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Inhaltsverzeichnis Abhandlungen Tagungsbericht ... - Zeitschrift Arbeit

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<strong>Inhaltsverzeichnis</strong><br />

Editorial 3<br />

<strong>Abhandlungen</strong><br />

Daniel Lois<br />

Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung<br />

älterer Erwerbstätiger 5<br />

Carsten Wirth<br />

Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung:<br />

Eine Organisationsform der Zukunft? 23<br />

Sven Hauff<br />

Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion<br />

psychologischer Verträge aus Sicht der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen 36<br />

Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />

Learning for Production. E-Learning in der<br />

betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung 54<br />

Abstracts (English) 69<br />

<strong>Tagungsbericht</strong><br />

"interkulturell/ international: arbeiten, führen + kooperieren<br />

(Pascal Dey, St. Gallen)) 71<br />

Rezensionen<br />

Michael Mohe<br />

Klientenprofessionalisierung - Strategien und Perspektiven<br />

eines professionellen Umgangs mit Unternehmensberatung<br />

Michael Mohe (Hg.)<br />

Innovative Beratungskonzepte - Ansätze, Fallbeispiele,<br />

Refl exionen


Karin Martens-Schmid (Hg.)<br />

Coaching als Beratungssystem - Grundlagen, Konzepte,<br />

Methoden<br />

David Seidel, Martin Linder, Werner Kirsch (Hg.)<br />

Grenzen der Strategieberatung - Eine Gegenüberstellung<br />

der Perspektiven von Wissenschaft, Beratung und Klienten<br />

Jörg Sydow, Stephan Manning (Hg.)<br />

Netzwerke beraten<br />

(besprochen von Martin Birke, Dortmund) 73<br />

Jochen Dreher<br />

Interkulturelle <strong>Arbeit</strong>swelten. Produktion und<br />

Management bei Daimler Chrysler<br />

(besprochen von Markus Friederici und Anna Körs, Hamburg) 77<br />

Jürgen Howaldt<br />

Neue Formen sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion<br />

in der Wissensgesellschaft. Forschung und Beratung in<br />

betrieblichen Innovationsprozessen<br />

(besprochen von Angela Wroblewski, Wien) 78<br />

Heinz-Jürgen Dahme, Gertrud Kühnlein, Norbert Wohlfahrt<br />

Zwischen Wettbewerb und Subsidiarität - Wohlfahrtsverbände<br />

unterwegs in die Sozialwirtschaft<br />

(besprochen von Anna Stefaniak, Dortmund) 79<br />

Daniel Bieber, Heike Jacobsen, Stefan Naevecke, Christian Schick,<br />

Franz Speer<br />

Innovation der Kooperation - Auf dem Weg zu einem neuen<br />

Verständnis zwischen Industrie und Handel?<br />

(besprochen von Michael Jonas, Wien) 80<br />

Gertraude Krell, Richard Weiskopf<br />

Die Anordnung von Leidenschaften<br />

(besprochen von Daniela Rastetter, Hamburg) 81<br />

Heike Kahlert, Claudia Kajatin<br />

<strong>Arbeit</strong> und Vernetzung im Informationszeitalter. Wie neue<br />

Technologien die Geschlechterverhältnisse verändern<br />

(besprochen von Irene Dölling, Potsdam) 82<br />

Hinweise für Autorinnen und Autoren


Editorial<br />

Mit dem Beitrag von Daniel Lois setzen wir die Veröffentlichung von Beiträgen zum Thema<br />

fort, wie Beschäftigte und Unternehmen auf den demografi schen Wandel reagieren oder ihn<br />

gestalten. In den empirischen Untersuchungen wird die altersabhängige Beteiligung an beruflicher<br />

Weiterbildung bisher fast ausschließlich über die Angebots- und Nachfragestrukturen<br />

und den damit verbundenen Finanzierungsfragen untersucht. Lois setzt dagegen an dem<br />

Kontext an, wodurch Qualifi zierungsbedarf entsteht, und kann mit Daten des Berichtssystems<br />

Weiterbildung zeigen, dass ältere Erwerbstätige sehr wohl in „ihr Humankapital“ investieren<br />

– allerdings selektiv und unter spezifi schen Bedingungen.<br />

Während die arbeitsmarktpolitischen Strategien und Maßnahmen im Zusammenhang<br />

mit den „Hartz-Reformen“ große Aufmerksamkeit in der öffentlichen Diskussion fi nden,<br />

wird dagegen weniger nachgefragt, ob die intendierten politischen Zielsetzungen mit den<br />

organisatorischen Veränderungen in der Bundesagentur umgesetzt werden können. Die<br />

zunehmende Fremdvergabe von Aufgaben der <strong>Arbeit</strong>svermittlung hat Auswirkungen auf<br />

Position und Aufgabenzuschnitt der Bundesagentur. Carsten Wirth fragt in seinem Beitrag,<br />

ob die Koordination der damit verbundenen Beziehungen und Interaktionen in Form von<br />

Projektnetzwerken eine Erfolg versprechende Option für die Bundesagentur sein könnte.<br />

Sven Hauff geht der Frage nach, wie sich das Verhältnis zwischen <strong>Arbeit</strong>geberInnen und<br />

<strong>Arbeit</strong>nehmerInnen im Kontext der zunehmenden Flexibilisierung der Beschäftigung verändert.<br />

In der Diskussion wird meist von einer Erosion des alten Modells des impliziten bzw.<br />

psychologischen Vertrages von Loyalität und Sicherheit auf Seiten der Beschäftigten ausgegangen.<br />

Hingegen kann Hauff anhand repräsentativer Daten zeigen, dass <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen<br />

starke Gerechtigkeitsansprüche an Beschäftigungsbeziehungen stellen und in hohem Maße<br />

an der Sicherheit ihres <strong>Arbeit</strong>splatzes interessiert sind. Mehrheitlich scheinen sie nach wie<br />

vor an den Prinzipien des „alten“ psychologischen Vertrages festzuhalten.<br />

Im vierten Beitrag geht es um computergestütztes Lernen. Nach anfänglicher Euphorie<br />

in den neunziger Jahren ist es um dieses Thema etwas still geworden. Christina Schachtner,<br />

Gabriele Frankl und Angelika Höber sehen einen wesentlichen Grund darin, dass in diesem<br />

Bereich – wie so häufi g – zu sehr auf die Technik gesetzt worden ist. Sie plädieren für eine<br />

Neuorientierung des E-Learning und zeigen an einem betrieblichen Beispiel, wie der Wissenserwerb<br />

in der Produktion in adäquate Lernangebote übersetzt werden kann.<br />

In diesem Heft veröffentlichen wir anstelle der Kurzbeiträge eine außerordentlich<br />

umfangreiche Sammelrezension von Martin Birke. Anhand von fünf ausgewählten Publikationen<br />

aus den letzten drei Jahren gibt er einen Ein- und Überblick in die vielschichtige<br />

Umbruchsituation der Beratungsbranche und über Perspektiven der Unternehmensberatung<br />

aus sozialwissenschaftlicher Sicht. Darüber hinaus stellen wir in diesem Heft noch sechs<br />

weitere Rezensionen zu Einzelpublikationen unseren LeserInnen zur Verfügung.<br />

Aufgrund eines Krankheitsfalls in der Redaktion wird dieses Heft leider erst viel später<br />

erscheinen, als Sie als LeserIn es von uns gewohnt sind. Wir bitten Sie um Verständnis.<br />

Wir werden uns bemühen, wieder schrittweise zum üblichen Erscheinungsrhythmus aufzuschließen.<br />

Die Herausgeber/innen und die Redaktion der ARBEIT


<strong>Abhandlungen</strong><br />

Daniel Lois<br />

Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer<br />

Erwerbstätiger 1<br />

Abstract<br />

Der Beitrag zeigt mit Daten des Berichtssystems Weiterbildung 2000, dass die altersspezifi sche Beteiligung<br />

an formeller berufl icher Weiterbildung on-the-job je nach Anlass der Teilnahme variiert: Die<br />

Partizipation an Einarbeitungs- und vor allem Aufstiegsqualifi zierungen erweist sich als negativ altersabhängig,<br />

während die Beteiligung an Anpassungsfortbildungen in keinem signifi kanten Zusammenhang<br />

mit dem Alter steht. Auch ältere Erwerbstätige investieren folglich in ihr Humankapital – allerdings<br />

selektiv und unter spezifi schen Bedingungen: Mit steigendem Alter gewinnen positive Einstellungen<br />

gegenüber der eigenen Lernfähigkeit als Teilnahmevoraussetzungen an Bedeutung. Zudem gibt die<br />

Qualität technologischer Innovationen den Ausschlag darüber, ob eine formelle Weiterbildung überhaupt<br />

erforderlich wird. Sind neue <strong>Arbeit</strong>saufgaben z.B. mit der vorangehenden Tätigkeit verwandt, kann<br />

die Umstellung von älteren Erwerbstätigen teilweise durch einen Transfer ihres Erfahrungswissens<br />

bewältigt werden.<br />

1 Problemstellung<br />

Die berufl iche Weiterbildung wird auch in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen. Für diese<br />

These spricht vor allem die zunehmende Geschwindigkeit des Wandels der Anforderungen in<br />

der <strong>Arbeit</strong>swelt: Die Globalisierung der Märkte, die sich beschleunigende Innovationsdynamik<br />

und die Implementation neuer <strong>Arbeit</strong>s- und Organisationsformen führen dazu, dass einmal<br />

erworbene Qualifi kationen immer schneller veralten und die Tätigkeitsanforderungen der<br />

<strong>Arbeit</strong>splätze weiter steigen (vgl. Willke 1998, 32ff; Weidig/Hofer/Wolff 1999; Schiersmann<br />

2000, 284f).<br />

Die steigenden Qualifi kationsanforderungen werden in Zukunft von älter werdenden<br />

Belegschaften bewältigt werden müssen. In der fachwissenschaftlichen und politischen Diskussion<br />

gilt eine längere Beschäftigung künftiger Kohorten älterer <strong>Arbeit</strong>nehmer als wichtige<br />

Option, um den zu erwartenden Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials auszugleichen.<br />

Folgt man den Prognosen, werden spätestens im Jahr 2010 50% der Erwerbstätigen über 40<br />

1 Der Autor dankt Oliver Arránz-Becker, Frank Kleemann, Johannes Kopp und Christina Kunz für Anregungen<br />

und Hinweise.<br />

<strong>Arbeit</strong>, Heft 1, Jg. 16 (2007), S.5-22


6 Daniel Lois<br />

Jahre alt sein (Deutscher Bundestag 2002, 26ff) 2 . Die Anpassung an die Veränderungen im<br />

Beschäftigungssystem kann folglich nicht allein durch die berufl iche Erstausbildung bewältigt<br />

werden. Es müssen zunehmend Berufstätige im mittleren und höheren Alter weitergebildet<br />

werden, damit die Innovationsfähigkeit der Betriebe erhalten bleibt (vgl. Koller/Plath 2000,<br />

116ff).<br />

In der einschlägigen Literatur ist bereits mehrfach auf den Widerspruch zwischen den<br />

Qualifi kationsrisiken älterer Erwerbstätiger und ihrer mangelnden Beteiligung an berufl ichen<br />

Weiterbildungsmaßnahmen hingewiesen worden (z.B. Barkholdt/Frerichs/Naegele 1995; Koller/Plath<br />

2000; Schiersmann 2000). So bestehen nach wie vor intergenerative Diskrepanzen<br />

im Niveau der schulischen und berufl ichen Erstausbildung, das bei jüngeren Erwerbstätigen<br />

tendenziell höher liegt. Darüber hinaus unterliegen die Qualifi kationen älterer Personen einer<br />

erhöhten Entwertungsgefahr, wenn im Zuge arbeitsorganisatorischer oder technologischer<br />

Innovationen Anforderungen an sie gestellt werden, die nicht Bestandteil ihrer berufl ichen<br />

Erstausbildung waren. Fachwissen kann darüber hinaus durch eine dauerhafte berufl iche<br />

Unterforderung oder infolge einer langfristigen betriebsspezifi schen Einengung der Tätigkeit<br />

obsolet werden. Schließlich ist auch der altersspezifi sche Leistungswandel den Qualifi kationsrisiken<br />

zuzurechnen (vgl. Naegele 1992, 23ff).<br />

Eine altersübergreifende berufl iche Weiterbildung gilt in diesem Zusammenhang allgemein<br />

als „Königsweg“ (Clemens 2001, 102), um auf steigende und sich schnell verändernde<br />

Qualifi kationsanforderungen zu reagieren und die Beschäftigungsfähigkeit („employability“)<br />

älterer Erwerbstätiger sicherzustellen (vgl. Deutscher Bundestag 2002, 85ff).<br />

In den vorliegenden empirischen Studien wird jedoch regelmäßig festgestellt, dass sich<br />

die Beteiligung an berufl ichen Fortbildungsmaßnahmen mit steigendem Alter verringert<br />

(Hofbauer 1982; Bolder et al. 1994; Scherer 1996, 163ff; Behringer 1999, 120f; 2002; Bellmann<br />

2003, 70ff; Büchel/Pannenberg 2004, 90f; BMBW 2005, 90ff). Vor dem Hintergrund<br />

dieser Ergebnisse werden u.a. öffentliche Förderprogramme angeregt bzw. Appelle an die<br />

<strong>Arbeit</strong>geber gerichtet, ältere <strong>Arbeit</strong>nehmer durch eine altersübergreifende Qualifi zierung<br />

besser betrieblich zu integrieren (Barkholdt/Frerichs/Naegele 1995, 433f).<br />

Die meisten bisherigen empirischen Analysen werden jedoch dem speziellen Kontext einer<br />

Qualifi zierung im fortgeschrittenen Erwachsenenalter nicht gerecht, da die Defi nition von<br />

berufl icher Weiterbildung fast ausschließlich nur über die Angebots- bzw. Nachfragestrukturen<br />

erfolgt. Unterschieden wird zwischen dem off-the-job-training (AFG-geförderte berufl iche<br />

Weiterbildung, Nachfrage der Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong>) und dem on-the-job-training. Zu<br />

letzterem zählen die betriebliche Weiterbildung, in der Betriebe Anbieter und/oder Nachfrager<br />

sind, sowie die individuelle Weiterbildung, defi niert als die selbst bestimmte Nachfrage<br />

von Einzelpersonen. Die vorliegenden Ergebnisse zur Altersabhängigkeit der Teilnahme,<br />

die auf Basis dieser Operationalisierungen gewonnen wurden, sind wenig aussagekräftig:<br />

In der Regel werden z.B. sowohl für AFG-geförderte, als auch für die betriebliche und die<br />

individuelle Weiterbildung negative Alterseffekte nachgewiesen (z.B. Scherer 1996, 158ff;<br />

Behringer 1999, 120f).<br />

Die Defi nition der Weiterbildung über Angebots- und Nachfragestrukturen unterstellt,<br />

dass die mehr oder weniger stark ausgeprägte Weiterbildungsbeteiligung Älterer primär ein<br />

2 „Ältere Erwerbstätige“ sind im Folgenden als über 50jährige Personen defi niert, die entweder abhängig<br />

beschäftigt oder selbstständig sind. Unter „berufl icher Weiterbildung“ wird die Teilnahme an betriebsintern<br />

oder betriebsextern durchgeführten, formellen Bildungsmaßnahmen wie Seminaren, Kursen oder Lehrgängen<br />

verstanden, die nach Abschluss einer unterschiedlich ausgedehnten ersten Bildungsphase absolviert werden<br />

und inhaltlich im Kontext eines Beschäftigungsverhältnisses stehen (BMBW 1990, 10ff). Die Begriffe Weiterbildungs-,<br />

Fortbildungs- und Qualifi zierungsmaßnahme werden synonym gebraucht.


Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger<br />

Problem der Finanzierung ist: trägt die betroffene Person selbst, der Betrieb oder der Staat<br />

die Kosten? Vor der Finanzierungsfrage ist jedoch zu klären, wodurch Qualifi zierungsbedarf<br />

überhaupt hervorgerufen wird. In fortgeschrittenen Phasen der Erwerbsbiografi e sind einerseits<br />

Mobilitäts- und Aufstiegsprozesse häufi g abgeschlossen, weshalb Einarbeitungs- oder<br />

Aufstiegsqualifi zierungen für ältere Erwerbstätige weniger relevant sein sollten. Andererseits<br />

steigt mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur berufl ichen Erstausbildung das Risiko der<br />

Entwertung berufl icher Qualifi kationen, woraus ein erhöhter Bedarf nach Anpassungsqualifi<br />

zierungen folgt.<br />

Der vorliegende Beitrag behandelt daher die Frage, inwiefern die Beteiligung an beruflicher<br />

Weiterbildung on-the-job altersabhängig ist, wenn die Maßnahmen über den Zweck<br />

bzw. den Anlass der Teilnahme defi niert werden (z.B. als Einarbeitungs-, Aufstiegs- und<br />

Anpassungsqualifi zierungen). Zunächst werden einige theoretische Überlegungen dazu angestellt,<br />

welche Funktionen eine Weiterbildung in den verschiedenen Phasen einer Erwerbsbiografi<br />

e erfüllt und unter welchen Bedingungen sich insbesondere ältere Erwerbstätige an<br />

Qualifi zierungsmaßnahmen beteiligen (Abschnitt 2). Anschließend werden die formulierten<br />

Hypothesen mit Daten des Berichtssystems Weiterbildung (BSW) 2000 empirisch getestet<br />

(Abschnitt 3).<br />

2 Weiterbildung im erwerbsbiografi schen Kontext<br />

Die im Laufe einer Erwerbsbiografi e zu absolvierenden Lernprozesse erfüllen unterschiedliche<br />

Funktionen: Einarbeitungsqualifi zierungen spielen schwerpunktmäßig an der Schnittstelle<br />

zwischen der berufl ichen Erstausbildung und dem Übergang in das Erwerbsleben eine<br />

Rolle. Die Einarbeitungsqualifi zierung erfolgt in der Regel unmittelbar nach Abschluss der<br />

Berufsausbildung in den ersten Berufsjahren. Sie kann sich durch institutionalisierte Weiterbildung<br />

(Lehrgänge/Kurse) oder eher informell (z.B. durch das Anlernen durch Kollegen<br />

und Vorgesetzte) vollziehen. Für Kloas (1991) ist die berufl iche Erstausbildung sozusagen<br />

der „Führerschein“ für das Erwerbsleben, die Einarbeitungsqualifi zierung entspricht der<br />

„Fahrpraxis“. Diese kann die Erstausbildung zwar in der Regel nicht ersetzen, trägt aber zur<br />

weiteren Vertiefung der Fach-, Sozial- und Methodenkompetenz bei.<br />

Auch bei den Aufstiegsfortbildungen handelt es sich um weiterführende Qualifi zierungswege<br />

im Anschluss an die berufl iche Erstausbildung. Ziel derartiger Maßnahmen ist es, durch<br />

den Erwerb zertifi zierter Qualifi kationen (z.B. Meister, Techniker, Ingenieure der Fachschule,<br />

Betriebs- oder Fachwirte) Erwerbstätigen die notwendigen Kompetenzen für eine Tätigkeit im<br />

mittleren Funktionsbereich – z.B. für Spezialistentätigkeiten und/oder Tätigkeiten im mittleren<br />

Management – zu vermitteln (BMBF 2001, 20). Eine Aufstiegsfortbildung bietet damit eine<br />

alternative Qualifi zierungsmöglichkeit für Personen, welche ihren ersten berufsbildenden<br />

Abschluss im dualen System erlangt haben. 3 Zur Altersabhängigkeit der Aufstiegsqualifi zierungen<br />

liegen bereits empirische Ergebnisse vor: Krewerth (2004) weist im Rahmen einer<br />

Kohortenanalyse auf Basis der BIBB/IAB-Erhebung 1998/99 nach, dass Aufstiegsfortbildungen<br />

– mit leichten Variationen bei den einzelnen Fachrichtungen – durchschnittlich in<br />

einem Alter von 26 Jahren absolviert werden. In der Alterskohorte der 1999 über 60jährigen<br />

fanden z.B. 93,7% aller Aufstiegsfortbildungen bis zum 40. Lebensjahr statt.<br />

3 Eine ähnliche Funktion erfüllen auch Maßnahmen, die dem nachträglichen Erwerb von Studienberechtigungen<br />

dienen.<br />

7


8 Daniel Lois<br />

Nach den in frühen Phasen der Erwerbsbiografi e getätigten Humankapitalinvestitionen<br />

entfällt mit steigendem (Tätigkeits-)Alter dann die Notwendigkeit einer Weiterbildung, wenn<br />

eine Kontinuität der berufl ichen Anforderungen existiert. In diesem Fall wären Humankapitalinvestitionen<br />

lebenslang verwertbar. Eine Weiterbildung in fortgeschrittenen Phasen der<br />

Erwerbsbiografi e wird nötig, wenn das berufs- oder betriebsspezifi sche Fachwissen ganz<br />

oder teilweise entwertet wird.<br />

Ursache einer solchen Dequalifi zierung kann z.B. eine (freiwillige oder erzwungene) betriebliche<br />

bzw. berufl iche Mobilität sein. In diesem Fall werden Weiterbildungen notwendig,<br />

um sich z.B. auf den neuen Beruf umzuschulen bzw. in die neue Tätigkeit einzuarbeiten.<br />

Die Ergebnisse empirischer Studien sprechen jedoch nach wie vor dafür, dass Mobilitätsprozesse<br />

mit zunehmendem Alter abnehmen. Zum Beispiel kommen Velling & Bender (1994)<br />

sowie Seifert (2005) zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit eines <strong>Arbeit</strong>splatz- bzw.<br />

Berufswechsels mit steigendem Alter deutlich abnimmt. Folglich ist damit zu rechnen, dass<br />

eine Weiterbildung zum Zweck der Einarbeitung in eine neue Tätigkeit in fortgeschrittenen<br />

Phasen der Erwerbsbiografi e tendenziell an Relevanz verliert.<br />

Hypothese 1: Zwischen dem Alter und der Beteiligung an Einarbeitungs- und<br />

Aufstiegsqualifi zierungen besteht ein negativer Zusammenhang.<br />

Darüber hinaus sind es vor allem Prozess- und/oder Technologieinnovationen, die vorhandene<br />

Qualifi kationen obsolet werden lassen können und eine Anpassung an geänderte Anforderungen<br />

notwendig machen. Technologische Innovationen bringen als exogener Faktor<br />

Unsicherheit in das Investitionskalkül der Akteure (d.h. sowohl von <strong>Arbeit</strong>nehmern als auch<br />

von <strong>Arbeit</strong>gebern), da sie unter Umständen Anpassungen der früheren Entscheidungen über<br />

Zeitpunkt und Umfang von Weiterbildungsaktivitäten erforderlich machen (vgl. Behringer<br />

1999, 40f).<br />

Der Zusammenhang zwischen dem Alter und der Beteiligung an Anpassungsmaßnahmen<br />

ist komplex und lässt sich nicht auf eine einzelne Hypothese reduzieren. Ältere Erwerbstätige<br />

sollten einerseits aufgrund ihrer Qualifi kationsrisiken in erhöhtem Maße „aufgefordert“ sein,<br />

sich an neue Aufgaben anzupassen. Folgt man den vorliegenden Qualifi kationsprognosen,<br />

wird allein durch die Alterung des Erwerbspersonenpotentials die Anpassungslast durch den<br />

technisch-arbeitsorganisatorischen Wandel in starkem Maße von den mittleren und älteren<br />

Jahrgängen getragen werden müssen (Tessaring 1996; Weidig/Hofer/Wolff 1999).<br />

Bei der Anpassung älterer Mitarbeiter an <strong>Arbeit</strong>splatzveränderungen handelt es sich<br />

andererseits nicht um einen Automatismus. Yeatts/Folts/Knapp (2000) haben theoretisch<br />

herausgearbeitet, dass verschiedene individuelle Merkmale und Kontextfaktoren determinieren,<br />

inwiefern neue Anforderungen des Jobs auf der einen Seite und die Fähigkeiten des<br />

<strong>Arbeit</strong>nehmers auf der anderen Seite nach einer Innovation wieder in ein Gleichgewicht<br />

gebracht werden können. Drei für ältere Erwerbstätige in dieser Hinsicht zentrale Aspekte<br />

werden im Folgenden kurz erläutert: die Frage, inwiefern neue Anforderungen durch einen<br />

Erfahrungstransfer bewältigt werden können (Abschnitt 2.1.1), die Bedeutung des subjektiven<br />

Glaubens an die eigene Lernfähigkeit als Voraussetzung für eine Weiterbildung (2.1.2) und das<br />

Argument der mangelnden Rentabilität von Humankapitalinvestitionen in fortgeschrittenen<br />

Phasen der Erwerbsbiografi e (2.1.3).


Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger<br />

2.1 Determinanten der Beteiligung älterer Erwerbstätiger an<br />

Anpassungsqualifi zierungen<br />

2.1.1 Transfer von Erfahrungswissen<br />

Eine Weiterbildungsbeteiligung mit dem Ziel der Anpassung an neue Aufgaben im Beruf<br />

ist zunächst nur dann notwendig, wenn die vorhandene Qualifi kation nicht auf die neuen<br />

Anforderungen transferiert werden kann. Zur Befähigung älterer Erwerbstätiger gehört nicht<br />

zuletzt ihr Erfahrungswissen, das als eine Form des spezifi schen Humankapitals verstanden<br />

werden kann. Es umfasst explizit praktisches Wissen, explizit theoretisches Wissen (z.B.<br />

technologisches oder Prozesswissen) und implizites, nicht verbalisierbares Wissen (z.B. über<br />

Wirkungszusammenhänge und funktionale Abhängigkeiten) (Koller/Plath 2000). Erfahrungswissen<br />

kann „das Erfahren oder Erfassen gegenwärtigen Geschehens“ sowie das „vollzugs-,<br />

ergebnis- sowie beanspruchungsgünstige Bewältigen ggf. resultierender Anforderungen“<br />

ermöglichen (Koller/Plath 2000, 121). Erfahrene Mitarbeiter sollten also nicht nur in der Lage<br />

sein, bekannte, immer wieder auftretende Anforderungen zu bewältigen. Das Erfahrungswissen<br />

sollte zusätzlich hilfreich sein, sich an veränderte und neue Anforderungssituationen durch<br />

die „Abdifferenzierung, Aussonderung, Aneignung, Reorganisation, Umstrukturierung“ (ebd.:<br />

122) von Wissensinhalten anzupassen (vgl. auch Jasper/Fitzner 2000, 165).<br />

Ein Transfer des Erfahrungswissens sollte vor allem dann gelingen, wenn die neuen<br />

<strong>Arbeit</strong>saufgaben mit denen der vorangehenden Tätigkeit verwandt sind (Koller/Plath 2000,<br />

122; Schiersmann 2000, 286). Im BSW 2000 wurden spezifi sche Veränderungen der <strong>Arbeit</strong>ssituation<br />

erhoben, die den Test derartiger Hypothesen zur Funktion des Erfahrungswissens<br />

erlauben. Erwerbstätige wurden u.a. befragt, ob an ihrem <strong>Arbeit</strong>splatz innerhalb der letzten<br />

12 Monate neue computergesteuerte Maschinen (CNC), nicht computergesteuerte Maschinen<br />

(NC) oder neue EDV-Programme (z.B. SAP, Java, SQL) eingeführt wurden. In allen<br />

drei Fällen handelt es sich um technologische Innovationen, jedoch von unterschiedlicher<br />

Qualität. Die NC-Technologie ist industriegeschichtlich am ältesten. Sie gewann in Europa<br />

Ende der neunzehnhundertfünfziger Jahre an Bedeutung (Spur 2002). Aus ihr ging die CNC-<br />

Technologie hervor, deren Zeitalter ungefähr Mitte der siebziger Jahre einsetzte. Daraus<br />

folgt, dass die für den Umgang mit CNC-Maschinen erforderlichen Qualifi kationen für den<br />

Großteil der im Jahr 2000 über 50jährigen wahrscheinlich nicht Bestandteil der berufl ichen<br />

Erstausbildung gewesen sind und hier entsprechend verstärkt ein Anpassungsbedarf besteht.<br />

Diese Vermutung wird durch die Ergebnisse einiger qualitativer Betriebsfallstudien (z.B.<br />

Frerichs 1998; Frerichs/Georg 1999, 130ff) untermauert, die darauf hinweisen, dass ältere<br />

Mitarbeiter in der Industrie sehr viel stärker auf praktische Lernmöglichkeiten bei manuellen<br />

Tätigkeiten konzentriert sind als jüngere und beim Umgang mit programmgesteuerten<br />

Maschinen Qualifi kationsdefi zite bzw. auch Berührungsängste festzustellen sind. Es kann<br />

daher zum einen vermutet werden, dass die Einführung von NC-Maschinen von älteren<br />

Erwerbstätigen verstärkt durch einen Erfahrungstransfer bewältigt werden kann (vgl. Frerichs/Georg<br />

1999, 138f).<br />

Hypothese 2a: Erfahrungswissen hat einen negativen Effekt auf die Beteiligung an Anpassungsqualifi<br />

zierungen bei der Einführung von NC-Maschinen.<br />

Zum anderen werden neue CNC-Maschinen von älteren Mitarbeitern vermutlich eher als<br />

Paradigmenwechsel erlebt. Dazu trägt z.B. bei, dass die Umstellung in der Regel auch eine<br />

theoretische Neuerlernung der Programmierung erfordert. Auch bei der Einführung neuer<br />

9


10 Daniel Lois<br />

elektronischer Datenverarbeitungssysteme besteht wahrscheinlich eine erhöhte Dequalifi -<br />

zierungsgefahr. Aufgrund der relativ kurzen Lebenszyklen von Softwareprodukten und den<br />

daraus folgenden häufi gen Wissenssprüngen ist auch hier ein Erfahrungstransfer unwahrscheinlicher,<br />

weshalb von einem erhöhten Anpassungsbedarf auszugehen ist (Frerichs 1998,<br />

160ff; Frerichs/Georg 1999, 135ff).<br />

Hypothese 2b: Erfahrungswissen hat keinen Effekt auf die Beteiligung an Anpassungsqualifi<br />

zierungen bei der Einführung von CNC-Maschinen bzw. von neuen EDV-Programmen<br />

Ergänzend sei angemerkt, dass die Qualifi zierung der Belegschaft nur eine von mehreren<br />

Optionen ist, die den Betrieben im Falle von Innovationen zur Verfügung stehen. Nach<br />

älteren Befunden des sog. „Spätphase-Projektes“ (BMA 1983, 132; Naegele 1992, 95f)<br />

reagieren die Betriebe auf größere technisch-organisatorische Veränderungen vor allem mit<br />

einer Externalisierungsstrategie, d.h. mit der Frühverrentung ihrer Mitarbeiter. Auch innerbetriebliche<br />

Umsetzungen (z.B. auf sog. „Schonarbeitsplätze“) spielen eine Rolle. Letztere<br />

sind allerdings offenbar eher auf gesundheitliche und weniger auf betrieblich-organisatorische<br />

bzw. qualifi katorische Gründe zurückzuführen.<br />

Ob Technologieinnovationen zu Qualifi zierungs- oder Dequalifi zierungsprozessen<br />

führen, hängt ferner wesentlich vom jeweiligen Produktionsregime ab. In unstrukturierten<br />

<strong>Arbeit</strong>smarktsegmenten mit tayloristischer, stark arbeitsteiliger <strong>Arbeit</strong>sorganisation hat die<br />

Einführung neuer Maschinen für die Mehrzahl der Beschäftigten z.B. in der Regel Dequalifi<br />

zierungsprozesse zur Folge. Dies kann sich z.B. darin äußern, dass bei der Automatisierung<br />

der Produktion höherwertige Tätigkeiten von wenigen höher qualifi zierten Fachkräften übernommen<br />

werden und für niedrig qualifi zierte Beschäftige nur einfache Tätigkeiten verbleiben<br />

(vgl. z.B. Frerichs 1998). Es ist daher zu erwarten, dass der Qualifi zierungsbedarf mit dem<br />

Qualifi kationsniveau sowie der Position in der Betriebshierarchie steigt.<br />

2.1.2 Selbstkonzept der eigenen Leistungs- bzw. Lernfähigkeit<br />

Mit wachsendem zeitlichem Abstand zur berufl ichen Erstausbildung steigt nicht nur das<br />

Risiko, dass die Qualifi kation des Erwerbstätigen obsolet wird. Auch die persönlichen<br />

Voraussetzungen zur Auffrischung oder Erneuerung des berufl ichen Wissens unterliegen<br />

einer Entwertungsgefahr. Bestehen zum Beispiel Zweifel an der eigenen Leistungs- und<br />

Lernfähigkeit bzw. Selbstwirksamkeit (Bandura 1977), können Anstrengungen zum Erhalt<br />

bestehender und zum Aufbau neuer Fähigkeiten (z.B. durch Qualifi zierung) aus subjektiver<br />

Perspektive aussichtslos erscheinen.<br />

Die Ausprägung dieser Selbsteinschätzung wird nach Erkenntnissen aus der Gerontologie<br />

und der <strong>Arbeit</strong>spsychologie wesentlich durch den Verlauf der Erwerbsbiografi e determiniert.<br />

Objektive und subjektive Leistungsprobleme sind diesen Forschungsergebnissen zufolge<br />

eben nicht das Resultat eines biologischen Determinismus (vgl. das sog. Defi zit-Modell des<br />

Alterns), sondern vielfach eine Folge von Mängeln in der <strong>Arbeit</strong>s- und Organisationsgestaltung<br />

(sog. „Disuse-Effekt“). Durch die Nichtnutzung personeller Leistungsvoraussetzungen<br />

oder das dauerhafte Fehlen arbeitsbezogener Lernanforderungen kann – über das Verlernen<br />

bereits erworbener Fähigkeiten hinaus – langfristig sogar „das Lernen verlernt“ werden (z.B.<br />

Bergmann/Wilczek 2000; Koller/Plath 2000; im Überblick: Lehr 2000).<br />

Das im Verlauf der Erwerbsbiografi e in bestimmter Weise geprägte Selbstkonzept,<br />

speziell der Glaube an die eigene Lernfähigkeit (im Folgenden „Lerndisposition“ genannt),


Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger<br />

sollte folglich mit determinieren, inwiefern ältere Erwerbstätige überhaupt zu einer erneuten<br />

Teilnahme an einer formalisierten Bildungsmaßnahme bereit sind.<br />

Hypothese 3: Der subjektive Glaube an die eigene Lernfähigkeit (Lerndisposition) gewinnt<br />

mit zunehmendem Alter der Erwerbstätigen als Teilnahmevoraussetzung an Bedeutung.<br />

2.1.3 Das Rentabilitätsargument<br />

Gegen eine Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger spricht schließlich das Postulat<br />

der Humankapitaltheorie, dass Bildungsinvestitionen mit steigendem Alter zunehmend weniger<br />

rentabel sind (z.B. Becker 1964). Es wird angenommen, dass Humankapitalinvestitionen<br />

seitens der <strong>Arbeit</strong>geber und <strong>Arbeit</strong>nehmer nur dann erfolgen, wenn der Wert der erwarteten<br />

Erträge größer ist als die entstehenden gegenwärtigen Kosten einschließlich Opportunitätskosten.<br />

Findet die Weiterbildungsmaßnahme während der <strong>Arbeit</strong>szeit statt, werden für<br />

ältere Erwerbstätige deswegen Kostennachteile unterstellt, da die bezahlte Freistellung von<br />

der <strong>Arbeit</strong> aufgrund des im Allgemeinen höheren Lohnniveaus älterer Mitarbeiter teurer ist.<br />

Auch wird von höheren Opportunitätskosten ausgegangen, da ältere Erwerbstätige häufi g<br />

zentrale Positionen im betrieblichen Ablauf innehaben, wodurch ihre Freistellung eher zu<br />

Produktivitätsverlusten führen kann. Vor allem wird aber darauf verwiesen, dass die Auszahlungsperiode<br />

einer Humankapitalinvestition in späten Phasen der Erwerbsbiografi e durch<br />

das Ende der berufl ichen Tätigkeit begrenzt wird.<br />

Es ist allerdings umstritten, welches Gewicht diese Kostenargumente haben. Simpson/<br />

Greller/Stroh (2001, 111) halten den Verweis auf die kürzer werdende Auszahlungsperiode<br />

für „arbitrary and unrealistic“. Sie begründen dies damit, dass nur wenige Investitionen über<br />

die gesamte Spanne einer Karriere gewinnbringend seien. Da in der Weiterbildungsplanung<br />

in der Regel eine Zeitspanne von 3-5 Jahren als Rückzahlungsperiode angesetzt werde, könne<br />

z.B. bei einem 25jährigen und 55jährigen Erwerbstätigen von den gleichen Voraussetzungen<br />

ausgegangen werden. Behringer (1999, 49ff) weist ferner darauf hin, dass die Relevanz<br />

des Auszahlungsperioden-Arguments stark von der Obsoleszenzrate der zu vermittelnden<br />

Qualifi kation abhängig ist. Wenn ein Fortbildungsinhalt relativ schnell veraltet, z.B. die<br />

Neuerungen in einem Jahressteuergesetz, ist die Auszahlungsperiode ohnehin kurz, wodurch<br />

eine Humankapitalinvestition bis kurz vor den Eintritt in den Ruhestand rentabel bleiben<br />

kann. Mit dem schnellen Veralten vieler Qualifi kationen könnte auch zusammenhängen, dass<br />

mit der betrieblichen Weiterbildung – vor allem in Kleinbetrieben – häufi g bereits eingetretene<br />

Qualifi kationsengpässe kurzfristig überwunden werden sollen, ohne dass langfristigen<br />

Überlegungen im Rahmen einer Weiterbildungsplanung dabei viel Raum gegeben wird<br />

(vgl. zusammenfassend BMBW 1990). Es gibt also insgesamt keinen Anlass dazu, aus dem<br />

Rentabilitätsargument vorschnell einen Determinismus in dem Sinne abzuleiten, dass in das<br />

Humankapital älterer Erwerbstätiger per se nicht mehr investiert wird.<br />

3 Empirische Ergebnisse<br />

3.1 Datengrundlage, Operationalisierung und Vorgehensweise<br />

Die Datengrundlage der folgenden Analyse ist das sog. Berichtssystem Weiterbildung (BSW)<br />

2000. Das BSW wurde 1979 von Infratest Sozialforschung, im Auftrag des Bundesminis-<br />

11


12 Daniel Lois<br />

teriums für Bildung und Wissenschaft, entwickelt. Seit dem fi nden im Drei-Jahres-Turnus<br />

Repräsentativbefragungen der 19-64jährigen deutschen Bevölkerung in Privathaushalten<br />

mit dem Ziel statt, Trendentwicklungen im gesamten Weiterbildungsbereich beobachten<br />

zu können. Die Trendindikatoren und einige Ergebnisse des inhaltlichen Schwerpunktes<br />

der jeweiligen BSW-Erhebung werden in Form von deskriptiven Auswertungen in einem<br />

integrierten Gesamtbericht veröffentlicht (zuletzt BMBW 2005).<br />

Zur Überprüfung der oben formulierten Hypothesen wurde die folgende Vorgehensweise<br />

gewählt:<br />

Nach einigen deskriptiven Auswertungen werden multivariate logistische Regressionsmodelle<br />

berechnet, um den Effekt des Alters auf die Teilnahme an verschiedenen Weiterbildungstypen<br />

zu untersuchen. Abhängige Variable ist die Teilnahme/Nicht-Teilnahme an<br />

mindestens einer formellen Weiterbildungsmaßnahme des angegebenen Typs (Lehrgänge/<br />

Kurse) im Jahr 2000.<br />

Jedes Modell enthält neben dem Alter eine Reihe von Kontrollvariablen. Dazu zählen:<br />

Geschlecht, persönliches Nettoeinkommen im letzten Monat vor der Befragung (9 Einkommensklassen),<br />

Ost-/Westdeutschland, höchster Ausbildungsabschluss (Referenzkategorie:<br />

anderer Abschluss), Stellung im Beruf (Referenzkategorie: Selbstständige) sowie die Frage<br />

nach dem Vorliegen einer <strong>Arbeit</strong>slosigkeit in den letzten 3 Jahren (Ja/Nein).<br />

Anschließend werden die Bedingungen einer Beteiligung an Anpassungsqualifi zierungen in<br />

logistischen Regressionsmodellen, differenziert für drei Altersgruppen, untersucht. Abhängige<br />

Variable ist die Teilnahme/Nicht-Teilnahme an mindestens einer Anpassungsmaßnahme im<br />

Jahr 2000. Die unabhängigen Variablen werden schrittweise eingeführt, um ihren „Brutto-<br />

Effekt“ abschätzen zu können:<br />

• In Modell 1 ist neben den Kontrollvariablen das Konstrukt „Lerndisposition“ enthalten.<br />

Es wird mit Hilfe einer aus acht Items bestehenden Skala gemessen. Enthalten sind<br />

Aussagen zur subjektiven Lernneigung (z.B. „Lernen ist für mich eine mühsame Angelegenheit“),<br />

eher auf die eigene Lernfähigkeit bezogene Items wie z.B. „Wenn ich schnell<br />

etwas lernen soll, fühle ich mich manchmal überfordert“ bzw. zur Selbstwirksamkeit<br />

beim Lernen („Wenn ich Erfolg habe, denke ich, dass das Zufall war“). Cronbach’s<br />

Alpha, ein zwischen 0 und 1 (1=hoch) normiertes Maß für die interne Konsistenz bzw.<br />

Zuverlässigkeit einer Skala, beträgt .85.<br />

• Modell 2 enthält zusätzlich drei konkrete Veränderungen der <strong>Arbeit</strong>ssituation innerhalb<br />

der letzten 12 Monate vor dem Befragungszeitpunkt, die mutmaßlich einen Qualifi zierungsbedarf<br />

auslösen: die Einführung nicht computergesteuerter bzw. computergesteuerter<br />

Maschinen/Anlagen (NC/CNC) sowie die Einführung neuer Datenverarbeitungsprogramme<br />

(z.B. Java, SAP, SQL).<br />

•<br />

In Modell 3 werden verschiedene Faktoren eingeführt, die nach Auskunft der Erwerbstätigen<br />

„der wichtigste Punkt zur Bewältigung der neuen Anforderungen in der<br />

Umstellungszeit“ waren. Neben der „Erfahrung von früheren <strong>Arbeit</strong>splätzen“ sind dabei<br />

auch die weicheren Lernformen „Anlernen durch Kollegen und/oder Vorgesetzte“<br />

sowie „Selbstlernen durch Beobachten und Ausprobieren am derzeitigen <strong>Arbeit</strong>splatz<br />

und/oder durch Lernen für die <strong>Arbeit</strong> in der Freizeit“ als Alternativen zu einer formellen<br />

Qualifi zierungsmaßnahme zu sehen. Außerdem wird das inner- und außerbetriebliche<br />

Angebot an Weiterbildungsmaßnahmen kontrolliert.


Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger<br />

• Um die Erfahrungstransfer-Hypothesen zu testen, wird in Modell 4 schließlich der<br />

Interaktionseffekt zwischen den Veränderungen der <strong>Arbeit</strong>ssituation und der Bewältigungsstrategie<br />

„Erfahrung von früheren <strong>Arbeit</strong>splätzen“ berechnet.<br />

Alle Auswertungen beziehen sich auf zum Befragungszeitpunkt Erwerbstätige. Es wird<br />

weiterhin nicht zwischen einer Beteiligung „aus Eigeninitiative“ und „nach Vorschlag durch<br />

den Vorgesetzten“ unterschieden. Friebel (1996) hält diese im BSW praktizierte Art der<br />

Erfassung der Teilnahmeveranlassung u.a. deshalb für ein Artefakt, da sie ausschließe, dass<br />

aus subjektiver Sicht beides – betriebliche Veranlassung und eigene Initiative – gemeinsam<br />

zur Teilnahme führen.<br />

Zur Analyse der Daten wird das Verfahren der logistischen Regression angewendet. Die<br />

binäre logistische Regression berechnet die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens eines Ereignisses<br />

(hier: Beteiligung an Weiterbildung) in Abhängigkeit von den Werten der unabhängigen<br />

Variablen. Aufgrund ihrer einfachen Interpretierbarkeit werden in den Tabellen die exponierten<br />

Regressionskoeffi zienten Exp(B), die auch als „Odds-Ratio“ (Chancenverhältnis) bezeichnet<br />

werden, aufgeführt. Diese sind ähnlich wie Wettquoten defi niert als Eintrittswahrscheinlichkeit<br />

dividiert durch die Gegenwahrscheinlichkeit. Ein positiver Zusammenhang zwischen<br />

abhängiger und unabhängiger Variabler drückt sich in einem Exp(B) > 1 aus, ein negativer<br />

Zusammenhang bedeutet Exp(B) < 1. Der angegebene Wert bezieht sich auf die Veränderung<br />

der Chance, dass das Ereignis „Weiterbildungsteilnahme“ – bei Änderung der unabhängigen<br />

Variablen um eine Einheit – eintritt. Das zusätzlich angegebene Pseudo-R² nach Nagelkerke<br />

ist ein zwischen 0 und 1 (1=hoch) normiertes Maß für die Güte bzw. Erklärungsleistung des<br />

Regressionsmodells. Werte ab .20 deuten auf eine hohe Erklärungskraft hin.<br />

Für Variablen mit nur zwei Ausprägungen (z.B. Geschlecht) wurden in allen Regressionsmodellen<br />

einfache Kontraste verwendet. Für die kategorialen Variablen mit mehr als<br />

zwei Ausprägungen (Stellung im Beruf, Ausbildungsabschluss) sind Abweichungskontraste<br />

berechnet worden. Das heißt, dass jede Kategorie der Einfl ussvariablen außer der Referenzkategorie<br />

mit dem Gesamteffekt verglichen wird.<br />

3.2 Deskriptive Auswertungen<br />

Tab. 1: Typ der besuchten Weiterbildungsmaßnahmen nach<br />

Altersgruppen<br />

Altersgruppe<br />

Typ der besuchten Weiterbildungsmaßnahmen1) 19-34 35-49 50-64<br />

Prozent<br />

Umschulung in einen anderen Beruf 3,6 2,8 1,7<br />

Einarbeitung in eine neue <strong>Arbeit</strong> 23,5 18,6 12,1<br />

Berufl icher Aufstieg (z.B. Meister, Techniker) 14,1 9,5 3,6<br />

Anpassung an neue Aufgaben im Beruf 28,0 39,2 48,3<br />

Sonstige Lehrgänge/ Kurse 30,6 29,8 35,2<br />

N= 2.457 (Teilnahmefälle)<br />

1) bezogen auf maximal vier im Jahr 2000 besuchte Weiterbildungsmaßnahmen<br />

Quelle: BSW 2000 (eigene Berechnungen, personenbezogen Ost/ West-gewichtet)<br />

13


14 Daniel Lois<br />

Die deskriptiven Ergebnisse bestätigen die Vermutung, dass sich bei einer Differenzierung<br />

des Weiterbildungsbereichs nach dem Kriterium des Anlasses bzw. Zwecks der Maßnahme<br />

unterschiedliche Alterseffekte beobachten lassen: Der Anteil der Einarbeitungs- und vor<br />

allem der Aufstiegsqualifi zierungen an den Teilnahmefällen nimmt mit steigendem Alter<br />

der Erwerbstätigen deutlich ab. Die Anpassungsfortbildungen haben dagegen bei den über<br />

50jährigen Erwerbstätigen mit 48,3% den größten Anteil an den Teilnahmefällen dieser<br />

Altersgruppe (Tabelle 1).<br />

Auch die subjektive Einschätzung der Befragten, wie sich durch die jeweilige Qualifi -<br />

zierungsmaßnahme ihre berufl iche Situation verändert hat (Tabelle 2), weist auf die unterschiedlichen<br />

erwerbsbiografi schen Funktionen einer Weiterbildung hin. Ältere Erwerbstätige<br />

berichten in verringertem Maße, dass die Qualifi zierung für sie dazu geführt habe, berufl ich<br />

bessere Chancen zu haben, aufzusteigen bzw. in eine höhere Gehaltsgruppe eingestuft worden<br />

zu sein. Der Nutzen für Ältere lag auch weniger darin, mehr Wissen über betriebliche<br />

Zusammenhänge erworben zu haben. Der Besuch einer Fortbildung hat jedoch für jüngere<br />

und ältere Beschäftigte in vergleichbarem Maße zu Erleichterungen im <strong>Arbeit</strong>salltag geführt<br />

(„<strong>Arbeit</strong> besser als zuvor zu erledigen“, „im Alltag besser zurecht kommen“) und zum Erhalt<br />

des <strong>Arbeit</strong>splatzes beigetragen. Insgesamt verlieren damit die proaktiven Funktionen<br />

der Weiterbildung (berufl icher Aufstieg, Einkommenszuwächse) in späteren Phasen der<br />

Erwerbsbiografi e tendenziell an Bedeutung, während mit der Anpassungsweiterbildung eine<br />

reaktive Qualifi zierungsstrategie zumindest nicht an Relevanz verliert.<br />

Tab. 2: Änderung der berufl ichen Situation durch Weiterbildung nach Alter<br />

Altersgruppe<br />

Änderung der berufl ichen Situation durch Weiterbildung1)<br />

19-34 35-49 50-64<br />

Prozent<br />

Durch Weiterbildung eine neue Stelle bekommen 12,0 10,5 7,2<br />

Hätte ohne diese Weiterbildung Stelle verloren 13,5 10,4 13,9<br />

Berufl ichen Chancen haben sich verbessert 72,7 61,6 49,2<br />

Wurde in höhere Lohn-/ Gehaltsgruppe eingestuft 25,9 20,0 12,0<br />

Ich kann meine <strong>Arbeit</strong> besser als zuvor erledigen 76,2 75,1 75,2<br />

Weiß jetzt mehr über Zusammenhänge im Betrieb 46,2 37,6 33,0<br />

Ich bin berufl ich aufgestiegen 23,8 16,2 11,5<br />

Kurs halt im Alltag besser zurechtzukommen 41,9 42,6 37,8<br />

Für mich hat sich nichts Wesentliches geändert 40,1 43,1 48,6<br />

N= 1.896<br />

1) " Hat sich durch die Teilnahme an Weiterbildung Ihre berufl iche Situation verändert?<br />

Bitte beurteilen Sie dies für jeden der folgenden Punkte"<br />

Quelle: BSW 2000 (eigenen Berechnungen, personenbezogen Ost/ West-gewichtet)


Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger<br />

3.3 Multivariate Auswertungen<br />

3.3.1 Maßnahmentypenspezifi sche Alterseffekte<br />

Im ersten Modell in Tabelle 3 wird der Effekt des Alters auf die Teilnahme an Weiterbildung<br />

insgesamt gemessen. Das Alter übt – auch nach der Einbeziehung von Kontrollvariablen<br />

– einen moderaten, negativen Einfl uss auf die Weiterbildungsbeteiligung aus. Die<br />

Chance, im Jahr 2000 mindestens eine Fortbildung (gleich welcher Art) besucht zu haben,<br />

verringert sich pro Lebensjahr um den Faktor 0,015.<br />

Tab. 3: Logistische Regressionen der Teilnahme 19-64jähriger<br />

Erwerbstätiger an berufl icher Weiterbildung on-the-job im Jahr<br />

2000, differenziert nach Typ der besuchten Maßnahmen<br />

Modell 1:<br />

Gesamt<br />

Modell 2:<br />

Einarbeitung<br />

1)<br />

Modell 3:<br />

Aufstieg 2)<br />

Modell 4:<br />

Anpassung<br />

3)<br />

Modell 5:<br />

Sonstige<br />

Kurse<br />

Alter<br />

Kontrollvariable<br />

.985** .976**<br />

Exp(B)<br />

.947** 1.006 .992+<br />

Geschlecht (Mann) 1.299** 1.209 2.114** 1.431** .979<br />

Nettoeinkommen 1.082** 1.029 1.200** 1.047** 1.033<br />

Ost/West (Ost)<br />

Ausbildungsabschluss<br />

1.187* 1.049 .950 1.091 1.281*<br />

Kein Berufsabschluss .445** .572* .446* .436** .518**<br />

Lehre, Berufsfachschule 1.035 1.233* .968 1.123 1.053<br />

Meister, Techniker etc. 1.525** 1.307+ 2.095** 1.735** 1.176<br />

(Fach)Hochschule<br />

Stellung im Beruf<br />

1.285* .987 1.019 1.375** 1.441**<br />

<strong>Arbeit</strong>er .484** .770* .640* .589** .324**<br />

Angestellter 1.240** 1.151 1.718** 1.235* 1.179*<br />

Beamter 1.896** 1.616** .936 1.264* 2.131**<br />

<strong>Arbeit</strong>slosigkeit letzte 3 J. (Ja) 1.223+ 1.098 .852 1.061 .996<br />

Pseudo-R² (Nagelkerke) .115 .028 .113 .062 .084<br />

N = 4.167; + p≤ .10; * p≤ .05; ** p≤ .01<br />

1) „Ich habe im Betrieb an besonderen Lehrgängen/Kursen zur Einarbeitung in eine neue<br />

<strong>Arbeit</strong> teil genommen“<br />

2) „Ich habe an Lehrgängen/ Kursen für den berufl ichen Aufstieg teilgenommen (z.B. zum<br />

Meister, Techniker, Betriebswirt)“<br />

3) „Ich habe an Lehrgängen/ Kursen zur Anpassung an neue Aufgaben in meinem Beruf<br />

teilgenommen“<br />

Quelle: BSW 2000 (eigene Berechnungen)<br />

15


16 Daniel Lois<br />

Die Teilnahmechance eines 50jährigen Erwerbstätigen läge danach z.B. um 38% (ln. 0,985*25)<br />

niedriger als die eines 25jährigen. Im Unterschied zu der in den meisten bisherigen Studien<br />

gewählten Vorgehensweise wird das on-the-job-training 4 in den Modellen 2-5 nach<br />

Anlass bzw. Zweck der Teilnahme differenziert. Nur Aufstiegsqualifi zierungen (Modell 3:<br />

Odds-Ratio von .947, p< .01) sowie – mit Abstrichen – Maßnahmen, die der Einarbeitung<br />

in eine neue Tätigkeit dienen (Modell 2: Odds-Ratio von .976, p< .01), erweisen sich als<br />

deutlich negativ altersabhängig. Die Teilnahmechance eines 50jährigen Erwerbstätigen<br />

liegt, bezogen auf Aufstiegsfortbildungen, z.B. um 136% unter der eines 25jährigen. Hypothese<br />

1 wird damit bestätigt.<br />

Im Falle der Anpassungsqualifi zierung ist dagegen kein Alterseffekt zu beobachten. Der<br />

Koeffi zient ist zwar positiv, wird jedoch nicht signifi kant (p=0,144). Auch die Beteiligung<br />

an den nicht näher bezeichneten „sonstigen Maßnahmen“ – hierzu könnte z.B. eine routinemäßige<br />

Weiterbildung ohne besonderen Anlass gehören – hängt nur schwach-negativ mit<br />

dem Lebensalter zusammen. Insgesamt wird somit deutlich, dass sich der auf der Aggregatebene<br />

festzustellende negative Alterseffekt aus verschieden ausgeprägten Einzeleffekten<br />

zusammensetzt.<br />

3.3.2 Determinanten der altersspezifi schen Beteiligung an<br />

Anpassungsqualifi zierungen<br />

Ein Blick auf die Kontrollvariablen in den Tabellen 3 und 4 zeigt, dass die Beteiligung an<br />

Anpassungsqualifi zierungen erwartungsgemäß mit dem Qualifi kationsniveau und der Stellung<br />

im Beruf – zwei klassischen Segmentationsmerkmalen in der Weiterbildungsforschung<br />

– variiert. Auffällig sind die überdurchschnittlichen Teilnahmechancen der Personengruppe<br />

mit Meister-, Techniker- oder vergleichbarem Abschluss, die wahrscheinlich zum Teil auf<br />

eine höhere Betroffenheit von technologischen Innovationen zurückzuführen sind. Mit den<br />

BSW-Daten lässt sich z.B. nachweisen, dass Personen aus dieser Qualifi kationsgruppe – im<br />

Vergleich mit den niedrigeren Niveaus – deutlich häufi ger berichten, ihre <strong>Arbeit</strong>ssituation<br />

habe sich durch die Einführung neuer CNC-/NC-Maschinen und EDV-Programme verändert<br />

(Ergebnisse nicht dargestellt) (vgl. auch Troll 1993; Behringer 1999, 40f). Die pro Altersgruppe<br />

deutlich zunehmenden Teilnahmechancen weisen zudem darauf hin, dass offenbar verstärkt<br />

ein Anpassungsbedarf bei älteren Erwerbstätigen dieser Qualifi kationsgruppe besteht.<br />

Im Theorieteil war die Hypothese formuliert worden, dass die Lerndisposition einer Person<br />

ihre Teilnahmechancen mit steigendem Alter besser vorhersagen sollte (Hypothese 3). Modell<br />

1 in Tabelle 4 zeigt, dass die Chance, im Jahr 2000 mindestens eine Anpassungsqualifi zierung<br />

besucht zu haben, nur bei 35-49jährigen sowie 50-64jährigen Erwerbstätigen durch diese<br />

Variable vorhergesagt werden kann. Um die Effektunterschiede der Lerndisposition für die<br />

drei Altersgruppen auf Signifi kanz zu testen, wurde in einem Regressionsmodell für 19-<br />

64jährige Erwerbstätige zusätzlich der Interaktionseffekt Alter*Lerndisposition berechnet<br />

(Ergebnisse nicht dargestellt). Es ergibt sich ein positiver und signifi kanter Effektkoeffi zient<br />

von 1.017, p


Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger<br />

stärkten Weiterbildungsbeteiligung insbesondere älterer Erwerbstätiger einhergeht. Neue<br />

NC-Maschinen erhöhen die Chance einer Weiterbildungsteilnahme dagegen nur in der Gruppe<br />

der 19-34jährigen Erwerbstätigen. 5<br />

Zur Bewältigung dieser Veränderungen stehen den Erwerbstätigen verschiedene Strategien<br />

zur Verfügung, die in Modell 3 eingeführt wurden. Eine soziale Unterstützung am <strong>Arbeit</strong>splatz<br />

in Form von Einweisungen durch Kollegen und Vorgesetzte ist diesen Ergebnissen zufolge<br />

eher keine Alternative zu formellen Anpassungsfortbildungen. Die weichere Lernform des<br />

Selbstlernens scheint tendenziell eher für jüngere Erwerbstätige relevant zu sein.<br />

Das Erfahrungswissen ist dagegen erwartungsgemäß eine spezifi sche Bewältigungskompetenz<br />

älterer Mitarbeiter. Zum Beispiel haben über 50jährige, die angeben, für die Bewältigung<br />

der neuen Anforderungen in der Umstellungszeit sei ihre Erfahrung der wichtigste<br />

Punkt gewesen, eine um 42% niedrigere Chance, im Jahr 2000 eine Anpassungsweiterbildung<br />

besucht zu haben (Exp(B) von .579, p


18 Daniel Lois<br />

Tab. 4: Schrittweise logistische Regression der Teilnahme an Anpassungs-<br />

Modell 1 Modell 2<br />

19-34 35-49 50-64 19-34<br />

Exp(B)<br />

35-49 50-64<br />

Geschlecht (Mann) 2.072** 1.338* 1.020 1.881** 1.302* .908<br />

Nettoeinkommen .981 1.036 1.127* .955 1.020 1.090+<br />

Ost/West (Ost)<br />

Ausbildungsabschluss<br />

1.252 1.075 .908 1.311 1.096 .914<br />

Kein Berufsabschluss .596 .338** .451 .620 .353** .485<br />

Lehre, Berufsfachschulabschluss<br />

.952 1.248 1.466+ .982 1.286+ 1.437<br />

Meister, Techniker oder<br />

vergleichbar<br />

.923 1.846** 3.492** .826 1.810** 2.962**<br />

(Fach)Hochschulabschluss<br />

Stellung im Beruf<br />

1.555* 1.268 1.345 1.579* 1.209 1.284<br />

<strong>Arbeit</strong>er .593** .721* .442** .561** .734 .415**<br />

Angestellter 1.621** 1.240* .980 1.577** 1.153 .868<br />

Beamter .665 1.157 2.090** .635 1.186 2.164**<br />

<strong>Arbeit</strong>slosigkeit letzte 3 J. (Ja) 1.111 .838 1.834* 1.106 .860 2.096*<br />

Lerndisposition<br />

Veränderungen der <strong>Arbeit</strong>ssituation<br />

1.002 1.275* 1.323* .982 1.223+ 1.358+<br />

Neue EDV-Programme - - - 1.237 1.760** 1.810**<br />

Neue Maschinen (nicht CNC) - - - 2.367** .814 1.160<br />

Neue Maschinen (CNC)<br />

Wichtigster Punkt in der<br />

Umstellungszeit<br />

- - - 1.850** 1.421* 2.865**<br />

Erfahrung von früheren<br />

<strong>Arbeit</strong>splätzen<br />

- - - - - -<br />

Einweisen durch Vorgesetzte/<br />

Kollegen<br />

- - - - - -<br />

Vom Betrieb veranstaltete<br />

Kurse<br />

- - - - - -<br />

Von anderen Trägern<br />

veranstaltete Kurse<br />

- - - - - -<br />

Selbstlernen<br />

Veränderung x Erfahrung<br />

- - - - - -<br />

Neue EDV-Programme x<br />

Erfahrung<br />

- - - - - -<br />

Maschinen (nicht CNC) x<br />

Erfahrung<br />

- - - - - -<br />

Maschinen (CNC) x Erfahrung - - - - - -<br />

Pseudo-R² (Nagelkerke) .079 .054 .136 .121 .073 .181<br />

+ p≤ .10; * p≤ .05; ** p≤ .01; N = 1.187 (19-34 Jahre); N = 1.984 (35-49 Jahre); N = 919 (50-64 Jahre)<br />

Quelle: BSW 2000 (eigene Berechnungen)


Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung älterer Erwerbstätiger<br />

qualifi zierungen im Jahr 2000, differenziert nach Altersgruppen<br />

Modell 3 Modell 4<br />

19-34 35-49 50-64 19-34 35-49 50-64<br />

1.869** 1.261 .935<br />

Exp(B)<br />

1.863** 1.273+ .983<br />

.959 1.021 1.078 .959 1.021 1.069<br />

1.438+ 1.086 .919 1.441+ 1.086 .931<br />

.666 .373* .499 .658 .372** .479<br />

.990 1.279 1.462 .992 1.291+ 1.483+<br />

.689 1.768** 2.868** .689 1.766** 3.280**<br />

1.699* 1.218 1.289 1.715** 1.213 1.303<br />

.553** .681* .428** .551** .668** .418**<br />

1.510** 1.123 .830 1.514** 1.125 .855<br />

.676 1.186 2.223** .674 1.199 2.282**<br />

1.110 .881 2.129* 1.101 .873 2.165*<br />

.968 1.178 1.372+ .972 1.161 1.361+<br />

.720 1.064 2.302** .703 1.161 1.978+<br />

1.731* .648* 1.467 1.906+ .874 2.367*<br />

1.464 1.057 3.344** 1.521 .764 3.857**<br />

1.257 .613* .579+ 1.264 .595* .600<br />

.875 .864 .774 .867 .865 .797<br />

.839 3.077** 1.642+ .831 3.127** 1.628+<br />

4.662** 1.570+ 1.514 4.680** 1.559+ 1.487<br />

.552* .718+ .667 .549* .724+ .643<br />

- - - 1.073 .844 1.263<br />

- - - .782 .457+ .185**<br />

- - - .896 2.323 .613<br />

.152 .106 .193 .152 .109 .215<br />

19


20 Daniel Lois<br />

Die weiterführenden Analysen zeigen, dass die Anpassung älterer Erwerbstätiger an<br />

<strong>Arbeit</strong>splatzveränderungen kein Automatismus ist, sondern von spezifi schen Bedingungen<br />

abhängt: Positive Einstellungen gegenüber dem Lernen und der eigenen Lernfähigkeit geben<br />

offenbar gerade bei älteren Personen darüber den Ausschlag, inwieweit die Beteiligung an<br />

einer formalisierten Bildungsmaßnahme, die „Rückkehr auf die Schulbank“, überhaupt als<br />

Handlungsalternative wahrgenommen wird. Wenig einschneidende Veränderungen der <strong>Arbeit</strong>ssituation<br />

(Beispiel: NC-Maschinen) können zudem verstärkt durch einen Transfer des<br />

Erfahrungswissens bewältigt werden. Dies gelingt bei der Einführung neuer EDV-Programme<br />

bzw. CNC-Maschinen wahrscheinlich deswegen nicht, da die benötigten Qualifi kationen<br />

nicht in der berufl ichen Erstausbildung erworben wurden bzw. geringere Halbwertszeiten<br />

aufweisen. Ältere Mitarbeiter, die von derartigen Innovationen betroffenen sind, bilden sich<br />

verstärkt weiter.<br />

Die Ergebnisse verdeutlichen damit, dass ältere Erwerbstätige keineswegs systematisch<br />

von Qualifi zierungsprozessen ausgeschlossen sind. Unter bestimmten Bedingungen wird<br />

auch in fortgeschrittenen Phasen der Erwerbsbiografi e punktuell und zielgerichtet in das<br />

Humankapital investiert, wenn dies für die Bewahrung der Berufschancen notwendig wird. Zu<br />

ähnlichen Ergebnissen kommen für den US-amerikanischen Bereich Simpson/Greller/Stroh<br />

2002. Die mehr oder weniger starke Einbeziehung älterer Erwerbstätiger in die berufl iche<br />

Weiterbildung on-the-job scheint damit nicht primär eine Frage der Kosten bzw. der Finanzierung<br />

zu sein, sondern vor allem vom „Aufforderungscharakter der Situation“ abzuhängen.<br />

Entscheidend ist, wodurch ein Qualifi zierungsbedarf konkret hervorgerufen wird und unter<br />

welchen Bedingungen er gerade von älteren Mitarbeitern bewältigt werden kann.<br />

Hier besteht noch zu einer Vielzahl von Aspekten Forschungsbedarf: Welche Bedeutung<br />

haben gegenwärtig alternative Reaktionsformen der Betriebe bei Innovationen (z.B. die<br />

Externalisierung durch Frühverrentung oder die Umsetzung auf „Schonarbeitsplätze“)?<br />

Inwiefern konkurriert eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Ruhestandsorientierung als<br />

motivationale Teilnahmevoraussetzung mit der Anpassungsbereitschaft älterer Erwerbstätiger?<br />

Welchen Effekt hat es, wenn ältere Mitarbeiter in den Veränderungsprozess mit einbezogen<br />

werden, indem Innovationen z.B. von der Unternehmensseite im Vorfeld angekündigt und mit<br />

der Belegschaft diskutiert werden (Yeatts/Folts/Knapp 2000)? Die Untersuchung derartiger<br />

Fragestellungen dient nicht „nur“ dem reinen wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse. Die<br />

Qualifi zierung älterer Erwerbstätiger ist ein drängendes Problem unserer Zeit, das angesichts<br />

der demografi schen Entwicklung weiter an Bedeutung gewinnen wird<br />

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22 Daniel Lois<br />

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Anschrift des Verfassers:<br />

Daniel Lois, M.A.<br />

Technische Universität Chemnitz<br />

Institut für Soziologie<br />

D-09107 Chemnitz<br />

E-Mail: Daniel.Lois@phil.tu-chemnitz.de<br />

Schlagwörter: Ältere Erwerbstätige, Weiterbildung, Erfahrungswissen,<br />

technologische Innovationen


Carsten Wirth<br />

Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung:<br />

Eine Organisationsform mit Zukunft?<br />

Abstract<br />

Viele Wissenschaftler/innen und Politiker/innen fordern die Fremdvergabe und damit die Aufgabe der<br />

öffentlichen <strong>Arbeit</strong>svermittlung. In der <strong>Arbeit</strong>svermittlung könnten die Beziehungen und Interaktionen<br />

in Projektnetzwerken koordiniert werden. Ich frage deshalb, ob diese Koordinationsform derzeit auch<br />

in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung eine Organisationsform mit Zukunft ist. Ich beantworte diese Frage vor<br />

dem Hintergrund der Ergebnisse eines Forschungsprojekts über die Organisation und Steuerung der<br />

Fernsehproduktion, in der Projektnetzwerke die dominante Organisationsform sind, der Auswertung<br />

der relevanten Literatur zur (Reform der) <strong>Arbeit</strong>svermittlung und Beobachtungen im Rahmen von<br />

Praxisaufenthalten in zwei <strong>Arbeit</strong>sagenturen. Konzeptionell stütze ich mich auf eine strukturationstheoretisch<br />

informierte Perspektive auf organisationale Felder. Ich zeige, dass die Fremdvergabe der<br />

öffentlichen <strong>Arbeit</strong>svermittlung zurzeit keine Erfolg versprechende Option für die Bundesagentur<br />

für <strong>Arbeit</strong> bzw. für den Gesetzgeber ist, weil zentrale Erfolgsvoraussetzungen nicht erfüllt sind. Die<br />

Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> kann sich stattdessen weitaus stärker als bisher zum Netzwerkorganisator<br />

weiter entwickeln.<br />

1 Einleitung<br />

Unter dem Stichwort ‚Public Private Partnership (PPP)‘ wird trotz zwiespältiger Erfahrungen<br />

mit Kooperationen zwischen öffentlicher und privater Welt (dazu BMAS 2006) die<br />

Fremdvergabe – und damit die (partielle) Aufgabe – der öffentlichen <strong>Arbeit</strong>svermittlung,<br />

insbesondere der von Langzeitarbeitslosen, propagiert (z.B. Bruttel 2005). Bisherige Instrumente<br />

wie die Personal-Service-Agenturen (PSA), ein von gewerbsmäßigen Verleihern<br />

betriebener vermittlungsorientierter Verleih (zum Konzept Bertelsmann Stiftung/Bundesanstalt<br />

für <strong>Arbeit</strong>/Mc Kinsey & Company 2002), den Vermittlungsgutscheinen, mit denen die<br />

Geschäftstätigkeit privater Vermittler subventioniert wird, oder die Beauftragung Dritter mit<br />

(Teilaufgaben) der Vermittlung wirken nicht, führen zu Mitnahmeeffekten (BMAS 2006)<br />

oder bringen unerwünschte Selektionseffekte hervor (Grund 2006). Gleichwohl ist das<br />

contracting-out international weit verbreitet (Gülker/Kaps 2006) und auch eine Option für<br />

die Organisation der <strong>Arbeit</strong>svermittlung in Deutschland, die trotz der Liberalisierung des<br />

Marktes für <strong>Arbeit</strong>svermittlung noch immer dominant in der Organisation ‚Bundesagentur<br />

für <strong>Arbeit</strong>‘ angesiedelt ist. Sie wird in der Organisation, also hierarchisch, koordiniert. Dabei<br />

bemüht sich ein <strong>Arbeit</strong>geberservice um die Akquisition und Besetzung offener Stellen. 80%<br />

der Mitarbeiterkapazität werden der arbeitnehmerorientierten Vermittlung gewidmet. In<br />

dieser wird nach einem Profi ling versucht, eine <strong>Arbeit</strong>smarktintegration zu erreichen. Dazu<br />

<strong>Arbeit</strong>, Heft 1, Jg. 16 (2007), S.23-35


24 Carsten Wirth<br />

nutzen Vermittler Zielgruppen orientierte, aber standardisierte Handlungsprogramme für<br />

unterschiedliche Typen von <strong>Arbeit</strong>slosen.<br />

In anderen Feldern ist hingegen die Zusammenarbeit mit Dritten seit vielen Jahren die<br />

Regel (z.B. Sydow/Windeler 2004 für die Medien- und IT-Industrie). Die Beziehungen<br />

zwischen den Geschäftspartnern werden nicht immer marktlich, also dominant über Preise<br />

koordiniert, sondern häufi g netzwerkförmig koordiniert. So hat sich in der Content-Produktion<br />

für das Fernsehen eine besondere Form Netzwerk durchgesetzt, das „Projektnetzwerk“<br />

(Sydow/Windeler 1999). In diesen Projektnetzwerken koordinieren die Akteure zeitlich<br />

befristete Projekte, arbeiten zugleich projektübergreifend zusammen und orientieren sich<br />

dabei am unternehmungsübergreifenden Beziehungszusammenhang.<br />

In der <strong>Arbeit</strong>sförderung hat eine projektbezogene und zwischenbetrieblich organisierte<br />

Zusammenarbeit Tradition. <strong>Arbeit</strong>sagenturen beauftragen Träger mit der Durchführung von<br />

Maßnahmen zur Förderung der berufl ichen Weiterbildung oder kooperieren mit Rehabilitationseinrichtungen.<br />

Die Gesetze für moderne Dienstleistungen am <strong>Arbeit</strong>smarkt schaffen z.B.<br />

durch die Einführung des § 421 i SGB III zusätzliche Spielräume für eine projektbezogene<br />

und ggfs. wiederkehrende Zusammenarbeit mit Dritten.<br />

Angesichts des Interesses an PPP, dieser Parallelität zwischen der Koordination der<br />

Dienstleistungsproduktion in der Fernsehproduktion und der <strong>Arbeit</strong>sförderung und Vorbildern<br />

für die Durchsetzung dieser Organisationsform im Ausland, z.B. in Australien, stellt<br />

sich die Frage, ob die Koordination der Aktivitäten in Projektnetzwerken ein Modell für die<br />

<strong>Arbeit</strong>svermittlung sein kann, sie also in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung die Organisationsform der<br />

Zukunft ist. Diese Fragestellung zielt dabei weniger auf die Begründung einer ökonomischen<br />

Überlegenheit dieser Organisationsform ab. Vielmehr soll untersucht werden, ob eine Koordination<br />

der <strong>Arbeit</strong>svermittlung in Projektnetzwerken derzeit überhaupt möglich ist – die<br />

deutsche <strong>Arbeit</strong>sverwaltung also anderen bei der Vergabe von Vermittlungsdienstleistungen<br />

nachfolgen kann und gleichzeitig einen hochwertigen Service anbieten kann.<br />

Konzeptionell stützt sich der Beitrag auf eine strukturationstheoretisch erweiterte Perpektive<br />

auf organisationale Felder (dazu grundlegend Giddens 1984 und Powell/DiMaggio<br />

1991). Diese ermöglicht die Berücksichtigung kognitiver und normativer Strukturen auf<br />

unterschiedlichen Ebenen, z.B. in der Organisation, im Netzwerk und im organisationalen<br />

Feld, ohne dabei machtbezogene bzw. ökonomische Aspekte auszublenden. Damit überwindet<br />

dieser Ansatz wichtige Schwächen der neoinstitutionalistischen Organisationssoziologie<br />

und integriert ökonomische Aspekte, die nicht – wie in der Transaktionskostentheorie (dazu<br />

Williamson 1985) – auf die Optimierung der Transaktionskosten verkürzt werden. Zudem<br />

verweist die Strukturationstheorie auf die Notwendigkeit der (Re ) Produktion von Strukturen<br />

(duality of structure) und schärft unseren Blick für Konstitutionsprozesse.<br />

Die empirischen Ergebnisse zur Organisationsform und Steuerung in der Fernsehproduktion<br />

basieren vor allem auf 80 leitfadengestützten Interviews mit Vertretern/innen aus Fernsehproduktionsunternehmungen,<br />

sendern, Medienkonzernen, Gewerkschaften, Verbänden, Film und<br />

Wirtschaftsfördereinrichtungen sowie Branchenexperten/innen. Ergänzt werden diese Daten<br />

durch die Auswertung der einschlägigen Literatur zur (Reform der) <strong>Arbeit</strong>svermittlung und<br />

durch Ergebnisse der Beobachtung der Praktiken der <strong>Arbeit</strong>svermittlung in mehrwöchigen<br />

Praxisaufenthalten in zwei <strong>Arbeit</strong>sagenturen. 1<br />

1 Ich danke der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die fi nanzielle Unterstützung des Projekts Sy 32/2-1 und Sy 32/2-2 im<br />

Rahmen des DFG-Schwerpunkts “Regionalisierung und Globalisierung”. Das Projekt mit dem Titel “Vernetzte Content-Produktion<br />

für das digitale Fernsehen” wurde von Jörg Sydow und Arnold Windeler geleitet; Anja Lutz und Carsten Wirth waren


Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung: Eine Organisationsform mit Zunkunft?<br />

In diesem Beitrag zeige ich, dass die Koordination der <strong>Arbeit</strong>svermittlung in marktlichen<br />

Beziehungen oder in Projektnetzwerken zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Erfolg versprechende<br />

Option für die Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> (BA) bzw. für den Gesetzgeber ist, weil das<br />

Feld der <strong>Arbeit</strong>sförderung zahlreiche Voraussetzungen nicht erfüllt. Alternativ dazu kann die<br />

BA weitaus stärker als bisher zum „Netzwerkorganisator“ (Sydow u.a. 1995) weiterentwickelt<br />

werden, um einen höheren gesellschaftlichen Nutzen zu stiften.<br />

Mein Argument entwickele ich wie folgt: Im zweiten Kapitel stelle ich grundlegende<br />

organisatorische Alternativen für die Koordination einer zwischenbetrieblichen Zusammenarbeit<br />

vor und diskutiere die Komplexität der <strong>Arbeit</strong>svermittlung. Das dritte Kapitel ist<br />

der Organisation von Projektnetzwerken und ihrer Steuerung in der Content-Produktion für<br />

das Fernsehen gewidmet. Daran anknüpfend skizziere ich im vierten Kapitel, warum die<br />

Option ‚Projektnetzwerk‘ für die BA und den Gesetzgeber trotz vielfältiger Anreize wenig<br />

Erfolg versprechend ist. Im abschließenden fünften Kapitel erläutere ich eine Alternative<br />

zur Vergabe von Vermittlungsdienstleistungen, die die Marktposition der BA festigt und der<br />

Gesellschaft einen größeren Nutzen stiftet.<br />

2 Interorganisationale Beziehungen in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung:<br />

Märkte oder Netzwerke?<br />

Die Abgrenzung von netzwerk- und marktförmiger Koordination in Beziehungen zwischen<br />

Organisationen, also in interorganisationalen Zusammenhängen, basiert auf der Dominanz<br />

einer Koordinationsform (Windeler 2001, 235). Auf Märkten ist der Preis für die Koordination<br />

ökonomischer Aktivitäten zentral, wenngleich – sieht man vom Extrempunkt des diskreten<br />

Tauschs ab – soziale Beziehungen auch auf Märkten bedeutsam sind (Zukin/DiMaggio<br />

1990). In Netzwerken sind die Beziehungen zwischen Akteuren, hier Organisationen, für<br />

ihre Bestimmung zentral und dominant. Dementsprechend defi niert Windeler (2001, 231ff.<br />

am Beispiel von Unternehmungsnetzwerken) interorganisationale Netzwerke über den relativ<br />

dauerhaften Beziehungszusammenhang zwischen rechtlich selbstständigen Organisationen,<br />

die keiner einheitlichen Leitung unterworfen sind.<br />

Eine marktliche Koordination ist – aus transaktionskostentheoretischer Sicht – angeraten,<br />

wenn z.B. Unsicherheit und Komplexität gering sind (Hoffmann 1999, 36). Die herrschende<br />

Sichtweise auf <strong>Arbeit</strong>svermittlung geht von einer solchen geringen Komplexität der Aufgabe<br />

aus: Anforderungs und Qualifi kationsprofi l sind miteinander abzugleichen, ggfs. bestehende<br />

Differenzen durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zu beseitigen und dann Beschäftiger<br />

und <strong>Arbeit</strong>suchender zusammen zu führen (so z.B. Scheller 2005).<br />

Im Unterschied zum Mainstream betrachte ich <strong>Arbeit</strong>svermittlung hingegen als eine<br />

ausgesprochen komplexe Dienstleistung. Die Ermittlung des Qualifi kationsprofi ls sollte<br />

– anders als in der üblichen Praxis – alle Lernorte in der Ausbildung, im Berufsleben und<br />

in der Freizeit systematisch in die Erhebung einbeziehen. Professionelle <strong>Arbeit</strong>svermittler<br />

eruieren und bewerten die Spezifi tät der jeweiligen Qualifi kationen bzw. Kompetenzen,<br />

erheben nicht nur formelle Qualifi kationen, sondern z.B. auch die Kompatibilität von<br />

Sichtweisen und Normen einschließlich professioneller Standards, denken in Berufs bzw.<br />

Jobfamilien und organisationalen Feldern, um zusätzliche berufl iche Optionen zu generieren.<br />

in ihm als Projektmitarbeiter tätig. Wichtige Hinweise, die das Manuskript verbesserten, erhielt ich von Michael Franck, Jörg<br />

Sydow und den Herausgeber/innen dieser <strong>Zeitschrift</strong>.<br />

25


26 Carsten Wirth<br />

Sie berücksichtigen dabei z.B. auch gesundheitliche und lebensweltliche Aspekte. Folglich<br />

benötigen <strong>Arbeit</strong>svermittler/innen hohe Qualifi kationen und Kompetenzen in (berufl icher)<br />

Beratung, Eignungsdiagnostik, Berufskunde, Personalmanagement sowie ausgeprägte<br />

Branchenkenntnisse. Dies setzt ein relativ hohes Maß an Stabilität der Organisationsform<br />

und der <strong>Arbeit</strong>sverhältnisse voraus, da sonst entsprechende Kompetenzen nicht erworben<br />

oder aufgebaut werden können bzw. die Organisationen Wissen nicht akquirieren können<br />

und/oder wieder verlieren. Insofern können die in der Wirkungsforschung konstatierten<br />

Qualitätsmängel bei fremdvergebenen Vermittlungsdienstleistungen (BMAS 2006) auch<br />

als Bestätigung einer falschen Einschätzung hinsichtlich der Komplexität der Dienstleistung<br />

<strong>Arbeit</strong>svermittlung reinterpretiert werden.<br />

Im Matching-Prozess gleichen <strong>Arbeit</strong>svermittler/innen das Kompetenzprofi l mit dem<br />

Anforderungsprofi l des <strong>Arbeit</strong>splatzes ab. Dadurch wird die Erhebung der Anforderungen<br />

strategisch bedeutsam. Will man sich nicht – wie in der Praxis üblich – auf relativ pauschale<br />

Einschätzungen der <strong>Arbeit</strong>splatzanbieter verlassen, so ist entweder die Anwendung sehr aufwändiger<br />

Fragebögen erforderlich (die Beispiele in Schuler 2004) oder es sind mit eigenen<br />

praxisorientierten Fragebögen die unterschiedlichen Anforderungsarten zu erheben. Dies<br />

wiederum erfordert kompetente Mitarbeiter/innen, die die Frage(böge)n situationsadäquat<br />

modifi zieren können, den Branchenbezug herstellen können und eine Vorstellung davon<br />

haben, welche Anforderungen in den Betrieben konkret gestellt werden. Um diese Herausforderungen<br />

bewältigen zu können, bedarf es nicht nur kompetenter Mitarbeiter/innen,<br />

sondern auch beziehungsspezifi scher Investitionen, z.B. durch Betriebsbesuche, die sich nur<br />

in langfristigeren Beziehungen amortisieren können.<br />

Das Zusammenführen von <strong>Arbeit</strong>suchendem und Beschäftiger geht über die Aushändigung<br />

von Vermittlungsvorschlägen hinaus. Es ist ein komplexer Aushandlungsprozess, in dem<br />

z.B. zeitliche, räumliche, fi nanzielle und inhaltliche Vorstellungen von <strong>Arbeit</strong>sanbieter und<br />

nachfrager in Einklang gebracht werden. Dies setzt wiederum implizites Wissen über die<br />

Beschäftigungsbedingungen und Fähigkeiten zur berufl ichen sowie betrieblichen Beratung<br />

voraus, damit Integrationsprozesse unterstützt werden können und die Bewerber/innen sich in<br />

ihren Aktivitäten refl exiv auf die Rekrutierungsstrategien von Unternehmungen beziehen.<br />

<strong>Arbeit</strong>svermittlung ist in umfassendere Kontexte eingebettet. Die „Struktur und Funktionsweise<br />

von <strong>Arbeit</strong>smärkten“ (Sengenberger 1987) ist genauso aufzunehmen wie Ideosynkrasien<br />

verschiedener organisationaler Felder bzw. Branchen. Schon die grundsätzliche<br />

„soziale Einbettung“ (Granovetter 1985) ökonomischen Handelns erfordert ein hohes Maß<br />

an implizitem Wissen, das nur durch eine stabile Organisation und langfristig beschäftigte<br />

<strong>Arbeit</strong>skräfte entsteht, und – damit dieses Wissen akquirierbar wird – eine branchenbezogene<br />

Organisation der <strong>Arbeit</strong>svermittlung.<br />

Diese Ausführungen zeigen exemplarisch, dass die Produktion der Dienstleistung ‚<strong>Arbeit</strong>svermittlung‘<br />

ein hohes Maß an (implizitem) Wissen und stabile Beziehungen erfordert.<br />

Insofern scheidet eine marktliche Koordination von Beziehungen zu Dienstleistern aus, denn<br />

komplexe(re) Dienstleistungen erfordern eine stärkere „Kundenintegration“ (Kleinaltenkamp<br />

1998). Der Markt versagt, wenn es um langfristige Investitionen in Beziehungen und<br />

Wissen geht. Hingegen können selbst wenig kompetente Organisationen „wissensintensiv<br />

durch Netzwerkorganisation“ (Sydow/van Well 1996) werden. Eine netzwerkförmige, am<br />

relativ dauerhaften Beziehungszusammenhang ausgerichtete Koordination verspricht zumindest<br />

ansatzweise die Anforderungen an Stabilität und Verlässlichkeit zu erfüllen. Ich führe


Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung: Eine Organisationsform mit Zunkunft?<br />

deshalb im nächsten Kapitel aus, wie die Stabilität in der Fernsehproduktion in der fl uiden<br />

Koordinationsform ‚Projektnetzwerk’ organisiert wird<br />

3 Projektnetzwerke in der TV Content-Produktion<br />

3.1 Organisationsformen in der TV Content-Produktion: Von der<br />

Hierarchie über den Markt zum Netzwerk<br />

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland produzierte früher Inhalte in Projekten<br />

in sendereigenen Studiobetrieben (hierarchische Koordination). Nur wenige Freiberufl er,<br />

z.B. Drehbuchautoren, werden in die Projekte einbezogen. Dies ändert sich drastisch mit<br />

der Zulassung privater Fernsehsender im Jahr 1984. Diese kaufen Content auf dem Markt,<br />

vornehmlich in den USA (ausführlich Windeler/Sydow 2001). Dieses Geschäftsmodell<br />

gerät jedoch bald in die Krise, weil z.B. Fernsehzuschauer heimische Handlungsorte und<br />

bestimmte Stoffe präferieren. In dieser Situation optieren die privaten Sender nicht für die<br />

Eigenproduktion nach öffentlich-rechtlichem Vorbild, sondern für die Produktion von Inhalten<br />

in Projektnetzwerken, die heute die – im Übrigen weltweit – dominante Organisationsform<br />

ökonomischer Aktivitäten in der Fernsehproduktion sind. In ihnen wickeln die beteiligten<br />

(oft Ein-Personen ) Unternehmungen ihre Projekte ab. Sie knüpfen dabei an Erfahrungen aus<br />

früheren Projekten an. Zugleich koordinieren sie die Zusammenarbeit mit Blick auf zukünftige<br />

Projekte. Indem die beteiligten Unternehmungen wiederkehrend zusammenarbeiten, z.T.<br />

über Jahre hinweg, entsteht eine relative Stabilität in der Zusammenarbeit. Verstärkt wird<br />

die Stabilität der Organisationsform durch ein „Beziehungsmanagement“ (Diller/Kusterer<br />

1988) im Zeitraum zwischen Projekten, indem Projektbeteiligte Beziehungen, z.B. auf Messen,<br />

Festivals und anderen Branchentreffen, auch in Zeiten ohne gemeinsame Produktion<br />

pfl egen. Wechselseitiges Wissen, gemeinsame Ansichten über Fragen der Ästhetik sowie<br />

über <strong>Arbeit</strong>sabläufe und praktiken zwischen den als wichtig angesehenen Projektbeteiligten<br />

versetzen die Produktionsfi rmen erst in die Lage, Kundenanforderungen zu erfüllen. Dazu<br />

selektieren die strategischen Führer in den Projektnetzwerken, der Fernsehproduzent und<br />

insbesondere der Fernsehsender, aus einem Pool von Unternehmungen und/oder Beschäftigten<br />

ihre Projektpartner.<br />

Hierarchische Koordinationsformen bleiben trotz der verbreiteten Content-Produktion<br />

in Projektnetzwerken in der Medienindustrie von Bedeutung. Insbesondere fi nanziell lukrative<br />

Produkte (z.B. Soaps) werden, wenn möglich, im Konzern produziert. Deshalb sind<br />

Netzwerke in der Fernsehproduktion nicht selten „konzerngesteuerte Projektnetzwerke“<br />

(Wirth/Sydow 2004). Selbst wenn Medienkonzerne Produktionsfi rmen aufkaufen, um über die<br />

Alteigentümer das kreative Potential dieser Unternehmungen zu binden, scheint die Zukunft<br />

der überwiegenden Produktion von Content in Projektnetzwerken gesichert.<br />

Damit Projektnetzwerk und Beziehungsmanagement funktionieren können, werden<br />

bestimmte Funktionen, die üblicherweise in Unternehmungen internalisiert sind, an das<br />

organisationale Feld der Fernsehproduktion partiell ausgelagert. Dazu gehören die Aus- und<br />

Weiterbildung sowie Finanzierung, die in vernetzten regionalisierten organisationalen Feldern,<br />

eben in „Medienregionen“ (Lutz/Sydow 2002), nicht zuletzt in Folge aktiver Wirtschaftspolitik,<br />

konzentriert sind. Zudem sind die Akteurskonstellationen, Regulationen und Praktiken<br />

27


28 Carsten Wirth<br />

in organisationalen Feldern Gegenstand von Prozessen „strategischer Institutionalisierung“<br />

(Zimmer 2001) von Medienkonzernen, die das Feld in ihrem Interesse beeinfl ussen. So<br />

sorgen sie z.B. im Zuge von PPPs dafür, dass die jeweiligen Bundesländer die Knappheit an<br />

Kreativen durch die Gründung von Aus- und Weiterbildungseinrichtungen überwinden helfen<br />

und bremsen damit den Anstieg der Entgelte für Kreative (Windeler/Wirth 2004).<br />

3.2 Steuerung von Projektnetzwerken in der Fernsehproduktion<br />

Steuerung verlangt aus strukturationstheoretischer Sicht die Bindung und Orientierung sozialer<br />

Praktiken. Dies geschieht auf den nur analytisch trennbaren Dimensionen der Signifi kation,<br />

der Legitimation und der Domination auf mehreren Ebenen. Das bedeutet, dass die die<br />

sozialen (Steuerungs-) Praktiken kennzeichnenden Sicht-, Handlungs- und Legitimationsweisen<br />

rekursiv in der Interaktion, in der Organisation bzw. Konzern, dem Netzwerk bis hin<br />

zu gesellschaftsweiten Institutionen (re)produziert werden müssen und darauf die Akteure<br />

refl exiv, aber unterschiedlich machtvoll Einfl uss nehmen (dialectic of control) (Giddens<br />

1984; Windeler 2001).<br />

Die Steuerung von Fernsehsender, -produzent und Dienstleister in Projektnetzwerken<br />

orientiert sich vor allem an bestimmten Selektionskriterien, z.B. der Attraktivität der vorgeschlagenen<br />

Inhalte, und an den unterschiedlichen Gewichtungen der Steuerungsgrößen<br />

Inhalt, Budget und Einschaltquote in den Geschäftsprofi len der Netzwerkunternehmungen.<br />

So kooperiert RTL II bevorzugt mit Unternehmungen wie Endemol und Fremantle, die<br />

Sendungen wie Big Brother produzieren, weil sie die Zielgruppen des Senders zu einem<br />

günstigen Preis mit spezifi schen Inhalten erreichen. Der WDR hingegen arbeitet bevorzugt<br />

mit „Qualitätsproduzenten“ zusammen, die Inhalte zu einem höheren Minutenpreis und hohen<br />

Einschaltquoten in einer anderen Zielgruppe erstellen (ausführlich Windeler/Lutz/Wirth<br />

2000). Indem sich Fernsehsender, -produzent und Dienstleister rekursiv auf die jeweiligen<br />

Selektionskriterien und Geschäftsprofi le beziehen, konstituieren sie Fernsehsender-, -produzenten<br />

und Dienstleisterprofi le. Abbildung 1 veranschaulicht dies am Beispiel der Beziehung<br />

zwischen Fernsehsender und -produzent:<br />

Durch die fortwährende Reselektion werden Selektionskriterien und Geschäftsprofi le<br />

häufi g über viele Jahre in machtasymmetrischen Prozessen im Netzwerk fortgeschrieben,<br />

angepasst und modifi ziert. Dabei entsteht durch die wiederkehrende Selektion die für Projektnetzwerke<br />

typische „Flexibilität durch Stabilität“ (Sydow 2001).<br />

Im Zuge der Interaktionen in Projektnetzwerken können sich die Akteure aufeinander<br />

einstellen, aneinander anpassen und wechselseitig Veränderungen in Angriff nehmen. Die<br />

Voraussetzungen dafür stellt u.a. das dominant netzwerkförmig koordinierte organisationale<br />

Feld der Fernsehproduktion bereit. So werden Veränderungen in den Geschäftsprofi len<br />

auch auf den zahlreichen Branchentreffen, Messen und Tagungen der Branchenverbände<br />

verbreitet. Aus- und Weiterbildungseinrichtungen, die typischerweise Vertreter/innen der<br />

Unternehmungen als Dozenten/innen kooptieren, tragen dazu bei, dass entsprechende Sicht<br />

und Handlungsweisen entwickelt werden. Wirtschafts und Filmfördereinrichtungen, z.B. die<br />

Filmstiftung Nordrhein-Westfalen, entwickeln sich zu brokern in Medienregionen, die die<br />

Akteure aus der Finanzwelt, Politik, Wirtschaft, Aus- und Weiterbildung zusammenführen<br />

und somit zur Abstimmung der (Steuerungs- und Selektions-) Praktiken beitragen.<br />

Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass die Funktionsfähigkeit der fl exibel-stabilen<br />

Organisationsform ‚Projektnetzwerk’ von einer doppelten Vernetzung, derjenigen im<br />

Projektnetzwerk und im organisationalen Feld, und sich rekursiv stabilisierender Prozesse


Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung: Eine Organisationsform mit Zunkunft?<br />

der Vernetzung auf diesen Ebenen abhängt. Lässt sich diese Organisationsform auf die <strong>Arbeit</strong>svermittlung<br />

in Deutschland übertragen?<br />

Abb. 1: Das rekursive Zusammenspiel von Sender- und<br />

Produzentenprofi len<br />

Selektionskriterien der Sender Selektionskriterien der Produzenten<br />

• Attraktivität vorgeschlagener<br />

Inhalte<br />

• Ausreichende Kapitalausstattung<br />

• Fähigkeit Projektnetzwerke<br />

kompetent zu koordinieren<br />

• Positive Erfahrungen<br />

• Bevorzugung konzerneigener<br />

Produzenten<br />

Quelle: Windeler/ Lutz/ Wirth 2000, 196<br />

• Auf dem nationalen Fernsehmarkt<br />

aktive Sender<br />

• Programmanbieter von Serien/ ...<br />

• Sender vertrauter Produktionswelten<br />

• Qualität und Historie der Beziehungen<br />

zur Redaktion/ Sender, ...<br />

• Positive Erfahrungen<br />

Budget Budget<br />

SENDER<br />

PRODUZENTEN<br />

Inhalt Einschaltquote Inhalt Einschaltquote<br />

Senderprofi le Produzentenprofi le<br />

4 Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung: Anreize,<br />

Voraussetzungen und Chancen<br />

Die Koordination der Aktivitäten der <strong>Arbeit</strong>svermittlung in Projektnetzwerken hat Charme.<br />

Sie ermöglicht einen drastischen Personalabbau in der BA. Die Auslagerung der <strong>Arbeit</strong>svermittlung<br />

in derartige Projektnetzwerke ermöglicht zudem eine radikal ergebnisbezogene<br />

Steuerung über Kontrakte, verringert somit das Transformationsproblem mit der Ware<br />

<strong>Arbeit</strong>skraft, homogenisiert die Belegschaft und macht Expertise in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung<br />

weitgehend überfl üssig. Die mit der Bundesregierung vereinbarten Kontrakte wären dazu<br />

nur noch in Subkontrakte mit Dritten herunter zu brechen. Eine Konzentration auf die (neue)<br />

29


30 Carsten Wirth<br />

Kernkompetenz der BA, die Gestaltung der Marktordnung, wäre möglich. Projektnetzwerke<br />

sind legitim, weil arbeitsmarktpolitisch erfolgreiche (re) Staaten diese Koordinationsform<br />

nutzen (Stichwort: Benchmarking). Die Umstellung auf das Kontraktmanagement Dritter<br />

in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung schafft lukrative Positionen für Mitarbeiter/innen mit einem betriebswirtschaftlichen<br />

Hintergrund (und macht andere überfl üssig).<br />

Mit der Fremdvergabe der <strong>Arbeit</strong>svermittlung wechselt die Beschäftigung vom öffentlichen<br />

Dienst und Beamtenrecht in das <strong>Arbeit</strong>srecht. Der Auftraggeber kann so die unterschiedliche<br />

Regulierungsdichte zwischen öffentlichem und privatem Sektor sowie die unterschiedlichen<br />

<strong>Arbeit</strong>sbedingungen, nicht zuletzt die sich verschlechternden <strong>Arbeit</strong>sbedingungen bei Trägern,<br />

(Produktions- und Transaktions-) Kosten senkend nutzen. Die Aufzählung der Anreize<br />

zeigt, dass der häufi g in diesem Zusammenhang rezipierte Transaktionskostenansatz (so z.B.<br />

von Gülker/Kaps 2006) nicht alle relevanten Überlegungen thematisieren kann und eine<br />

strukturationstheoretische Analyse zusätzliche Einsichten generiert.<br />

Für eine netzwerkförmige Koordination von Dienstleistern in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung müssen<br />

zahlreiche Voraussetzungen erfüllt sein. Eine Garantie von <strong>Arbeit</strong>svermittlung setzt nicht<br />

nur eine staatliche Organisation oder Beziehungen zu qualitativ hochwertigen Dienstleistern<br />

voraus, sondern auch Netzwerkbeziehungen zwischen weiteren Akteuren, z.B. Qualitätssicherungsstellen,<br />

Aus- und Weiterbildungsinstitutionen sowie Trägern der <strong>Arbeit</strong>sförderung. Sie<br />

ermöglichen die Anschlussfähigkeit der Praktiken, Informationsaustausch und Lernen. Die<br />

Erfahrungen mit PSAs und in der Zusammenarbeit mit privaten Vermittlern zeigen jedoch,<br />

dass gerade die Organisationen fehlen, die Professionalität sowie Aus- und Weiterbildung<br />

sicherstellen. Die Akteure der privaten <strong>Arbeit</strong>svermittlung als auch freie Träger sind stark<br />

eigeninteressiert, 2 so dass eine effektive und effi ziente Kooperation nur schwer zu sichern<br />

ist. Ein Teil der Betreiber von PSAs, z.B. Maatwerk, wurde von seinem Management mit<br />

riskanten Konzepten in die Insolvenz geführt oder auch wegen Betrugs angeklagt. Zudem<br />

hat die vermarktlichte Auftragsvergabe der BA die Zahl der Träger dezimiert. Wichtige<br />

Kompetenzen sind dadurch im organisationalen Feld verloren gegangen, weil im Zuge<br />

eines „extremen Preisdumpings“ (BMAS 2006, 82) vor allem Billiganbieter mit geringen<br />

qualitativen Ansprüchen überlebt haben (dazu auch Schütz 2005). 3 Die BA kann heute weniger<br />

denn je, nicht zuletzt wegen ihrer eigenen Vergabepraxis, auf ein Set von etablierten<br />

Organisationen zurückgreifen, die Erfahrungen in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung besitzen und über<br />

entsprechende Beziehungen verfügen. 4 Wegen dieses geringen Grades an Koordination und<br />

wegen des Fehlens zentraler Organisationen, z.B. von brokern, ist das organisationale Feld<br />

der <strong>Arbeit</strong>sförderung gegenwärtig mit Blick auf eine Netzwerkorganisation noch unreif.<br />

Die Akteurskonstellation im Feld der <strong>Arbeit</strong>sförderung befi ndet sich allerdings im Wan-<br />

2 PSA-Betreiber minimierten z.B. verleihfreie Zeiten, in dem sie Vermittlungsvorschläge der <strong>Arbeit</strong>sagenturen<br />

solange zurückwiesen, bis sie einen Auftrag hatten.<br />

3 Mittlerweile versucht die BA die Beziehungen zu stabilisieren, indem im Vergabeverfahren auch die Erfahrungen<br />

in der Zusammenarbeit berücksichtigt werden. Diese Praxis der BA kritisiert aber der Bundesrechnungshof.<br />

Dies zeigt, wie wenig im organisationalen Feld der <strong>Arbeit</strong>sförderung in Netzwerken gedacht und gehandelt wird<br />

bzw. wie wenig dies möglich ist. Um die Qualität in der Ausschreibung von <strong>Arbeit</strong>smarktdienstleistungen zu<br />

sichern, werden mittlerweile auch Praktiker/innen aus operativen Bereichen einbezogen. Ob diese Maßnahmen<br />

die Qualität und Wirtschaftlichkeit sichern, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht beurteilt werden.<br />

4 Diese Aussage belegen auch Evaluationsstudien, die der Beauftragung von Trägern mit Eingliederungsmaßnahmen<br />

nach § 421 i SGB III mit einer dezentralen Form der Auftragsvergabe im Vergleich mit der zentralisierten<br />

Vergabe von Vermittlungsdienstleistungen nach § 37 SGB III bessere, aber nicht besonders gute<br />

Ergebnisse attestieren (Gülker/Kaps 2006). Allerdings ist zu beachten, dass die <strong>Arbeit</strong>sagenturen zuweilen<br />

keine Träger für Maßnahmen nach § 421 i SGB III für so genannte Betreuungskunden fi nden, weil diese unter<br />

den Bedingungen einer vermarktlichten Auftragsvergabe keine Angebote abgeben oder Träger sich ganz aus<br />

diesen Geschäftsfeldern zurückziehen.


Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung: Eine Organisationsform mit Zunkunft?<br />

del. Ausländische Anbieter, z.B. die australische Ingeus, treten in das Feld ein und nutzen<br />

Beziehungen zu anderen Akteuren, z.B. zu einer privaten Fachhochschule mit Kontakten in<br />

die BA-Zentrale. Sie experimentieren mit einem „Markteintritt als Netzwerkeintritt“ (Sydow/<br />

Windeler/Wirth 2003). Oder sie gründen, so z.B. Randstad, unternehmenseigene Stiftungen,<br />

die beispielsweise Tagungen co-fi nanzieren und den interessierten Akteuren Gelegenheit<br />

geben, mit Entscheidungsträgern aus Ministerien und BA zu interagieren. Die Aktivitäten<br />

dieser Akteure sind zurzeit noch recht unkoordiniert, nicht zuletzt wegen konfl igierender<br />

Interessen. Von einer refl exiven Feldentwicklung kann noch nicht die Rede sein. Insofern ist<br />

abzuwarten, wie sich das Feld der <strong>Arbeit</strong>sförderung entwickelt.<br />

Zentrales Element organisationaler Felder sind ihre Regulationen (Leblebici u.a. 1991),<br />

die eine Vernetzung ermöglichen müssen. Dies ist aber aufgrund des Vergaberechts im<br />

öffentlichen Dienst zumeist nicht möglich, weil sich dieses an marktlichen Beziehungen<br />

orientiert. Diese Regulationen müssten auch auf europäischer Ebene beeinfl usst oder sogar<br />

neu gestaltet werden, damit eine netzwerkförmige Zusammenarbeit möglich ist. Die BA und<br />

andere Organisationen aus dem Feld der <strong>Arbeit</strong>sförderung haben aber bislang nur wenig<br />

Erfahrung in Lobbyarbeit und sind an den relevanten Stellen kaum präsent. 5 Ferner ist die<br />

Koordination zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, insb. zwischen Politik<br />

und Wirtschaft, aufgrund fehlender und z.T. konfl igierender Beziehungen problematisch.<br />

Für eine Netzwerksteuerung fehlen in der BA das Know-how und auch Instrumente. Die<br />

eindeutig marktlich (denn netzwerkförmig) gestaltete Beschaffung organisieren regionale<br />

Einkaufszentren, die die kaufmännische und rechtlich korrekte Abwicklung beherrschen. Diese<br />

Zentren generieren projektbezogene Beziehungen von geringer, eher markttypischer Stabilität.<br />

Eine systematische Refl exion auf die Beziehungszusammenhänge der Auftragnehmer fi ndet<br />

in der Regel nicht statt (so auch Schütz 2005). Dies hat Konsequenzen für die Personalpolitik<br />

der Träger, die wegen der Instabilität marktlicher Beziehungen die Stellen vorwiegend mit<br />

Freiberufl ern/innen sowie befristet Beschäftigten besetzen. Sie formieren – anders als in der<br />

Fernsehproduktion – keine „semi-permanent work groups“ (Blair 2001), sondern greifen auf<br />

„secondary labor markets“ (Doeringer/Piore 1971) zu. Die Erwerbstätigen wiederum suchen<br />

wegen dieser Instabilität nach Alternativen und fi nden diese z.T. auch im Zuge der Umsetzung<br />

von Hartz IV in <strong>Arbeit</strong>sgemeinschaften und optierenden Kommunen. Insofern verstärken<br />

sich hier kurzfristige Orientierungen rekursiv und erschweren die Professionalisierung, den<br />

Aufbau stabiler Beziehungen zu <strong>Arbeit</strong>gebern sowie den Erwerb impliziten Wissens über<br />

(die Funktionsweise von) <strong>Arbeit</strong>smärkte(n) und Branchen.<br />

„Refl exive Vernetzung“ (Windeler 2001) hingegen erfordert den Aufbau, die Pfl ege und ggf.<br />

auch die Restrukturierung von Pools innerhalb der Netzwerkorganisation. Sie ist anhand von<br />

Selektions- und Evaluationskriterien als auch -verfahren zu regulieren. Refl exive Vernetzung<br />

setzte voraus, dass die BA Wissen über die Netzwerkorganisationen, ihre Kompetenzen sowie<br />

Stärken und Beziehungen erlangt. Dies erfordert ein entsprechendes Beziehungsmanagement<br />

mit Trägern der <strong>Arbeit</strong>sförderung, über das Einblicke in die Netzwerkorganisationen<br />

gewonnen, Veränderungen kommuniziert und umgekehrt Veränderungen in den Netzwerkorganisationen<br />

aufgenommen werden können. Aufgrund der vermarktlichten Auftragsvergabe<br />

fehlt dieses (Netzwerk ) Wissen in der BA. Im Unterschied zur Fernsehindustrie verfügt die<br />

5 So hat das Brüsseler Büro der BA nur wenige Mitarbeiter/innen, die zudem überwiegend andere Aufgaben<br />

übernehmen.<br />

31


32 Carsten Wirth<br />

BA auch nicht über einen ausdifferenzierten Steuerungsapparat und Tochterunternehmen, 6<br />

über die dieses Wissen beschafft werden kann. Nach einer (vollständigen) Fremdvergabe<br />

der <strong>Arbeit</strong>svermittlung würde die BA den Zugang zu diesem Wissen endgültig einbüßen,<br />

Kosten könnten explodieren und die Aktivitäten der Anbieter könnten nicht mehr gesteuert<br />

werden – nicht zuletzt, weil Spezialisten/innen für Fremdvergabe und Vernetzung im Feld<br />

der <strong>Arbeit</strong>sförderung am <strong>Arbeit</strong>smarkt nicht verfügbar sind.<br />

Die Fremdvergabe der <strong>Arbeit</strong>svermittlung in marktlichen wie auch in netzwerkförmigen<br />

Beziehungen gefährdet die Existenz der BA insgesamt, denn sie führt letztlich zu einem<br />

„hollowing out“ (Bettis/Bradley/Hamel 1992): Die Gemeinkostensteigerungen werden<br />

in Folge weiterer Funktionsauslagerungen in Markt oder Netzwerk auf einen geringeren<br />

Leistungsumfang verteilt, führen so zu steigenden „Stückkosten“ und lösen weitere Auslagerungstendenzen<br />

aus. Im Ergebnis wird die BA als self-fullfi lling prophecy immer unwirtschaftlicher<br />

und muss aufgelöst oder ihre Aktivitäten auf die Auszahlung von <strong>Arbeit</strong>slosengeld<br />

I beschränkt werden.<br />

Die Koordination der Aktivitäten der <strong>Arbeit</strong>svermittlung in Projektnetzwerken stellt<br />

auf den Ebenen des organisationalen Felds, des interorganisationalen Netzwerks und der<br />

Organisation jeweils spezifi sche Herausforderungen, für deren Bewältigung weder die BA<br />

noch andere Organisationen zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausreichend vorbereitet sind. Die<br />

Gründe hierfür sind zum einen das unreife organisationale Feld, das keine professionelle<br />

<strong>Arbeit</strong>svermittlungspraktiken hervorbringt, zum anderen die vermarktlichten Beziehungen,<br />

die u.a. durch den regulativen Kontext gefördert werden, und das damit verknüpfte Steuerungs<br />

und Stabilitätsdefi zit. Zudem sind die Akteure im Feld stark eigeninteressiert, was die<br />

Transaktionskosten erhöht. Projektnetzwerke stellen deshalb (noch) keine Organisationsform<br />

der Zukunft in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung dar. Es ist allenfalls denkbar, dass ergänzend Dritte<br />

aus numerischen Gründen oder in besonderen Fällen, z.B. um <strong>Arbeit</strong>smarktintegrationen in<br />

ethnische Ökonomien zu erreichen, wegen Kompetenzvorsprüngen zum Einsatz kommen.<br />

Auch für eine schrittweise Fremdvergabe der öffentlichen <strong>Arbeit</strong>svermittlung fehlen gegenwärtig<br />

noch die Akteure, Regulationen und entsprechende Praktiken im organisationalen<br />

Feld der <strong>Arbeit</strong>sförderung. Erst nach einer refl exiven Feldentwicklung und einer Vernetzung,<br />

die anschlussfähige Praktiken hervorbringt, – also nach einem Reifungsprozess im Feld<br />

der <strong>Arbeit</strong>sförderung – könnte ernsthaft an eine <strong>Arbeit</strong>svermittlung in Projektnetzwerken<br />

gedacht werden. Bislang gibt es aber noch keinen Akteur, der sich der Feldentwicklung<br />

(erfolgreich) (ge)widmet (hat). Dieser Befund – organisations- und netzwerktheoretisch<br />

fundiert – wirft zugleich ein kritisches Licht auf das in der öffentlichen Verwaltung immer<br />

häufi ger praktizierte und von Unternehmungsberatungen propagierte Benchmarking, das die<br />

Komplexität der Realität nicht adäquat würdigt und dem überkommenen Leitbild möglicher<br />

Best Practices anhängt. Denn lernen von anderen ist schwieriger als vielfach wahrgenommen<br />

– nicht zuletzt, weil auf mehreren Ebenen anschlussfähige Praktiken und – damit verknüpft<br />

– Sicht- Handlungs- und Legitimationsweisen entwickelt werden müssen.<br />

Wenn vermarktlichte Beziehungen und auch Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung<br />

keine Erfolg versprechende Option sind, wie könnte dann die Wirksamkeit der öffentlichen<br />

<strong>Arbeit</strong>svermittlung erhöht werden?<br />

6 So hat der Fernsehsender RTL Mehrheitsbeteiligungen an 36 Fernsehproduktionsunternehmen (Wirth/ Sydow<br />

2004).


Projektnetzwerke in der <strong>Arbeit</strong>svermittlung: Eine Organisationsform mit Zunkunft?<br />

5 Eine Alternative: Die BA als Netzwerkorganisator<br />

Die BA kann zum Netzwerkorganisator werden, indem sie arbeitsmarktpolitische Instrumente<br />

in Kombination mit Beziehungen zu Dritten refl exiv für die <strong>Arbeit</strong>smarktintegration <strong>Arbeit</strong>sloser<br />

nutzt. Beispielsweise kooperierte ein Logistikdienstleister eng mit der <strong>Arbeit</strong>sagentur<br />

bei der Einstellung (Langzeit-) <strong>Arbeit</strong>sloser. Voraussetzung für die Einstellung war, dass<br />

im Rahmen einer Trainingsmaßnahme bei einem dem Logistikdienstleister bekannten (!)<br />

Träger die (Langzeit-) <strong>Arbeit</strong>slosen probeweise für den Logistikdienstleister arbeiten. Der<br />

Logistikdienstleister nutzt den Träger insoweit als „kontrollierten externen <strong>Arbeit</strong>smarkt“<br />

(Sengenberger 1987, 273), um Selektionsrisiken zu reduzieren. Indem <strong>Arbeit</strong>samt, Träger<br />

und Logistikdienstleister ihre Beziehungen refl exiv koordinieren, Wissen um die Anforderungen<br />

der Netzwerkorganisationen austauschen, können sie die Abläufe und Ergebnisse<br />

ihrer Aktivitäten optimieren. Die vollständig vermarktlichte Fremdvergabe dieser Trainingsmaßnahmen<br />

an einen unbekannten Anbieter führte jedoch zum Ende dieser Kooperation<br />

– ein Aspekt, der – so meine Beobachtung – in Folge der Vermarktlichung der Beziehungen<br />

zum Zusammenbruch existierender Netzwerke beigetragen und das organisationale Feld der<br />

<strong>Arbeit</strong>sförderung ein Stück weit transformiert hat, d.h. noch stärker vermarktlicht hat. Im<br />

Ergebnis ist dadurch eine Vernetzung (gerade auch mit <strong>Arbeit</strong>gebern), die Produktion einer<br />

qualitativ hochwertigen Dienstleistung in der <strong>Arbeit</strong>sförderung schwieriger geworden.<br />

Interorganisationale Netzwerke ermöglichen eine refl exivere Zusammenarbeit mit Verleihern.<br />

Verleiher haben – ähnlich wie Fernsehproduktionsunternehmungen – bestimmte<br />

Geschäftsprofi le und kooperieren z.T. relativ dauerhaft mit bestimmten Kunden in abgegrenzten<br />

Teilarbeitsmärkten, z.B. für Büroberufe oder Helfertätigkeiten, mit jeweils spezifi schen<br />

Anforderungen. Wenn die <strong>Arbeit</strong>sagenturen dieses Wissen in Außendiensten akquirieren,<br />

können sie die Beratung <strong>Arbeit</strong>sloser auf die Beziehungen zwischen den Unternehmungen<br />

ausweiten, eher geeignete Bewerber/innen den Verleihern vorschlagen, ggfs. sogar das<br />

„structural hole“ (Burt 1992) Verleiher, also die machtvolle Position des Verleihers in diesem<br />

Beziehungsgefl echt, durch direkte Beziehungen zu <strong>Arbeit</strong>gebern umgehen. Ganz ähnlich<br />

müsste auf die Beziehungszusammenhänge von Trägern von Maßnahmen der berufl ichen<br />

Weiterbildung, insbesondere auf die Beziehungen zu <strong>Arbeit</strong>gebern, refl ektiert werden, damit<br />

Integrationen in <strong>Arbeit</strong> forciert werden können.<br />

Die Beispiele zeigen, dass (Projekt-) Netzwerke sehr wohl eine Perspektive für die öffentliche<br />

<strong>Arbeit</strong>svermittlung sind. In der Zukunft wird es darauf ankommen, diese und andere<br />

Möglichkeiten der refl exiven Vernetzung zu erkunden und auszuprobieren, wissensintensiv<br />

durch Netzwerkorganisation zu werden, die auf diese Weise gewonnenen Erfahrungen auszuwerten<br />

und intelligent mit der Binnenmodernisierung der öffentlichen <strong>Arbeit</strong>sverwaltung<br />

zu verknüpfen, um die (geringen) Möglichkeiten eines verbesserten <strong>Arbeit</strong>smarktausgleichs<br />

für die Reduzierung der <strong>Arbeit</strong>slosenzahlen zu nutzen.<br />

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Gütersloh<br />

33


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Anschrift des Verfassers:<br />

Dr. Carsten Wirth<br />

Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung<br />

Fachbereich <strong>Arbeit</strong>sverwaltung<br />

Seckenheimer Landstr. 16<br />

D-68163 Mannheim<br />

E-Mail:Carsten.Wirth@arbeitsagentur.de<br />

Schlagwörter: <strong>Arbeit</strong>smarkt, Dienstleistung/ Verwaltung, national,<br />

Soziologie, Ökonomie<br />

35


Sven Hauff<br />

Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion<br />

psychologischer Verträge aus Sicht der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen *<br />

Abstract<br />

Im Kontext der zunehmenden Flexibilisierung der Beschäftigung wird schon seit längerem diskutiert,<br />

inwieweit sich das Verhältnis zwischen <strong>Arbeit</strong>geberInnen und <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen grundlegend wandelt.<br />

Eine zentrale These hierbei ist die Abkehr vom alten Modell des impliziten bzw. psychologischen<br />

Vertrages von Loyalität und Sicherheit hin zu einem neuen Vertrag mit marktlichen Prinzipien auf der<br />

Basis von Employability. Da die Flexibilisierung von Beschäftigungsbeziehungen auch Risiken für<br />

Beschäftigte und Unternehmen in sich trägt, wird der vielfach propagierte Wandel psychologischer<br />

Verträge anhand aktueller Daten und Forschungsergebnisse kritisch betrachtet, wobei die Perspektive<br />

der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen im Vordergrund steht. Wie die Ergebnisse zeigen, scheint die Mehrheit der Beschäftigten<br />

an den Prinzipien des alten Vertrages festzuhalten und ist in hohem Maße an der Sicherheit<br />

ihres <strong>Arbeit</strong>splatzes interessiert. Mit Bezug auf diese Ergebnisse wird abschließend diskutiert, welche<br />

Implikationen sich daraus für die Unternehmenspraxis erschließen.<br />

1 Einleitung<br />

Vor dem Hintergrund der Zunahme fl exibler Formen der Beschäftigung (z.B. Struck 2006a)<br />

wird schon seit einiger Zeit diskutiert, inwieweit sich das Verhältnis zwischen <strong>Arbeit</strong>geberInnen<br />

und <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen grundlegend wandelt. Als eine mögliche Auswirkung wird dabei<br />

die Abkehr vom alten Modell des impliziten bzw. psychologischen Vertrages von Loyalität<br />

und Sicherheit hin zu einem neuen Vertrag mit marktlichen Prinzipien auf der Basis von<br />

Employability gesehen (z.B. Anderson/Schalk 1998). <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen würden demnach<br />

ihre Einstellung zum Unternehmen dahingehend ändern, dass nicht mehr die Loyalität zum<br />

Unternehmen, sondern die stetige Steigerung der eigenen Beschäftigungsfähigkeit im Vordergrund<br />

steht. Einige AutorInnen vertreten sogar die Ansicht, dass die Aufl ösung der alten<br />

sozialen Kontrakte schon abgeschlossen ist (Scholz/Stein 2002).<br />

Die überwiegende Mehrheit der zu diesem Thema vorliegenden Beiträge konstatiert einen<br />

Wandel psychologischer Verträge ohne zugrunde liegende Datenbasis (Hiltrop 1996; Klimecki/Litz<br />

2002; Marr/Fliaster 2003; Tsui/Wu 2005) oder bezieht sich lediglich auf qualitative<br />

Fallstudien (z.B. Wilkens 2004). Repräsentative Erhebungen zur faktischen Reichweite dieser<br />

Entwicklung liegen bisher nicht vor. Da ein möglicher Bedeutungsverlust der „alten“ impliziten<br />

Arrangements weit reichende Folgen für Beschäftigte, Unternehmen sowie die Beziehung<br />

zwischen <strong>Arbeit</strong>geberInnen und <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen haben kann, wird hier die Frage nach<br />

* Ich danke Dorothea Alewell und Olaf Struck sowie den HerausgeberInnen für die konstruktiven Hinweise und<br />

Verbesserungsvorschläge.<br />

<strong>Arbeit</strong>, Heft 1, Jg. 16 (2007), S.36-53


Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />

der quantitativen Ausprägung verschiedener impliziter Erwartungen gestellt, um aktuelle und<br />

künftig denkbare Erosionserscheinungen abschätzen zu können. Hierfür werden zunächst das<br />

Konzept des psychologischen Vertrages sowie die Debatten um dessen mögliche Veränderungen<br />

kurz vorgestellt. Basierend auf aktuellen Daten und Forschungsergebnissen erfolgt<br />

anschließend eine kritische Betrachtung des vielfach propagierten Wandels. Im Vordergrund<br />

stehen dabei die arbeitnehmerseitige Akzeptanz von Entlassungen und Lohnkürzungen sowie<br />

die Sicherheits- und Qualifi zierungsinteressen der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen.<br />

Wie die Ergebnisse zeigen, stellen <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen starke Gerechtigkeitsansprüche an<br />

Beschäftigungsbeziehungen und sind in hohem Maße an der Sicherheit ihres <strong>Arbeit</strong>splatzes<br />

interessiert. Hieraus lässt sich schlussfolgern, dass <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen nach wie vor mehrheitlich<br />

an den Prinzipien des alten Vertrages festzuhalten scheinen. Die aktuellen Diskussionen<br />

über die Veränderung des psychologischen Vertrags überschätzen die derzeitige Reichweite<br />

möglicher Wandlungserscheinungen somit z.T. erheblich.<br />

2 Psychologische Verträge und deren Erosion<br />

Das Konzept des psychologischen Vertrages geht insbesondere auf die <strong>Arbeit</strong>en Rousseaus<br />

zurück und bezeichnet die implizite und auf Reziprozität basierende Erwartungshaltung<br />

zwischen <strong>Arbeit</strong>geberInnen und <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen (insbesondere Rousseau 1995; u.a. auch<br />

Rousseau/Anton 1988, Rousseau/Schalk 2000). 1 Rousseau argumentiert dabei, dass <strong>Arbeit</strong>sbeziehungen<br />

in hohem Maße komplex und somit von Unwissenheit und Unsicherheit geprägt<br />

sind. Zur Reduktion dieser Komplexität gehen <strong>Arbeit</strong>geberInnen und <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen<br />

daher eine wechselseitige Vertrauensbeziehung ein, aufgrund derer einerseits ein Gefühl der<br />

Verpfl ichtung dem Anderen gegenüber entsteht und andererseits das Verhalten des Gegenüber<br />

hinreichend vorhersagbar wird.<br />

Im Wesentlichen werden hierbei zwei Formen psychologischer Verträge unterschieden,<br />

die als Pole in einem Kontinuum zu verstehen sind (Rousseau 1995, 91). Relationale Verträge<br />

mit ihrem spezifi schen Vertrauensverhältnis stellen die „klassische“ und in der Vergangenheit<br />

dominante Beziehung zwischen Unternehmen und ihren Beschäftigten dar. 2 <strong>Arbeit</strong>sverhältnisse<br />

sind in dieser Form psychologischer Verträge auf Dauer ausgelegt und erscheinen als<br />

zeitlich unbegrenzte Beziehungen, die allerdings beiden Parteien weit reichende Investitionen<br />

und Leistungen abverlangen. Zentrale Elemente sind der Austausch von security und loyality<br />

3 , wobei Loyalität, Leistungsbereitschaft und Engagement als Leistung der Beschäftigten<br />

gegen das Einräumen von Mitbestimmungsmöglichkeiten, Beschäftigungssicherheit und Karrierechancen<br />

seitens der Unternehmen stehen. Im Kontrast dazu beschreiben transaktionale<br />

Verträge eher kurzfristige Beschäftigungsbeziehungen nach ökonomischen Prinzipien (ebd.,<br />

91 f.). Hauptmerkmale dieser Verträge sind die von vornherein beschränkte <strong>Arbeit</strong>sdauer<br />

von zwei bis maximal drei Jahren sowie die geringe emotionale Involvierung der <strong>Arbeit</strong>neh-<br />

1 Das Konzept des psychologischen Vertrages geht zurück auf Argyris (1960), hat aber erst durch die <strong>Arbeit</strong>en<br />

Rousseaus umfassende Anerkennung gefunden. Für eine ausführlichere Darstellung der Entwicklung des<br />

Konzepts vgl. beispielsweise Anderson/Schalk (1998).<br />

2 Für Deutschland vertreten diese Ansicht beispielsweise Kern (1997, 273) oder Seifert/Pawlowsky (1998, 603).<br />

3 Relationale Beziehungen lassen sich auch über den Begriff des „Commitments“ charakterisieren. „Das soziale<br />

Phänomen des organisationalen Commitments wird gewöhnlich verstanden als ein Band oder eine Verbindung<br />

eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin zur Organisation oder als eine innere Verpfl ichtung gegenüber der<br />

Organisation mit dem Bestreben, der Organisation lange verbunden zu bleiben und sich für sie zu engagieren“<br />

(Rupf Schreiber 2006, 45).<br />

37


38 Sven Hauff<br />

merInnen, welche sich meist in einer niedrigen Verbundenheit gegenüber dem Unternehmen<br />

niederschlägt. Aufgrund der Kürze der Beziehung müssen sich Unternehmen größtenteils<br />

auf die bei <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen vorhandenen Erfahrungen und Qualifi kationen verlassen<br />

und können deren Leistungen nur eine angemessene Entlohnung und eventuelle zusätzliche<br />

Qualifi zierungen entgegenbringen. Die Sicherung und der Ausbau arbeitnehmerseitiger<br />

employability stehen damit im Vordergrund der Austauschbeziehung.<br />

Seit einiger Zeit wird nun diskutiert, inwieweit eine Abkehr vom alten Modell des<br />

psychologischen Vertrages zwischen <strong>Arbeit</strong>geberInnen und <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen stattfi ndet<br />

(Anderson/Schalk 1998; Hiltrop 1996; Klimecki/Litz 2002; Marr/Fliaster 2003; Tsui/Wu<br />

2005). Die alte Synthese zwischen security und loyality wird nach Meinung einer zunehmenden<br />

Zahl von AutorInnen durch eine neue Verbindung auf der Basis von exchange und<br />

employability ersetzt. 4<br />

Als Ursachen dieser Entwicklung werden vor allem erhöhte Flexibilisierungs- und Rationalisierungsanforderungen<br />

der Unternehmen und der damit einhergehenden Ausweitung<br />

befristeter <strong>Arbeit</strong>sverträge genannt (Hiltrop 1996, 36). Zunehmende Internationalisierung und<br />

wachsender Konkurrenz- und Kostendruck mindern vielfach die Attraktivität stabiler Beschäftigungsverhältnisse<br />

(Klimecki/Litz 2002, 22), zudem schwinden die Langfristperspektiven<br />

der Beschäftigten auch durch die in Folge von Restrukturierungsmaßnahmen durchgeführte<br />

Beschneidung traditioneller Karrieremöglichkeiten (Deutschmann 2002, 152). 5 Basierend<br />

auf diesen Entwicklungen setzen sich – so die These – zunehmend marktförmige Prinzipien<br />

in den Beschäftigungsbeziehungen durch, die zu einer Erosion relationaler Verträge führen,<br />

wodurch im Gegenzug transaktionale Verträge beständig an Bedeutung gewinnen.<br />

In der Konsequenz würden sich auch die Erwartungen und Verpfl ichtungen beider<br />

Vertragsparteien grundlegend wandeln, so dass in den primär auf ökonomischen Austausch<br />

orientierten Verträgen die vormals dominante Rolle der <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit und Karrierechancen<br />

als <strong>Arbeit</strong>geberleistung zusehends an Bedeutung verliert und durch die mögliche<br />

Unterstützung bei der Etablierung und Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit abgelöst wird<br />

(Hiltrop 1996, 42; Klimecki/Litz 2002, 24; Tsui/Wu 2005, 115 f.). Beschäftigte würden sich<br />

dabei zu MitarbeiterInnen ihrer eigenen „Ich AG“ (Marr/Fliaster 2003) oder zu so genannten<br />

„<strong>Arbeit</strong>skraftunternehmern“ (Voß/Pongratz 1998) entwickeln, für die nicht mehr die<br />

Loyalität und Verbundenheit zum Unternehmen, sondern die stetige Steigerung der eigenen<br />

Employability im Vordergrund steht.<br />

Die diesbezüglich weitest reichende These vertreten Scholz/Stein (2002). Ihrer Ansicht<br />

nach ist der „alte soziale Kontrakt zwischen Unternehmen und Mitarbeitern – Loyalität und<br />

lebenslange Beschäftigung nach dem Muster der klassischen Industriebetriebe – […] von<br />

beiden Seiten aufgekündigt“ (Scholz/Stein 2002, 298). Ohne eine tatsächliche empirische<br />

Fundierung wird ein „Ist-Zustand“ des „Darwiportunismus“ (ebd., 299) konstatiert, welcher<br />

eine Gleichzeitigkeit von gestiegenem Darwinismus der Unternehmen und verbreitetem<br />

Opportunismus der Beschäftigten beschreibt. Demnach sind Unternehmen einerseits durch<br />

Kostensenkungs- und Flexibilisierungsdruck zum darwinistischen Prinzip des „survival of<br />

the fi ttest“ gezwungen, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Andererseits forciert<br />

4 Die hier vorgestellten Argumentationen sollen lediglich einen Eindruck über das mögliche Spektrum der geführten<br />

Debatten vermitteln, wobei kein Anspruch auf Vollständigkeit der Diskussionsbeiträge erhoben wird.<br />

5 Als Alternative für diese verhinderten Aufstiegswege in Unternehmen sehen Klimecki/Litz (2002) eine neue<br />

Entwicklung hin zur „grenzenlosen Karriere“ (ebd., 24), in der Karrierewege gerade über häufi ge Betriebswechsel<br />

neu gefasst werden.


Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />

die Verkürzung des Zeithorizontes der Beschäftigungsbeziehung die Wahrscheinlichkeit zu<br />

opportunistischem Verhalten der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen.<br />

Entgegen der von Scholz/Stein (2002) vertretenen Position einer einvernehmlichen<br />

Kündigung bestehender Arrangements konnten Raeder/Grote (2004a, 2005a; 2005b) in<br />

mehreren empirischen Untersuchungen in Schweizer Unternehmen durchaus Diskrepanzen<br />

in den Erwartungen von Beschäftigten und Unternehmen nachweisen. 6 Laut ihren Ergebnissen<br />

divergieren die Erwartungen von MitarbeiterInnen und Management insbesondere<br />

in denjenigen Unternehmen, deren Personalpolitik sich überwiegend durch Personalabbaumaßnahmen<br />

und numerische Flexibilität (z.B. durch Outsourcing von Aufgabenteilen oder<br />

Einsatz befristeter Beschäftigung) charakterisieren lassen. Demzufolge schätzen Mitarbeitende<br />

in hoch fl exibilisierten Unternehmen <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit und Loyalität, neben den<br />

Interessen an einer interessanten <strong>Arbeit</strong> und der Möglichkeit zum eigenverantwortlichen<br />

<strong>Arbeit</strong>en, als sehr hoch ein. Unterstützungsleistungen zur Steigerung der individuellen Employability<br />

werden demgegenüber vergleichsweise wenig erwartet (Raeder/Grote 2004a,<br />

161). Zusammenfassend halten sie fest: „In den stark fl exibilisierten Unternehmen weichen<br />

die Unternehmens- und die Mitarbeitendensicht voneinander ab. Die Mitarbeitenden in den<br />

Unternehmen […] stehen der traditionellen Vertragsform näher, als dies vom Unternehmen<br />

gewünscht ist“ (ebd., 166).<br />

3 Erosion psychologischer Verträge aus Sicht der<br />

<strong>Arbeit</strong>nehmerInnen<br />

3.1 Daten und Methode<br />

Vor dem Hintergrund des vielfach konstatierten Wandels psychologischer Verträge soll im<br />

Folgenden der Frage nach der derzeitigen quantitativen Ausprägung impliziter Erwartungen<br />

nachgegangen werden. Das hierzu verwendete Datenmaterial wurde im Rahmen des Forschungsprojekts<br />

„<strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit“ der Universitäten Jena und Hannover erhoben<br />

(Köhler/Stephan/Struck 2005; Struck et al. 2006). In einer im Jahr 2004 durch das Forschungs-<br />

und Befragungsinstitut „aproxima“ in Weimar durchgeführten deutschlandweiten<br />

Telefonumfrage wurden insgesamt 3.039 Personen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren zu<br />

ihren Wert- und Gerechtigkeitsorientierungen in Bezug auf Lohn- und Beschäftigungsanpassungen<br />

befragt. Tabelle 1 liefert einen Überblick über die Zusammensetzung des Samples.<br />

In einem ersten Teil des Fragebogens wurden die Gerechtigkeitsurteile der Befragten mittels<br />

hypothetischer Szenarien erfasst. Diese in Anlehnung an Charness/Levine (2000, 2002)<br />

erarbeiteten und an deutsche Verhältnisse angepassten Szenarien beschrieben hypothetische<br />

Kündigungs- oder Lohnsenkungssituationen, worin u.a. die Ursachen, die Auswahl der betroffenen<br />

<strong>Arbeit</strong>nehmerInnen, die Durchführung der Maßnahmen seitens der Unternehmen,<br />

die Betroffenheit der Entscheidungsträger sowie die Reaktion der weiterbeschäftigten <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen<br />

variiert wurden. 7 Aufgrund der Länge der Szenarien und um Verzerrungen im<br />

6 Im Kontext der möglichen Veränderungen psychologischer Verträge untersuchen Raeder/Grote auch die Einfl<br />

üsse sich wandelnder Beschäftigungsbedingungen auf die persönliche Identität der Beschäftigten. Vgl. hierzu<br />

insbesondere Raeder/Grote (2001; 2004b; 2005c; 2006).<br />

7 Zur Einschätzung der Szenarien standen den Befragten die vier Antwortkategorien „sehr gerecht“, „mehr oder<br />

weniger gerecht“, „mehr oder weniger ungerecht“ und „sehr ungerecht“ sowie die Möglichkeiten der Angaben-<br />

39


40 Sven Hauff<br />

Tab.1: Stichprobenzusammensetzung in Prozent 1<br />

<strong>Arbeit</strong>nehmerInnen Selbstständige<br />

aus anderen<br />

Gründen<br />

nicht erwerbstätig<br />

Gesamt<br />

Erwerbstätige <strong>Arbeit</strong>slose o.<br />

in Umschulung<br />

Männer 62,2 12,2 11,9 13,7 100<br />

Frauen 57,0 15,2 6,4 21,3 100<br />

alte Bundesländer<br />

neue Bundesländer<br />

60,7 7,1 9,3 22,9 100<br />

57,6 20,3 7,9 14,2 100<br />

Deutschland 59,0 14,0 8,6 18,3 100<br />

1 Anmerkungen: In der Kategorie „Erwerbstätige“ wurden alle <strong>Arbeit</strong>erInnen, Angestellte, MeisterInnen, WerksmeisterInnen,<br />

Poliere und Beamte zusammengefasst. Die Kategorie „aus anderen Gründen nicht erwerbstätig“<br />

umfasst Personen in einer schulischen oder berufl ichen Ausbildung, Studenten, RentnerInnen, Pensionäre, VorruheständlerInnen,<br />

Hausfrauen/-männer, im Erziehungsjahr bzw. Mutterjahr Befi ndliche sowie alle Erwerbsunfähigen.<br />

Eventuelle Abweichungen in der Summe zu 100 % basieren auf Rundungen.<br />

Quelle: Projekt <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit, eigene Berechnungen.<br />

Antwortverhalten zu vermeiden, wurden die einzelnen Szenarien mittels eines „Between-<br />

Subjekt-Approach“ 8 erfragt.<br />

Im zweiten Teil des Fragebogens wurden zunächst für alle Befragten sozialstrukturelle<br />

Variablen wie Geschlecht, Alter, Herkunft, berufl icher Ausbildungsabschluss oder Haushaltskontext<br />

ermittelt. Bei erwerbstätigen <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen wurden zusätzlich beschäftigungsrelevante<br />

Information wie beispielsweise Beruf oder eingeschätzte <strong>Arbeit</strong>smarktchancen erfasst.<br />

Anschließend wurden bei Vorliegen von konkreten Erfahrungen mit Entlassungen oder Lohnsenkungen<br />

deren individuelle Bewertung sowie konkrete Umstände und Folgewirkungen der<br />

Maßnahmen ermittelt. Weiterhin sollten die Interviewten u.a. ihre Erwartungen hinsichtlich<br />

verschiedener <strong>Arbeit</strong>geberleistungen wie <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit, hohe Entlohnung, Möglichkeiten<br />

für zusätzliche Qualifi zierung, Aufstiegschancen, interessante und abwechslungsreiche<br />

Tätigkeit und Freiheit bei der <strong>Arbeit</strong>szeitgestaltung angeben. 9<br />

Im Folgenden werden zu Beginn eines jeden Kapitels Leitthesen im Sinne der Erosionsbehauptungen<br />

entwickelt und mit den empirischen Daten konfrontiert. Da die zentralen<br />

Ergebnisse des Projekts „<strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit“ bezüglich der Gerechtigkeitseinschätzung<br />

von Entlassungen und Lohnsenkungen schon an anderen Stellen umfassend dokumentiert<br />

sind (insbesondere Struck et al. 2006; auch Gerlach et al. 2006; Stephan 2006), werden die<br />

verweigerung zur Auswahl. Zur detaillierten Beschreibung der Szenarien vgl. Struck et al. (2006, 145 ff.).<br />

8 Mit Hilfe des Between-Subject-Designs soll vermieden werden, dass Befragte eventuelle Kontraste zwischen<br />

den einzelnen Szenarien als Basis ihrer Bewertung verwenden (Charness/Levine 2002, 384). Jede(r) Befragte<br />

erhielt maximal drei Szenarien.<br />

9 Mögliche Antwortkategorien waren hier „sehr wichtig“, „eher wichtig“, „weniger wichtig“ sowie „überhaupt<br />

nicht wichtig“.


Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />

vorliegenden Ergebnisse hier z.T. im Sinne einer Sekundäranalyse unter dem speziellen<br />

Fokus des psychologischen Vertrages betrachtet. Zudem erfolgt eine eigene Auswertung<br />

der von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen erwarteten <strong>Arbeit</strong>geberleistungen, wobei den Erwartungen von<br />

<strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit und zusätzlichen Qualifi kationen gesonderte Aufmerksamkeit gewidmet<br />

wird, da sie die zentralen Merkmale des „alten“ und des „neuen“ psychologischen Vertrages<br />

darstellen. Neben der deskriptiven Analyse wird jeweils ein logistisches Regressionsmodell<br />

(Andreß/Hagenaars/Kühnel 1997) geschätzt, um interindividuelle Differenzen bei der Bewertung<br />

von <strong>Arbeit</strong>geberleistungen abschätzen zu können.<br />

3.2 Gerechtigkeitsvorstellungen im Sinne des alten psychologischen<br />

Vertrages<br />

Die Transformation des psychologischen Vertrages gilt dann als gelungen, wenn die Inhalte<br />

des neuen Vertrages von beiden Seiten als fair wahrgenommen und akzeptiert werden (Raeder/Grote<br />

2000, 23). Wenn der neue Vertrag weitestgehend anerkannt ist, sollten <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen<br />

auch die in ihm verankerten Prinzipien der Vermarktlichung von Beschäftigungsbeziehungen<br />

akzeptieren (Levine et al. 2002, 3 f.). So müssten betriebsbedingte Kündigungen<br />

von den Beschäftigten durchaus als gerecht angesehen werden, da sie entsprechend dem<br />

neuen Vertrag von vornherein keinen Anspruch auf Beschäftigungssicherheit haben und<br />

diese daher auch nicht erwarten dürften. Ebenso sollten Lohnanpassungen weitestgehende<br />

Akzeptanz fi nden.<br />

Wie die Analysen aus dem Projekt „<strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit“ allerdings zeigen, bestehen<br />

bei den Beschäftigten nach wie vor starke Gerechtigkeitsansprüche an die Beschäftigungsbeziehung<br />

im Sinne des alten psychologischen Vertrages, so dass sowohl betriebliche Entlassungen<br />

als auch Lohnkürzungen mehrheitlich als ungerecht bewertet werden (Krause/Pfeifer/Sohr<br />

2006, 59 ff.). Von denjenigen befragten <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen, die in einem Zeitraum von<br />

fünf Jahren vor der Befragung in ihrem <strong>Arbeit</strong>sumfeld betriebsbedingte Entlassungen erlebt<br />

hatten, empfanden 27,7 % diese als „sehr ungerecht“ und 36,2 % als „eher ungerecht“. Noch<br />

kritischer wurden direkt oder indirekt erfahrene Lohnkürzungen eingeschätzt, wobei 29,0<br />

% der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen die erfahrenen Kürzungen als „sehr ungerecht“ und 41,7 % als<br />

„eher ungerecht“ bewerteten. 10<br />

Wie dezidierte Analysen ergaben, wird die allgemeine Akzeptanz von Entlassungen<br />

und Lohnsenkungen durch eine Vielzahl von Einfl ussfaktoren wie beispielsweise deren<br />

Ursache bzw. Auslöser, der Art von Betroffenen und vor allem vom Verhalten der Unternehmen<br />

beeinfl usst (ebd., 50 ff.; Stephan 2006, 3 ff.). Liegen Entlassungen außerhalb<br />

des direkten Verantwortungsbereichs der Unternehmensleitung, d.h. werden sie aufgrund<br />

externer Absatzeinbrüche durchgeführt, so fi nden sie eine deutlich höhere Legitimation<br />

als Kündigungen, die aus internen Rationalisierungsmaßnahmen wie der Einführung einer<br />

neuen Technologie resultieren. Bezüglich der Auswahl der zu Entlassenden hat sich gezeigt,<br />

dass Entlassungen von Beschäftigten mit allgemeinen Fachkenntnissen gerechter bewertet<br />

werden als Kündigungen von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen mit betriebsspezifi schen Kenntnissen und<br />

Fähigkeiten. Weiterhin fi nden Entlassungen von erst kurzfristig Beschäftigten eine deut-<br />

10 Im Unterschied zu Krause/Pfeifer/Sohr (2006) wurden hier nur <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen in die Analyse einbezogen.<br />

Von den 2214 <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen hatten in den letzten fünf Jahren vor dem Befragungszeitpunkt 941<br />

mindestens eine betriebsbedingte Entlassung und 583 mindestens eine Lohnkürzung erlebt. Dabei empfanden<br />

nur 7,5 % aller Befragten die erfahrenen Entlassungen als „sehr gerecht“ und 28,5 % als „eher gerecht“. Einkommenskürzungen<br />

wurden bei 2,6 % der Befragten als „sehr gerecht“ und bei 26,7 % als „eher gerecht“<br />

eingeschätzt (nach eigenen Berechnungen).<br />

41


42 Sven Hauff<br />

lich höhere Akzeptanz als Kündigungen von langfristig beschäftigten <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen.<br />

Entsprechend den traditionellen Vertragsstandards werden Entlassungen somit eher dann<br />

akzeptiert, wenn <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen eine geringere Leistung, d.h. geringere Investitionen<br />

in betriebsspezifi sche Kenntnisse sowie eine kürzere Beschäftigungsdauer, erbracht haben.<br />

Reziprok steigen mit Zunahme der Leistungen die Ansprüche und Erwartungshaltungen der<br />

Beschäftigten und entsprechend sinkt die Akzeptanz eines durch Freisetzungen initiierten<br />

Bruchs der impliziten Vereinbarungen.<br />

Der mehrheitliche Bestand von traditionellen Erwartungshaltungen zeigt sich auch hinsichtlich<br />

der Prozessgestaltung von Kündigungen. Hierbei ergab sich, dass Kündigungen<br />

dann als deutlich fairer bewertet werden, wenn die zu entlassenden Beschäftigten kompensatorische<br />

Angebote wie Abfi ndungen oder Unterstützung bei der Stellensuche erhalten oder<br />

wenn sich Unternehmen frühzeitig für den möglichen Erhalt der <strong>Arbeit</strong>splätze engagieren.<br />

Eine moderierende Wirkung zur erhöhten Akzeptanz von Personalabbaumaßnahmen hat<br />

zudem die Beteiligung und frühzeitige Information von MitarbeiterInnen oder deren Interessenvertretungen.<br />

Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch hinsichtlich der Bewertung von Lohnsenkungen<br />

Krause/Pfeifer/Sohr 2006, 55 ff.). So werden diese eher akzeptiert, wenn es die Unternehmenslage<br />

erfordert und nicht, wenn eine Anpassung der Löhne an den Marktlohn erfolgt.<br />

Zudem fi nden Einkommenskürzungen eher dann Akzeptanz, wenn die Entscheidungsprozesse<br />

unter Einbezug der Belegschaft stattfi nden oder die Unternehmensleitung Engagement und<br />

Initiative zur Verhinderung bzw. Einschränkung der Kürzungen signalisiert.<br />

3.3 <strong>Arbeit</strong>nehmerhandeln als Reaktion auf wahrgenommene<br />

Vertragsbrüche<br />

Haben sich die Inhalte des neuen psychologischen Vertrages bei <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen durchgesetzt,<br />

dann dürften Entlassungen oder Lohnkürzungen so gut wie keinen Einfl uss auf<br />

das Verhalten der Beschäftigten haben, da sie als legitime Flexibilisierungsmechanismen<br />

anerkannt sein müssten. Umgekehrt könnten die Beschäftigten eines Unternehmens bei<br />

einer wahrgenommenen Diskrepanz zwischen ihren Erwartungen und den tatsächlichen<br />

Leistungen der <strong>Arbeit</strong>geber geneigt sein, ihr Verhalten entsprechend anzupassen, um ein<br />

neues Tauschgleichgewicht zu erreichen (Richter 2003, 57 f.). 11 Die daraus entstehenden<br />

negativen Reaktionen der Beschäftigten können dazu führen, dass die durch Entlassungen<br />

und Lohnkürzungen erhofften ökonomischen Wirkungen ausbleiben (Weiss/Udris 2006). 12<br />

Konkret kann sich dies in einer Verringerung von <strong>Arbeit</strong>sleistung und Engagement, Verlust<br />

von Loyalität bis hin zum Verlassen des Unternehmens äußern.<br />

Tatsächlich zeigen die Ergebnisse des Forschungsprojekts „<strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit“,<br />

dass insbesondere als ungerecht empfundene Personalabbau-Aktionen und als ungerecht<br />

11 Demgegenüber könnten <strong>Arbeit</strong>nehmer auch die Einhaltung des psychologischen Vertrages beim <strong>Arbeit</strong>geber<br />

einfordern, was sich allerdings zumeist als schwierig gestalten dürfte, da es sich beim psychologischen Vertrag<br />

um einen impliziten, d.h. formell nicht festgelegten Vertrag handelt, so dass die Einhaltung der Vertragsbestandteile<br />

nicht eingeklagt werden kann (Richter 2003, 58).<br />

12 Hinsichtlich der Folgewirkungen bei den nach Personalabbaumaßnahmen verbleibenden Mitarbeitern unterscheiden<br />

Weiß/Udris (2006, 131 ff.) die vier Reaktionsmuster Emotion, Einstellungen, Verhalten und Gesundheit.<br />

Zur theoretischen Diskussion und empirischen Analyse vgl. auch Weis (2004; 2005) sowie Weis/Udris<br />

(2001). Analysen zu individuellen und kollektiven psychosozialen Konsequenzen von Erwerbslosigkeit und<br />

<strong>Arbeit</strong>splatzunsicherheit fi nden sich darüber hinaus bei Mohr (1997). Dem speziellen Thema der gesundheitlichen<br />

Folgen von <strong>Arbeit</strong>splatzunsicherheit und Personalabbau widmet sich zudem der Sammelband von<br />

Badura/Schnellschmidt/Vetter (2006).


Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />

empfundene Senkung von Löhnen negative Beschäftigtenreaktionen hervorrufen (Struck<br />

2006b, 91 ff.). 13 Wie Abbildung 1 verdeutlicht, führen als ungerecht empfundene Entlassungen<br />

häufi g zu einer Verschlechterung der Zusammenarbeit der MitarbeiterInnen mit ihren Vorgesetzten,<br />

der MitarbeiterInnen untereinander sowie zu einer Verringerung des Engagements<br />

der MitarbeiterInnen für die Firma. Bei immerhin über 30 % der MitarbeiterInnen steigt die<br />

Bereitschaft, das Unternehmen zu verlassen. Fast ein Viertel der Befragten nimmt zudem<br />

eine höhere Bereitschaft zur Vertretung der <strong>Arbeit</strong>nehmerinteressen wahr.<br />

Abb.1: Folgewirkungen von als ungerecht empfundenen Entlassungen 2<br />

2 Anmerkungen: Die Angaben beziehen sich auf Survivor von Entlassungen, d.h. diejenigen Personen, die in<br />

den letzten fünf Jahren in ihrem direkten Umfeld betriebsbedingte Kündigungen erlebt haben, davon selbst aber<br />

nicht betroffen waren und daher als im Unternehmen Verbliebene die Folgewirkungen einschätzen konnten. Die<br />

Angaben „gestiegen“ bzw. „gesunken“ beziehen sich dabei auf die Bereitschaft der Mitarbeiter, für gemeinsame<br />

Interessen einzutreten, auf die Bereitschaft, das Unternehmen zu verlassen sowie auf das Ausmaß an Krankmeldungen.<br />

Entsprechend stehen die Angaben „verschlechtert“ bzw. „verbessert“ für die Veränderungen hinsichtlich<br />

der Zusammenarbeit der Mitarbeiter mit den Vorgesetzen, der Zusammenarbeit der Mitarbeiter untereinander<br />

sowie für das Engagement für die Firma.<br />

Quelle: Projekt <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit, eigene Berechnungen.<br />

Ähnliche Ergebnisse zeigen sich bei als ungerecht empfundenen Lohnsenkungen, wobei<br />

die Anteile der Negativreaktionen z.T. höher als bei Entlassungen sind (Abbildung 2). So<br />

führen Lohnkürzungen bei fast 50% der Beschäftigten zu einem verringerten Engagement<br />

und zu einer schlechteren Zusammenarbeit der MitarbeiterInnen mit deren Vorgesetzten. Bei<br />

mehr als 35% der Befragten steigt zudem die Bereitschaft, das Unternehmen zu verlassen.<br />

Wieder gut ein Viertel nimmt eine höhere Bereitschaft zum Eintreten für gemeinsame Interessen<br />

wahr und bei 20% der Befragten steigt das Ausmaß an Krankmeldungen.<br />

In einer Reihe von multivariaten Analysen wurden regionale Unterschiede, der Einfl uss<br />

der Betriebsgröße, die Anzahl der Betroffenen sowie prozedurale Einfl üsse – wie beispielsweise<br />

die Beteiligung der Belegschaft oder das Engagement der <strong>Arbeit</strong>geber – zur Erklärung<br />

unterschiedlicher Verhaltensmuster untersucht (ebd, 93 ff.). Dabei zeigt sich, dass es vielen<br />

Unternehmen gelingt, die Negativreaktionen zu vermeiden, wenn sie im Sinne der Verpfl ichtungen<br />

des alten psychologischen Vertrages handeln. Relevant hierbei ist insbesondere das<br />

frühzeitige Engagement der Unternehmen zur Vermeidung von Entlassungen oder Lohnsenkungen,<br />

wodurch sich negative Reaktionen verringern oder verhindern lassen.<br />

13 Im Gegensatz zu Struck (2006b) beziehen sich die hier präsentierten Ergebnisse lediglich auf Folgewirkungen<br />

von als ungerecht empfundenen Entlassungen bzw. Lohnsenkungen.<br />

43


44 Sven Hauff<br />

Darüber hinaus zeigen sich in den neuen Bundesländern deutlich weniger Negativreaktionen<br />

als in den alten Ländern. Zudem ist die Akzeptanz von Entlassungen und Lohnsenkungen in<br />

Kleinbetrieben (< 50 Beschäftigte) aufgrund der sozialen Nähe deutlich höher als in größeren<br />

Unternehmen. Gerade in Ostdeutschland sowie in Kleinbetrieben zeigt sich somit eine höhere<br />

Einsicht in die vielleicht unumgängliche wirtschaftliche Notwendigkeit von Entlassungen<br />

und Lohnkürzungen, so dass die Erwartungen der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen hier vergleichsweise<br />

geringer ausgeprägt zu sein scheinen.<br />

Abb.2: Folgewirkungen von als ungerecht empfundenen Lohnsenkungen<br />

Quelle: Projekt <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit, eigene Berechnungen.<br />

3.4 Dominanz von <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit<br />

Eine übergreifende Erosion des alten psychologischen Vertrages würde vorrangig bedeuten,<br />

dass der Faktor <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit in der Wertvorstellung der Beschäftigten zunehmend an<br />

Bedeutung verliert und demgegenüber zusätzliche Qualifi kationen verstärkt in den Vorgrund<br />

der Interessen rücken. Die Daten des Forschungsprojekts „<strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit“ zeigen<br />

allerdings, dass <strong>Arbeit</strong>platzsicherheit im Vergleich zu anderen <strong>Arbeit</strong>sinteressen die wichtigste<br />

Abb. 3: Beschäftigungsinteressen von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen<br />

Quelle: Projekt <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit, eigene Berechnungen.


Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />

und von Beschäftigten primär geforderte <strong>Arbeit</strong>geberleistung darstellt (Abbildung 3). 14 Erst<br />

mit deutlichem Abstand folgen die Interessen an weiterer Qualifi kationen und Bildung sowie<br />

an einer interessanten und abwechslungsreichen <strong>Arbeit</strong>.<br />

Weitere Analysen lassen allerdings Unterschiede in der Bewertung der jeweiligen Erwartungen<br />

erkennen. Wie aus den Ergebnissen in Abbildung 4 ersichtlich wird, verringert sich<br />

das Interesse an einer stabilen Beschäftigung mit zunehmender Qualifi kation und Stellung<br />

im Beruf. Demgegenüber steigen die Erwartungen an zusätzliche Weiterbildungs- und Qualifi<br />

zierungmaßnahmen mit dem Qualifi kationsniveau. Trotz dieser diametralen Verläufe der<br />

Erwartungshaltungen wird allerdings auch deutlich, dass die Sicherheitsinteressen bei allen<br />

befragten <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen – gleich welcher berufl ichen Stellung – sehr hoch ausgeprägt<br />

sind und stets über den Interessen an zusätzlichen Qualifi kations- und Weiterbildungsmöglichkeiten<br />

liegen. Die Beschäftigten sind somit von der Tendenz eher an stabilen Formen<br />

der Beschäftigung interessiert, was den Erwartungen im alten Muster des psychologischen<br />

Vertrages entspricht.<br />

Abb. 4: Qualifi kations- und Sicherheitsinteressen von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen<br />

und Angestellten nach berufl icher Stellung (Angaben " sehr wichtig",<br />

in Prozent)<br />

Quelle: Projekt <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit, eigene Berechnungen<br />

3.5 Einfl ußfaktoren auf die erwarteten <strong>Arbeit</strong>geberleistungen<br />

In den bisherigen Diskussionen um die Erosion des psychologischen Vertrages wird ein Bedeutungsverlust<br />

des alten Vertrages unterstellt, ohne dass dabei auf interindividuelle Unterschiede<br />

zwischen verschiedenen <strong>Arbeit</strong>nehmergruppen eingegangen wird. Plausibler erscheint<br />

allerdings, dass einzelne Gruppen von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen im Kontext ihres je spezifi schen<br />

<strong>Arbeit</strong>sumfeldes sowie aufgrund verschiedener Beschäftigungschancen bzw. -risiken ganz<br />

14 Dieser Befund fi ndet sich auch im IG Metall Zukunftsreport wieder (IG Metall 2001, 35 ff.). Insbesondere auch<br />

für hoch qualifi zierte Beschäftigte, die am ehesten den Typ des <strong>Arbeit</strong>skraftunternehmers verkörpern sollten,<br />

zeigen Pongratz/Voß (2003, 157 f.), dass diese neben einem hohen Interesse an eigenverantwortlichen und<br />

fl exiblen <strong>Arbeit</strong>en nach wie vor an der Sicherheit ihrer berufl ichen Stellung orientiert sind.<br />

45


46 Sven Hauff<br />

Tab.2: Einfl ußfaktoren der Sicherheits- und Qualifi kationsinteressen 3<br />

<strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit<br />

Exp(B)<br />

Qualifi kationen<br />

Exp(B)<br />

Ost-West-Split (1=West) 0,830 0,945<br />

Alter (Ref.: 18 bis 35 Jahre)<br />

36 bis 50 Jahre<br />

51 bis 60 Jahre<br />

0,962<br />

1,130<br />

0,723*<br />

0,653*<br />

Geschlecht (1=männlich) 0,655* 0,793<br />

berufl iche Stellung (Ref.: un- o. angelernt <strong>Arbeit</strong>er)<br />

Facharbeiter<br />

Facharbeiter mit Führungsaufgaben<br />

un- o. angelernte Angestellte<br />

Fachangestellte<br />

hoch qualifi zierte Angestellte<br />

hoch qual. Angestellte mit Führungsaufgaben<br />

Betriebsgröße (Ref.: bis 50 Beschäftigte)<br />

50 bis 200 Beschäftigte<br />

mehr als 200 Beschäftigte<br />

Berufsbereiche (Ref. Produktionsberufe)<br />

primäre Dienstleistungsberufe<br />

sekundäre Dienstleistungsberufe<br />

0,413<br />

0,519<br />

0,228**<br />

0,209**<br />

0,121***<br />

0,145***<br />

1,081<br />

1,281<br />

1,643<br />

1,717<br />

1,448<br />

1,704<br />

1,644<br />

2,049**<br />

2,393***<br />

2,797***<br />

0,946<br />

1,444**<br />

0,924<br />

1,200<br />

Häufi gkeit der <strong>Arbeit</strong>geberwechsel<br />

(1=häufi g, 0=selten)<br />

Wahrscheinlichkeit baldiger <strong>Arbeit</strong>slosigkeit<br />

0,657* 0,909<br />

(1=wahrscheinlich, 0=unwahrscheinlich) 0,812 1,441**<br />

Finden einer neuen Stelle ( 1=leicht, 0=schwer) 0,384*** 1,211<br />

Qualifi kationsinteresse (1=sehr wichtig) 1,537** -<br />

Sicherheitsinteresse (1=sehr wichtig) - 1,527**<br />

N<br />

Nagelkerkes R-square<br />

Chi-square value<br />

Initial log-likelihood value<br />

Maximum log-likelihood value<br />

Signifi kanzniveaus: ***(0,1%); **(1%); *(5%)<br />

1355<br />

0,120<br />

98,643<br />

1185,518<br />

1086,875<br />

1355<br />

0,065<br />

67,396<br />

1878,216<br />

1810,819<br />

3 Anmerkungen: Die Erwartungen an <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit bzw. zusätzlichen Qualifi kationen wurden mit 1<br />

codiert, wenn die Befragten diese <strong>Arbeit</strong>geberleistungen als "sehr wichtig" einschätzten.<br />

Quelle: Projekt <strong>Arbeit</strong> und Gerechtigkeit, eigene Berechnungen.<br />

unterschiedliche Erwartungen an ihre Erwerbsarbeit stellen können, weshalb sie sich auch<br />

hinsichtlich ihrer erwarteten <strong>Arbeit</strong>geberleistungen unterscheiden können.<br />

Da die bisherigen Debatten um eine mögliche Erosion des psychologischen Vertrages<br />

diesbezüglich keine Stellung nehmen, werden im Folgenden anhand eines logistischen Regressionsmodells<br />

explorativ verschiedenste Einfl ussfaktoren auf die von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen


Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />

erwarteten <strong>Arbeit</strong>geberleistungen untersucht. Die Ergebnisse zu den einzelnen Einfl ussfaktoren<br />

(vgl. Tabelle 2) werden analog zum bisherigen Vorgehen zusammen mit möglichen<br />

Annahmen im Sinne der Erosionsthese präsentiert. Im Vordergrund stehen die Erwartungen<br />

von <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit und zusätzlichen Qualifi kationen, da sie im Kern die Inhalte des<br />

alten und neuen psychologischen Vertrages repräsentieren.<br />

Region: Vor dem Hintergrund der Erfahrungen während des Transformationsprozesses<br />

sowie der anhaltend schwierigen <strong>Arbeit</strong>smarktlage in den neuen Bundesländern ließe sich<br />

im Sinne der Erosionsthese vermuten, dass Beschäftigte in den neuen Bundesländern<br />

vergleichsweise geringere Erwartungen hinsichtlich der <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit haben und<br />

demgegenüber stärker an zusätzlichen Qualifi kationen interessiert sind. Analytisch können<br />

jedoch keine signifi kanten Unterschiede zwischen den Regionen festgestellt werden.<br />

Alter: Da jüngere Erwerbstätige eine deutlich höhere <strong>Arbeit</strong>smarktmobilität aufweisen<br />

(Struck 2006a, 47), müsste angenommen werden, dass deren Sicherheitsinteresse geringer<br />

und demgegenüber das Qualifi kationsinteresse höher als bei älteren <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen ist.<br />

Zudem lassen auch die Erkenntnisse der Werte- und Einstellungsforschung (insbesondere<br />

Klages 1984; Baethge 1991) vermuten, dass hauptsächlich jüngere <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen die<br />

veränderten Einstellungen am ehesten vertreten sollten. Wie die Ergebnisse im Einzelnen<br />

zeigen, stellt sich mit zunehmendem Alter der Befragten ein deutlich geringeres Interesse<br />

an zusätzlichen Qualifi kationen ein. Dies verdeutlicht den hohen Stellenwert von Aus- und<br />

Weiterbildung gerade zu Beginn der Erwerbsphase, da die Etablierung einer <strong>Arbeit</strong>smarktfähigkeit,<br />

insbesondere für junge <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen, einen entscheidenden Faktor darstellt.<br />

Demgegenüber zeigt sich allerdings kein Effekt bei der erwarteten <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit.<br />

Geschlecht: Im Vergleich der Erwerbssituationen zwischen Männern und Frauen zeigen<br />

sich nach wie vor deutliche Unterschiede. So liegen zwischen den Geschlechtern zum einen<br />

klare Lohnunterschiede vor (Hinz/Gartner 2005), zum anderen weisen Frauen höhere<br />

<strong>Arbeit</strong>slosenquoten sowie ein höheres Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit auf (IAB 2006a).<br />

Im Rahmen des Wandels psychologischer Verträge ließe sich demzufolge argumentieren,<br />

dass Frauen dem Faktor <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit weniger Gewicht beimessen und dafür in<br />

höherem Maße an der Sicherung ihrer Employability interessiert sind. Entgegen dieser<br />

These lassen die empirischen Ergebnisse bei Frauen ein höheres Sicherheitsinteresse als bei<br />

Männern erkennen.<br />

Berufl iche Stellung: Hinsichtlich der berufl ichen Stellung und des Qualifi kationsniveaus<br />

lässt sich annehmen, dass höher Qualifi zierte ein geringeres Sicherheitsinteresse haben, da<br />

das Risiko der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit bei Personen ohne berufl ichen Abschluss deutlich höher als<br />

bei AkademikerInnen ist (Reinberg/Hummel 2005). Umgekehrt sollten höher Qualifi zierte<br />

ein größeres Interesse an zusätzlichen Weiterbildungen und Qualifi kationen haben, da die<br />

Risiken einer Dequalifi zierung und des berufl ichen Abstiegs mit zunehmender Qualifi kation<br />

und berufl icher Stellung höher gewichtet sind. Wie die Resultate verdeutlichen, verringert<br />

sich das Interesse an einem sicheren <strong>Arbeit</strong>splatz mit zunehmender berufl icher Stellung und<br />

umgekehrt steigen die Erwartungen bezüglich der Weiterbildungsangebote.<br />

Betriebsgröße: Wie dezidierte Analysen zur Mobilität am deutschen <strong>Arbeit</strong>smarkt gezeigt<br />

haben, nimmt die Beständigkeit von Beschäftigungsverhältnissen mit steigender Betriebsgröße<br />

zu (Erlinghagen/Knuth 2003, 506). Vor diesem Hintergrund könnte vermutet werden,<br />

dass Beschäftigte in kleineren Betrieben die vergleichsweise höhere Fluktuation antizipieren<br />

und von daher geringere Sicherheitsansprüche stellen. Demgegenüber sollten sie ein höheres<br />

Interesse an zusätzlichen Qualifi zierungsmaßnahmen haben, um ihre überbetriebliche Be-<br />

47


48 Sven Hauff<br />

schäftigungsfähigkeit zu sichern. Analytisch zeigen sich hinsichtlich der Erwartungen an<br />

die <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit jedoch keine signifi kanten Unterschiede zwischen den einzelnen<br />

Betriebsgrößenklassen. Entgegen den Vermutungen hat die Betriebsgröße sogar einen positiven<br />

Effekt auf die erwarteten Qualifi zierungsmaßnahmen, so dass die diesbezüglichen<br />

Erwartungen mit der Betriebsgröße steigen. Damit zeigt sich insbesondere in Großbetrieben<br />

eine Gleichzeitigkeit von hohen Sicherheits- und Qualifi kationsinteressen.<br />

Berufsbereiche: Aufgrund der vergangenen Entwicklungen in den einzelnen Berufsbereichen<br />

ließe sich wieder im Sinne der Erosionsthese psychologischer Verträge vermuten, dass<br />

das Interesse an <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit in schwindenden Berufsbereichen wie den produktionsorientierten<br />

und primären Dienstleistungsberufen geringer ist als in Berufen mit einer<br />

positiven Beschäftigungsentwicklung wie den sekundären Dienstleistungen. 15 Umgekehrte<br />

Effekte wären für die Erwartungen hinsichtlich zusätzlicher Qualifi kationen zu vermuten.<br />

Hinsichtlich dieser Annahmen konnten analytisch keine signifi kanten Unterschiede festgestellt<br />

werden.<br />

Beschäftigungschancen bzw. -risiken: In den bisherigen Diskussionen über den Wandel<br />

psychologischen Vertrages wird ein allgemeiner und übergreifender Bedeutungsverlust von<br />

„alten“ zu „neuen“ vertraglichen Arrangements unterstellt, in dem die individuelle <strong>Arbeit</strong>smarktssituation<br />

offenbar keinen Einfl uss hat. Wie die hier vorliegenden Analysen allerdings<br />

zeigen, schlagen sich die subjektiv empfundenen Beschäftigungschancen bzw. -risiken in<br />

den Erwartungen der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen nieder. Schätzen Befragte die Wahrscheinlichkeit<br />

der baldigen <strong>Arbeit</strong>slosigkeit als hoch ein, so erhoffen sie zusätzliche Bildungsmaßnahmen.<br />

Demgegenüber ist bei denjenigen Befragten, die ihre <strong>Arbeit</strong>smarktchancen positiv einschätzen,<br />

das Interesse an der Sicherheit ihres <strong>Arbeit</strong>splatzes deutlich geringer als bei Befragten,<br />

für die sich das Finden einer neuen Stelle schwierig gestalten könnte. Gleiches trifft für jene<br />

Befragte zu, bei denen <strong>Arbeit</strong>splatzwechsel vergleichsweise häufi g auftreten.<br />

Sicherheits- vs. Qualifi kationsinteressen: Die Erosionsthese psychologischer Verträge<br />

impliziert in ihrem Kern eine Verschiebung individueller Interessen von der Sicherheit des<br />

<strong>Arbeit</strong>splatzes hin zu Qualifi kationsinteressen. Wie die hier vorliegenden Ergebnisse allerdings<br />

zeigen, ist ein höheres Sicherheitsinteresse mit einem hohen Interesse an zusätzlichen<br />

Qualifi kationen verbunden und vice versa. Die hieraus abzuleitende These wäre nicht der<br />

allgemeine Bedeutungsverlust von „alten“ zugunsten „neuer“ Verträge, sondern die Etablierung<br />

eines neuen Mischungsverhältnisses, in dem <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen nach wie vor ein hohes<br />

Sicherheitsinteresse haben und gleichzeitig die höhere Fluktuation am <strong>Arbeit</strong>markt und die<br />

damit gestiegenen Beschäftigungsrisiken über die Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit<br />

zu kompensieren versuchen.<br />

4 Diskussion und praktische Implikationen<br />

Trotz der in den vorangegangenen Analysen festgestellten Divergenz in die Interessenlagen<br />

und Erwartungen zwischen <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen, sprechen die in dieser <strong>Arbeit</strong> vorgestellten<br />

Ergebnisse grundlegend für eine weitere Gültigkeit der Prinzipien und Inhalte des traditionellen<br />

Vertrages. Auf dieser Basis lässt sich nun fragen, inwieweit sich die Entwicklung<br />

15 Zur Abgrenzung der einzelnen Bereiche sowie zu deren Entwicklung vgl. Biersack/Parmentier/Schreyer (2000)<br />

sowie IAB (2006b).


Flexibilisierung von Beschäftigung und die Erosion psychologischer Verträge...<br />

psychologischer Verträge in Zukunft gestalten wird und welche Implikationen sich daraus<br />

für die unternehmerische Praxis erschließen.<br />

Auf der einen Seite kann davon ausgegangen werden, dass der umfassenden Etablierung<br />

transaktionaler Verträge nach wie vor deutliche Grenzen gesetzt sind. In ihrer Reinform<br />

beschreiben sie ein egalitäres Verhältnis zwischen <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen und <strong>Arbeit</strong>geberInnen,<br />

in dem der marktförmige Austausch durch Vollbeschäftigung und ein hohes Maß<br />

an Beschäftigungsfähigkeit gesichert wird. Da allerdings auch in absehbarer Zeit nicht mit<br />

einer Trendwende am <strong>Arbeit</strong>smarkt hin zur einstmaligen Vollbeschäftigungsgesellschaft zu<br />

rechnen ist (Bosch u.a 2004, 73 f.), bleibt anzunehmen, dass die Sicherheitsinteressen der<br />

Beschäftigten aufgrund der fortbestehenden <strong>Arbeit</strong>smarktrisiken dominieren werden. Zur<br />

Minimierung dieses Risikos werden Beschäftigte auch weiterhin an zusätzlichen Qualifi<br />

kationen interessiert sein. Da die Bereitstellung und Sicherung von Weiterbildungs- und<br />

Qualifi zierungsmaßnahmen meist im Ermessen und Entgegenkommen der Unternehmen<br />

liegt, bietet sich diesen hierbei eine Möglichkeit, negativen Konsequenzen eines von den<br />

Beschäftigten wahrgenommen Vertragsbruchs z.T. entgegenzuwirken. Falls Unternehmen<br />

aufgrund externer und interner Flexibilisierungsanforderungen nicht in der Lage sind, den<br />

Sicherheitsinteressen der Beschäftigten gerecht zu werden, so sollte dies in Zukunft aktiv<br />

kommuniziert und durch mögliche andere Angebote, wie die Unterstützung zur Sicherung<br />

der Employability, kompensiert werden (Raeder/Grote 2000, 23 f.).<br />

Auf der anderen Seite führt der sich durch den demographischen Wandel abzeichnende<br />

Fach- und Führungskräftemangel (Fuchs/Dörfl er 2005) möglicherweise zur Egalisierung der<br />

Marktpositionen einzelner Gruppen von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen. Eine sich zukünftig verschärfende<br />

Mismatchsituation in einzelnen Regionen und Berufsbereichen sowie für Hochqualifi zierte<br />

oder Spezialisten (Bosch u.a 2004, 81) würde dabei die Wahlmöglichkeiten der betroffenen<br />

Beschäftigten erhöhen, was eine verstärkte Etablierung transaktionaler Verträge in diesen<br />

Bereichen zur Konsequenz haben könnte. Entgegen dieser Entwicklung befürchten allerdings<br />

schon jetzt viele Unternehmen erhöhte Wechsel, da qualifi zierte MitarbeiterInnen stets auch<br />

als Träger von Wissen und Kompetenzen gelten (Staudt/Kottmann 2003, 38). Zudem sind<br />

unerwünschte Personalabgänge immer mit weiteren direkten und indirekten Kosten, wie<br />

beispielsweise hohen Personalwiederanschaffungskosten oder dem Verlust von getätigten<br />

Weiterbildungsinvestitionen, verbunden (Bröckermann 2004, 17; Stührenberg 2004, 39).<br />

Basierend auf den Grundgedanken des psychologischen Vertrages kann hierbei die These<br />

vertreten werden, dass sich Loyalität und Engagement gegenüber Unternehmen durch den<br />

Bezug auf die Prinzipien des alten psychologischen Vertrages herstellen lassen. Insbesondere<br />

Coyle-Shapiro/Kessler (2002) konnten nachweisen, dass die zukünftigen Erwartungen und<br />

Verpfl ichtungen zwischen <strong>Arbeit</strong>geberInnen und <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen reziprozitätabhängig und<br />

somit in deren aktuellem Handeln begründet sind. Dementsprechend müssten von Seiten der<br />

Unternehmen entsprechende Vorleistungen erbracht und diese auch langfristig eingehalten<br />

werden, so dass ein positives Ungleichgewicht zugunsten der Unternehmen entsteht, wodurch<br />

sich <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen ihrem <strong>Arbeit</strong>geber verpfl ichtet fühlen (ebd., 83).<br />

5 Fazit<br />

Die Intention der vorliegenden <strong>Arbeit</strong> lag darin, einen empirisch gestützten Beitrag zur<br />

Debatte um die Erosion psychologischer Verträge zu leisten, wobei die Inhalte des psycho-<br />

49


50 Sven Hauff<br />

logischen Vertrages aus Sicht der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen im Vordergrund standen. Hierzu wurde<br />

zunächst grundlegend das Konzept des psychologischen Vertrages und die Diskussion um<br />

den möglichen Bedeutungsverlust von relationalen Verträgen zugunsten transaktionaler<br />

Verträge vorgestellt. Anhand der empirischen Ergebnisse wurde deutlich, dass die aktuellen<br />

Diskussionen über den neuen und alten <strong>Arbeit</strong>svertrag den derzeitigen Stand möglicher<br />

Wandlungserscheinungen z.T. erheblich überschätzen. Für die überwiegende Mehrheit der<br />

<strong>Arbeit</strong>nehmerInnen zählt Beschäftigungssicherheit als die am häufi gsten erwartete <strong>Arbeit</strong>geberleistung.<br />

Eventuelle Erwartungen im Sinne des neuen psychologischen Vertrages zeigen<br />

sich eher bei hoch qualifi zierten Beschäftigten, welche von vornherein über günstigere<br />

<strong>Arbeit</strong>smarktchancen verfügen.<br />

Inwieweit sich implizite Arrangements nach dem Muster des neuen psychologischen<br />

Vertrages in Zukunft ausdehnen werden, lässt sich heute schwer abschätzen. Gegen eine<br />

rigide Verbreitung und Akzeptanz seitens der <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen sprechen die nach wie vor<br />

existenten und anhaltenden Beschäftigungsrisiken, die auch weiterhin auf eine Dominanz der<br />

Sicherheitsinteressen schließen lassen. Eventuelle Potenziale zur Etablierung transaktionaler<br />

Verträge liegen im demographisch bedingten Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials,<br />

durch den sich die Marktposition einzelner Gruppen von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen egalisieren<br />

könnte. Um die tatsächliche Entwicklung psychologischer Verträge festzustellen, bedarf es<br />

daher langfristig angelegter empirischer Untersuchen, die auch über die hier vorgestellten<br />

Analysen hinausgehen und die Sichtweisen von Beschäftigten und Unternehmen integrieren,<br />

um der Pluralität möglicher Beschäftigungsbeziehungen gerecht zu werden.<br />

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51


52 Sven Hauff<br />

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Weiss, Vera (2005): Zufriedenheit und Wohlbefi nden verbleibender Mitarbeitenden nach Personalabbau;<br />

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Anschrift des Verfassers:<br />

Sven Hauff, M.A.<br />

Friedrich-Schiller-Universität Jena<br />

Lehrstuhl für Personalwirtschaft und Organisation<br />

Carl-Zeiss-Straße 3<br />

D-07743 Jena<br />

E-Mail: sven.hauff@wiwi.uni-jena.de<br />

Schlagwörter: Psychologische Verträge, <strong>Arbeit</strong>nehmererwartungen,<br />

Gerechtigkeitswahrnehmung am <strong>Arbeit</strong>splatz, <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit<br />

53


Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />

Learning for Production.<br />

E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der<br />

Papierherstellung<br />

Abstract<br />

Der anfänglichen Euphorie, die computergestütztes Lernen in den neunziger Jahren auslöste, folgte<br />

Desillusionierung. Einen wesentlichen Grund hierfür sehen wir darin, dass bei der Entwicklung<br />

computergestützter Lernprogramme zu sehr auf die Technik gesetzt wurde und zu wenig auf die<br />

pädagogischen, arbeits- und organisationspsychologischen Dimensionen des Lernens. Erforderlich<br />

ist eine Neuorientierung des E-Learning, bei der die Frage gestellt wird, was Wissen ist, welches<br />

Wissen in spezifi schen Anwendungsfeldern gebraucht wird, wie Wissen bisher erworben wurde und<br />

wie die Antworten auf diese Fragen in Lernangebote übersetzt werden können. Die Chancen des E-<br />

Learning liegen nicht darin, tradierte Vorstellungen des Lernens medial zu reproduzieren, sondern die<br />

Möglichkeiten des Mediums für ein Lernen zu nutzen, in dem das Konstruieren, Experimentieren,<br />

Explorieren und Kommunizieren im Mittelpunkt stehen. Anhand eines Fallbeispieles soll gezeigt<br />

werden, wie eine solche Lösung aussehen kann.<br />

1 Einführung<br />

Mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien stehen seit den neunziger<br />

Jahren für das Lernen im Betrieb neue Methoden und Instrumente des Lernens zur Verfügung,<br />

die unter dem Begriff E-Learning bekannt geworden sind. Nach einer ersten Periode<br />

des Einsatzes computergestützter und webbasierter Lernprogramme darf Bilanz gezogen<br />

werden. Mit welchen Ansprüchen sind diese Lernprogramme versehen und wie werden<br />

diese Ansprüche in virtuelle Lernumgebungen übersetzt? Inwieweit wird den aktuellen<br />

Erkenntnissen über das Verhältnis von Theorie und Praxis, über Wissensgenerierung und<br />

Wissensmanagement Rechnung getragen?<br />

In diesem Beitrag sollen zunächst der Stand des E-Learning sowie der gegenwärtige<br />

wissenschaftliche Diskurs über handlungsorientierte(s) Erkenntnisgewinnung und Lernen<br />

dargestellt und im Hinblick auf betriebliches Lernen diskutiert werden. Vor diesem Hintergrund<br />

wird ein von den Autorinnen entwickeltes computergestütztes Konzept betrieblichen<br />

Lernens vorgestellt. Die Gestaltung des Lernkonzepts beruht auf der Kooperation<br />

mit der Unternehmensleitung und mit ausgewählten Mitgliedern der Belegschaft 1 einer<br />

1 Bei der Auswahl der Mitarbeiter für die Kooperation wurde darauf geachtet, dass Vertreter verschiedener<br />

<strong>Arbeit</strong>sbereiche und verschiedener Generationen einbezogen wurden. Laufzeit des Projekts: 1.11.2004<br />

– 31.7.2005.<br />

<strong>Arbeit</strong>, Heft 1, Jg. 16 (2007), S. 54-68


Learning for Produktion: E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung<br />

internationalen Papierfabrik mit rund 500 MitarbeiterInnen fast ausschließlich männlichen<br />

Geschlechts. Es wurde ein praxisverankerter, partizipativer Forschungsansatz gewählt, der<br />

den an der Konzeptentwicklung Beteiligten Gelegenheit bot, ihre Erfahrungen, Wünsche,<br />

Ideen, Einwände zu thematisieren. Die erkenntnisleitende Fragestellung lautete: Wie kann<br />

ein computergestütztes Lernkonzept entwickelt werden, das an den bisherigen Formen des<br />

Lernens im Betrieb einschließlich informeller Lernformen anknüpft, die bereits vorhandenen<br />

Lerngelegenheiten durch Nutzung der medialen Möglichkeiten erweitert und dazu anregt,<br />

Lernen offl ine und online miteinander zu kombinieren? Das auf dieser Basis entstandene<br />

Konzept sieht informative, kommunikative und experimentielle Anwendungen vor; in<br />

Computersoftware wurden bislang im Auftrag der Betriebsleitung nur die informativen<br />

Anwendungen umgesetzt. 2 Wir stellen im Rahmen dieses Beitrags jedoch das ursprüngliche<br />

Konzept vor, weil es zum einen die vielfältigen Lernmöglichkeiten des Mediums und damit<br />

auch den aktuellen Stand der Diskussion zum E-Learning berücksichtigt und zum anderen,<br />

weil das Konzept so allgemein formuliert ist, dass dessen Übertragbarkeit in andere Bereiche<br />

der Produktion erkennbar wird. Es kann in diesem Beitrag nicht gezeigt werden, wie sich<br />

computergestützte Lernprozesse gestalten, da die Nutzung des Lernprogramms derzeit erst<br />

beginnt; vorgestellt werden jedoch die empirisch und theoretisch begründeten Gelegenheitsstrukturen,<br />

die ein konstruktivistisches, erfahrungsorientiertes Lernen ermöglichen<br />

2 Zum aktuellen Stand der Diskurse über praxisorientierte<br />

Erkenntnisgewinnung und E-Learning<br />

Die beiden im Titel dieses Abschnitts genannten Diskurse zur Erkenntnisgewinnung und<br />

zum E-Learning beschäftigen sich mit ähnlichen Fragen, werden bislang aber weitgehend<br />

getrennt voneinander geführt. In diesem Abschnitt werden diese Diskurse vorgestellt, um<br />

sie anschließend am Beispiel des von uns entwickelten computergestützten Lernkonzepts<br />

miteinander zu verknüpfen.<br />

2.1 Lern- und erkenntnistheoretische Grundlagen des Lernens in der<br />

betrieblichen Bildung<br />

Für die betriebliche Bildung sind derzeit zwei lern- und erkenntnistheoretische Diskussionsstränge<br />

von besonderem Interesse, die zwar unterschiedlichen Theorietraditionen und<br />

Disziplinen entstammen, aber nicht unvereinbar sind: der konstruktivistische Ansatz und der<br />

erfahrungs- und subjektivitätsorientierte Ansatz, wie wir letzteren in Anlehnung an die von<br />

den Autoren (Böhle/Bolte 2002; Böhle 2004) verwendete Terminologie nennen.<br />

Mitte der achtziger Jahre wesentlich von den Biologen Humberto Maturana und Francisco<br />

Varela (1985, 1987a, 1987b) als Erkenntnistheorie formuliert, spielt der Konstruktivismus<br />

mittlerweile auch in der pädagogischen Theoriebildung eine viel beachtete Rolle. Konstruktivistische<br />

Annahmen über das Lernen desillusionieren eine normative Pädagogik, die den<br />

Anspruch hat, dass gelernt wird, was gelehrt wird. Lernen ist Horst Siebert, einem Vertreter<br />

2 Die Umsetzung erfolgt in Kooperation mit dem eBusiness Institut (biztec) der Universität Klagenfurt, Leitung<br />

Univ. Prof. DDr. Heinrich Mayr, Projektmanagement Dr. Claudia Steinberger, DI Marko Anzelak.<br />

55


56 Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />

des konstruktivistischen Paradigmas, zufolge, vielmehr eine selbstgesteuerte, konstruktive,<br />

biographisch geprägte, viable, kognitive und emotionale Tätigkeit (Siebert 2003, 13). Diese<br />

These wird durch Ergebnisse der Neurowissenschaften unterstützt, die besagen, dass unser<br />

Gehirn selbstorganisiert operiert. Visuelle Wahrnehmungen sind dem Neurowissenschaftler<br />

Wolf Singer zufolge nicht lediglich rezeptive Eindrücke, sondern aktive Suchprozesse, in<br />

deren Verlauf selektiert, verknüpft, interpretiert wird (Singer zit. n. Siebert 2003, 14).<br />

Lernen ist aus konstruktivistischer Perspektive ein selektiver Prozess des Konstruierens,<br />

Rekonstruierens, Dekonstruierens. Das Konstruieren bezieht sich auf das interpretative Erzeugen<br />

neuer Wirklichkeiten, Dekonstruieren bezeichnet den Abbau alter, nicht mehr viabler<br />

Deutungsmuster und Rekonstruieren meint die Transformation vorhandenen Wissens in das<br />

eigene kognitive System (Siebert 2003, 20).<br />

Obschon Lernen ein individueller selbstgesteuerter Prozess ist, ist es in soziale Kontexte<br />

eingebettet, auf die wir als soziale Wesen angewiesen sind. In der Kommunikation mit anderen<br />

bringen wir unsere symbolische Lebenswelt hervor und wir haben nur diese eine Lebenswelt,<br />

die wir mit anderen zusammen herstellen (Maturana/Varela 1987a, 267). Kommunikation<br />

vermittelt Differenzerfahrung und fördert den Perspektivenwechsel, wodurch Deutungs- und<br />

Konstruktionsprozesse in Gang gesetzt werden.<br />

Der zentrale Stellenwert, der der Interpretation und Bedeutungszuschreibung in der hier<br />

vorgestellten konstruktivistischen Lerntheorie eingeräumt wird, verweist auf eine Parallele<br />

zum Deutungsmusteransatz, den Hartmut Neuendorff und Christian Sabel in der zweiten<br />

Hälfte der siebziger Jahre bezogen auf die <strong>Arbeit</strong>swelt formuliert haben (Neuendorff/Sabel<br />

1978). Deutungsmuster sind Neuendorff/Sabel zufolge subjektive Versuche, objektiv vorgegebene<br />

Handlungsprobleme zu erkennen und zu verstehen, die aber erst in die Begriffe der<br />

Deutungsmuster übersetzt, zu einer wahrgenommenen Wirklichkeit werden. Der Deutung<br />

wird eine gewisse, allerdings eine geringere Autonomie als in der konstruktivistischen Lerntheorie<br />

zugeschrieben. Dies erklärt sich dadurch, dass dem Deutungsmusteransatz zufolge<br />

der objektiven Wirklichkeit eine prägende Kraft zukommt, die den deutenden Spielraum<br />

des Subjekts beschränkt, im Konstruktivismus aber die Konstruktionen die entscheidende<br />

Wirklichkeit darstellen. Deutungen haben - auch hier zeigen sich Ähnlichkeiten zwischen<br />

dem Deutungsmusteransatz und dem Konstruktivismus - handlungsleitende Funktionen.<br />

Der Deutungsmusteransatz rückt aber, so scheint uns, das leibgebundene Handeln stärker<br />

in den Mittelpunkt, während der Konstruktivismus primär das Denken und Sprechen als<br />

konstruktive Handlungsakte im Blick hat.<br />

Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sind für die Umsetzung<br />

konstruktivistischer Annahmen über das Lernen geeignete Lernmedien, weil sie als interaktive<br />

Medien, explorative, gestaltende Akte herausfordern (Schachtner 2002b, 111ff.). So<br />

kann es nicht überraschen, wenn im Diskurs über konstruktivistisches Lernen Überlegungen<br />

angestellt wurden, wie virtuelle Lernumgebungen im Sinne dieses Paradigmas gestaltet<br />

werden können, wobei insb. auf die Möglichkeiten der Selbststeuerung, der Exploration und<br />

Gestaltung verwiesen wird. (Walber 2003; Siebert 2003.<br />

Der erfahrungs- und subjektivitätsorientierte Ansatz wurde wesentlich von Fritz Böhle<br />

(Böhle 2004; Böhle/Schulze 1987) in einem arbeitssoziologischen Kontext auf der Basis<br />

von Studien an CNC-gesteuerten Werkzeugmaschinen formuliert. Dieser Ansatz ist nicht<br />

als Lerntheorie gedacht, sondern als Theorie über erforderliches Wissen für erfolgreiches<br />

<strong>Arbeit</strong>shandeln, enthält aber auch Annahmen darüber, wie dieses Wissen erworben wird.<br />

Die Studien an CNC-gesteuerten Werkzeugmaschinen bestätigen nach Böhle u.a. die allge-


Learning for Produktion: E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung<br />

meine Prognose, dass in der Produktion heutzutage höhere Anforderungen an theoretisches<br />

Fachwissen und abstraktes Denken gestellt werden; sie zeigen darüber hinaus, dass das<br />

Erfahrungswissen qualifi zierter Facharbeiter einen unersetzbaren Wert für die Unternehmen<br />

hat (Böhle 2004, 13). Letzteres wurde auch für andere Tätigkeits- und Aktivitätsfelder wie<br />

Projektmanagement (Porschen/Böhle 2005, 55), Krankenpfl ege (Benner 1994), ärztliche<br />

Praxis (Schachtner 1999, 25ff.), Autofahren (Dreyfus/Dreyfus 1994) und für die Papierherstellung<br />

(Krenn 2000; Schachtner/Frankl/Höber/Romé 2005; Schachtner 2005b, 71 ff.)<br />

bestätigt, was darauf hindeutet, dass Erfahrung von genereller Relevanz für erfolgreiches<br />

<strong>Arbeit</strong>shandeln ist. Erfahrungswissen drückt sich Böhle zufolge darin aus, dass die <strong>Arbeit</strong>erInnen<br />

ein Gefühl für Materialien und Maschinen haben, dass sie hören, ob die Maschine<br />

richtig funktioniert, dass sie die „Mucken“ der Maschine kennen, dass sie Störungen erahnen<br />

und dass sie in kritischen Situationen, z. B. bei Stillstand der Maschine, das Richtige ohne<br />

analytisches Nachdenken tun (Böhle 2004, 13). Dieser Ansatz fokussiert auf die Deutung<br />

der sinnlichen Signale der physikalischen und sozialen Welt, die im sinnlich-praktischen<br />

Handeln erworben werden. Das in der praktischen Auseinandersetzung erworbene Wissen<br />

ist meist implizites Wissen, das ein Pendant zum expliziten Wissen bildet und in spezifi schen<br />

Situationen intuitiv aktualisiert wird.<br />

Der erfahrungs- und subjektivitätsorientierte Ansatz schließt an die Argumentation von<br />

John Dewey an, der das Erfahrungswissen bereits in den vierziger Jahren dem theoretischen<br />

Wissen als gleichberechtigte Wissensform gegenüberstellte (Dewey 1949). Genauso wie für<br />

Böhle, ist für Dewey Erfahrungswissen ein körper- und sinnengebundenes Wissen, das sich<br />

in der handelnden Auseinandersetzung mit der Welt bildet. Dewey bemerkt: „Welche Dinge<br />

weich und welche hart sind, das lernen wir, indem wir handelnd probieren, was man mit<br />

ihnen tun kann“ (Dewey 1949, 355). Die beiden Autoren betonen den dialogisch-interaktiven<br />

Umgang mit den Dingen und mit den physikalischen Gegebenheiten als Bedingung für die<br />

Erfahrungsbildung. Dewey verweist zudem auf das Spiel als spezifi sche Form interaktiven<br />

Handelns, die eine erste Stufe des Erkennens markiert (Dewey 1949, 258).<br />

Deuten, Handeln, Interaktion markieren die verbindenden Momente zwischen dem erfahrungs-<br />

und subjektivitätsorientierten Ansatz und der konstruktivistischen Lerntheorie, wobei<br />

die konstruierende Dimension im Konstruktivismus einen ungleich höheren Stellenwert hat<br />

als im erfahrungsorientierten Ansatz. Dagegen ist es ein Verdienst des erfahrungsorientierten<br />

Ansatzes, die Bedeutung von Sinnlichkeit und Körperlichkeit für die Erkenntnisgewinnung<br />

herausgearbeitet zu haben. Dies darf im Hinblick auf die Entwicklung computergestützter<br />

Lernprogramme für die betriebliche Bildung aus zwei Gründen nicht ignoriert werden:<br />

Zum einen, weil die Bedeutung von Erfahrung bislang sowohl in der arbeitsoziologischen<br />

und –psychologischen Diskussion als auch in der Konzeption der betrieblichen Bildung zu<br />

wenig berücksichtigt wurde und zum anderen, weil computergestützte, primär textbasierte<br />

Lernprogramme hinsichtlich der Integration der erkenntnisbildenden Funktion von Körper<br />

und Sinnlichkeit vor besonderen Schwierigkeiten stehen, die uns aber nicht unüberwindbar<br />

scheinen (Schachtner 2002a, 225).<br />

2.2 Zum aktuellen Stand des E-Learning<br />

E-Learning positionierte sich von Beginn an in der Grauzone zwischen Bildung und Technik.<br />

Während PädagogInnen noch über Sinn und Unsinn von computergestütztem Lernen<br />

57


58 Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />

debattierten, begannen Manager großer IT-Firmen wie Oracle (mit Saba) oder IBM Lotus<br />

(mit Centra) damit, eigene E-Learning-Firmen zu gründen (Wang 2004, 3) und Lösungen für<br />

verschiedenste Problemstellungen des Lernens zu entwerfen und zu implementieren. Mit dem<br />

Aufkommen von E-Learning ist ein neuer Markt entstanden, der gesättigt werden wollte.<br />

Einen großen Teil dieses Marktes stellt die betriebliche Bildung dar. Im Jahr 2003 wurde<br />

diesem Bereich des E-Learning das größte Wachstum prognostiziert. Zu diesem Zeitpunkt<br />

hatte die betriebliche Bildung bereits den zweitgrößten Anteil am „E-Learning-Kuchen“. Die<br />

Prognose sah eine Erholung von der anfänglichen Desillusionierung vor, die eine Vielzahl<br />

an Opfern in Form gescheiterter Unternehmen gefordert hatte und prognostizierte einen<br />

Aufschwung unter wachsendem Einsatz von zielgerechten Anwendungen und hochwertigem<br />

Content (Hasebrook/Herrmann/Rudolph 2003, 37). Doch selbst nach 2003 war die Zeit der<br />

Enttäuschungen noch nicht überwunden und Geschäftsaufgaben bzw. Konkurse von Unternehmen<br />

wie Skillsoft Germany (Jan. 05) oder IVG Data (Dez. 05) lassen weiterhin an der<br />

Trendwende zweifeln.<br />

Während die Vielfalt der entstandenen E-Learning-Lösungen und Umsetzungsmöglichkeiten<br />

und die damit einhergehenden Probleme bezüglich Kompatibilität und Erweiterbarkeit/<br />

Wiederverwendbarkeit Diskussionen um Standardisierung und ‚Learning Objects’ auslösten<br />

(Höber 2005, 96ff.), blieb die Frage nach der pädagogischen Qualität von E-Learning auf<br />

der Stecke. Somit ist es nicht zuletzt der vorrangig technischen Orientierung zuzuschreiben,<br />

dass das große Potenzial, welches E-Learning mit sich bringt, bislang ungenutzt blieb. Diese<br />

Annahme wird von einem Bericht des European Centre for the Development of Vocational<br />

Training (Cedefop) gestützt: E-Learning mag - so die Autoren Hasebrook/Hermann/Rudolph<br />

(2003, 103ff.) - zwar eine Vielzahl an Möglichkeiten bieten, diese müssen jedoch erst lernfördernd<br />

eingesetzt werden. Der eigentliche Nutzen, den neue Medien für den Lernprozess<br />

haben, sei kein so unmittelbarer. Hasebrook u.a. sehen die Stärken des elektronisch gestützten<br />

Lernens, die es durch geeignete didaktische Settings zu mobilisieren gilt, vielmehr in einem<br />

erhöhten Maß an Interaktivität, Kommunikation und Individualisierung. Diese Potenziale<br />

belegen einmal mehr die hervorragende Eignung von E-Learning-Settings für konstruktivistisch<br />

geprägte Lernszenarien. Umso frustrierender ist es, dass es noch immer behavioristisch<br />

orientierte und somit standardisierte, qualitativ minderwertige Lösungen sind, mit denen sich<br />

Lernende konfrontiert sehen.<br />

Es ist nicht zufällig, wenn in diesem Abschnitt technische Entwicklungen und wissenschaftliche<br />

Diskurse zueinander in Beziehung gesetzt werden. E-Learning ist ein Bildungsprojekt,<br />

das verschiedene disziplinäre Perspektiven auf den Plan ruft und nur im Kontext<br />

einer transdisziplinären Analyse und Kooperation gelingen kann.<br />

3 Prinzipien für das computergestützte Lernen im Betrieb<br />

Mit dem eingangs benannten erkenntnisleitenden Interesse, ein Lernkonzept zu entwickeln,<br />

das an bisherigen Lernformen anknüpft und zugleich den bisherigen Lernraum medial erweitert,<br />

wurden im Sinne eines partizipativen Forschungsansatzes thematisch strukturierte<br />

Interviews mit sechs Papierfacharbeitern geführt; darüber hinaus wurde ein eintägiger Workshop<br />

angeboten, an dem sich zehn Papierfacharbeiter beteiligten. Folgende Fragen, die als<br />

Unterfragen des erkenntnisleitenden Interesses zu verstehen sind, leiteten die partizipativ<br />

und praxisorientiert angelegte Anforderungsanalyse:


Learning for Produktion: E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung<br />

1. Welche Arten von Wissen werden für die verschiedenen Tätigkeiten und Situationen im<br />

Kontext der spezifi schen Produktionspalette benötigt?<br />

2. Wie wird dieses Wissen bislang erworben?<br />

3. Welche Rolle spielt die Kommunikation zwischen den Beschäftigten für den Wissenstransfer?<br />

4. Welche Bedeutung wird der betrieblichen Bildung aus Sicht der Beschäftigten zugemessen?<br />

5. Wie müsste ein E-Learning-System inhaltlich, strukturell, ästhetisch aufgebaut<br />

sein, damit es ein effi zientes Lernen aus der Sicht der Beschäftigten ermöglicht?<br />

6. Wie stehen die Beschäftigten dem Einsatz eines E-Learning-Systems gegenüber?<br />

7.<br />

Welche Rahmenbedingungen (Lernzeiten, Lernorte) sind aus Sicht der Beschäftigten<br />

erforderlich, um ein effi zientes Lernen sicherzustellen?<br />

Die an den Interviews und am Workshop beteiligten Papierfacharbeiter zeigten sich sehr<br />

motiviert. Es stellte für die erfahrenen Facharbeiter wie Maschinenführer und Meister kein<br />

Problem dar, wie von den Forscherinnen in Erwägung gezogen, ihr Fachwissen zu veröffentlichen,<br />

was für die Entwicklung von Lernprogrammen unverzichtbar ist. Sie meinten<br />

vielmehr, dass es ihre <strong>Arbeit</strong> erleichtere, wenn sie ihr Wissen weitergeben können und der<br />

Mann neben ihnen über ein hohes Qualifi kationsniveau verfüge. Sie konnten sich vorstellen,<br />

zumindest einen Teil des für den <strong>Arbeit</strong>sprozess nötigen Wissens computergestützt zu erwerben,<br />

bemerkten aber auch, wie wichtig das direkte Gespräch mit erfahrenen Kollegen sei, um an<br />

deren Erfahrungswissen zu partizipieren. Dieses Gespräch sollte ihrer Meinung nach nicht<br />

durch die Technik verdrängt werden. Nichtsdestoweniger betrachteten sie übereinstimmend<br />

mit der Unternehmensleitung den Einsatz computergestützter Qualifi zierungsmethoden als<br />

eine Selbstverständlichkeit.<br />

Die medienorientierte Ausrichtung dieses Unternehmens scheint kein Einzelfall zu sein.<br />

Eine Befragung von elf weiteren Unternehmen (Klein- und Mittelunternehmen) in dieser<br />

Region ergab, dass auch diese Unternehmen die Zukunft betrieblichen Lernens in Verbindung<br />

mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sehen und dass sie die<br />

entsprechende Motivation und Fähigkeit, computergestützte Lernstrumente zu benutzen, der<br />

jüngeren Generation zuschreiben und deshalb Medienkompetenz als ein wichtiges Einstellungskriterium<br />

benennen.<br />

3.1 Selbstgesteuertes und geführtes Lernen<br />

Entsprechend der Annahme, dass Lernen ein selektiver Prozess des Konstruierens ist, sollten<br />

computergestützte Lernprogramme eine Struktur aufweisen, die den Lernenden erlaubt, sich<br />

frei – also selbstgesteuert – zu bewegen. Es existiert kein verpfl ichtender Weg durch die<br />

Lerninhalte, da es den einen richtigen Weg nicht gibt. Vielmehr bestehen unterschiedlichste<br />

Lernangebote zu praxisnahen Themen, die individuellen Lernbedarfen entgegenkommen und<br />

den Lernenden die Freiheit gewähren, selbst zu entscheiden, wo sie ihren Ausgangs- bzw.<br />

Einstiegspunkt setzen. Auf diese Weise kann ein vertrauter Punkt gewählt werden und von<br />

diesem aus können zusammenhängende Lerninhalte aufgesucht werden. Dabei werden die<br />

MitarbeiterInnen unterstützt, auf bestehendes Wissen aufzubauen und neues Wissen in vor-<br />

59


60 Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />

handenes Wissen zu integrieren. Dies fordert ein hohes Maß an Selbstständigkeit, welches<br />

nicht vorausgesetzt werden kann. Idealerweise bietet ein computergestütztes Lernprogramm<br />

auch Führung durch die Lerninhalte an und lässt den Lernenden die Wahl, ob sie selbstgesteuert<br />

lernen oder Unterstützung in Anspruch nehmen wollen.<br />

3.2 Spielerisches Lernen<br />

‚Spiel’ und ‚<strong>Arbeit</strong>’ bzw. ‚Lernen’ werden meist zu Unrecht als diametral entgegengesetzte<br />

Begriffe aufgefasst. Das Spiel defi niert sich keinesfalls durch Leistungsfreiheit, sondern<br />

vielmehr durch Freude an der Leistungserbringung. Spezifi sche Erfolgserlebnisse bewirken<br />

Anerkennung durch andere (vgl. Huizinga 1938/1997, 19ff. und 61) und motivieren. Der<br />

Spielende lernt im Spiel und spielerisch (vgl. Frankl 2005). In den thematisch strukturierten<br />

Interviews zeigte sich, dass das arbeitsplatznahe Lernen in einem Produktionsbetrieb mit einer<br />

Reihe von Lernhindernissen konfrontiert ist wie Zeitknappheit, Unvorhersehbarkeit einer<br />

Produktionsstörung, mangelnde Ruhe im Betrieb. Lerninhalte müssen einfach aufbereitet sein,<br />

die Konzentration auf sich lenken und zum ‚Weiterspielen’ motivieren. Komplexe Zusammenhänge<br />

sowie abstraktes Problemlösungswissen können spielerisch - beispielsweise durch<br />

Simulationen - dargestellt werden. Somit kann wertvolles Wissen über die Auswirkungen<br />

bestimmten Handelns auf nachgelagerte Prozesse veranschaulicht werden, ohne schwerwiegende<br />

oder kostspielige reale Folgen in Kauf nehmen zu müssen. Simulationen bieten<br />

neben vernetztem Wissen in komprimierter Form auch eine motivierende Lernumgebung<br />

und ermöglichen selbstständiges Lernen. Wichtig bei der Gestaltung von Simulationen ist,<br />

dass das Gelernte situativ im <strong>Arbeit</strong>salltag tatsächlich umgesetzt werden kann (vgl. Frankl<br />

2005). Dieses Ziel zu erreichen bedeutet nach Härta (2002, 67) eine „Gratwanderung zwischen<br />

Reduzierung von Komplexität und der Abbildung von Komplexität“.<br />

3.3 Erfahrungsorientiertes Lernen<br />

Wie die Befragung der Facharbeiter gezeigt hat, reichen theoretische Kenntnisse nicht aus,<br />

um den <strong>Arbeit</strong>salltag zu bewältigen, vielmehr wird – im Sinne des erfahrungs- und subjektivitätsorientierten<br />

Ansatzes - umfangreiches Erfahrungswissen sowie darauf basierend<br />

Problemlösungswissen benötigt. Nach Böhle und Bolte (2002, 204) äußert sich das Erfahrungswissen<br />

u. a. in folgenden Phänomenen: „blitzschnelle Entscheidungen in kritischen<br />

Situationen; die intuitiv richtige Suche nach Ursachen von Störungen bei einer Vielzahl von<br />

Optionen; die Bewältigung komplexer und risikoreicher Situationen durch Improvisationsgeschick;<br />

der nicht nur gedankliche, sondern auch körperliche und emotionale Nachvollzug<br />

technischer Abläufe“. Diese Phänomene wurden auch in den Interviews deutlich, wenn z. B.<br />

davon die Rede war, dass man „langsam in die Maschine hineinwachsen“ muss (Facharbeiter,<br />

Schachtner u.a. 2005).<br />

Da das Erfahrungswissen im praktischen Handeln erworben, erzeugt und angewendet<br />

wird, stellt sich die Frage nach der Abbildungsmöglichkeit von Erfahrung im E-Learning-<br />

System, um den Anforderungen der NutzerInnen entgegenzukommen: denn „in einer Dokumentation<br />

steht zwar Punkt 1, Punkt 2, Punkt 3 […], aber die persönlichen Erlebnisse stehen<br />

nicht dort oder die Fehler von mir, die ich einmal gemacht habe, die stehen auch nicht dort“<br />

(Facharbeiter, Schachtner u.a. 2005). Das E-Learning-System soll daher Möglichkeiten für<br />

die Protokollierung von Erfahrungswissen – und damit dessen Einbettung in Lerninhalte<br />

– sowie für den Austausch von Erfahrungen anbieten. Erfahrungswissen kann in Weblogs


Learning for Produktion: E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung<br />

protokolliert und diese Einträge können mit Lerneinheiten verknüpft werden. Ein Austausch<br />

von Erfahrung bzw. der gezielte Erwerb von fremdem Erfahrungswissen kann über Diskussionsforen,<br />

Chats oder FAQs (Frequently Asked Questions) realisiert werden. Die Möglichkeit<br />

zum Erfahrungsaustausch online unterstützt generationenübergreifendes Lernen; ältere<br />

MitarbeiterInnen können ihr Wissen an die nachfolgende Generation weitergeben.<br />

3.4 Dialogisches Lernen<br />

Aus- und Weiterbildung im untersuchten Betrieb erfolgen bislang hauptsächlich über das<br />

‚Anlernen’ neuer MitarbeiterInnen, meist durch die Kombination aus Erzählen und Zeigen.<br />

Bei diesem Austausch profi tieren nicht nur die Lernenden, sondern auch diejenigen, die ihr<br />

Wissen weitergeben. „[Es] würde […] dem Individuum ohne Gedankenaustausch und Zusammenarbeit<br />

mit anderen nicht gelingen, seine Operationen zu einem einheitlichen Ganzen zu<br />

gruppieren“ (Piaget 1972, 183). Im gegenseitigen Austausch ist man gezwungen, sein eigenes<br />

Denken zu ‚überdenken’ und Dinge aus neuen Perspektiven zu sehen. Dabei erweitert man<br />

seinen Horizont und betrachtet Gegenstände in einem größeren Zusammenhang. Austausch<br />

fi ndet aber nicht nur verbal statt. MitarbeiterInnen lernen auch dann voneinander, wenn sie<br />

zusammenarbeiten, einander einfach nur zusehen oder gemeinsam Probleme lösen.<br />

Informelle Gespräche, beispielsweise über die tägliche <strong>Arbeit</strong>, sind dabei ebenso wichtig<br />

wie arrangierte Kommunikationsprozesse zur Wissensweitergabe. Die Kommunikation am<br />

<strong>Arbeit</strong>splatz wurde von den Papierfacharbeitern, die an den Interviews und am Workshop<br />

teilnahmen, übereinstimmend als eines der wichtigsten Medien der Wissensvermittlung<br />

genannt.<br />

4 Struktur und Design des Lernprogramms und der<br />

Benutzeroberfl äche<br />

Content, Struktur und Design des computergestützten Lernkonzepts, das hier am Beispiel<br />

des Anwendungsfeldes Papierherstellung erörtert wird, orientieren sich an den beschriebenen<br />

Lernprinzipien, die sich wiederum auf die empirischen Ergebnisse sowie auf die eingangs<br />

dargelegten lerntheoretischen Annahmen stützen.<br />

4.1 Struktur und Content des computergestützten Lernprogramms<br />

Das Lernprogramm umfasst Informations- und Kommunikationsbereiche. Die Kategorien<br />

‚Grundlagen’, ‚<strong>Arbeit</strong>sablauf’, ‚Organisation/Kommunikation’ und ‚Sicherheit’ eröffnen den<br />

Zugang zum Informationsbereich. Die Kategorien ‚Lehrlinge fragen’, ‚Gesehen und gehört’,<br />

‚Maschinengespräche’ führen in den Kommunikationsbereich. Der Informationsbereich bietet<br />

etabliertes Fachwissen und schließt somit an bekannten Lernformen an; allerdings können<br />

die Lernwege im Sinne konstruktivistischen Lernens selbst gewählt werden. Der Kommunikationsbereich<br />

stellt darauf ab, Dialog und Erfahrungsaustausch im Sinne dialogischer und<br />

erfahrungsorientierter Lernprinzipien zu stimulieren.<br />

Grundlagen<br />

Über die Kategorie Grundlagen können sich Lernende Zugang zu Wissen über grundlegende<br />

Bestandteile der Papierproduktion erschließen. Die Unterkategorien lauten: ‚Grundlagen<br />

61


62 Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />

Papier’, ‚Grundlagen Maschine’, ‚Grundlagen Papierherstellung’. Es handelt sich um<br />

allgemeines Wissen, das über grundsätzliche Zusammenhänge informiert, wie es den Beschäftigten<br />

in jedem Unternehmen verfügbar sein muss.<br />

<strong>Arbeit</strong>sablauf<br />

Die Kategorie ‚<strong>Arbeit</strong>sablauf’ eröffnet den Zugang zu einem Prozesswissen, das sich auf<br />

abgrenzbare Prozesse wie Filterwechsel oder Papierprüfung im Betrieb bezieht. Es wird<br />

innerhalb der Kategorie zwischen Normalarbeitsablauf, kritischen Situationen und regelmäßig<br />

anfallenden Wartungsarbeiten unterschieden.<br />

Organisation/ Kommunikation<br />

Das soziale Setting, in das <strong>Arbeit</strong>s- und Produktionsabläufe eingelagert sind, ist Inhalt der<br />

Kategorie ‚Organisation/Kommunikation’. Sie umfasst potenziell Wissen über Geschichte,<br />

Aufbau, Leitbild des Unternehmens, über Entscheidungsstrukturen, über Führungs- und Kommunikationskompetenzen,<br />

über Möglichkeiten, ein befriedigendes <strong>Arbeit</strong>sklima herzustellen.<br />

Hier fi ndet sich Wissen über sog. soft skills, die in der neueren betriebspsychologischen<br />

Fachliteratur (vgl. Senge 1999, 16 ff.) als wichtige Bedingungen effi zienter <strong>Arbeit</strong>s- und<br />

Produktionsprozesse beschrieben werden<br />

Lehrlinge fragen<br />

Diese Kategorie bezeichnet eine kommunikative Anwendung des Lernprogramms, die der<br />

Verbesserung der Lehrlingsausbildung dient. Sie sieht vor, dass Lehrlinge in einem Diskussionsforum<br />

Fragen stellen und erfahrene Facharbeiter zeitversetzt antworten. Es soll ein<br />

Generationendialog initiiert werden, durch den das Erfahrungswissen von einer <strong>Arbeit</strong>ergeneration<br />

an die nächste weitergegeben wird. Lehrlinge fühlen sich durch ein extra für sie<br />

eingerichtetes Forum direkt angesprochen. Das Forum könnte z.B. von einem Ausbildungsleiter<br />

oder einem erfahrenen Mitarbeiter moderiert werden. Das sogenannte E-moderating hat sich<br />

als erfolgreiche Strategie erwiesen (vgl. Schachtner, 2005a, 79 ff.), lebendige Diskussionen<br />

zu erreichen. Nicht die Experten, sondern die Lernenden bestimmen in diesem Forum, was<br />

zum Thema gemacht wird. Die Fragen der Lernenden steuern die Lernprozesse, die zur<br />

Konstruktion, Dekonstruktion oder Rekonstruktion von Wissen genutzt werden können.<br />

Gesehen und gehört<br />

Diese Anwendung richtet sich ebenfalls an Auszubildende sowie an Quereinsteiger in der<br />

Anlernphase und soll das Erfahrungslernen forcieren. Ziel ist ein Erfahrungsjournal in Form<br />

eines Weblogs, das wie folgt entsteht: Auszubildende und Facharbeiter in der Anlernphase<br />

zeichnen fortlaufend in einem von allen genutzten Weblog ihre Wahrnehmungen auf, die sie<br />

beim Abgehen der Maschinenanlage, in kritischen Situationen (z.B. Papierriss), bei Reparaturen<br />

und Umbauarbeiten machen. Aus den Einträgen der Einzelnen entsteht ein fortlaufendes<br />

Journal, das von Allen eingesehen werden kann. Die Aufzeichnung der Wahrnehmungen trägt<br />

dazu bei, die Wahrnehmungskompetenz offl ine zu schärfen, sich das Gesehene und Gehörte<br />

durch die Verschriftlichung bewusster zu machen sowie von den Wahrnehmungen anderer<br />

zu profi tieren. Im Sinne konstruktivistischen Lernens konstruieren sie das Wissen, das auf<br />

dem Bildschirm erscheint, selbst, genauso wie diejenigen, die die Protokolle lesen, selbst<br />

entscheiden, welche Fragen und Probleme sie auswählen.


Learning for Produktion: E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung<br />

Maschinengespräche<br />

Das Reden über die <strong>Arbeit</strong> und über Maschinen ist ein informeller, aber zentraler Bestandteil<br />

erfahrungsgeleiteter Kooperation (vgl. Porschen/Böhle 2005). Es fi ndet in den <strong>Arbeit</strong>spausen<br />

statt und beginnt oft schon beim Frühstück. Dem sog. story telling könnte in einem computergestützten<br />

Lernprogramm in Form eines chats Raum gegeben werden. In Betrieben, in denen<br />

Nachtschichten gefahren werden, könnte ein sog. Mitternachtstalk eingerichtet werden.<br />

Die auf Information abstellenden Kategorien ‚Grundlagen’, ‚<strong>Arbeit</strong>sablauf’, ‚Organisation<br />

/Kommunikation’ vermitteln systematisiertes, standardisiertes, explizites Wissen,<br />

d.h. Theoriewissen; die auf Kommunikation und Beobachtung abstellenden Kategorien<br />

‚Lehrlinge fragen’, ‚Gesehen und gehört’, ‚Maschinengespräche’ eröffnen Räume für die<br />

Akquisition und Thematisierung von Erfahrungswissen. Das Erfahrungsjournal ‚Gesehen<br />

und gehört’ orientiert sich darüber hinaus an den Möglichkeiten des Blended Learning, das<br />

eine Kombination von Online- und Offl ine-Lernen vorsieht.<br />

Neuerungen<br />

Angesichts dynamischer <strong>Arbeit</strong>s- und Produktionsprozesse, die zur Folge haben, dass sich<br />

das im <strong>Arbeit</strong>sprozess erforderliche Wissen rasch erneuert, ist die Kategorie ‚Neuerungen’<br />

unverzichtbar. Die permanente Aktualisierung von Wissen ist eine besondere Stärke computergestützter<br />

Lernprogramme, worin sie dem gedruckten Fachbuch überlegen sind.<br />

Abb. 1: Individuell gestaltete Lernpfade<br />

(Bearbeitetes Bildschirmfoto)<br />

63


64 Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />

4.2 Design und Didaktik der virtuellen Lernumgebung<br />

Sollen virtuelle Lernumgebungen ein konstruktivistisches, erfahrungs- und subjektivitätsorientiertes<br />

Lernen unterstützen, so müssen sie den Implikationen der Ermöglichungsdidaktik<br />

folgen, die die stofforientierte Vermittlungsdidaktik ablöst (Walber 2003, 210).<br />

Wir lernen umso erfolgreicher, je mehr wir uns mit Themen beschäftigen können, die<br />

subjektive Relevanz für uns besitzen. Dies wird, wie erwähnt, unterstützt, wenn die Lernenden<br />

Wahlmöglichkeiten haben, wie in dem hier vorgestellten Fallbeispiel (vgl. Abb. 1),<br />

in dem es den Lernenden offen steht, ihren individuellen Lernpfad zu gestalten oder einem<br />

vorgegebenen Lernpfad (durchgezogene Linie) zu folgen.<br />

Diese Wahlmöglichkeiten setzen sich auf den darunter liegenden Ebenen insofern fort, als die<br />

Lernenden auf jeder Ebene entscheiden können, ob sie ihr Wissen zu Teilbereichen vertiefen<br />

wollen oder nicht. Die Möglichkeit der Vertiefung ist durch das Symbol der Glühbirne angezeigt;<br />

auch die Kategorie Keywords in der oberen Menüliste erlaubt eine Wissensvertiefung<br />

(vgl. Abb.2).<br />

Abb. 2: Möglichkeit, mehr Informationen zu einem Stichwort zu erhalten<br />

(Bearbeitetes Bildschirmfoto)<br />

Lernende werden nicht automatisch mit allen verfügbaren Informationen konfrontiert, sondern<br />

selektieren, wodurch sie als autonome und aktive Subjekte angesprochen sind. Dies<br />

schließt nicht aus, dass Lerninhalte angeboten werden, aber die Art und Weise möglicher<br />

Auseinandersetzung mit diesen Inhalten sollte Freiheitsgrade aufweisen, die ein exploratives<br />

Lernen ermöglichen, in dessen Verlauf neue Erfahrungen gewonnen werden.


Learning for Produktion: E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung<br />

Zentrales Element einer Ermöglichungsdidaktik (Schachtner 2006) ist die Einsicht in<br />

Zusammenhänge. Der Gewinn von Zusammenhangswissen wurde von den Papierfacharbeitern<br />

in den Interviews und im Workshop als eine Schlüsselqualifi kation beschrieben.<br />

Zusammenhangswissen bezeichnet ein Wissen über die Struktur eines technischen oder sozialen<br />

Prozesses. Es bezieht sich auf vorgelagerte und nachgelagerte Vorgänge, aber auch auf<br />

zeitgleiche Abläufe im <strong>Arbeit</strong>sgeschehen. In komplexen <strong>Arbeit</strong>ssituationen komme es darauf<br />

an, so formuliert der Psychologe Dieter Dörner, in Zeitabläufen zu denken und zu wissen,<br />

dass bestimmte Ereignisse nicht nur unmittelbar sichtbare Effekte, sondern Fernwirkungen<br />

haben (Dörner 1994, 305). Der Bedeutung des Zusammenhangsdenkens wurde in dem hier<br />

diskutierten Fallbeispiel computergestützten Lernens durch das Feld ‚Themen in Zusammenhang’<br />

Rechnung getragen, das erlaubt, zu jeder aktuell bearbeiteten Lerneinheit jene anderen<br />

Lerneinheiten einzublenden, die in Verbindung mit der ersten Lerneinheit stehen.<br />

5 Rahmenbedingungen des betrieblichen Lernens in virtuellen<br />

Lernumgebungen<br />

Die Befragung der Papierfacharbeiter weist daraufhin, dass das beste Lernsystem erfolglos<br />

bleibt, wenn Einführung, Schulung und Betrieb nicht unter klar festgelegten Rahmenbedingungen<br />

stattfi nden. Diese Bedingungen umfassen verbindliche Abkommen mit der<br />

Führungsetage und in weiterer Folge klärende Gespräche mit den Mitarbeitern, um Zweck,<br />

Ziele und Bedingungen zu kommunizieren sowie eine förderliche, offene und vertrauensvolle<br />

Lernkultur zu etablieren und sicherzustellen. Diese Aspekte sind sowohl im Hinblick auf das<br />

Erlangen zufriedenstellender Lernergebnisse ausschlaggebend, als auch für die Sicherung<br />

der Motivation unter den Mitarbeitern, denn Letztere ist die wichtigste Voraussetzung für<br />

das Gelingen von Weiterbildungsstrategien.<br />

5.1 Lernort<br />

In der betrieblichen Bildung gibt es drei potenzielle Lernorte: Betrieb, (Berufs-)Schule und<br />

zuhause. Abbildung 3 zeigt, wie diese drei Orte mit dem Lernsystem verknüpft werden<br />

können. Die Wissensvermittlung in der Schule wird in der weiteren Beschreibung ausgeklammert,<br />

da sie – selbst wenn sie in die Berufsausbildung eingebunden ist – meist nicht<br />

allen Mitarbeitern zugänglich ist.<br />

Einer der Vorteile, den die Weiterbildung am <strong>Arbeit</strong>splatz mit sich bringt, ist, dass das am<br />

PC erworbenen Wissen direkt in die <strong>Arbeit</strong> einfl ießen kann. Die Papierfacharbeiter betonten<br />

diesen Vorteil in den Interviews: „Also mir wäre lieber in der Warte [zu lernen, d.V.], wo ich<br />

dann meine Ruhe habe, wo der Lärmpegel gering ist. Wo ich mich einfach konzentrieren<br />

kann, dazusetzen kann, mir gewisse Sachen erarbeiten kann, herausgehen kann und mir das<br />

anschauen kann, was habe ich jetzt gelernt“ (Papierfacharbeiter, Schachtner u.a. 2005).<br />

Weiterbildung zuhause – außerhalb der <strong>Arbeit</strong>szeiten – kann nur auf freiwilliger Basis<br />

erfolgen. Es sei denn, das Unternehmen bietet Ersatzleistungen für die aufgewandte Zeit.<br />

Lernunterlagen können für zuhause zur Verfügung gestellt werden z.B durch einen externen<br />

Zugang in das Lernsystem, durch eine WBT (Web Based Training) – Lösung per Internetzugang<br />

oder durch das Erstellen von CBTs (Computer Based Training) wie beispielsweise<br />

Lern-CDs.<br />

65


66 Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />

Abb.3: Verknüpfung von Lernorten<br />

SCHULE<br />

ZU HAUSE<br />

Wenn Lernen in der Freizeit<br />

stattfi ndet, sollte dies<br />

entschädigt werden<br />

5.2 Lernzeit<br />

Zeit wird nicht zuletzt aufgrund der Limitierung des Personalstandes zur schwindenden Ressource.<br />

Während es früher möglich war, neue MitarbeiterInnen vor Ort anzulernen, ist dies<br />

heute nur schwer realisierbar, da die <strong>Arbeit</strong>skräfte eng bemessen sind. Ein E-Learning-System<br />

kann dieses Problem nicht lösen. Auch E-Learning als Form der betrieblichen Bildung erfordert<br />

Lernzeit. Soll Lernen als innovativer Faktor gefördert werden, muss den Lernbemühungen<br />

der MitarbeiterInnen Zeit eingeräumt und Wertschätzung entgegengebracht werden.<br />

6 Schlussbemerkung<br />

Übungen für Inhalte des<br />

Schulunterrichts anbieten<br />

Inhalte für zuhause<br />

bereitstellen<br />

BETRIEB<br />

Euphorisch wurden die Möglichkeiten computergestützten Lernens einst in den neunziger<br />

Jahren begrüßt. Eine neue Ära des Lernens und der Bildung schien angebrochen. Der anfänglichen<br />

Euphorie folgten Ernüchterung und Enttäuschung. Einen wesentlichen Grund<br />

hierfür sehen wir darin, dass zu sehr auf die Technik gesetzt wurde und zu wenig auf die<br />

pädagogischen, arbeits- und organisationspsychologischen Dimensionen des Lernens. Erforderlich<br />

ist eine Neuorientierung des E-Learning, bei der die Frage gestellt wird, was Wissen<br />

ist, welches Wissen in spezifi schen Anwendungsfeldern gebraucht wird, wie Wissen bisher<br />

erworben wurde und ob bzw. wie die Antworten auf diese Fragen in situationsspezifi sche<br />

computer- und webbasierte Lernangebote umgesetzt werden können.


Learning for Produktion: E-Learning in der betrieblichen Bildung am Beispiel der Papierherstellung<br />

Betriebliches Lernen mit Hilfe der Lernmedien Computer und Internet ist kein Ersatz für<br />

das Lernen face to face. Es ist vielmehr als Ergänzung des Lernens offl ine zu betrachten, das<br />

aufgrund der besonderen Struktur digitaler Lernmedien neue Lernmöglichkeiten offeriert.<br />

So unterstützt die Netzstruktur als nicht-lineare Struktur einen reziproken, nie endenden<br />

Austausch von Information und Wissen zwischen den Lernenden. Die Netzstruktur unterstützt<br />

darüber hinaus als eine „Struktur ohne General“ (Deleuze 1977, 28) ein individuelles<br />

selbstgesteuertes Lernen, das sich sowohl an den betriebsspezifi schen Erfordernissen als<br />

auch an den biographisch geprägten Fragen und Themen der Lernenden orientieren kann.<br />

Die Chancen des E-Learning liegen nicht darin, tradierte Vorstellungen des Lernens, wonach<br />

dieses als linearer, passiver, rein kognitiver Prozess zu denken ist, medial zu reproduzieren,<br />

sondern die Möglichkeiten des Mediums für ein Lernen zu nutzen, in dem das Konstruieren,<br />

Experimentieren, Explorieren und Kommunizieren im Mittelpunkt stehen.<br />

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Zugänge. Bielefeld, 209–222<br />

Anschrift der Verfasserinnen:<br />

Univ. Prof. Dr. Christina Schachtner<br />

Universität Klagenfurt<br />

Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft<br />

<strong>Arbeit</strong>sbereich Neue Medien - Technik - Kultur<br />

Universitätsstraße 65-67<br />

A-9020 Klagenfurt<br />

E-Mail:Christina.Schachtner@uni-klu.ac.at<br />

Schlagwörter: Zukunft der <strong>Arbeit</strong>, Wissen/ Wissensgesellschaft, Neue<br />

Medien/ Informationstechnologie, Qualifi kation/ Aus- und Weiterbildung


Abstracts (English)<br />

Daniel Lois<br />

Determinants of participation in professional advancement<br />

regarding elder employees<br />

An analysis of the German “report-system further training” (BSW 2000) shows, that age-specifi c participation<br />

ratios in formal on-the-job training activities depend on the aim of the respective courses:<br />

Participation in introductory courses and in activities for professional advancement is negatively<br />

correlated with age. Participation in adaption activities, however, is not signifi cantly related to age.<br />

Thus, older employees also invest in their human capital, but they do so selectively and under specifi c<br />

conditions only: Positive attitudes towards one’s capability of learning as a prerequisite for participation<br />

become more important with increasing age. Moreover, the quality of technological innovations is a<br />

key determinant of whether a formal training is considered necessary. For instance, older employees<br />

transfer experience-based knowledge in order to cope with new ability requirements that are in accordance<br />

with previous job tasks.<br />

Keywords: Late career, training, technological innovations, experience,<br />

employability<br />

Carsten Wirth<br />

Project networks in job placement: An organisational form<br />

with future?<br />

Many researchers and politicians demand the contracting-out and the end of the public job placement.<br />

In job placement the interactions and relationships can be organised in project networks. For this reason<br />

I ask if this governance form is currently as well the organisational form of the future in job placement.<br />

I answer to this question on the basis of a research project on the organisation and control of television<br />

content production in which project networks are the dominant organisational form, the analysis of<br />

the relevant literature on (the reform of the) job placement and on observations during stays in two<br />

job agencies. Conceptually I draw on a structurationist informed perspective on organisational fi elds.<br />

I show that contracting-out is currently no promising option for the Federal Employment Agency and<br />

for government because central prerequisites for success are not fulfi lled. Alternatively, the Federal<br />

Employment Agency can be developed much more into a network organizer.<br />

Keywords: Labour market, services/administration, national, sociology,<br />

economics


70 Abstracts (English)<br />

Sven Hauff<br />

Transition to fl exible employment and the erosion of psychological<br />

contracts from the employee’s point-of-view<br />

Against the background of increasing employment fl exibility, it has already been discussed for a long<br />

time to what extent the relationship between employers and employees itself changes fundamentally. A<br />

central thesis thereby is the shift from the old model of the implicit or psychological contract of loyalty<br />

and security to a new contract based on the principles of exchange and employability. The transition<br />

to fl exible employment comprises risks for employees as well as for enterprises. Thus, the often publicised<br />

change of psychological contracts is to be critically investigated on the basis of current data<br />

and research results. In the course of this article, the focus lies on the employee’s point-of-view. As<br />

the results will show, the majority of employees seem to hold on to the principles of the old contract<br />

and are still largely interested in job security. Referring to these results, it is fi nally discussed which<br />

implications for entrepreneurial practice are to be deduced.<br />

Keywords: Psychological Contracts, employees’ expectations, perceived<br />

workplace justice, employment security<br />

Christina Schachtner, Gabriele Frankl, Angelika Höber<br />

Learning for production. E-Learning for on-the-job<br />

training. A case study on paper production<br />

The initial euphoria caused by computer-aided learning in the nineties was followed by a time of disillusion.<br />

We see one main reason for these occurrences in the mere focus on technical aspects while<br />

disregarding the pedagogic and (industrial and organisational) psychological dimensions of learning. It<br />

is time for a reorientation of e-learning beginning with questions like: What is knowledge? What kind<br />

of knowledge is needed in specifi c areas? How is knowledge gained so far? And how can the answers<br />

to these questions be transferred to learning environments which respond to specifi c situations? The<br />

chances of e-learning will not be found in the reproduction of imparted ideas of learning using media<br />

but in using media and its new possibilities for a kind of learning which focuses on construction, experimentation,<br />

exploration and communication. Using a case study we will show what such a solution<br />

can look like.<br />

Keywords: Future of Employment, knowledge/ knowledge society, new<br />

media/ information technology, qualifi cation/ (further) education


<strong>Tagungsbericht</strong><br />

"interkulturell/ international:<br />

arbeiten, führen + kooperieren<br />

Die 14. Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für<br />

<strong>Arbeit</strong>s- und Organisationspsychologie (SGAOP),<br />

durchgeführt am 6. Oktober 2006 in Zürich, widmete<br />

sich einer im Hinblick auf die zunehmend globalisierte<br />

Wirtschaftwelt höchst aktuellen Thematik: Die<br />

Zusammenarbeit im interkulturellen Kontext. Angekündigt<br />

unter dem Titel "interkulturell / international:<br />

arbeiten, führen + kooperieren" fokussierte die vom<br />

Präsidenten der SGAOP Prof. Dr. Ivars Udris (ETH<br />

Zürich) moderierte Tagung auf die Auseinandersetzung<br />

mit allgegenwärtigen, gleichzeitig aber schwer<br />

fassbaren Konzepten wie "Diversity", "Inter-" oder<br />

"Multikulturalität". Die Beiträge der sieben ReferentInnen<br />

refl ektierten dabei sowohl die theoretischkonzeptionelle<br />

Komplexität des Tagungsthemas wie<br />

auch die empirischen Schwierigkeiten, die sich bei<br />

der Untersuchung von erfolgsrelevanten Faktoren in<br />

der interkulturellen Kooperation ergeben. Die Tagung<br />

offenbarte dabei einen Konsens dahingehend, dass es<br />

trotz der unbestrittenen und zunehmenden Bedeutung<br />

der interkulturellen Handlungskompetenz in international<br />

tätigen Organisationen noch vergleichsweise<br />

wenig direkt für die betriebliche Praxis verwertbares<br />

Wissen gäbe.<br />

Wer demnach auf einfache Lösungen gehofft<br />

hatte, sah sich mit der Nachricht konfrontiert, dass<br />

der heutige Wissensstand in Praxis und Forschung<br />

den Schluss nahe legt, dass – wie Prof. Dr. Alexander<br />

Thomas (Universität Regensburg) in seinem Beitrag<br />

erwähnte – noch etliche Fragen ungeklärt seien<br />

und damit viel <strong>Arbeit</strong> bevor stünde. In Anbetracht<br />

der Tatsache, dass beispielsweise über 50% der<br />

Expatriates – das heißt Manager, die im Rahmen<br />

ihrer berufl ichen Tätigkeit im Ausland tätig sind<br />

– ihre Auslandsengagements frühzeitig abbrechen<br />

würden oder zumindest mit erheblichen privaten<br />

wie berufl ichen Problemen konfrontiert seien, war<br />

der Fokus der Tagung darauf gerichtet, die mit der<br />

interkulturellen Kooperation verbundenen Problemfelder<br />

aufzudecken. So illustrierte beispielsweise<br />

Thomas anhand eigener Forschungsergebnisse, dass<br />

das Nicht-Erkennen der Determinanten des eigenen<br />

wie auch des fremden Denkens unweigerlich zu<br />

Un- und Missverständnissen und somit letztlich zu<br />

betrieblichen Leistungseinbussen führen würden.<br />

Während Thomas verdeutlichte, dass die interkulturelle<br />

Handlungskompetenz in der Gesellschaft wie<br />

auch in den Betrieben als unzureichend zu bewerten<br />

sei, deutete der Erfahrungsbericht von Dr. Ariane<br />

Bentner (Darmstadt) aus ihrer Beratungstätigkeit<br />

in der deutschen Verwaltung darauf hin, dass es<br />

auch im öffentlichen Dienst noch kaum angemessene<br />

Personalentwicklungsmethoden gäbe, um die<br />

Mitarbeitenden entsprechend auf ihr (zunehmend)<br />

ausländisches "Klientel" vorzubereiten. Enid Kopper<br />

(Zürich) kam auf dem Hintergrund ihrer in schweizerisch-amerikanischen<br />

Firmen durchgeführten<br />

Workshops ebenfalls darauf zu sprechen, dass national<br />

geprägte Verhaltensmuster und Stereotypen<br />

die interkulturelle Zusammenarbeit immer und oft<br />

signifi kant erschweren würden. Bezüglich der Frage,<br />

wie kulturell bedingte Konfl ikte zu lösen seien, war<br />

über verschiedene Beiträge hinweg zu erfahren, dass<br />

das Verstehen des "Anderen" oder des "Fremden"<br />

eine essenzielle Ingredienz erfolgreicher interkultureller<br />

Zusammenarbeit sei. Die Etablierung eines<br />

gangbaren Modus Vivendi setze also voraus, dass<br />

die Mitarbeitenden ein Gefühl für Andersartigkeit<br />

entwickelten. PD Dr. Christel Kumbruck (Universität<br />

Kassel) wies diesbezüglich auf die Wichtigkeit von<br />

Empathie hin, wobei deutlich gemacht wurde, dass<br />

der Umgang mit Unterschiedlichkeit in erster Linie<br />

die Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive des<br />

Anderen beinhalte.<br />

Die mit interkultureller Kompetenz verbundenen<br />

empirischen Probleme wurden in erster Linie<br />

im Rahmen der Präsentation von Prof. Dr. Jürgen<br />

Deller (Universität Lüneburg) deutlich, der anhand<br />

seiner international angelegten „Lüneburg-Studie“<br />

die individuellen Erfolgsfaktoren internationaler<br />

Zusammenarbeit zu extrahieren versuchte. Wie die<br />

Resultate Dellers "work in progress" zeigten, waren<br />

weder Persönlichkeitseigenschaften wie Intelligenz<br />

noch biographische Informationen oder kognititve<br />

Fähigkeiten der untersuchten Expatriates geeignet,<br />

um die Anpassungsleistung und Job-Performance der<br />

im Ausland tätigen Manager vorherzusagen. Dieses<br />

Ergebnis erstaunte jedoch nur bedingt, sofern in


72 <strong>Tagungsbericht</strong><br />

Betracht gezogen wurde, dass erfolgreiche interkulturelle<br />

Zusammenarbeit oder Kommunikation stets<br />

Interaktion impliziert. Erfolg im interkulturellen<br />

Kontext, so Kumbruck, mache unabdinglich, dass<br />

sich alle Interaktionspartner aktiv mit der Perspektive<br />

des Gegenüber auseinandersetzen, was gleichzeitig<br />

bedeute, dass die Qualität der jeweiligen Beziehung<br />

und nicht individuelle Fähigkeiten über Erfolg oder<br />

Scheitern entscheiden würden.<br />

Während die Tagung deutlich werden ließ, dass<br />

noch kaum Einigung besteht hinsichtlich der Semantik<br />

von Begriffen wie Diversity oder Multikulturalität,<br />

machte insbesondere Prof. PhD Chris Steyaert (Universität<br />

St. Gallen) darauf aufmerksam, dass man<br />

nicht in der Lage sei, über betriebliche Anwendungen<br />

zu sprechen, bevor man sich nicht Klarheit darüber<br />

verschafft habe, was überhaupt unter Multikulturalität<br />

verstanden würde und wie sich dieses Verständnis auf<br />

die organisationale Handhabung von Unterschiedlichkeit<br />

auswirke. Steyaert monierte dabei, dass Organisationen<br />

heute oft versuchten, Unterschiedlichkeit<br />

zu managen und damit auch zu kontrollieren, anstatt<br />

diese zu ermöglichen. Sofern jedoch Differenz und<br />

Unterschiedlichkeit lediglich als potentielle Problemfelder<br />

oder Störvariablen behandelt würden,<br />

gäbe es laut Steyaert kaum Hoffnung, dass auch die<br />

genuin positiven Aspekte des Phänomens erkannt und<br />

genutzt würden. Auch Prof. Samuel van den Bergh<br />

(Zürcher Hochschule Winterthur) wies darauf hin,<br />

dass Diversity als zentrales Moment zur Förderung<br />

des betrieblichen Humankapitals zu betrachten sei<br />

und dass sich Organisationen, die auf Homogenität<br />

setzten – und demnach Diversity unterbänden – sich<br />

unweigerlich einen relevanten Wettbewerbsnachteil<br />

einhandeln würden.<br />

Gerade aufgrund der Tatsache, dass die Referate<br />

mehr Fragen als Antworten zu Tage förderten, war die<br />

Tagung eine gute Gelegenheit, sich vertieft mit den<br />

Paradoxien und Ungereimtheiten der interkulturellen<br />

Kommunikation und Zusammenarbeit zu befassen.<br />

Der Dialog zwischen ReferentInnen und den etwa 60<br />

Tagungsteilnehmenden aus der betrieblichen Praxis<br />

wurde dabei durch intermittierende Workshops aktiv<br />

gefördert.<br />

Der Dokumentationsband (180 Seiten) ist zum<br />

Preis von CHF 30 (ca. € 20) erhältlich bei info@<br />

sgaop.ch.<br />

Pascal Dey (St. Gallen)


Rezensionen<br />

Michael Mohe: „Klientenprofessionalisierung<br />

- Strategien und Perspektiven eines professionellen<br />

Umgangs mit Unternehmensberatung“.<br />

Marburg: Metropolis-Verlag, 2003. 420 Seiten,<br />

ISBN 3-89518-434-9, 36,80 €<br />

Michael Mohe (Hg.): „Innovative Beratungskonzepte<br />

– Ansätze, Fallbeispiele, Refl exionen“.<br />

Leonberg: Rosenberg Fachverlag, 2005. 319<br />

Seiten, ISBN 3-931085-51-1, 39,80 €<br />

Karin Martens-Schmid (Hg): „Coaching als<br />

Beratungssystem – Grundlagen, Konzepte,<br />

Methoden“. Heidelberg: Economia Verlag,<br />

2003. 305 Seiten, ISBN 3-87081-288-5,<br />

44,50 €<br />

David Seidl, Martin Linder, Werner Kirsch<br />

(Hg): „Grenzen der Strategieberatung – Eine<br />

Gegenüberstellung der Perspektiven von<br />

Wissenschaft, Beratung und Klienten“. Bern,<br />

Stuttgart, Wien: Haupt Verlag, 2005. 471<br />

Seiten, ISBN 3258069204, 45,00 €<br />

Jörg Sydow, Stephan Manning (Hg): “Netzwerke<br />

beraten”. Wiesbaden: Gabler Verlag,<br />

2006. 317 Seiten, ISBN 3-8349-0018-4,<br />

44,90 €<br />

Wie kaum eine andere Branche hat Unternehmensberatung<br />

in den letzten Jahrzehnten die Entwicklung<br />

in Wirtschaft und Gesellschaft beeinfl ussen und<br />

sich zu einem zentralen Akteur der industriellen<br />

Beziehungen in Deutschland institutionalisieren<br />

können. Zu ihrer eigenen Überraschung ist sie<br />

inzwischen - wie bekannt, prognostiziert und von<br />

einigen Kritikern erhofft - in einen teils strukturellen,<br />

teils selbstverursachten Umbruch geraten,<br />

der national wie international gekennzeichnet ist<br />

durch die zunehmende Bedeutung von spezialisierten<br />

Geschäftsmodellen, die Abnutzung standardisierter<br />

Praktiken, die Entstehung neuer Wissensformen und<br />

Beratungsarrangements und insbesondere durch<br />

Autoritätsverlust und Legitimitätserosion infolge<br />

anhaltender Beraterskandale und auch juristisch<br />

ausgetragener Qualitätsklagen. Zur Zeit versuchen<br />

Unternehmensberatungen ihrer Entmystifi zierung zu<br />

begegnen mit einer eher unspektakulären Geschäftspolitik<br />

des „Besser und billiger“, was kurzfristig zwar<br />

zu mehr Umsatz, aber kaum zu neuer Beraterautorität<br />

und innovativen Beratungsmodellen führt. Beides<br />

wird – wie eine aktuelle Umfrage im beratungserprobten<br />

Management von DAX- und mittelständischen<br />

Unternehmen zeigt - dringend eingefordert und nur<br />

den Beratern zugetraut, die Spezialwissen mit Umsetzungskompetenz<br />

paaren und glaubhaft nachweisen<br />

können. 1 Dass damit weder der Innovationsbedarf<br />

noch das Innovationspotenzial der Beratungsbranche<br />

abgedeckt ist, belegen die nachfolgend rezensierten<br />

Studien und Tagungsdokumentationen, die in<br />

Themenspektrum wie Leseertrag einen fundierten<br />

Einblick in die vielschichtige Umbruchssituation der<br />

Beratungsbranche und ihre sozialwissenschaftliche<br />

Refl exion bieten: Die <strong>Arbeit</strong>en von Michael Mohe<br />

klären darüber auf, wie die wachsende Beratungskompetenz<br />

der Beratungskunden den Strukturwandel im<br />

Beratungsgeschäft induzieren und perpetuieren und<br />

wie facettenreich das Beratungsspektrum inzwischen<br />

ist. In dem Sammelband von Karin Martens-Schmid<br />

wird eine dieser nicht unumstrittenen Neuentwicklungen<br />

- das zunehmend nachgefragte Coaching<br />

- von Praktikern selbstevaluativ auf seine spezifi sche<br />

Leistungsqualität hinterfragt. Dass die aktuellen<br />

Veränderungen im Beratungsgeschäft durchaus<br />

paradigmatischen Charakter haben, vermittelt zum<br />

einen die Tagungsdokumentation von Seidl, Kirsch,<br />

Linder zu den Grenzen der Strategieberatung, der<br />

sogenannten „Königsdisziplin“ der Unternehmensberatung,<br />

und zum anderen der Sammelband von Sydow<br />

und Manning zur Netzwerkberatung, die lange schon<br />

ihren Außenseiterstatus verloren, an praktischer wie<br />

wissenschaftlicher Herausforderung jedoch nichts<br />

eingebüsst hat.<br />

Die Doppelbotschaft der „Klientenprofessionalisierung“<br />

In seiner inzwischen als Klassiker der Beratungsforschung<br />

gehandelten Dissertation untersucht Michael<br />

Mohe, warum und wie die Beratungsbranche als<br />

erfolgsverwöhntes Kind der Moderne erstmalig mit<br />

Kehrseiten und Rückwirkungen ihrer Praxis konfrontiert<br />

wird. Ihre selber unter hohem Kosten- und Inno-<br />

1 manager-magazin 8/2006 S. 26 ff, Christof Lechner<br />

u.a. 2005


74<br />

vationsdruck stehenden Kunden stellen zunehmend<br />

höhere Ansprüche an die Problemlösungskompetenz<br />

und Leistungsqualität von Beratung und entwickeln<br />

eine „Klientenprofessionalisierung“ im Umgang<br />

mit Beratern, die jedoch paradoxerweise nicht nur<br />

diesen, sondern auch ihnen selber zukünftig mehr<br />

als nur inkrementelle Innovationen abverlangen<br />

werden. Der Nachweis, dass dieses für die refl exive<br />

Modernisierung so exemplarische Phänomen an<br />

Bedeutung gewinnt und jenseits von Berater- und<br />

Managementmoden die Beratungspraxis wie die neu<br />

entstehende Beratungsforschung beeinfl ussen wird,<br />

gelingt Mohe nicht zuletzt deshalb so überzeugend,<br />

weil er – was in der Forschungslandschaft eher<br />

selten ist - eigene Inhouse-Consulting-Erfahrung,<br />

Forschungsempirie, betriebswirtschaftliche und sozialwissenschaftliche<br />

Theoriefundierung miteinander<br />

zu kombinieren versteht.<br />

Aufbauend auf einer sorgfältigen Begriffs- und<br />

Entwicklungsanalyse der Beratungspraxis und<br />

ihrer zeitverzögerten Erforschung vergleicht und<br />

systematisiert Mohe zuerst die dominierenden betriebswirtschaftlichen<br />

Beratungskonzepte und ihre<br />

in der Beratungspraxis bislang minoritär gebliebenen<br />

sozialwissenschaftlich-systemischen Pendants, deren<br />

wechselseitige Ignoranz in der Beratungsdiskussion<br />

allmählich als Problem erkannt wird. Warum und<br />

wie diese „traditionellen und neuen Konzepte der<br />

Beratung“ das empirisch unbestreitbare Phänomen<br />

der „Klienten(un)zufriedenheit“ unterschiedlich<br />

erklären und handhaben, wird anschließend in<br />

kritisch methodologischer Sichtung einer Vielzahl<br />

von Beraterstudien untersucht. Anders als in dem<br />

seit der Publikation seiner <strong>Arbeit</strong> einsetzendem<br />

Management- und Beraterdiskurs dargestellt und<br />

verstanden eröffnet „Klientenprofessionalisierung“<br />

keine neuen Effi zienzversprechungen oder optimistischen<br />

Innovationsperspektiven, sondern ist für Mohe<br />

vor allem eine Frage nach dem Modus von Beratung,<br />

ihrem Interventions- und Organisationsverständnis<br />

auf Kunden- wie auf Beraterseite. Sorgfältig und<br />

kenntnisreich werden deshalb Möglichkeiten und<br />

Grenzen von „Mainstreaming“-Beratungskonzepten<br />

und ihren systemisch-refl exiven Gegenmodellen<br />

geprüft, ihre Stärken und Schwächen im jeweiligen<br />

Anwendungskontext ausgelotet, um dann - ein<br />

besonderer Bonus der <strong>Arbeit</strong> - Perspektiven ihrer<br />

wechselseitigen Ergänzung und arbeitsteiligen<br />

Kombination entwickeln zu können. Dabei bleibt<br />

zwangsläufi g offen, wie dieser neue Beratungsmodus<br />

realitätstüchtig, die dafür nötige Fach- und Prozessberatung<br />

verknüpft werden kann und wie Berater<br />

und Kunden in die Lage zu versetzen sind, die damit<br />

verbundene „Extrameile zu gehen“.<br />

Rezensionen<br />

Wie innovativ sind Alternativberatungen?<br />

Dass der Umbruch im Beratungsmarkt auch aus einer<br />

anderen Perspektive ertragreich zu analysieren ist,<br />

zeigt der von Mohe herausgegebene Sammelband „Innovative<br />

Beratungskonzepte“, der sich der Selbstinstitutionalisierung<br />

von alternativen Beratungskonzepten<br />

„in the neighbourhood of Management Consulting“<br />

(3) widmet. Coaching, Supervision, Mediation, Meta-<br />

Beratung, integrierte Fach- und Prozessberatung,<br />

Organisationsaufstellung und Unternehmenstheater<br />

sind solche Neuentwicklungen, die sich - in manchmal<br />

exotischen Nischen entstanden – teilweise sehr<br />

erfolgreich etabliert haben und deshalb mittlerweile<br />

auf ihre ökonomische Relevanz, ihr Problemlösungspotenzial<br />

und ihre Anwendungsgrenzen hinterfragt<br />

werden können.<br />

Dies den Protagonisten der neuen Beratungsformen<br />

zu überantworten, ist aufgrund der<br />

Selbstdarstellungsnöte nicht ohne Risiko, aber im<br />

Unterschied zur gängigen Beraterliteratur geglückt:<br />

Bereitwillig und manchmal sehr detailliert werden<br />

authentische Einblicke in die Konzepte, Methoden<br />

und Instrumente gewährt, die Rückschlüsse auf die<br />

Wirklichkeitskonstruktion und Wissenslandkarte, das<br />

Organisations- und Interventionsverständnis des jeweiligen<br />

Beratungsansatzes erlauben. Man bekommt<br />

einen Eindruck, warum der Einsatz von Kunst und<br />

Theater, die Verknüpfung von Beratung und Spiritualität,<br />

die tendenziell zur neuen Beratungsmode<br />

gewordene Methode der Organisationsaufstellung<br />

oder der Transfer von Verfahren aus der Sozialarbeit<br />

und Familientherapie - wie z.B. Supervision und<br />

Mediation - sinnvoll sein kann und nachgefragt wird.<br />

In erfreulicher Differenz zur üblichen Beraterrhetorik<br />

werden Spezifi tät, Grenzen und Anwendungsbedingungen<br />

dieser neuen Beratungsformen refl ektiert.<br />

Warum sie als Geschäftsmodell – selbst in Ergänzung<br />

zu klassischen Beratungsformen - nur bedingt<br />

tauglich, ihre Innovationsimpulse für abgenutzte<br />

Beratungspraktiken deshalb begrenzt sind, wird dabei<br />

nicht verschwiegen. Bei drei Neuentwicklungen<br />

- der Integration von Fach- und Prozessberatung, der<br />

„Meta-Beratung“ als meist intermediär institutionalisierte<br />

„Beratung der Beratung“ und dem an Bedeutung<br />

gewinnenden Coaching - stellt sich das anders dar.<br />

Sie stellen grundlegendste Innovationsanforderungen<br />

an das klassische Beratungsmodell, verlieren in<br />

der Beratungspraxis ihren Außenseiterstatus, sind<br />

von der wissenschaftlichen Beratungsdiskussion<br />

aber keineswegs hinlänglich erprobt und erforscht.<br />

Erfreulicherweise werden in den Darstellungen<br />

gerade dieser Beratungsneuerungen die in den<br />

„konzeptionellen Vorüberlegungen“ von Reinhard<br />

Pfriem eingeforderten „gesellschaftspolitischen<br />

Beratungsfunktionen“ (36 ff.) und die von Manfred


Rezensionen<br />

Moldaschl explizierten „Prinzipen refl exiver Beratung“<br />

(53 ff.) aufgegriffen.<br />

Coaching in den Fallstricken professioneller<br />

Selbstbeschreibung<br />

Einen Einblick in die Nöte der Selbstinstitutionalisierung<br />

einer dieser neuen Beratungsformen bietet<br />

ein vor drei Jahren von Karin Martens-Schmid<br />

herausgegebener Sammelband mit dem viel versprechenden<br />

Titel „Coaching als Beratungssystem“, der<br />

die aktuelle Debatte 2 um Professionalisierung und<br />

Wirkung des „boomenden“ Coaching-Geschäfts<br />

vorweggenommen hat. Empirisch gestützt auf<br />

eine selbstevaluative qualitative Befragung von 31<br />

Führungskräften aus dem Dienstleistungs- und Non-<br />

Profi t-Sektor wird Coaching als „methodisch strukturierter,<br />

zielorientierter und gemeinsamer Prozess“<br />

beschrieben, der „personenbezogen, ressourcen- und<br />

lösungsorientiert“ (100) im Erfolgsfall „zu einem<br />

höheren Maß und Potenzial an Selbstrefl exion und<br />

Selbstveränderung“ (178) führt. Maßstab für die jeweils<br />

konsensual zu konkretisierenden individuellen<br />

Ziele und die „maßgeschneiderte Verfahrensweise“<br />

(50) des Coachings ist die„Professionalisierung der<br />

Persönlichkeit“ (55), ihre dabei wie auch immer<br />

gelingende Aktualisierung macht die Kompetenz<br />

des Coaches aus.<br />

Dass Coaching dementsprechend eher als Kunst<br />

der „Passung“ von Coachee und Coache denn als<br />

berufl iche Profession verstanden wird, illustrieren<br />

vier, teils aus Berater- und Klientenperspektive<br />

geschilderte Coaching-Fälle mit Einzelvorständen,<br />

Vorstandsteams, Orchestern und Spitzensportlern.<br />

Sie demonstrieren, wie sehr die Coaching-Praxis<br />

methodisch von der Familien- und Psychotherapie,<br />

der (Entwicklungs-)Psychologie, Pädagogik und<br />

insbesondere den Supervisionstechniken der Sozialarbeit<br />

geprägt ist; deutlich wird aber auch, dass<br />

Coaching beginnt, sich als originäre Beratungsform<br />

disziplinär neu zu positionieren - wenn auch nur<br />

zögerlich und in dem Maß, wie sich ihre Nachfrage<br />

branchen- und hierarchieübergreifend ausweitet,<br />

ihre Anwendung sich spezialisiert und differenziert.<br />

Neue Anwendungsfelder wie Gruppen-Coaching zur<br />

Strategieentwicklung, Coaching für Firmengründer,<br />

Gesundheits- und IT-Coaching setzen nicht nur mehr<br />

und andere fachliche Expertise voraus. Insbesondere<br />

in großen mittelständischen und DAX-Unternehmen<br />

wird Coaching in das Instrumentarium der Personalentwicklung<br />

integriert, werden Coaching-Pools<br />

eingerichtet, fi ndet „Coaching unter den Augen der<br />

fi rmeninternen Öffentlichkeit“ 3 statt. Professionelle<br />

2 wirtschaft+weiterbildung 01/2006 und 03/2006,<br />

Stefan Kühl 2005, Harald Geißler 2006<br />

3 Uwe Böning, Christopher Rauen 2006<br />

75<br />

Mindeststandards, Qualitätsnormen und Evaluationsverfahren,<br />

die das Coaching-Angebot, die Coaching-<br />

Praxis und ihren Erfolg formalisieren, transparenter<br />

und verlässlicher machen, werden unverzichtbar.<br />

Dass diese professionellen Herausforderungen<br />

unter Coaching-Experten zwar schon länger als<br />

neuralgisch anerkannt, aber in ihrer bisherigen<br />

disziplinären Fixierung auf den Wissenskanon der<br />

Psychologie kaum hinreichend zu beantworten sind,<br />

wird in dem Sammelband dank seiner materialreichen<br />

Selbstbeschreibung der Coaching-Praxis verdienstvoll<br />

dokumentiert. Zumindest teilweise bestätigt wird<br />

dabei allerdings auch, dass die aktuell heftig umstrittene<br />

soziologisch-systemtheoretische De-Konstruktion<br />

von Coaching-Selbstbildern problemangemessen ist<br />

und ihr Verweis auf strukturelle Paradoxien personaler<br />

und organisationaler Veränderungen vor allzu<br />

emphatischen Wirkungsannahmen schützt. 4<br />

Sind Kommunikationssperren zwischen<br />

Beratern, Managern und Wissenschaftlern<br />

ewünscht, anachronistisch oder unvermeidbar?<br />

Grenzen, die einen früher oder später nötigen Richtungswechsel<br />

signalisieren, waren auch das Thema<br />

einer in ihrer Art seltenen Tagung, auf der Manager,<br />

Berater und Wissenschaftler drei Tage lang - in<br />

wechselseitiger Analyse und (Co-)Kommentierung<br />

ihrer Erfahrungen und deshalb ziemlich kontrovers<br />

- „Grenzen der Strategieberatung“ ausgelotet haben.<br />

Für dieses Experiment haben die Autoren Seidl/<br />

Kirsch/ Lindner Vertreter aus fast allen führenden<br />

Beratungsunternehmen, deren Kundenunternehmen,<br />

sowie der betriebswirtschaftlichen und organisationssoziologischen<br />

Beratungsforschung gewinnen<br />

können. Die sorgfältige Dokumentation dieses<br />

lehrreichen wie sperrigen Dialogs informiert in Handbuchqualität<br />

nicht nur über die „Königsdisziplin“ der<br />

Beratung, sondern vor allem über Status Quo und<br />

Perspektiven der Managementberatung generell. Thematisch<br />

vollständig wird der aktuelle Umbruch in der<br />

Beratungsbranche in all seinen Problemfacetten und<br />

Innovationsoptionen inspiziert: Differenzierung und<br />

Spezialisierung des Geschäftsmodells der klassischen<br />

Managementberatung; Anspruch, Wirklichkeit und<br />

Evaluation der Beratungsleistung; die Ambivalenzen<br />

von Klientenprofessionalisierung, Inhouse-Consulting<br />

und erfolgsabhängiger Bezahlung; das infolge<br />

von Beratergovernance, neuer Erwartungen an<br />

Personalentwicklung und Wissensmanagement sich<br />

ändernde Anspruchsprofi l des internen Beratungsmanagements.<br />

In soziologischer Perspektive besonders<br />

informativ ist die Diskussion der Grenzen traditioneller<br />

Beratungsansätze, weil dort im Wechselspiel<br />

4 Stefan Kühl 2005


76<br />

von Beitrag und Kommentar, Selbst- und Fremdbild<br />

auch neue Beratungsformen und Beratungskonzepte<br />

auf „die Poesie der Reform und die Realität<br />

der Evolution“ (Luhmann) geprüft werden – und<br />

zwar jenseits des Klischees vom innovationsmüden<br />

Praktiker, innovationsversprechenden Berater und<br />

innovationsskeptischen Wissenschaftler.<br />

In der Gesamtschau dieses Experiments verblüfft<br />

die im Verlauf (oder wegen?) des Dialogs versandende<br />

Refl exions- und Lernbereitschaft aller Beteiligten: ein<br />

Nebeneffekt, der sich in den schriftlichen Beiträgen<br />

deutlicher manifestiert als auf der Tagung selber. Die<br />

Herausgeber erklären ihn mit „Sprachbarrieren“ und<br />

„Übersetzungsproblemen“ zwischen wissenschaftlicher<br />

Beratungsforschung, anwendungsorientierten<br />

Beraterkonzepten, konkreten Beratungsprojekten und<br />

„gewachsenen“ Sprachformen der Klienten (15ff).<br />

Dabei mit zu berücksichtigen sind jedoch auch die übrigen<br />

Trennungslinien, die gemeinsames Refl ektieren<br />

und Lernen „auf Augenhöhe“ erschweren: die disziplinären<br />

zwischen Betriebswirtschaftslehre, Ingenieur-<br />

und Sozialwissenschaften; die kulturellen zwischen<br />

IT- und Strategieberatungen, „Hidden Champions“,<br />

Nischen- und Organisationsberatungen und ihren<br />

jeweiligen Denkschulen; und nicht zuletzt die machtpolitischen<br />

zwischen großen, mittelständischen und<br />

„Bettkantenberatern“ mit jeweils unterschiedlichen<br />

Ressourcen und Netzwerken. Zu prüfen, ob diese<br />

Kommunikationssperren unvermeidbar, erwünscht<br />

oder doch anachronistisch sind, wäre durchaus eine<br />

Nachfolgetagung wert und bedürfte sicherlich einer<br />

besonderen Metaberatung.<br />

Von Netzwerken lernen! Wie Netzwerke beraten<br />

und beraten werden<br />

Pionierarbeit leisten auch Jörg Sydow und Stephan<br />

Manning als Initiatoren des „Netzwerk-Forums“ am<br />

Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Freien<br />

Universität Berlin, das ein Sommersemester dem<br />

relativ neuen Phänomen gewidmet hat, dass inzwischen<br />

neben Individuen und Organisationen auch<br />

Netzwerke beraten werden und selber beraten. Die<br />

Ergebnisse dieser Veranstaltung werden unter dem<br />

bewusst doppelsinnigen Titel „Netzwerke beraten“<br />

in einem Sammelband präsentieren, der dank der<br />

ausgewiesenen wie renommierten Experten aus<br />

Beratungspraxis und Beratungsforschung in zehn<br />

Beiträgen teils intensive Einblicke in die Praxis der<br />

Netzwerkberatung und Beratungsnetzwerke bietet<br />

und in seinen sechs wissenschaftlichen Beiträgen<br />

Lehrbuchqualität hat.<br />

In allen Beiträgen wird deutlich, dass Netzwerke<br />

brennspiegelartig Probleme wie Chancen von Management<br />

und Beratung bündeln und intensivieren.<br />

Jenseits der Frage, ob das Netzwerkthema empirisch<br />

Rezensionen<br />

über– oder unterbewertet wird, herrscht Einigkeit,<br />

dass Netzwerke das Beobachten und Analysieren<br />

von Problemen und Fallstricken erleichtern, die<br />

jegliches Managen und Beraten kennzeichnen: die<br />

Widersprüche zwischen Steuerung und Emergenz,<br />

Planung und Selbstorganisation, Kooperation und<br />

Konkurrenz, Selbst- und Fremdbestimmung, Vertrauen<br />

und Kontrolle, intra- und interorganisationalem<br />

Wandel, Nutzenkalkül und Moral, Fach- und Prozessberatung<br />

etc. Wie schwierig und ergebnisoffen die<br />

Balance zwischen diesen Spannungspolen ist, wird<br />

demonstriert in so unterschiedlichen Feldern wie den<br />

Zuliefernetzwerken von Global Playern, Verbundinitiativen<br />

von mittelständischen Unternehmen, der<br />

Reorganisation der IKEA-Wertschöpfungskette „in<br />

18 Stunden“, einer Beratungsallianz von Accenture<br />

und SAP, einem Innovationsnetzwerk zwischen<br />

regionaler Wirtschaft, Politik und Wissenschaft im<br />

Ruhrgebiet, einem kommunalpolitischen Modernisierungsprojekt<br />

„Wien, die ideale Stadt für Senioren“<br />

u.a.. Die Herausgeber rahmen diese Fallbeispiele<br />

ein mit Beiträgen zur konzeptionellen Sondierung<br />

und Heuristik der Instrumente und Funktionen<br />

von Netzwerkberatung und Beratungsnetzwerken;<br />

kritisch inspiziert werden sie aus Berater- und Wissenschaftlerperspektive<br />

durch Roswita Königswieser<br />

und Günther Ortmann. Lektürebelebend kommen<br />

dabei trotz gleicher strukturations- und systemtheoretischer<br />

Verortung interessante Differenzierungen<br />

in der Beurteilung der Managementrelevanz und<br />

Wirkmächtigkeit von und in Netzwerken zutage: Mal<br />

in nichtemphatischer Nähe, mal in konstruktiver Distanz<br />

zum Gegenstand werden Netzwerkberatung und<br />

Beratungsnetzwerke als Chance und Herausforderung<br />

für refl exives Organisieren, Managen und Beraten<br />

ausgelotet und operationalisiert, aber auch geprüft<br />

auf ihre oft unterstellte, mitgedachte „Gemeinsamkeit<br />

der gemeinsamen Sache“ (Ortmann, 294), die<br />

- wie am Beispiel der vielzitierten „communities of<br />

practise“ gezeigt wird - weder voraussetzungslos<br />

noch erfolgsichernd ist.<br />

Das Wechselspiel von praxiskundiger Theorie<br />

und theorieversierter Praxis, die darin möglich werdende<br />

empirische Dichte, Perspektivenerweiterung<br />

und Refl exivität empfi ehlt dieses Buch - wie die übrigen<br />

besprochenen Bücher auch – als Gegengift zur<br />

grassierenden Oberfl ächlichkeit und Klischeeversessenheit<br />

der „kritischen“, populärwissenschaftlichen<br />

Beraterliteratur.<br />

Martin Birke (Dortmund)


Rezensionen<br />

Zitierte Literatur<br />

Uwe Böning, Christopher Rauen (2006): Coaching<br />

- Die Entwicklung der Branche, profi le 11, 2006,<br />

S. 39-49<br />

Geißler, Harald (2006): Qualitätssicherung von Coaching<br />

im Unternehmen, profi le 11, 2006, S. 29-37<br />

Kühl, Stefan (2005): Das Scharlatanerieproblem<br />

– Coaching zwischen Qualitätsproblemen und<br />

Professionalisierungsbemühung. Köln<br />

Lechner, Christoph, Günter Müller-Stevens, Nicola<br />

Gesing, Markus Kreutzer, Sven Lang (2005):<br />

Herausforderungen an das Geschäftsmodell der<br />

Beratungsindustrie. St. Gallen<br />

manager-magazin Juli 2006<br />

wirtschaft+weiterbildung 01/2006 und 03/2006<br />

Jochen Dreher: Interkulturelle <strong>Arbeit</strong>swelten.<br />

Produktion und Management bei Daimler<br />

Chrysler. Europäische Bibliothek interkultureller<br />

Studien Bd.11. Frankfurt/New York:<br />

Campus Verlag, 2005. 219 Seiten, ISBN 3-<br />

593-37840-X, 24,90 €<br />

„Interkulturelle <strong>Arbeit</strong>swelten“ stellten bereits in<br />

der Bundesrepublik der fünfziger Jahre im Zuge der<br />

Anwerbung von ausländischen <strong>Arbeit</strong>skräften ein<br />

wichtiges Thema dar (16). Seine besondere Relevanz<br />

gewinnt der Titel jedoch angesichts aktueller und<br />

zukünftig vermehrt zu erwartender Internationalisierungsprozesse<br />

– nicht nur in der Automobilindustrie,<br />

auf die hier abgehoben wird, sondern auch in anderen<br />

Wirtschaftsbereichen. Die Frage der Interkulturalität<br />

von <strong>Arbeit</strong>szusammenhängen wird somit perspektivisch<br />

an Bedeutung gewinnen; Jochen Dreher hat<br />

hierzu einen kenntnisreichen Beitrag geleistet.<br />

In einer qualitativ-empirischen, wissenssoziologischen<br />

Analyse wird am Fallbeispiel von Daimler<br />

Chrysler untersucht, worin die Bedeutung des Faktors<br />

Interkulturalität für das Unternehmen besteht und wie<br />

interkulturelle Kommunikationsprozesse typischerweise<br />

verlaufen (20). Geleistet werden soll „eine<br />

Rekonstruktion der ‚Wirklichkeitskonstruktionen’ der<br />

Individuen im Sinne einer verstehenden Soziologie“<br />

(52). Zu diesem Zweck werden anhand von Interview-<br />

und Beobachtungsdaten und mittels der Grounded<br />

Theory zwei durch Interkulturalität geprägte, unterschiedliche<br />

soziale Welten vergleichend analysiert<br />

(209): zum einen über Jahrzehnte hinweg gewachsene<br />

interkulturelle Interaktionszusammenhänge im<br />

Werk in Sindelfi ngen (<strong>Arbeit</strong>swelt I), zum anderen<br />

die interkulturelle <strong>Arbeit</strong>swelt des internationalen<br />

Managements auf der Ebene des Gesamtkonzerns<br />

(<strong>Arbeit</strong>swelt II). Ausgehend von kurzen Ausführungen<br />

zum Stand der Forschung (20-23) und dem<br />

diagnostizierten Mangel an insbesondere qualitativ<br />

77<br />

orientierten sozialwissenschaftlichen Analysen sowohl<br />

für die <strong>Arbeit</strong>swelt I (Migrationsforschung) als<br />

auch die <strong>Arbeit</strong>swelt II (Managementlehre) wird das<br />

theoretische Begriffsgerüst zu Kultur, Interkulturalität<br />

und interkulturelle Kommunikation entwickelt.<br />

Die anschließende empirische Analyse fokussiert<br />

1. die gegenseitige, subjektive Wahrnehmung in<br />

den untersuchten <strong>Arbeit</strong>swelten, d.h. die kulturell<br />

geprägten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster,<br />

und 2. die Interaktionsmuster zwischen Individuen<br />

unterschiedlicher kultureller Herkunft, d.h. das<br />

konkrete Handeln (51). Aus der Analyse nach Gemeinsamkeiten<br />

und Unterschieden der <strong>Arbeit</strong>swelten<br />

resultiert schließlich eine materiale Theorie zu den<br />

Konstruktionsprinzipien von Interkulturalität.<br />

Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung ist,<br />

dass es „trotz über Jahrzehnte hinweg ‚gewachsener’<br />

Interkulturalität bei einem Nebeneinander der<br />

Kulturen bleibt“ und ein Verstehen der Mitarbeiter<br />

unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit sich<br />

nicht durch Vermischung der Kulturen, sondern in<br />

Annäherungsprozessen entwickelt (171). Der Autor<br />

weist nach, dass die interkulturellen Interaktionszusammenhänge<br />

im Betrieb „gerechter als draußen“<br />

empfunden werden – und somit die Wirtschaft über ein<br />

Potential zur Integration von Kulturen verfügt (172);<br />

eine Erkenntnis, die nicht zuletzt einen wichtigen Beitrag<br />

zur „Assimilations-Dissimilations“-Debatte in<br />

der Migrationsforschung darstellt. In der <strong>Arbeit</strong>swelt<br />

des internationalen Managements hingegen zeichnet<br />

sich ein Typus der interkulturellen Kommunikation<br />

ab, der durch Koexistenz und strategische Duldung<br />

der Perspektive des Anderen gekennzeichnet ist.<br />

Maßgeblich ist dabei die ökonomische Relevanz,<br />

ihrerseits kulturübergreifend bzw. kulturinvariant<br />

(174-176). Die Synthese der beiden <strong>Arbeit</strong>swelten<br />

im Hinblick auf die Frage, wie interkulturelle Kommunikation<br />

und Interkulturalität „funktionieren“,<br />

ergibt, dass weder Führungseliten noch <strong>Arbeit</strong>er eine<br />

symbolische Welt erschaffen konnten, die eine Identifi<br />

kation mit dem Gesamtkonzern ermöglicht. Die<br />

im Zuge der Unternehmensfusion propagierte Idee<br />

der „Vermischung der Kulturen“ stellt sich somit als<br />

unrealistisch heraus. Am Ende steht die Erkenntnis,<br />

dass individuelle Akteure als „Träger“ der Kultur<br />

betrachtet werden müssen (184).<br />

Die <strong>Arbeit</strong> bietet eine qualitativ hochwertige und<br />

wissenschaftlich exzellente Analyse des Datenmaterials.<br />

Sie ist dabei nicht nur gut lesbar; auch Vorgehensweise<br />

und Interpretation sind nachvollziehbar,<br />

wozu vor allem die ausführliche methodologischmethodische<br />

Dokumentation im Anhang beiträgt.<br />

Bei allem Lob hätte die <strong>Arbeit</strong> durch mehr Präzision<br />

insbesondere bei der Formulierung der Fragestellung


78<br />

und Zielsetzung (11, 16, 20 usw.) noch an Stringenz<br />

und Klarheit gewinnen können. Allerdings fällt<br />

die Rezeption vergleichbarer empirischer Studien<br />

und damit die eigene Verortung in die bestehende<br />

Forschungslandschaft recht schmal aus. Der Autor<br />

begründet dies mit der „Tatsache“, es gäbe keine<br />

vergleichbaren sozialwissenschaftlichen Analysen<br />

– womit er sicherlich Recht haben dürfte. Der Preis<br />

dafür könnte sein, dass auch diese Studie nur von<br />

einem spezialisierten Fachkreis rezipiert wird, dem<br />

breiter orientierten Fachpublikum jedoch wenig<br />

Anknüpfungspunkte bietet. Würde man statt dessen<br />

auch Studien zu Interkulturalitäten in komplexen<br />

Organisationen stärker sekundäranalytisch verwerten,<br />

würde diese hochinteressante Studie von<br />

<strong>Arbeit</strong>swelten in einem Automobilkonzern zudem<br />

einen Baustein zur Analyse komplexer Prozesse<br />

interkultureller Integration liefern können.<br />

Markus Friederici, Anna Körs (Hamburg)<br />

Howaldt, Jürgen : Neue Formen sozialwissenschaftlicher<br />

Wissensproduktion in der<br />

Wissensgesellschaft. Forschung und Beratung<br />

in betrieblichen und regionalen Innovationsprozessen,<br />

Dortmunder Beiträge zur Sozial-<br />

und Gesellschaftspolitik Band 52. Münster:<br />

LIT-Verlag, 2004, 272 Seiten, ISBN 3-8258-<br />

7744-2, 24,90 €<br />

Ausgangspunkt der Diskussion ist die Beobachtung,<br />

dass sich mit der Wissensgesellschaft eine „neue<br />

Wissensordnung“ herausbildet, die grundlegend<br />

andere Anforderungen an die Sozialwissenschaften<br />

stellt. Zentral dabei sind erhöhte Anforderungen an<br />

die Nützlichkeit und Verwertbarkeit des sozialwissenschaftlichen<br />

Wissens. Eine wesentliche Rolle in<br />

diesem Neuorientierungsprozess spielen neuere sozialwissenschaftlich<br />

orientierte Beratungskonzepte,<br />

die die entstandene Lücke zu schließen versuchen.<br />

Zentrale Botschaft des Buches ist, dass sich in der<br />

Wissensgesellschaft die Kernfunktion der Sozialwissenschaft<br />

im Kontext betrieblicher und regionaler<br />

Innovationsprozesse verändert, denn „Sozialwissenschafterinnen<br />

sind nicht mehr die allein legitimen<br />

Produzentinnen von Wissen. Vielmehr werden sie<br />

zu Experten für die Gestaltung dieser Produktionsprozesse.“<br />

(S. 46; Hervorhebung im Original) Dafür<br />

ist ein neues Verständnis von „Wissenstransfer“<br />

erforderlich, der als gemeinsamer Lernprozess von<br />

Wissenschaft und Praxis konzipiert werden soll,<br />

und in dem angemessene Beratungskonzepte eine<br />

wichtige Rolle spielen.<br />

Rezensionen<br />

In der Einführung des vorliegenden Bandes<br />

werden die neuen Herausforderungen, die mit dem<br />

Aufkommen der Wissensgesellschaft für die Sozialwissenschaften<br />

entstehen, theoretisch eingebettet<br />

und anhand eines praktischen Beispiels diskutiert.<br />

Damit wird der Rahmen für die folgenden Beiträge<br />

geschaffen und werden die zentralen Thesen hergeleitet.<br />

Die weitere Publikation gliedert sich in drei<br />

Teile, die insgesamt zehn Einzelbeiträge umfassen,<br />

wobei den „roten Faden“ durch die Einzelbeiträge der<br />

Begriff des „Lernens“ darstellt. Im ersten Teil liegt<br />

der Schwerpunkt auf veränderten Organisations- und<br />

Produktionskonzepten und der „lernenden Organisation“,<br />

im zweiten Teil stehen Netzwerke und Lernen<br />

im Netzwerk im Zentrum und im dritten Teil wird das<br />

Verhältnis von Beratung und Sozialwissenschaften<br />

als gemeinsamer Lernprozess thematisiert.<br />

Die erwähnten Einzelbeiträge sind alle an der<br />

Schnittstelle zwischen Sozialwissenschaft und Praxis<br />

angesiedelt und beziehen sich auf unterschiedliche<br />

Forschungsprojekte, die an der Schnittstelle zwischen<br />

Beratung und wissenschaftlicher Begleitforschung<br />

angesiedelt sind. Damit ergibt sich ein spannender<br />

Hintergrund, vor dem das Spannungsverhältnis<br />

zwischen beiden Bereichen sowie die Ansatzpunkte<br />

bzw. Voraussetzungen für eine Neugestaltung des<br />

Verhältnisses dieser beiden Bereiche thematisiert<br />

wird. Die einzelnen Beiträge sind zwischen 1993<br />

und 2002 entstanden und setzen sich aus unterschiedlichen<br />

Perspektiven mit betrieblichen und regionalen<br />

Innovationsprozessen auseinander. Die Beiträge<br />

wurden leider mehr oder weniger unverbunden in<br />

den Sammelband aufgenommen. Es wird also weder<br />

auf die Entwicklung eingegangen, die in diesem<br />

Zeitraum stattgefunden hat, noch auf den jeweiligen<br />

Kontext, in dem die Beiträge entstanden sind bzw.<br />

publiziert wurden.<br />

Hintergrundinformationen zu den einzelnen<br />

Beiträgen würden dem/r Leser/in die Orientierung<br />

erleichtern, da sich die Beiträge zum Teil an unterschiedliche<br />

Zielgruppen richten und damit einen je<br />

spezifi schen Charakter aufweisen. Die Palette reicht<br />

dabei von einer stärker wissenschaftlich orientierten<br />

Diskussion bis zu anwendungsorientierten „Leitfäden“<br />

für Praktiker/innen. So enthält z.B. der Beitrag<br />

„Lernende Organisation aus organisationstheoretischer<br />

Perspektive“ eine umfassende Darstellung der<br />

Diskussion zum Thema organisationales Lernen bzw.<br />

Lernende Organisation, die die Entwicklung während<br />

der 1980er Jahren bis zum Ende der 1990er Jahre<br />

berücksichtigt. Der Beitrag „Entwicklungsphasen von<br />

Netzwerken“ richtet sich dagegen eher an (potentielle)<br />

Initiator/innen von Netzwerken und enthält eine Reihe<br />

von praktischen Tipps. Durch diesen Aufbau ergeben


Rezensionen<br />

sich auch einige textliche Wiederholungen, die die<br />

Lesbarkeit erschweren.<br />

Diese unterschiedlichen Zugänge charakterisieren<br />

das Buch, wobei v.a. in der Einleitung eine<br />

Symbiose von Theorie und Praxis gelungen ist, durch<br />

die sowohl Sozialwissenschafter/innen als auch Praktiker/innen<br />

angesprochen werden. Leider werden die<br />

Einzelbeiträge danach nicht in einer ähnlichen Form<br />

zueinander in Beziehung gesetzt und im Hinblick<br />

auf die zugrunde liegende Fragestellung des Buches<br />

diskutiert. Diese Leistung wird von den Leser/innen<br />

selbst gefordert. Es werden in unterschiedlichen<br />

Bereichen sehr spannende Ansatzpunkte für eine<br />

Diskussion aufgezeigt, die allerdings zum Teil an<br />

der Oberfl äche bleiben und nicht zusammengeführt<br />

werden. Damit wird das Buch seinem in der Einleitung<br />

formulierten Anspruch, ein „Angebot zur<br />

Diskussion auf der Suche nach adäquaten Antworten<br />

bei der schwierigen <strong>Arbeit</strong> der Neubestimmung des<br />

Verhältnisses von Sozialwissenschaft und Praxis in<br />

der Wissensgesellschaft“ (S. 10) darzustellen, nur<br />

teilweise gerecht.<br />

Angela Wroblewski (Wien)<br />

Dahme, Heinz-Jürgen, Gertrud Kühnlein,<br />

Norbert Wohlfahrt, unter Mitarbeit von<br />

Monika Burmester: Zwischen Wettbewerb<br />

und Subsidiarität - Wohlfahrtsverbände unterwegs<br />

in die Sozialwirtschaft,(hrsgg.) 2005,<br />

Hans-Böckler-Stiftung. Berlin: edition sigma,<br />

269 Seiten, ISBN 3-89404-992-8, 15,90 €<br />

Mit dem Band „Zwischen Wettbewerb und Subsidiarität<br />

– Wohlfahrtsverbände unterwegs in die<br />

Sozialwirtschaft – legen die Autorinnen und Autoren<br />

Ergebnisse eines von der Hans-Böckler-Stiftung<br />

zwischen 2002 und 2004 geförderten, empirischen<br />

Forschungsprojektes vor. Die explorativ angelegten<br />

empirischen Untersuchungen umfassten mehrere<br />

– schwerpunktmäßig qualitativ angelegte – <strong>Arbeit</strong>sschritte,<br />

anhand derer überprüft und konkretisiert<br />

werden sollte, „wie sich die Organisationspolitik<br />

der Träger und Einrichtungen im sozialen Sektor<br />

durch den neuen organisierten Wettbewerb verändert<br />

(…) und welche Konsequenzen sich daraus für die<br />

<strong>Arbeit</strong>sbedingungen der Beschäftigten in den sozialen<br />

Diensten im weitesten Sinn ergeben.“ (18)<br />

Die Ausführungen und Schlussfolgerungen<br />

basieren:<br />

• auf einer qualitativen Expertenbefragungen aller<br />

Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspfl ege (au-<br />

79<br />

ßer der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden), in die<br />

sowohl Vertreterinnen und Vertreter der Verbandspitzen<br />

als auch der Verwaltungspraxis sowie der<br />

Interessenvertretungen der Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter einbezogen waren, um die zentralen<br />

Modernisierungsschritte und die mit ihnen verbundenen<br />

organisations- und personalpolitischen<br />

Veränderungsprozesse erfassen zu können.<br />

• Auf exemplarischen Fallstudien auf kommunaler<br />

Ebene in West- und in Ostdeutschland, die insbesondere<br />

den Stand und die (z.T. differierende)<br />

Praxis des Kontraktmanagements und der daraus<br />

resultierenden Veränderungen hinsichtlich der<br />

Anforderungen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

sowie an die Führungsverantwortlichen<br />

herausarbeiten.<br />

• Auf einer schriftlichen Befragung von 115 Sozialarbeiterinnen<br />

/ Sozialarbeitern sowie Sozialpädagoginnen<br />

/ Sozialpädagogen, die beispielhaft<br />

Wandlungen der Berufsbilder und der <strong>Arbeit</strong>svollzüge<br />

nachgezeichnet.<br />

Ergänzt werden die empirischen Befunde um<br />

eine knappe Einordnung der sozialwirtschaftlichen<br />

und arbeitsmarktpolitischen Bedeutung der Freien<br />

Wohlfahrtspfl ege in Deutschland.<br />

Das Buch ist aus mehreren Gründen nicht<br />

nur für Expertinnen und Experten, sondern gleichermaßen<br />

für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter<br />

sowie politisch interessierte Beschäftigte<br />

des sozialen Bereichs interessant, denn es gelingt<br />

den Autorinnen und Autoren den fortdauernden,<br />

grundlegenden Transformationsprozess in einem<br />

zentralen Bereich des deutschen Sozialsektors – der<br />

Freien Wohlfahrtspfl ege - in seinen vielfältigen und<br />

widersprüchlichen Facetten transparent zu machen<br />

und – mit der notwendigen Abgewogenheit – auch<br />

politisch zu deuten und zu bewerten. Dabei beleuchten<br />

sie sowohl die Veränderungen in den Kooperationsbeziehungen<br />

zwischen staatlichen, v.a. kommunalen<br />

Institutionen und Wohlfahrtsorganisationen<br />

(Stichwort: Kontraktmanagement) und die dadurch<br />

ausgelösten Organisationsentwicklungsprozesse in<br />

den Verbänden und ihren Einrichtungen (Stichwort:<br />

soziale Dienstleistungsunternehmen) als auch die<br />

durch sie induzierten Wandlungen im Selbst- und<br />

Werteverständnis der Träger Freier Wohlfahrtspfl ege<br />

(Stichwort: Lobbying und Verbetrieblichung) einschließlich<br />

der Auswirkungen auf die <strong>Arbeit</strong>s- und<br />

Bezahlungsbedingungen ihrer Beschäftigten (Stichwort.<br />

Aufl ösung tarifl icher Standards).<br />

Auch nicht mit den Strukturen des Wohlfahrtssektors<br />

im Detail vertraute Leserinnen und Leser<br />

erhalten einen anschaulichen Eindruck über Modernisierungsstrategien<br />

in einem Bereich, der bislang in


80<br />

der gesellschaftlichen Wahrnehmung wie auch im<br />

eigenen Selbstverständnis jenseits von Markt und<br />

Wettbewerb agieren konnte. Nach Auffassung der<br />

Autoren handelt es sich hierbei um einen politisch<br />

initiierten, weiteren Teil des Umbaues des Sozialstaates,<br />

der ganz wesentlich auf dem Rücken der<br />

Beschäftigten wie des bedürftigen Klientels erfolgt<br />

und der seit Jahren beobachtbaren Haushaltskonsolidierung<br />

geschuldet ist.<br />

Besonders spannend ist die Analyse des Spagats,<br />

den die Verbände zwischen ihrer Wertorientierung<br />

(Interessenvertretung für die Bedürftigen) und der,<br />

mit der (erzwungenen) Wirtschaftlichkeitsausrichtung<br />

verbundenen, Kostendeckelung vollziehen.<br />

Die Autoren beobachten eine „Strategie der Multifunktionalität“<br />

und die Gliederung der verbandlichen<br />

Bereiche in marktfähige und nicht-marktfähige<br />

Leistungen. Die Verselbständigung beider Bereiche<br />

gegeneinander und die zunehmende Dominanz der<br />

„geschäftsfähigen“ gegenüber den „subventionierten<br />

<strong>Arbeit</strong>sbereichen“ (103) führt, ihrer Meinung nach, in<br />

der Konsequenz zu einer „Aufl ösung des wohlfahrtsverbandlichen<br />

Modells der Organisation sozialer<br />

Dienste, ohne dass dies zugleich zur Aufl ösung der<br />

Wohlfahrtsverbände führt.“ (103)<br />

Ob die Verbände tatsächlich längerfristig diese Zerreißprobe<br />

überstehen, ist z.Zt. noch nicht absehbar<br />

und wäre eine Untersuchung wert.<br />

(Anna Stefaniak, Dortmund)<br />

Bieber, Daniel, Heike Jacobsen, Stefan Naevecke,<br />

Christian Schick, Franz Speer, (Hg.): Innovation<br />

der Kooperation - Auf dem Weg zu<br />

einem neuen Verständnis zwischen Industrie<br />

und Handel?. Berlin: edition sigma, 2004, 325<br />

Seiten, ISBN 3-89404-514-0, 19,90 €<br />

‚Innovation der Kooperation’ ist Ergebnis des<br />

Verbundprojektes ‚VertiKo’ (‚Vertikale Kooperation<br />

zwischen Industrie und Handel’) zwischen<br />

Forschungsinstitutionen und privatwirtschaftlichen<br />

Unternehmen, das in den Jahren 2000 bis 2003<br />

im Rahmenkonzept ‚Innovative <strong>Arbeit</strong>sgestaltung<br />

– Zukunft der <strong>Arbeit</strong>’ des Bundesministeriums für<br />

Bildung und Forschung (BMBF) durchgeführt wurde<br />

(vgl. www.vdivde-it.de/vertiko). Ausgangspunkte<br />

des Projektes waren die Fragestellungen, ob und wie<br />

sich durch eine Verbesserung der Zusammenarbeit<br />

im Absatzkanal zwischen Industrie und Handel<br />

Rationalisierungspotentiale und Möglichkeiten<br />

menschengerechter <strong>Arbeit</strong>sgestaltung erschließen<br />

lassen. Ihre Relevanz haben diese Fragestellungen<br />

Rezensionen<br />

insbesondere vor dem Hintergrund, das die Beziehungen<br />

zwischen Industrie und Handel traditionell<br />

durch ein Verhältnis antagonistischer Kooperation<br />

geprägt sind: Es bestehen unterschiedliche und<br />

auch widersprüchliche Ziele bei der Preisgestaltung,<br />

der Mengenplanung, der Regalsortierung und<br />

anderem, die in der unternehmensübergreifenden<br />

Kooperation nicht aufeinander abgestimmt werden<br />

(können), sondern in der Regel die Beziehungen<br />

belasten. Erfolgreiche Kooperation setzt demnach<br />

die Überwindung dieser Antagonismen voraus. Die<br />

Zielsetzungen des Verbundprojektes bestanden darin,<br />

den Möglichkeiten und Grenzen einer Kooperationsverbesserung<br />

nachzugehen und Lerneffekte in den<br />

beteiligten Industrie- und Handelsunternehmen aus<br />

dem Konsumgüterbereich anzustoßen.<br />

Mit ‚Innovation der Kooperation’ haben die<br />

Verbundpartner nunmehr ihre Ergebnisse vorgelegt.<br />

Die AutorInnen der Beiträge stammen aus dem akademischen<br />

oder aus dem privatwirtschaftlichen Bereich.<br />

Die zentralen Fragen, wie sich die gegensätzlichen<br />

Beziehungen zwischen Konsumgüterherstellern und<br />

dem Handel verändert haben und ob hier tatsächlich<br />

eine Innovation der Kooperation stattgefunden hat,<br />

werden deshalb sowohl aus praxisorientierter als<br />

auch aus akademischer Perspektive zu beantworten<br />

gesucht. Im Zentrum stehen so genannte ‚Effi cient<br />

Consumer Response’ (ECR)-Kooperationen, also<br />

vertikale Unternehmenskooperationen, in denen<br />

kein reines Schnittstellenmanagement, sondern<br />

weitreichende unternehmens- und wertschöpfungsstufend-übergreifende<br />

Problemlösungen ausgearbeitet<br />

und umgesetzt werden (sollen). Als vorrangiges<br />

Referenzbeispiel nehmen die AutorInnen Bezug auf<br />

die im Projekt untersuchte Kooperation zwischen<br />

Henkel und dm-Kette.<br />

Daniel Bieber und Beatrix Rumpel diskutieren die<br />

ökonomischen Rahmenbedingungen. Ihre Analyse<br />

spricht dafür, dass die Beziehung zwischen Industrie<br />

und Handel auch in Zukunft eher als antagonistische<br />

denn als vertrauensbasierte Kooperation gefasst<br />

werden kann, auch wenn sich die Machtverhältnisse<br />

durch Konzentrationsprozesse auf der Handelsseite<br />

verschoben haben. Gerd Möll arbeitet in seinem<br />

Essay Muster vertikaler Kooperation heraus. Auf der<br />

Basis empirischer Erhebungen geht es ihm um die<br />

Klärung betriebsspezifi scher Kontextbedingungen,<br />

„die die Ausprägung unternehmensübergreifender<br />

Kooperationsbeziehungen maßgeblich beeinfl ussen“<br />

(52). Die untersuchten ‚ECR’-Kooperationen zeigen,<br />

dass bei den Akteuren unterschiedliche Erwartungen<br />

und Orientierungen vorhanden sind. Maßgeblich<br />

sind hier unterschiedlicher Umgang mit Kooperationsrisiken<br />

einerseits sowie strukturbewahrende bzw.<br />

-verändernde Entwicklungsstrategien andererseits.


Rezensionen<br />

Bieber und Rumpel beleuchten anschließend das<br />

Wechselspiel zwischen intra- und interorganisationalen<br />

Faktoren und dessen Relevanz für den Erfolg<br />

vertikaler Kooperationen. Sie führen aus, dass der<br />

Erfolg auch davon abhängt, „inwieweit es gelingt,<br />

den Schritt von traditionellen zu neuen Kooperationsformen<br />

zu gehen“ (89). Regina Buhr nutzt einen<br />

organisationskulturellen Ansatz, um ein Bild über<br />

die Kooperationsbeziehung der beiden genannten<br />

Unternehmen zu geben. Es wird deutlich, dass kulturelle<br />

Nähe in Form ähnlicher Organisationskulturen<br />

vertrauensförderlich wirkt. Allerdings gefährden<br />

Verschlankungs- und Personalabbaustrategien<br />

den erzielten Kooperationserfolg. Möll und Heike<br />

Jacobsen thematisieren Wissensarbeit als Medium<br />

vertikaler Kooperation. Von Interesse ist, ob und<br />

wie unternehmensübergreifendes Warengruppenmanagement,<br />

das – von Industrieseite betrachtet<br />

– explizit Bezug auf das Kundenwissen des Handels<br />

nimmt, die Kooperation zwischen Industrie und<br />

Handel verändert. Es wird sehr anschaulich auf der<br />

Basis von Interviewpassagen gezeigt, dass sich trotz<br />

des gemeinsamen Bezugs auf Kundendaten keine<br />

neuartige vertrauensbasierte Kooperation entwickelt<br />

– ein Ergebnis, das konträr zu den Ausführungen<br />

von Christian Schick (247ff.) steht. Vielmehr treten<br />

neben die zuvor vorherrschende Austauschlogik über<br />

Preise und Konditionen wissensbasierte Formen der<br />

Handlungsabstimmung. Reinhard Herges beschreibt<br />

die Kooperation zwischen den beiden untersuchten<br />

Unternehmen als Beispiel eines erfolgreichen Change<br />

Managements. Als zentrale Erkenntnis und Herausforderung<br />

vernetzter Wertschöpfungspartnerschaften<br />

sieht er, „den bislang nur in die Kunden-Lieferanten-<br />

Beziehung eingeschriebenen Dienstleistungsgedanken<br />

auch auf die internen Prozesse zu übertragen“<br />

(226). Dafür bedarf es gar nicht unbedingt neuester<br />

Technik, sondern des Engagements der Unternehmen<br />

und deren MitarbeiterInnen, transparenter Prozesse,<br />

kundenorientierter Kooperationskulturen und nicht<br />

zuletzt unternehmensübergreifender Qualifi zierungsmaßnahmen<br />

für die beteiligten Akteure. (265). Stefan<br />

Naevecke thematisiert den Beitrag von Kompetenzentwicklung,<br />

Karriere- und Personalplanung für den<br />

Verlauf vertikaler Kooperation. So führt der Wechsel<br />

zu neuen Formen der <strong>Arbeit</strong>sorganisation in den<br />

beteiligten Betrieben sowohl beim Leitungspersonal<br />

als auch bei den Beschäftigten auf der operativen<br />

Ebene erst einmal zu Verunsicherung, da neue<br />

Formen unternehmensübergreifender Kooperation<br />

sowohl auf horizontaler wie auf vertikaler Ebene die<br />

Anforderungen an Kommunikation anwachsen lassen.<br />

Funktionsintegration und Aufgabenerweiterung<br />

beinhalten zudem „neben einer arbeitsinhaltlichen<br />

Anreicherung ... eben auch das, was die Begriffe<br />

81<br />

bereits anzeigen: ein mehr an Leistungsabforderung“<br />

(318). Auf der Seite der Beschäftigten kann dies zur<br />

Spaltung der Belegschaft in Innovationsgewinner<br />

und -verlierer führen.<br />

Alles in allem geben die meisten Beiträge einen<br />

sehr variationsreichen, theoretisch refl ektierten sowie<br />

empirisch illustrativen Einblick in die Problematik<br />

der Kooperationsinnovation. Auch die Zusammensetzung<br />

der AutorInnenschaft überzeugt: Die bunte<br />

Mischung unternehmensinterner wie -externer BeobachterInnen<br />

ermöglicht eine multiperspektivische<br />

Bearbeitung der Themenstellung. Und die verdeutlicht,<br />

dass noch ein langer Weg zu beschreiten ist,<br />

bevor die antagonistische Kooperation von Industrie<br />

und Handel in eine vertrauensbasierte Kooperation<br />

umgewandelt werden kann. SozialwissenschaftlerInnen<br />

oder Akteure aus Unternehmen, die diesen<br />

Weg analytisch verstehen oder praxisbezogene<br />

Anregungen bekommen möchten, kann dieser Band<br />

deshalb nachdrücklich empfohlen werden.<br />

Michael Jonas (Wien)<br />

Gertraude Krell, Richard Weiskopf: Die<br />

Anordnung von Leidenschaften.Wien: Passagen<br />

Verlag, 2006, 216 Seiten, ISBN-10:<br />

3-85165-586-9, ISBN-13: 978-3-85165-586-<br />

5, 24,90 €<br />

Die AutorInnen haben ein sehr schönes, lesenswertes<br />

und durch die bildhafte Sprache gut lesbares Buch<br />

geschrieben, das wohltuend kritisch mit den wuchernden<br />

Emotions- und Leidenschaftsdiskursen<br />

in den Führungs-, Organisations- und <strong>Arbeit</strong>swissenschaften<br />

umgeht, ohne ihnen einen weiteren<br />

hinzuzufügen.<br />

Der Titel „Die Anordnung von Leidenschaften“<br />

verbindet zwei höchst gegensätzliche Begriffe:<br />

„Anordnung“, doppeldeutig als Befehl und als Ordnungsmuster<br />

zu verstehen und rational konnotiert, und<br />

„Leidenschaften“, die üblicherweise als emotional,<br />

unkalkulierbar oder gar gefährlich gelten. Es soll also<br />

im Buch nicht um ein Ergründen der Leidenschaften<br />

gehen, sondern um die auf Leidenschaften gerichteten<br />

Prozesse, Verfahren, Diskurse und Praktiken. Nicht<br />

umsonst erinnert der Titel an Michel Foucaults poststrukturalistische<br />

Perspektive, die den AutorInnen als<br />

„Werkzeugkiste“ für ihre theoretischen Begriffl ichkeiten<br />

und das methodische Vorgehen dient.<br />

Nach einem einführenden Kapitel geht die „Reise“<br />

im nächsten Kapitel zur „Ordnung der Gefühle“:<br />

hier werden Theorien, Taxonomien und Defi nitionen<br />

von Emotion und Leidenschaft als Bemühungen um


82<br />

Ordnungen im Dschungel der Gefühle vorgestellt.<br />

Man fi ndet Beschreibungen von zum Teil kuriosen<br />

Versuchsanordnungen, mit deren Hilfe Emotionen<br />

und speziell Leidenschaften eingeteilt werden.<br />

Historisch folgte auf die Abwertung der Gefühle<br />

gegenüber der Vernunft die Gegenbewegung, die<br />

Aufwertung der Emotionen im Verbund mit einer<br />

Rationalitätskritik, die zu Konzepten wie dem charismatischen<br />

Führungsstil beitrug. Freilich ist diese<br />

Form der Leidenschaft bereits domestiziert, was<br />

im dritten großen Kapitel des Buches ausführlicher<br />

dargestellt wird. Zuvor werden Verbindungslinien<br />

mit dem Geschlechterdiskurs gezeichnet.<br />

Im dritten Kapitel des Buches werden die<br />

bereits angelegten Pfade ausgebaut, indem vier<br />

der Wasser-Symbolik entnommene Strategien der<br />

„Anordnungen“ von Leidenschaften identifi ziert<br />

werden: „Eindämmen und Trockenlegen“, „Kanalisieren“,<br />

„Reinigen und Richten“ sowie „Überfl uten<br />

und Mobilisieren“. Strategien der Eindämmung<br />

zielen darauf ab, negative Leidenschaften zu bändigen,<br />

damit sie nicht „überschwappen“, z.B. die<br />

Gewinnsucht des Kapitalisten oder die Fleischeslust<br />

der Lohnabhängigen, wofür die <strong>Arbeit</strong> ein probates<br />

Gegenmittel darstellt.<br />

Die Strategie der Kanalisierung, also der Lenkung<br />

von Leidenschaften in geregelte Bahnen, beginnt<br />

mit dem Gedanken, dass extrinsische Motivation auch<br />

ein Mittel zur Zügelung zu starker Emotionalität ist.<br />

Die Einführung von Anreiz- und Kontrollsystemen in<br />

den Wissenschaftsbetrieb wird von den AutorInnen<br />

kritisch als Verfahren zur Abtötung von leidenschaftlichem<br />

Forschen betrachtet, eine m.E. fragwürdige<br />

Ansicht. Denn Hochschulen mit modernen Evaluierungssystemen<br />

weisen nicht automatisch weniger<br />

kreative wissenschaftliche Leistungen vor als jene<br />

ohne diese Systeme.<br />

Die dritte Strategie, „Reinigen und Richten“, will<br />

schädliche Emotionen in nützliche verwandeln, was<br />

u.a. am bekannten Beispiel von Daniel Golemans<br />

„emotionaler Intelligenz“ gezeigt wird. Der Jesuitenorden<br />

dient als Mustervorlage für das Organisieren<br />

von Leidenschaften, denn er hat keineswegs seine<br />

Mitglieder unterdrückt, sondern zum freiwilligen<br />

Mitmachen gebracht, was auch das Ziel heutiger<br />

Organisationen ist.<br />

Die letzte Strategie, „Überfl uten und Mobilisieren“,<br />

nimmt sich die Werke von Tom Peters<br />

und KoautorInnen vor. Interessant ist im Lichte der<br />

vorherigen Kapitel, dass bei Peters und Co. offenbar<br />

keinerlei Angst mehr vor einer überbordenden<br />

und destruktiven Entfesselung der Leidenschaften<br />

von Führungskräften und Mitarbeitern besteht. Im<br />

Gegenteil, Leidenschaften, also das eigentlich Un-<br />

Rezensionen<br />

berechenbare - werden befohlen – eben angeordnet:<br />

ein Widerspruch in sich.<br />

Kleinlich könnte man zwar anmerken, dass die<br />

geschilderten Strategien nicht überschneidungsfrei<br />

sind, da im Grunde alle Ordnungsversuche „Kanalisierungen“<br />

darstellen, und dass Sigmund Freuds<br />

Gedankengut, beispielsweise zur Bedeutung einer<br />

„Gefühlsbindung“ der <strong>Arbeit</strong>enden und zur libidinösen<br />

Besetzung der <strong>Arbeit</strong>saufgabe, ein wenig<br />

vernachlässigt wird. Jedoch bietet dieses Buch<br />

durch seinen Rückgriff auf historische Wurzeln und<br />

durch das Zusammenführen verschiedener Ansätze<br />

und Systematiken aus mehreren Disziplinen eine<br />

spannende Analyse unseres wissenschaftlichen und<br />

praktischen Umgangs mit den Leidenschaften, deren<br />

vielfältige Zurichtungen uns zum Teil gar nicht mehr<br />

bewusst sind.<br />

Daniela Rastetter (Hamburg)<br />

Kahlert, Heike, Claudia Kajatin, (Hg): <strong>Arbeit</strong><br />

und Vernetzung im Informationszeitalter.<br />

Wie neue Technologien die Geschlechterverhältnisse<br />

verändern. (Reihe „Politik der<br />

Geschlechterverhältnisse“, Bd. 26). Franfurt/<br />

New York: Campus Verlag 2004. 319 Seiten,<br />

ISBN 3-593-37609-1, 34,90 €<br />

Es ist ein keineswegs auf die Frauen- und Geschlechterforschung<br />

beschränktes Phänomen im<br />

Wissenschaftsfeld, dass an Prozesse sozialen oder<br />

technisch/technologischen Wandels in modernen Gesellschaften<br />

mehr oder minder theoretisch begründete<br />

Hoffnungen oder Schlussfolgerungen auf (grundlegende)<br />

Veränderungen sozialer Verhältnisse generell<br />

und der Geschlechterverhältnisse im besonderen<br />

geknüpft werden. Auch der von Kahlert/Kajatin vorgelegte<br />

Band, in dem Beiträge einer 2003 gehaltenen<br />

Konferenz zum Thema „gender@future: Geschlechterverhältnisse<br />

im Informationszeitalter“ publiziert<br />

werden, reproduziert dieses Denkmuster. Während<br />

allerdings im Untertitel und im Einleitungsbeitrag der<br />

Herausgeberinnen (S. 11) mit der Formulierung: „wie<br />

neue Technologien die (!) Geschlechterverhältnisse<br />

verändern“, der Schluss nahe gelegt wird, dass sie<br />

dies tun, sind die einzelnen Autoren und Autorinnen<br />

zurückhaltender (oder auch vager) bzw. betonen die<br />

Ambivalenz des beobachteten und analysierten technisch<br />

induzierten Wandels. Zentrierender Fokus aller<br />

Beiträge ist die Frage, „in welchem Zusammenhang<br />

der in theoretisch-konzeptionellen und in empirischen<br />

Studien für das ausgehende 20. Jahrhundert belegte<br />

(weltweite) Wandel in den Geschlechterverhältnissen


Rezensionen<br />

mit dem vermeintlichen Wandel zur ‚postindustriellen<br />

Gesellschaft’ und zum ‚Informationszeitalter’ steht“<br />

(S. 10). Entsprechend gliedert sich der Band in drei<br />

große thematische Felder.<br />

Im ersten Teil „wird die Rede über den epochalen<br />

Wandel vom Industrie- zum Informationszeitalter aus<br />

gesellschaftstheoretischer bzw. techniksoziologischer<br />

Sicht einer kritischen Überprüfung unterzogen“<br />

(S. 11). Manuel Castells dreibändiges Werk zum<br />

Informationszeitalter zum Ausgangspunkt nehmend,<br />

diskutieren Heike Kahlert und Michael Meuser<br />

dessen These einer Entgrenzung der Geschlechterverhältnisse<br />

im globalisierten, informationellen<br />

Kapitalismus bzw. fragen, welche Männlichkeitskonstruktionen<br />

unter diesen Bedingungen ‚veralten’<br />

und welche neuen hegemonial zu werden beginnen.<br />

Claudia Kajatin fragt nach neuen Möglichkeiten, die<br />

industriegesellschaftliche Verknüpfung von Technik<br />

und Männlichkeit aufzubrechen.<br />

Im zweiten Teil sind Beiträge versammelt, die<br />

für bestimmte Gruppen (Frauen in der ITK-Industrie;<br />

Freelancer in den Neuen Medien, TelearbeiterInnen,<br />

hochqualifi zierte DoppelverdienerInnen<br />

und Eltern) (geschlechtergebundene bzw. -neutrale)<br />

Auswirkungen herausarbeiten, die die beobachtbaren<br />

Entgrenzungen in der Erwerbsarbeit und die<br />

Herausbildung eines neuen Typs von <strong>Arbeit</strong>skraft<br />

hinsichtlich neuer Chancen oder auch Begrenzungen<br />

für die Positionierung auf dem <strong>Arbeit</strong>smarkt und<br />

für die Arrangements von ‚<strong>Arbeit</strong> und Leben’, von<br />

Erwerbsarbeit und alltäglicher Lebensführung haben.<br />

Die AutorInnen dieses Teils - Maria Funder/ Steffen<br />

Dörhöfer, Anette Henninger, Gabriele Winker/<br />

Tanja Carstensen und Anneli Rüling – verbinden<br />

dabei allgemeine soziologische Beschreibungen<br />

und Konzeptualisierungen des Wandels mit eigenen<br />

empirischen Untersuchungen. Ob letztere<br />

allerdings eine ausreichende Grundlage für die<br />

jeweils gezogenen Schlussfolgerungen hinsichtlich<br />

veränderter/reproduzierter Geschlechterverhältnisse<br />

bzw. –arrangements darstellen, ist die Frage. Auf sie<br />

wird zurück zu kommen sein.<br />

Der dritte Teil schließlich versammelt Beiträge<br />

von Cilja Harders, Gabriele Winker/ Ricarda<br />

Düeke/ Kerstin Sude, Tanja Paulitz, Christina<br />

Schachtner/Bettina Duval sowie Christiane Funken,<br />

die sich aus verschiedenen Perspektiven mit<br />

(neuen) Möglichkeiten auseinandersetzen, die das<br />

Internet für politische Interventionen (von Frauen),<br />

für frauenpolitische Netzwerke und ihnen inhärente<br />

Grenzkonstruktionen, für die Besetzung des virtuellen<br />

Raumes durch Frauen und Mädchen sowie für (vergeschlechtlichte)<br />

Identitätskonstruktionen bietet.<br />

Der Band vermittelt einen guten Einblick in<br />

gewichtige Dimensionen von sozialen Verände-<br />

83<br />

rungen, die sich in der ‚postindustriellen Gesellschaft’<br />

vermittelt bzw. induziert durch die neuen<br />

Informations- und Kommunikationstechnologien<br />

abzeichnen und bisherige, kollektiv wie individuell<br />

legitimierte Geschlechterordnungen und praktizierte<br />

Geschlechterarrangements beeinfl ussen und verändern.<br />

Alle Beiträge sind gut lesbar geschrieben, und<br />

ganz gewiss ist es eine konzeptionelle Stärke des<br />

Bandes, dass Aussagen über mögliche Veränderungen<br />

der modernen Geschlechterverhältnisse auf empirisch<br />

fundierte Studien gegründet werden. Allerdings gibt<br />

es zu denken, dass in fast allen Beiträgen die theoretische<br />

Rahmung für die Interpretation empirischer<br />

Ergebnisse unterkomplex ist, die begriffl iche Schärfe<br />

– gerade auch in der Anwendung von in der Frauen-<br />

und Geschlechterforschung entwickelten Begriffen<br />

– zu wünschen übrig lässt. Da wird unbedenklich<br />

von Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen<br />

gesprochen, wo es bei genauem Hinsehen um Veränderungen<br />

in Geschlechterarrangements oder geschlechtsgebundenen<br />

<strong>Arbeit</strong>steilungen in konkreten<br />

Bereichen geht, die zudem so gut wie gar nicht zu<br />

grundlegenden Produktions- und Austauschprozessen<br />

moderner Gesellschaften generell und in ihrer ‚postindustriellen’<br />

Gestalt und Formierung im besonderen<br />

in Beziehung gesetzt werden. Da werden – exemplarisch<br />

etwa im Beitrag von Heike Kahlert – Manuel<br />

Castells Vermutungen zu veränderten Geschlechterverhältnissen<br />

im Informationszeitalter ausführlich<br />

dargestellt und offensichtlich so ernst genommen,<br />

dass in der intendierten ‚gesellschaftstheoretischen’<br />

Auseinandersetzung mit Castells längst gewonnene<br />

Einsichten der Frauen- und Geschlechterforschung,<br />

auf welch komplexe Weise das Geschlechterverhältnis<br />

mit Produktions- und Reproduktionsprozessen<br />

moderner Gesellschaften strukturell verknüpft ist,<br />

vergessen scheinen. Nicht einmal ansatzweise wird<br />

z.B. die Frage gestellt, weshalb denn ausgerechnet<br />

die Hierarchisierung qua Geschlecht an Bedeutung<br />

verlieren soll, wenn „quer zur Demokratisierung der<br />

Geschlechterdifferenzen“ (was immer das heißen<br />

mag) (S. 65) im globalisierten informationellen<br />

Kapitalismus soziale Ungleichheiten entstehen, die<br />

kaum weniger krass, in ihren Gefährdungen sozialer<br />

Kohäsion eher noch explosiver sein dürften, als in<br />

der Entstehungsphase der industriegesellschaftlichen<br />

Moderne. Das von Kahlert in ihrem Beitrag beklagte<br />

Dilemma, dass Frauen- und Geschlechterforschung<br />

ihr „gesellschaftskritisches Potenzial“ (S. 35) aktuell<br />

nicht ausschöpft, sich auf „kleine Erzählungen vom<br />

doing gender“ (S. 36) beschränkt (und zugleich von<br />

‚großen Erzählungen’ im Stile Castells beeindruckt<br />

ist) ist leider auch an diesem Band ablesbar.<br />

Irene Dölling (Potsdam)


Hinweise für Autorinnen und Autoren<br />

In der <strong>Zeitschrift</strong> ARBEIT werden sowohl theoretische als auch empirische Beiträge aus der <strong>Arbeit</strong>sforschung<br />

veröffentlicht, außerdem Methodendiskussionen, Erfahrungsberichte aus der Praxis, Quintessenzender<br />

Forschung, <strong>Tagungsbericht</strong>e und Buchbesprechungen. Die Annahme von Manuskripten setzt<br />

voraus, dass diese nicht gleichzeitig bei anderen <strong>Zeitschrift</strong>en eingereicht oder zur Veröffentlichung<br />

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exklusiv zur Veröffentlichung in der ARBEIT angeboten wird.<br />

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Autoren vorgenommen. Bitte befolgen Sie daher unbedingt die Hinweise zur Gestaltung der Manuskripte:<br />

· ARBEIT ist eine interdisziplinär konzipierte <strong>Zeitschrift</strong>. Bitte achten Sie auf die Verständlichkeit<br />

für ein breit gefächertes Fachpublikum.<br />

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· Bitte differenzieren Sie nach Geschlechtern bzw. drücken Sie sich geschlechtsneutral aus.<br />

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Sprache sind dem Manuskript beizulegen. Bitte orientieren Sie sich hierbei an der ·Liste der Redaktion.<br />

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Stellungnahmen veröffentlicht. Kurzbeiträge dürfen nicht mehr als 10 Manuskriptseiten oder 20.000<br />

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umgehend an die AutorInnen zur Überarbeitung zurückgeschickt.<br />

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· Die Vornamen der AutorInnen sind im Literaturverzeichnis auszuschreiben.<br />

· Benutzen Sie für Zitationen und Literaturverzeichnis folgende Zitierweise:(Abweichungen sind<br />

nur in Absprache mit der Redaktion möglich)<br />

Beispiele für Literaturverweise im Text<br />

(Goldfrau 1999, 27); (Müller/Schmitz/Meier 1968, 9 f.); (Meier 2002; Litzmann 2001, 7)<br />

Beispiele für das Literaturverzeichnis<br />

Goldfrau, Maria (2000): Denken statt Zählen; in: Soziale Stadt 17, 1, 27-39<br />

Kampffmeyer-Liebetreu, Jutta (Hg.) (1993a): Frauen - das starke Geschlecht. Frankfurt/New York/Dehli, 2. Aufl age<br />

Kampffmeyer-Liebetreu, Jutta (1993b): Körperliche Kraft von Frauen; in: Elke Weiß, Stefan Schwarz (Hg.): Schwerkraft. Überwindbar. Berlin, 11-16<br />

Litzmann, Fritz u. a. (1999): Verein im Wandel? Sozialverträgliche Technologiegestaltung in deutschen Vereinen. Mensch und Technik, Sozialverträgliche<br />

Technikgestaltung, Werkstattbericht 99, Düsseldorf<br />

Müller, Gernot, Fritz Schmitz, Otto Meier (1978): Studentenrevolution in soziologischer Sicht; in: Karl Valentin (Hg.): Prolegomena zum Soziologentag.<br />

Darmstadt/Neuwied, 9-17<br />

Bitte senden Sie Ihre Beiträge an:<br />

Redaktion "ARBEIT", Sozialforschungsstelle Dortmund,<br />

Evinger Platz 17, D-44339 Dortmund; e-mail: goertz@sfs-dortmund.de

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