werk zum<br />
Informationszeitalter zum Ausgangspunkt nehmend,<br />
diskutieren Heike Kahlert und Michael Meuser<br />
dessen These einer Entgrenzung der Geschlechterverhältnisse<br />
im globalisierten, informationellen<br />
Kapitalismus bzw. fragen, welche Männlichkeitskonstruktionen<br />
unter diesen Bedingungen ‚veralten’<br />
und welche neuen hegemonial zu werden beginnen.<br />
Claudia Kajatin fragt nach neuen Möglichkeiten, die<br />
industriegesellschaftliche Verknüpfung von Technik<br />
und Männlichkeit aufzubrechen.<br />
Im zweiten Teil sind Beiträge versammelt, die<br />
für bestimmte Gruppen (Frauen in der ITK-Industrie;<br />
Freelancer in den Neuen Medien, TelearbeiterInnen,<br />
hochqualifi zierte DoppelverdienerInnen<br />
und Eltern) (geschlechtergebundene bzw. -neutrale)<br />
Auswirkungen herausarbeiten, die die beobachtbaren<br />
Entgrenzungen in der Erwerbsarbeit und die<br />
Herausbildung eines neuen Typs von <strong>Arbeit</strong>skraft<br />
hinsichtlich neuer Chancen oder auch Begrenzungen<br />
für die Positionierung auf dem <strong>Arbeit</strong>smarkt und<br />
für die Arrangements von ‚<strong>Arbeit</strong> und Leben’, von<br />
Erwerbsarbeit und alltäglicher Lebensführung haben.<br />
Die AutorInnen dieses Teils - Maria Funder/ Steffen<br />
Dörhöfer, Anette Henninger, Gabriele Winker/<br />
Tanja Carstensen und Anneli Rüling – verbinden<br />
dabei allgemeine soziologische Beschreibungen<br />
und Konzeptualisierungen des Wandels mit eigenen<br />
empirischen Untersuchungen. Ob letztere<br />
allerdings eine ausreichende Grundlage für die<br />
jeweils gezogenen Schlussfolgerungen hinsichtlich<br />
veränderter/reproduzierter Geschlechterverhältnisse<br />
bzw. –arrangements darstellen, ist die Frage. Auf sie<br />
wird zurück zu kommen sein.<br />
Der dritte Teil schließlich versammelt Beiträge<br />
von Cilja Harders, Gabriele Winker/ Ricarda<br />
Düeke/ Kerstin Sude, Tanja Paulitz, Christina<br />
Schachtner/Bettina Duval sowie Christiane Funken,<br />
die sich aus verschiedenen Perspektiven mit<br />
(neuen) Möglichkeiten auseinandersetzen, die das<br />
Internet für politische Interventionen (von Frauen),<br />
für frauenpolitische Netzwerke und ihnen inhärente<br />
Grenzkonstruktionen, für die Besetzung des virtuellen<br />
Raumes durch Frauen und Mädchen sowie für (vergeschlechtlichte)<br />
Identitätskonstruktionen bietet.<br />
Der Band vermittelt einen guten Einblick in<br />
gewichtige Dimensionen von sozialen Verände-<br />
83<br />
rungen, die sich in der ‚postindustriellen Gesellschaft’<br />
vermittelt bzw. induziert durch die neuen<br />
Informations- und Kommunikationstechnologien<br />
abzeichnen und bisherige, kollektiv wie individuell<br />
legitimierte Geschlechterordnungen und praktizierte<br />
Geschlechterarrangements beeinfl ussen und verändern.<br />
Alle Beiträge sind gut lesbar geschrieben, und<br />
ganz gewiss ist es eine konzeptionelle Stärke des<br />
Bandes, dass Aussagen über mögliche Veränderungen<br />
der modernen Geschlechterverhältnisse auf empirisch<br />
fundierte Studien gegründet werden. Allerdings gibt<br />
es zu denken, dass in fast allen Beiträgen die theoretische<br />
Rahmung für die Interpretation empirischer<br />
Ergebnisse unterkomplex ist, die begriffl iche Schärfe<br />
– gerade auch in der Anwendung von in der Frauen-<br />
und Geschlechterforschung entwickelten Begriffen<br />
– zu wünschen übrig lässt. Da wird unbedenklich<br />
von Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen<br />
gesprochen, wo es bei genauem Hinsehen um Veränderungen<br />
in Geschlechterarrangements oder geschlechtsgebundenen<br />
<strong>Arbeit</strong>steilungen in konkreten<br />
Bereichen geht, die zudem so gut wie gar nicht zu<br />
grundlegenden Produktions- und Austauschprozessen<br />
moderner Gesellschaften generell und in ihrer ‚postindustriellen’<br />
Gestalt und Formierung im besonderen<br />
in Beziehung gesetzt werden. Da werden – exemplarisch<br />
etwa im Beitrag von Heike Kahlert – Manuel<br />
Castells Vermutungen zu veränderten Geschlechterverhältnissen<br />
im Informationszeitalter ausführlich<br />
dargestellt und offensichtlich so ernst genommen,<br />
dass in der intendierten ‚gesellschaftstheoretischen’<br />
Auseinandersetzung mit Castells längst gewonnene<br />
Einsichten der Frauen- und Geschlechterforschung,<br />
auf welch komplexe Weise das Geschlechterverhältnis<br />
mit Produktions- und Reproduktionsprozessen<br />
moderner Gesellschaften strukturell verknüpft ist,<br />
vergessen scheinen. Nicht einmal ansatzweise wird<br />
z.B. die Frage gestellt, weshalb denn ausgerechnet<br />
die Hierarchisierung qua Geschlecht an Bedeutung<br />
verlieren soll, wenn „quer zur Demokratisierung der<br />
Geschlechterdifferenzen“ (was immer das heißen<br />
mag) (S. 65) im globalisierten informationellen<br />
Kapitalismus soziale Ungleichheiten entstehen, die<br />
kaum weniger krass, in ihren Gefährdungen sozialer<br />
Kohäsion eher noch explosiver sein dürften, als in<br />
der Entstehungsphase der industriegesellschaftlichen<br />
Moderne. Das von Kahlert in ihrem Beitrag beklagte<br />
Dilemma, dass Frauen- und Geschlechterforschung<br />
ihr „gesellschaftskritisches Potenzial“ (S. 35) aktuell<br />
nicht ausschöpft, sich auf „kleine Erzählungen vom<br />
doing gender“ (S. 36) beschränkt (und zugleich von<br />
‚großen Erzählungen’ im Stile Castells beeindruckt<br />
ist) ist leider auch an diesem Band ablesbar.<br />
Irene Dölling (Potsdam)
Hinweise für Autorinnen und Autoren<br />
In der <strong>Zeitschrift</strong> ARBEIT werden sowohl theoretische als auch empirische Beiträge aus der <strong>Arbeit</strong>sforschung<br />
veröffentlicht, außerdem Methodendiskussionen, Erfahrungsberichte aus der Praxis, Quintessenzender<br />
Forschung, <strong>Tagungsbericht</strong>e und Buchbesprechungen. Die Annahme von Manuskripten setzt<br />
voraus, dass diese nicht gleichzeitig bei anderen <strong>Zeitschrift</strong>en eingereicht oder zur Veröffentlichung<br />
vorgesehen sind. Bitte fügen Sie eine Erklärung bzw. Bestätigung bei, dass der Beitrag original und<br />
exklusiv zur Veröffentlichung in der ARBEIT angeboten wird.<br />
Kürzungen oder Textänderungen werden in der Regel nach Rücksprache mit den Autorinnen und<br />
Autoren vorgenommen. Bitte befolgen Sie daher unbedingt die Hinweise zur Gestaltung der Manuskripte:<br />
· ARBEIT ist eine interdisziplinär konzipierte <strong>Zeitschrift</strong>. Bitte achten Sie auf die Verständlichkeit<br />
für ein breit gefächertes Fachpublikum.<br />
· Bitte fassen Sie das Manuskript nach der neuen Rechtschreibung ab.<br />
· Bitte differenzieren Sie nach Geschlechtern bzw. drücken Sie sich geschlechtsneutral aus.<br />
· Bitte halten Sie die Umfangbegrenzungen unbedingt ein. Die Aufsätze dürfen, einschließlich Anmerkungen,<br />
Abbildungen und Literaturverzeichnis, höchstens 20 Manuskriptseiten oder 40.000<br />
Zeichen (incl. Leerzeichen) umfassen.<br />
· Dem Manuskript ist ein Abstract in deutscher und englischer Sprache beizufügen. Sie dürfen einen<br />
Umfang von etwa 12 Zeilen bei 60 Anschlägen pro Zeile nicht überschreiten.<br />
· Die Hauptbeiträge sind zu verschlagworten. Drei bis fünf Schlagwörter in deutscher und englischer<br />
Sprache sind dem Manuskript beizulegen. Bitte orientieren Sie sich hierbei an der ·Liste der Redaktion.<br />
· In der Rubrik Kurzbeiträge werden Praxis- und Forschungsberichte, Kommentare sowie pointierte<br />
Stellungnahmen veröffentlicht. Kurzbeiträge dürfen nicht mehr als 10 Manuskriptseiten oder 20.000<br />
Zeichen umfassen.<br />
· <strong>Tagungsbericht</strong>e sollen einen Umfang von 6.500 Zeichen nicht überschreiten. Die wichtigsten<br />
Informationen zur Tagung (Teilnehmerkreis, Ort, Zeit etc.) sowie eine Bewertung durch den/die<br />
Berichterstatter/-in müssen enthalten sein.<br />
· Beiträge/Berichte, die die vorgegebene Zeichen-/Seitenzahl wesentlich überschreiten, werden<br />
umgehend an die AutorInnen zur Überarbeitung zurückgeschickt.<br />
· Bitte senden Sie Ihr Manuskript in einer Ausfertigung in Papierform mit einer textidentischen<br />
CDROM oder als Attachment per e-Mail an die Redaktion. Bitte verwenden Sie IBM-kompatible<br />
Versionen von Textverarbeitungsprogrammen.<br />
· Legen Sie Ihrer Sendung bitte ein Deckblatt bei, das Ihren Namen und Titel, Ihre Instituts- oder<br />
Firmenzugehörigkeit und Ihre vollständigen Kontaktdaten enthält.<br />
· Hervorhebungen im Text, die kursiv gesetzt werden sollen, sind im Manuskript zu unterstreichen.<br />
Bitte fügen Sie Tabellen und Schaubilder auf gesonderten (mit Ihrem Namen gekennzeichneten)<br />
Seiten bei und markieren Sie die Einschubstelle im Text.<br />
· Die Vornamen der AutorInnen sind im Literaturverzeichnis auszuschreiben.<br />
· Benutzen Sie für Zitationen und Literaturverzeichnis folgende Zitierweise:(Abweichungen sind<br />
nur in Absprache mit der Redaktion möglich)<br />
Beispiele für Literaturverweise im Text<br />
(Goldfrau 1999, 27); (Müller/Schmitz/Meier 1968, 9 f.); (Meier 2002; Litzmann 2001, 7)<br />
Beispiele für das Literaturverzeichnis<br />
Goldfrau, Maria (2000): Denken statt Zählen; in: Soziale Stadt 17, 1, 27-39<br />
Kampffmeyer-Liebetreu, Jutta (Hg.) (1993a): Frauen - das starke Geschlecht. Frankfurt/New York/Dehli, 2. Aufl age<br />
Kampffmeyer-Liebetreu, Jutta (1993b): Körperliche Kraft von Frauen; in: Elke Weiß, Stefan Schwarz (Hg.): Schwerkraft. Überwindbar. Berlin, 11-16<br />
Litzmann, Fritz u. a. (1999): Verein im Wandel? Sozialverträgliche Technologiegestaltung in deutschen Vereinen. Mensch und Technik, Sozialverträgliche<br />
Technikgestaltung, Werkstattbericht 99, Düsseldorf<br />
Müller, Gernot, Fritz Schmitz, Otto Meier (1978): Studentenrevolution in soziologischer Sicht; in: Karl Valentin (Hg.): Prolegomena zum Soziologentag.<br />
Darmstadt/Neuwied, 9-17<br />
Bitte senden Sie Ihre Beiträge an:<br />
Redaktion "ARBEIT", Sozialforschungsstelle Dortmund,<br />
Evinger Platz 17, D-44339 Dortmund; e-mail: goertz@sfs-dortmund.de